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Rock Dance Love_3 - DRAGON

Gay Rockstar Romance

von Sasha Lilus (Autor:in)
242 Seiten
Reihe: Rock Dance Love, Band 3

Zusammenfassung

Der junge Tänzer Dragon, ehemaliges Straßenkind und bis vor kurzem noch ziemlich allein auf der Welt, hat bei Noah und Colin endlich ein Zuhause gefunden und ist zum ersten Mal glücklich mit seinem Leben. Das Einzige, was ihm noch fehlt, ist ein Mann an seiner Seite, doch „Yellow Pilots“- Drummer Tristan Strong, in den er sich unsterblich verliebt hat, ist ein ganzes Stück älter als er, lebt in einer festen Beziehung und würde seinen Freund niemals betrügen.
Aber dann zeigt sich, dass diese Beziehung auf tönernen Füßen steht und als Tristan bei einem Anschlag auf die Band schwer verletzt wird, scheint sein Leben als einer der besten Drummer der Welt vorbei zu sein.

In sich abgeschlossener Roman, Band 3 der „Rock Dance Love“ Reihe, in dem auch alle Jungs aus den ersten beiden Bänden wieder mit dabei sein werden.
Das Buch enthält eine Leseprobe des 4. Bandes Rock Dance Love_4 - Dylan, welches Ende Juni 2020 erscheinen wird.


Bücher von Sasha Lilus:
Rock Dance Love_1 – Jay
Rock Dance Love_2 – Noah
Rock Dance Love_3 – Dragon
Rock Dance Love_4 – Dylan

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Prolog

Dragon

 

 

 

 

Lautes Stimmengewirr durchzieht die Garderobe. Man versteht sein eigenes Wort kaum, obwohl gar nicht so viele Menschen im Raum sind. Aber nach der umjubelten Premiere vorhin sind alle noch voll auf dem Adrenalintrip und entsprechend aufgekratzt.

Auch ich natürlich. Mein ganzer Körper kribbelt, obwohl ich eigentlich hundekaputt sein müsste nach dem kräftezehrenden Auftritt. Am liebsten würde ich die ganze Zeit herumspringen und laut brüllen, um die Aufregung, aber auch die unbändige Freude herauszuschreien, die in mir brodelt.

Wir sind auf Tour und ich, Edgar Ryū Stewart, genannt Dragon, habe es geschafft, dabei zu sein, bin festes Mitglied der Stevenson Caine Dance Company und zwar so richtig, mit Vertrag und Gage und allem, was noch so dazu gehört.

 

Meinem Bewegungsdrang kann ich gerade nicht nachgeben, denn ich fläze bequem auf einem Sofa in unserer Garderobe und genieße es, denn Tristan lehnt neben mir. Gerade lacht er dröhnend und ich lache automatisch mit, obwohl ich gar nicht weiß, worum es geht.

Wahrscheinlich hat Donovan Novak, Leadgitarrist der „Yellow Pilots“, mal wieder einen eindeutig zweideutigen Witz gerissen. Das kann er gut, vor allem, wenn er wie jetzt gerade zu unseren Füßen auf dem Boden sitzt und gleich zwei Frauen im Arm hält. Links hat er Cally, eine unserer Tänzerinnen, am Wickel, rechts sitzt Anna, die Kostümbildnerin, und er flirtet, was das Zeug hält. Besonders Cally scheint es zu mögen, sie wirft den Kopf in den Nacken und lacht schallend.

 

Ich fühle mich so wohl neben Tristan. Heimlich spüre ich seiner Wärme nach. Wenn er sich bewegt, streift mich ein Hauch seines herben Duftes, umtanzt meine Nase und ich würde sie am liebsten in seiner Halsbeuge vergraben, um nie wieder etwas anderes riechen zu müssen.

Würde ich meinen Arm nur ein paar Zentimeter nach links verschieben, könnte ich seine schöne, kräftige Hand berühren, die ein Weinglas hält, während er mit den anderen scherzt. Ich stelle mir vor, wie meine Fingerspitzen die ausgeprägten Adern, die sich vom Handrücken über seinen Arm ziehen, verfolgen, und wie ich ihm dabei in seine sturmgrauen Augen sehe, von denen ich manchmal glaube, dass sie auf den Grund meiner Seele blicken können, dass sie genau wissen, was in mir vorgeht.

 

Ich bin so verliebt in ihn, so richtig, mit allem was dazugehört, Herzrasen, feuchte Hände, Schmetterlinge im Bauch, sobald ich nur erahne, dass er in meiner Nähe ist. Natürlich weiß das niemand, zumal es auch vollkommen hirnrissig ist, denn Tristan ist vergeben. Dabei tröstet mich auch nicht, dass niemand, wirklich niemand in der Band und auch nicht in der Dance Company, seinen Freund Martin mag. Aber Tristan liebt ihn aus irgendeinem Grund und damit ist er verloren für mich, denn er ist absolut treu, was natürlich für ihn spricht. Wer will schon einen Freund, der fremdgeht!

 

Ich war nicht auf den ersten Blick in ihn verliebt. Am Anfang fand ich ihn interessant, weil er so stark und ruhig daherkam, so unerschütterlich wie ein Felsen. Und weil er, wie ich, ein Drachen ist.

Ryū ist japanisch und bedeutet Drachen. Tristan wurde im chinesischen Jahr des Drachen geboren.

Ich liebe meinen Namen und so habe ich mir während meiner Zeit in der Straßengang viele, ineinander verschlungene Drachen auf Arme und Oberkörper tätowieren lassen. Tristan trägt einen ziemlich großen auf der Brust, einen wirklich hübschen Kerl mit goldbraunen und grünschimmernden Schuppen und einem langen Hals, der sich um eine seiner Brustwarzen schmiegt und den ich nur zu gern einmal liebkosen würde. Illusorisch, ich weiß. Tris hat mich gern, aber mehr ist da nicht, leider.

Für ihn bin ich nur ein Junge, mit dem er scherzt und lacht und über den er sich manchmal ein wenig lustig macht. Aber ich kann trotzdem nicht anders, als mir Abend für Abend vorzustellen, wie er mich küsst, wie seine sanften Lippen an mir hinabgleiten und mich verwöhnen, mich langsam …

„Leute … Leute!“, Jay klopft laut mit den Fingerknöcheln auf den Tisch und reißt mich damit aus meinem Tagtraum. Verlegen knülle ich meinen Hoodie auf dem Schoß zusammen, um meine beginnende Erektion zu verstecken.

„Auch, wenn ihr mich jetzt hasst, aber ich würde sagen, wir machen Schluss für heute. Die Nacht wird kurz. Abfahrt vom Hotel zum Flughafen ist sieben Uhr dreißig. Verschlaft nicht!“

„Nix mit Sex & Drugs & Rock’n‘Roll. Auf dieser Tour herrscht Zucht und Ordnung und um zehn Uhr ist Nachtruhe“, blökt Don, reicht Cally und Anna jeweils eine Hand und zieht die beiden schwungvoll vom Boden hoch. Sie lassen sich gegen seine Brust fallen und himmeln ihn theatralisch übertrieben an.

„Na komm, Süßer“, flötet Anna und Cally klapst ihm auf den Hintern. „Wir bringen dich ins Bett.“

Tristan verdreht die Augen und grinst mich an.

„Ich glaube, die Tour wird sehr interessant“, raunt er und zwinkert mir vielsagend zu. Ich zucke lachend mit den Schultern, ziehe meinen Hoodie über und mache mich langsam auf den Weg nach draußen.

 

Noah und Colin stehen schon vor der Tür. Colin hat die Hände in Noahs Haar vergraben und die beiden knutschen, was das Zeug hält.

„Könnt ihr nicht warten, bis ihr im Hotel seid?“, stichle ich und lege übermütig ein paar Steppschritte auf den Asphalt hinter der Halle. Cally kommt kichernd an meine Seite und auch Anna gesellt sich zu uns und gemeinsam legen wir so gekonnt los, dass Fred Astaire neben uns vor Neid erblasst wäre.

„Ich wusste gar nicht, dass du steppen kannst“, rufe ich Anna zu.

„Du weißt so einiges nicht, kleiner Drachen“, sie lacht und dreht gekonnt eine Pirouette.

 

Niemand beachtet den Wagen, der ein Stück hinter uns den Motor anlässt. Schließlich befinden wir uns auf gesichertem Gelände hinter der Halle. Doch dann bemerke ich, dass die Karre mit voll aufgeblendeten Scheinwerfern und viel zu hoher Geschwindigkeit auf uns zubrettert. Blinzelnd lege ich einen Arm über die Augen, höre noch, wie Colin erschrocken „Was ist das denn für ein Idiot!“ brüllt.

 

Etwas Großes, Hartes knallt gegen mich, schleudert mich zur Seite und ich krache gegen die Wand, schlage mir dabei den Kopf an. Benommen richte ich mich auf, höre schrille Schreie und das unerträgliche Kreischen durchdrehender Autoreifen.

Alles um mich herum scheint sich zu verlangsamen. Wie durch eine dicke Wolke aus Zuckerwatte sehe ich, dass Don, Colin und Noah seltsam ineinander verschlungen auf dem Boden liegen. Neben ihnen Cally. Ihre Beine stehen in einem grotesken Winkel von ihrem Körper ab, ihre Hose ist blutdurchtränkt und ihre Schreie bohren sich in mein Hirn. Halb auf ihr drauf liegt Anna und bewegt sich nicht.

Vor meinen Augen verschwimmt alles. Ich spüre, wie meine Beine unter mir nachgeben, lasse mich langsam an der Mauer heruntergleiten und als ich sitze, sehe ich nur ein kleines Stück neben mir Tristan liegen. Seine Klamotten sind zerfetzt, sein rechter Arm irgendwie verdreht, doch das Schlimmste ist das Blut, das aus seinem Kopf fließt. Es ist wirklich viel Blut und bei dem Anblick wird mir so übel, dass ich mich übergeben muss ...


Eins

Dragon

 

 

 

 

Drei Jeans, ein Stapel Shirts, eine ordentliche Stoffhose mit passendem Hemd. Unterwäsche, Socken, Handtücher, Kosmetiktasche, zwei Paar Sneakers. Notebook, Handy – Ladekabel nicht vergessen. Eine zerlesene Ausgabe von Frank Herberts „Wüstenplanet“. Die habe ich vor ein paar Tagen auf einer Bank am Venice Beach gefunden und mitgenommen.

Ich reise mit leichtem Gepäck. Prüfend lasse ich den Blick über das kleine Häufchen schweifen und packe alles in eine Reisetasche.

Morgen geht sie los, die Tour, sechzehn Shows in vier Wochen, mit Start in Seattle, dann einmal quer durchs Land und wieder zurück nach Los Angeles, wo wir unsere letzte Show tanzen. Wenn es gut läuft, wird es eine Europatournee geben, aber die steht noch nicht fest. Wir wollen erst einmal abwarten, wie unser Experiment beim Publikum ankommt.

 

„The Pilots lift off“ heißt das Gemeinschaftsprojekt der „Yellow Pilots“ und der Stevenson Caine Dance Company und das Ganze ist tatsächlich ein Experiment. Rockband trifft Tanztheater, das gab es in dieser Form noch nie, denn die Band wird nicht nur einfach auf der Bühne stehen und ihr Ding durchziehen. Sie und ihre Instrumente sind Teil des Programms und auch, wenn die Jungs am Anfang einige Probleme hatten, sind sie doch beweglicher, als vorher angenommen.

Colin, Don und Tristan haben alte und neue Songs der „Yellow Pilots“ für ein neunzigminütiges Event aufbereitet, Jay und Noah die Tanzsequenzen choreografiert und Nick, dessen Band gerade eine längere Pause einlegt, ist als Special Guest dabei und wird in einer Art Traumsequenz zwei Duette mit Colin singen.

Auf jeden Fall scheinen die Leute neugierig zu sein, denn die Tour war ratzfatz ausverkauft. Wie es aussieht, wollen sich die Fans die ‚tanzenden Piloten‘ nicht entgehen lassen.

 

Ich freue mich so. Meine erste Tour und die ganze Familie ist dabei, besser geht es nicht.

Familie … noch vor gar nicht allzu langer Zeit hätte ich nicht gedacht, jemals eine zu haben. Vor zwei Jahren noch war ich Mitglied in einer Streetgang, lebte von Gras verticken, Erpressung und Diebstahl, hatte keine Perspektive, keine Ziele. Alles drehte sich nur ums nackte Überleben und war so gar nicht das, was ich wollte. Ich hatte die Schnauze voll von der Gang und von den Typen dort, hatte genug davon, ein Kleinkrimineller zu sein und mein Schwulsein verleugnen zu müssen.

Doch dann trat Noah Stevenson in mein Leben. Er tanzte mit uns und mir eröffnete sich eine vollkommen neue Welt. Ich verliebte mich unsterblich, erst ins Tanzen und dann in Noah. Allerdings zog er mir diesen Zahn sofort und auch sein Partner Colin Masters, mit dem er seit fast zwei Jahren zusammenlebt, schob der Sache sehr schnell einen Riegel vor.

Colin sagt oft lachend, dass Noah mich einfach mitgebracht hat in ihre Beziehung, und genauso war es. Noah hatte mich im Schlepptau, als sie zusammenkamen und ich kann es Colin nicht hoch genug anrechnen, dass er mich, ohne mich überhaupt zu kennen, bei sich aufnahm.

Die beiden sind die großen Brüder, die ich nie hatte und ich liebe sie sehr. Sie halfen mir aus dem Dreck, ermöglichten mir, einen ordentlichen Schulabschluss zu machen und besonders Noah lehrt mich, das zu sein, was ich mir von allem am meisten wünsche – ein guter Tänzer.

 

Doch Noah und Colin gibt es nicht ohne Nicholas Pearce und seinen Partner Jasper Caine. Nick ist ein ebenso berühmter Rockstar wie Colin, und Jasper, den alle nur Jay rufen, ist Noahs bester Freund und Miteigentümer der Stevenson Caine Dance Company, der ich seit einigen Wochen ebenfalls als fest engagierter Tänzer angehöre.

Nick war ein weiterer Glücksfall in meinem Leben. Natürlich sind alle aus der Viererbande, wie ich die Jungs manchmal nenne, für mich da, doch zu Nick habe ich ein ganz besonderes Verhältnis. Er ist meine absolute Vertrauensperson, wenn es mir richtig Scheiße geht und manchmal wünsche ich mir tatsächlich, dass Nick mein Vater wäre. Aber wahrscheinlich ist es besser, dass er es nicht ist. Bis auf Noah hat keiner der Jungs meiner neuen Familie ein gutes Verhältnis zu seinem leiblichen Vater. Meiner ist einfach abgehauen, Nick und Jay sind zu Hause geächtet, weil sie schwul sind, Colin kennt seinen nicht mal.

Nein, alles ist gut so, wie es ist.

 

Ich verfrachte die Tasche auf den Boden und laufe eine Treppe tiefer, wo sich Colins und Noahs Schlafzimmer befindet. Die Tür steht offen, ich klopfe kurz an den Türrahmen und sehe mich um, doch ich kann die beiden nicht entdecken. Dafür dringt mir aus dem Schrankzimmer dumpfes Murmeln entgegen und als ich näher trete, höre ich, wie Noah sagt:

„Du hast schon zwei Koffer voll und jetzt willst du auch noch einen dritten mitnehmen? Wir machen doch keine Weltreise und extra Bühnenklamotten musst du diesmal auch nicht mitschleppen. Du übertreibst, mein Lieber.“

Colin brummelt irgendwas in seinen nicht vorhandenen Bart und schichtet unbeirrt einen weiteren Stapel Klamotten vor sich auf.

„Hui, das gibt Übergepäck“, frotzele ich, obwohl ich genau weiß, dass es scheißegal ist, wieviel Zeug jeder mitschleppt. Wir leisten uns nämlich den Luxus eines Privatjets, der uns quer durchs Land befördern wird.

Früher sind die Pilots noch mit großen Nightlinern durchs Land getourt, doch mittlerweile schwimmen sie im Geld und haben es gern bequem. Außerdem bekommen wir so den riesigen Tross, der aus Band, zwölf Tänzern und einem ziemlich großen Haufen Leuten, die den Laden am Laufen halten, besteht, unter ein Dach.

 

Ich überlasse Noah und Colin ihrer kleinen Kabbelei und überlege, ob ich schnell nochmal zu Nick und Jay rüberflitze. Aber die beiden sind sicher auch dabei, ihren Kram zusammenzupacken. Wenn ich bloß nicht so verdammt aufgeregt wäre …


Zwei

Tristan

 

 

 

 

„Ich weiß nicht, ob ich mir das noch lange ansehe.“

Martin, mein Lebensgefährte, lehnt am Kleiderschrank und versperrt mir den Weg. Er trägt noch seinen Anzug von dem langweiligen Abendessen mit einer potentiellen Kundin, zu dem ich unbedingt mitkommen musste, weil besagte Kundin total auf schwule Pärchen abfährt.

„Martin, bitte. Ich möchte meine Sachen fertig packen. Es ist schon nach Mitternacht und ich muss sehr früh am Flughafen sein.“

Leicht genervt will ich mich an ihm vorbeischieben, doch er stellt sich mir breitbeinig in den Weg. Alkoholdunst wabert mir entgegen und ich verziehe angeekelt das Gesicht. Martin hatte entschieden zu viele Drinks an diesem Abend, wie so oft in letzter Zeit.

„Du lässt mich vier Wochen allein“, jammert er. „Schon wieder. Wozu habe ich einen Mann, wenn er nie da ist?“

„Fuck, Martin!“, brause ich auf. „Ich gehe nicht auf Welttournee. Es sind bloß vier Wochen und wir sehen uns spätestens in zehn Tagen in Chicago, wenn du auf der Messe bist.“

„Werden wir nicht.“

„Wieso? Fliegst du nicht zur Messe?“, verwundert sehe ich ihn an. Martin handelt mit Yachten aller Art und die Chicago Boat war bisher immer eine Pflichtveranstaltung für ihn.

„Natürlich fliege ich hin, aber zu dir komme ich nicht.“

„Und warum nicht?“, langsam werde ich ungeduldig.

„Weil ich keinen Bock mehr auf den Mist habe!“, giftet er. Schwankend stößt er mich zur Seite und fegt mit einem Schwung alle Sachen vom Bett, die ich fein säuberlich dort aufgeschichtet habe. „Du bestellst mich auf dein Hotelzimmer, kommst irgendwann mitten in der Nacht auf eine schnelle Nummer und morgens bist du weg, bevor wir gefrühstückt haben. Das lasse ich nicht mit mir machen. Ich bin nicht deine Nutte, Tristan!“

„So siehst du dich?“, gebe ich getroffen zurück. „Du bekommst jedes Mal einen Backstagepass und wenn du ihn mal nutzen würdest, wenn du nur einmal mit zum Gig kommen würdest, könnten wir viel mehr Zeit miteinander verbringen.“

„Du weißt ganz genau, dass mich dieser Scheiß nicht interessiert!“

Ich raste wirklich nicht schnell aus. An mir prallt eine ganze Menge ab, aber gerade brodelt es gewaltig in mir.

„Dieser ‚Scheiß‘ ist mein Job“, sage ich und bemühe mich krampfhaft, ruhig zu bleiben. „Mit diesem ‚Scheiß‘ verdiene ich gutes Geld. Dieser ‚Scheiß‘ hat dir ermöglicht, dein Geschäft auf Luxusyachten zu erweitern.“

„Genau“, Martin verschränkt die Arme vor seiner Brust und sieht mich herausfordernd an. „Und damit hat sich der Scheiß auch erledigt. Das Geschäft läuft dank dir ausgezeichnet und wir haben eine ganze Menge Kohle auf der hohen Kante. Also wirst du aussteigen aus der Band.“

Das sagt er so dermaßen selbstsicher, als wäre es das letzte Wort in dieser Sache gewesen. Er beugt sich zu mir, küsst mich flüchtig auf die Wange und ich halte die Luft an, weil ich seinen alkoholgeschwängerten Atem nicht ertrage.

„Und außerdem …“, er lächelt wissend. „… außerdem habe ich keine Lust, länger dabei zuzusehen, wie Colin Masters dir in den Arsch kriecht, um dich ins Bett zu kriegen.“

 

Ich fasse es nicht. Diesen Mist höre ich mir wieder und wieder an, seit Martin und Colin sich kennengelernt haben. Ich fühle mich jedes Mal so mies, wenn er mir das an den Kopf knallt. Martin und ich sind seit fünf Jahren zusammen und ich habe ihn in dieser Zeit nicht ein einziges Mal betrogen.

„Ich kann es nicht mehr hören“, stoße ich hervor. „Zum letzten Mal: Colin will nichts von mir und ich will nichts von ihm.“

„Natürlich nicht“, sagt er herablassend und das bringt das Fass endgültig zum Überlaufen.

„Du bestimmst nicht über mein Leben!“, brülle ich. „Ich habe immer davon geträumt, in dieser Band zu sein. Niemals hätte ich geglaubt, dass dieser Traum wahr wird und jetzt, wo ich es geschafft habe, willst du, dass ich alles wieder hinschmeiße? Weißt du eigentlich, was ich erreicht habe im letzten Jahr? Es heißt, dass ich einer der besten Drummer der Welt bin. Ich spiele in einer der einflussreichsten Bands und ich bestimme ihre Musik mit. Ich habe fünf der neuen Songs für die Tour geschrieben! Warum erkennst du das nicht an? Warum freust du dich nicht für mich? Stattdessen bist du eifersüchtig und machst mir die Hölle heiß, seit ich in der Band bin. Erwartest du tatsächlich von mir, alles hinzuschmeißen, wieder störrische Siebenjährige zu unterrichten und zuhause mit dem Essen auf dich zu warten?“

Martin steht schon auf dem Flur, als er sich schwankend umdreht. Seinen leicht umnebelten Blick kann ich nicht deuten.

„Genau das erwarte ich. Nach der Tour wirst du die Band verlassen. Ansonsten kannst du deine Klamotten packen und verschwinden“, sagt er ruhig und geht. Perplex sehe ich ihm nach, doch dann erwache ich aus meiner Starre und brülle ihm hinterher:

„Du kannst mich nicht rausschmeißen! Das ist mein Haus!“

Ich knalle die Schlafzimmertür zu und lasse mich aufs Bett fallen. Tränen der Enttäuschung schießen mir in die Augen. Wann ist aus Martin so ein Scheißkerl geworden? Wieso habe ich das nicht bemerkt? Jeder hat das offenbar, nur ich nicht.

Niemand aus der Band mag ihn, Colin hasst ihn sogar regelrecht. Hätte mir das nicht eher zu denken geben sollen?

 

Natürlich haben wir uns verändert im Lauf der Zeit und als Martins Geschäft beschissen lief, war er eine ganze Weile überhaupt nicht gut drauf, ließ seinen Frust meistens an mir aus und verschwand manchmal tagelang. Ich weiß bis heute nicht, wo er damals war und was er gemacht hat. Ich hätte doch vielmehr Grund zur Eifersucht.

Als das erste große Geld von der Band hereinkam, war er der letzte, der etwas dagegen hatte, dass ich seinem Geschäft wieder auf die Beine half. Er hat auch das große Haus ausgesucht, in dem wir leben, und auch da war klar, dass ich es bezahle. Bisher kam ihm doch sehr zupass, dass ich mit der Band unverschämt viel verdiene.

Ich glaube, dass er nicht damit klarkommt, dass ich mittlerweile viel mehr Geld besitze als er. Für ihn haben sich damit die Machtverhältnisse in unserer Beziehung verschoben. Martin will das Sagen haben, das war schon immer so, und bisher ging das für mich auch in Ordnung. Aber inzwischen habe ich die ständigen Machtkämpfe so satt. Ich verstehe das alles nicht mehr. Wir haben uns doch mal so geliebt!

 

Klar war unser Leben geregelter vor der Band. Tagsüber arbeitete ich als Musiklehrer an verschiedenen Elementary Schools und spielte nebenbei Schlagzeug in einer Garagenband. Wir hatten ab und zu mal ein paar Gigs, aber die waren überschaubar und nahmen nicht überhand.

Als ich hörte, dass die Pilots einen Drummer suchen, wollte ich erst gar nicht hingehen, aber ausgerechnet die Jungs meiner Band bestärkten mich darin, meinten, dass ich viel zu gut wäre, um in der Garage zu versauern.

Martin war von Anfang an nicht begeistert davon und langsam frage ich mich, warum er überhaupt noch bei mir ist. Es ist so viel kaputt gegangen zwischen uns in den letzten Monaten.

Natürlich ist es Mist, wenn wir uns manchmal wochenlang nicht sehen, aber er kommt mir auch keinen Meter entgegen, geht keinen einzigen Kompromiss ein. Ich habe ihn so oft gebeten, einfach mal mitzukommen, doch da führt einfach kein Weg hin.

Mein Geld hat er gern genommen, doch ihm wäre es am liebsten, wenn ich nur noch nach seiner Pfeife tanzen würde. Aber ich bin nicht seine kleine Hausfrau, die er nach Lust und Laune herumkommandieren kann. Ich bin einer der besten Drummer der Welt und ich liebe es, auf der Bühne zu stehen. Und wenn Martin damit nicht klarkommt …

 

Wieder rollen mir Tränen über die Wangen. Ich wische sie weg und hebe meine Klamotten vom Boden auf. Unten höre ich die Haustür zuschlagen und kurze Zeit später einen Motor anspringen. Martin fährt weg, obwohl er so viel getrunken hat?

War es das jetzt? Fünf Jahre einfach so vorbei? Kälte steigt in mir hoch und am liebsten würde ich mich unter der Bettdecke verkriechen.


Drei

Dragon

 

 

 

 

„Wenn ihr nicht gleich Ruhe haltet, lege ich euch übers Knie. Es ist sieben Uhr morgens, wie kann man um diese Zeit schon so wach sein?“, Colin klammert sich an seinen XXL- Kaffeebecher und wirft Jason, Alice und mir wütende Blicke zu. Alice, eine der Tänzerinnen, streckt Colin hinter seinem Rücken die Zunge heraus, Jason, unser Fitnesscoach, verdreht die Augen und wir prusten sofort wieder los. Ich komme mir ein bisschen vor wie auf einem Schulausflug. Nicht, dass ich jemals auf einem war, aber so ungefähr stelle ich es mir vor.

Ob es Colin nun passt oder nicht, in der Lounge ist es laut, Scherze fliegen hin und her, es wird gekichert und gelacht. Kein Wunder, wir alle sind ziemlich aufgeregt. Tänzer, Musiker und Crew sitzen bunt durcheinandergewürfelt, noch etwas, was mir gefällt. Hier gibt es keinen Standesdünkel, und obwohl die „Yellow Pilots“ Superstarstatus besitzen, hat keiner der Jungs irgendwelche Starallüren und hält sich für etwas Besseres.

Trotz der frühen Morgenstunde sind alle gut drauf. Na ja, fast alle. Colin hat natürlich nicht ausgeschlafen und knarzt dementsprechend herum.

 

Spencer Johnson, unser Tourmanager, sieht besorgt auf die Uhr.

„Wenn Strong nicht gleich kommt, sehe ich schwarz für unseren Zeitplan“, brummt er.

„Er ist auf dem Weg“, sagt Morten Frings, seines Zeichens Gitarrist der Pilots. „Hab gerade eine Nachricht von ihm bekommen, es gab einen Unfall, sein Taxi muss einen Umweg fahren.“

„Taxi ist gut, dann schleppt er wenigstens nicht seinen blöden Freund zur Verabschiedungsoper an“, motzt Colin. „Den Idioten ertrage ich nicht auf nüchternen Magen.“

„Dich ertrage ich auch nicht auf nüchternen Magen und trotzdem bleibt mir nichts anderes übrig“, gibt Keyboarder Dylan Franklin grantig zurück. Obwohl sich das Verhältnis zwischen den beiden im letzten Jahr merklich verbessert hat, verbindet sie immer noch eine ausgeprägte Hassliebe und Colin zeigt ihm biestig den Mittelfinger.

„Keine Angst, ich lege den Kleinen schlafen sobald wir im Flieger sind“, Noah lacht und drückt Colin einen Kuss auf die Wange.

„Gib ihm einen Lutscher, damit er den Rand hält“, Dylan lässt sich breitbeinig auf einen Stuhl fallen und trinkt einen Schluck aus seiner Wasserflasche.

„Ich würde lieber an dir lutschen“, flüstert Colin in Noahs Ohr, doch das kommt trotzdem laut genug raus, dass es alle im Umkreis verstehen. Dylan verzieht angeekelt den Mund und Colin grinst hämisch, schnappt sich seinen Freund und küsst ihn mit weit offenem Mund. Noah, der vor Verlegenheit zartrosa angelaufen ist, schubst Colin von sich, setzt sich in einen Sessel und breitet die Arme aus.

„Na komm schon her, du Diva“, murrt er kopfschüttelnd und Colin lässt sich auf seinem Schoß nieder, legt den Kopf in Noahs Halsbeuge ab und kuschelt sich ein. Mir wird immer ganz warm ums Herz, wenn ich die beiden sehe und gleichzeitig beneide ich sie. Ich möchte auch jemanden haben, der mich liebt, selbst wenn ich mal mies drauf bin oder meine schlechten fünf Minuten habe.

 

Meine Laune ist schlagartig im Keller. In meinem Hals steckt ein Kloß von der Größe eines Footballs. Ich schnappe mir eine Flasche Wasser und trinke hastig, verschlucke mich natürlich und fange an, zu husten.

Nick ist plötzlich an meiner Seite, schlägt mir leicht auf den Rücken und sieht mich besorgt an.

„Was ist los?“, fragt er leise. „Du bist plötzlich so still, so in dich gekehrt. Ist alles in Ordnung?“

‚Nichts ist in Ordnung‘, würde ich am liebsten sagen, doch stattdessen nicke ich nur und ringe mir ein Lächeln ab. Nick schaut mich skeptisch an und rückt ein wenig näher, legt mir einen Arm um die Schulter und ich schmiege mich hinein, genieße die tröstliche Wärme, die von ihm ausgeht.

„Was immer dir auf der Seele liegt, du weißt, dass du damit zu mir kommen kannst.“

Ich nicke stumm und drücke mich unauffällig noch ein wenig fester an ihn. Manchmal brauche ich das einfach, so ein bisschen körperliche Nähe. Hatte ja nie viel davon. Mir ist klar, dass das komisch ist. Schließlich bin ich kein kleiner Junge mehr. Ich sollte mit meinem Lover kuscheln und nicht mit Nick.

Aber leider habe ich keinen Lover. Ich bin neunzehn Jahre alt und immer noch Jungfrau. Wie das so ist im Leben, die Typen, die mich wollen, will ich nicht und der eine, den ich sofort mit offenen Armen empfangen würde, will mich nicht.

 

Verstehe ich vollkommen, Tristan ist zwölf Jahre älter als ich und sein Freund Martin ist sogar schon sechsunddreißig. Der kennt alle Tricks und Kniffe, die einen Mann glücklich machen. Was also soll Tris mit einem Anfänger wie mir? Meine Erfahrungen gehen über ein bisschen Knutschen und Fummeln nicht hinaus. Ich könnte ihn nie so glücklich machen, wie er es verdient.

Manchmal liege ich nachts in meinem Bett und frage mich, ob er jetzt, gerade in diesem Moment, mit seinem Freund schläft, ob er ihm all das schenkt, was ich mir so sehr von ihm wünsche, und dann kommen mir die Tränen, denn ich weiß, dass dieser Mann, der ihn küssen, ihn berühren darf, ihn niemals so sehr lieben kann, wie ich es tue.

Tanzen ist meine Welt und Tristan ist ihre Sonne. Er ist der Mittelpunkt meines Universums, aber ich bin nicht der Mittelpunkt des seinen. Vielleicht ahnt er, was ich für ihn empfinde, doch er lässt sich nichts anmerken. Aber manchmal, wenn er mich ansieht, ist da eine Sehnsucht in seinem Blick, die ich nicht deuten kann und ich verspreche mir auch nicht viel davon, denn mir gilt sie sicher nicht.

 

Nick neben mir spürt, dass ich in einer komischen Stimmung bin. Sein Arm schließt sich fester um mich, seine Hand liegt schwer auf meiner Schulter und zu wissen, dass er für mich da ist, beruhigt mich.

Ja, manchmal wünschte ich, dass er mein Vater ist. Natürlich ist das Bullshit. Nick ist viel zu jung, um mein Vater sein zu können. Außerdem hätte er meine Mutter nicht mal mit dem Arsch angesehen. Mal davon abgesehen, dass er schwul ist - welcher normale, nicht von illegalen Substanzen abhängiger Mann würde sich freiwillig mit einer Cracknutte wie meiner Mutter einlassen? Ich weiß, dass das hart klingt und dass ich so nicht über meine Mutter reden sollte, aber es ist die Wahrheit. Mein Erzeuger hat das wahrscheinlich gar nicht bemerkt, als er sie schwängerte, denn Josef Stewart, Sohn eines britischen Matrosen und einer jamaikanischen Kellnerin, hatte seinen letzten klaren Moment wahrscheinlich mit zwölf oder dreizehn.

Meine Mutter Yumi Okada hingegen entstammt der besseren Gesellschaft. Ich weiß nicht viel von ihr, nur dass ihre Eltern, die beide Ärzte sind, Ende der siebziger Jahre von Tokio nach Seattle auswanderten, um eine Klinik zu leiten. Mit sechzehn ist sie von zu Hause abgehauen, weil sie keinen Bock mehr hatte auf Schule und gesellschaftliche Zwänge. Mit siebzehn bekam sie mich. Ihr Abstieg vollzog sich schnell und gnadenlos. Für ihre Eltern existierte sie nicht mehr und nach mir hat von denen noch nie einer gekräht. Ich bin denen scheißegal, sonst hätten sie mich niemals bei ihr aufwachsen lassen.

 

Ist mir aber auch egal. Ich brauche diese Typen nicht, ich habe auf die harte Tour gelernt, mich allein durchzuschlagen. Mein Vater verpisste sich, als ich elf war, und mit ihm verschwand auch das letzte bisschen Stabilität aus meinem Leben, obwohl das mit der Stabilität eher relativ zu sehen ist. Auch als mein Vater noch da war, zogen wir immer umher, lebten in dreckigen Trailerparks oder muffigen Absteigen. Wenn meine Mutter Hals über Kopf zusammenpackte, wusste ich, dass er wieder irgendwo ein Ding gedreht hatte und wir so schnell wie möglich verschwinden mussten.

Später, allein mit meiner Mutter, setzte sich das fort, nur hausten wir dann zumeist bei irgendwelchen Kerlen, vor denen ich mich manchmal nur mit Hilfe meiner flinken Beine in Sicherheit bringen konnte.

Als ich dreizehn war, landeten wir in L.A. und ich bei Tyreeq Jones. Von da an war die Streetgang mein Zuhause, obwohl ich alles dort aus tiefstem Herzen hasste. Doch meine Mutter und die Umstände, unter denen wir lebten, hasste ich noch mehr. Irgendwann verschwand sie komplett aus meinem Leben. Ich habe keine Ahnung, wo sie ist, ob sie überhaupt noch lebt, und ehrlich gesagt ist es mir völlig gleich. Sie ist eine egoistische, herzlose Person. Sie liebte meinen Vater nicht und mich auch nicht. Yumi Okada liebt nichts außer ihrer nächsten Dosis Crack.

 

„Na endlich!“, Dylans Ausruf lässt mich aufblicken und ich erschrecke. Tristan ist da, doch er sieht furchtbar aus. Seine Augen sind rot und verquollen, das Gesicht kreidebleich. Sein langes Haar, welches er sonst akribisch pflegt, ist in einem schlampigen Knoten hochgebunden und sein Blick hat etwas Gehetztes.

„Die ganze Nacht durchgefickt, oder was?“, Dylan kann es einfach nicht lassen. Tristans Gesicht wirkt versteinert. Er geht nicht auf Dylans Anzüglichkeiten ein, sondern setzt sich ein Stück abseits. Morten füllt eine Tasse mit Kaffee, gibt einen Schuss Milch dazu und hält sie Tristan vor die Nase.

„Hat er wieder Stunk gemacht?“, fragt er leise. Tristan greift dankbar nach der Tasse und nickt.

„Er hat mir ein Ultimatum gestellt“, antwortet er, ebenso leise, aber Nick und ich sind nah genug dran, um jedes Wort zu verstehen. „Wenn ich die Band nicht nach der Tour verlasse und zu Hause bleibe, macht er Schluss.“

Mein Blick schnellt zu Nick und der sieht mich mit besorgt gerunzelter Stirn an.

„Und was wirst du tun?“, fragt Morten erschrocken und mir wird angst und bange. Tristan wird doch nicht wirklich die Band verlassen? Dann sehe ich ihn vielleicht nie wieder.

„Bei den Pilots zu spielen habe ich mir von allem am meisten gewünscht“, sagt Tris niedergeschlagen. „Das und mit Martin den Mann fürs Leben gefunden zu haben. Er hat …“

Der Rest seiner Worte geht in der Ansage unter, dass unser Flugzeug bereit steht und wir uns zum Ausgang begeben sollen.


Vier

Tristan

 

 

 

 

Es ist sechs Uhr morgens, als ich mit einer Tasse Kaffee übernächtigt am Küchentresen sitze und aufs Taxi warte. Ich habe die ganze restliche Nacht kein Auge zugemacht, denn Martin ist nicht nach Hause gekommen.

Niedergeschlagen räume ich die Tasse in den Geschirrspüler und gehe nach oben, für einen kurzen Abstecher ins Bad. Ich sehe verheerend aus, farblos und verquollen, als hätte ich die ganze Nacht durchgesoffen. Heulen bekommt mir nicht. Wenn ich daran denke, dass ich mich gleich unter Leute begeben muss, wird mir schlecht.

 

Unten geht die Haustür. Martin, endlich! Ich binde mir die Haare hoch und schaufle mir ein paar Hände eiskaltes Wasser ins Gesicht, aber das hilft auch nichts. Mein Gesicht sieht aus, wie es aussieht. Fahrig trockne ich mich ab und werfe das Handtuch in den Wäschekorb.

Ich könnte wetten, dass Martin jetzt sternhagelvoll ist. In letzter Zeit neigt er dazu, Probleme im Alkohol zu ersäufen. Noch etwas, womit ich nicht gut klarkomme, denn besoffen wird er meist ziemlich unausstehlich. Nicht, dass er mir etwas anhaben könnte, körperlich ist er mir meilenweit unterlegen, aber seine verbalen Entgleisungen schmerzen mindestens genauso sehr wie es eine Ohrfeige tun würde. Aber wenigstens ist er wieder zu Hause, eine Sorge weniger.

Ich wappne mich innerlich gegen die garantierte, neue Auseinandersetzung, betrete die Treppe und pralle geschockt zurück.

 

Martin steht mit geschlossenen Augen und leicht schwankend in der Diele und klammert sich am Treppengeländer fest. Sein Jackett liegt auf dem Boden, die Krawatte hängt ihm lose um den Hals und das Hemd steht offen. Zwei große, dunkelrote Knutschflecke an seinem Hals springen mich regelrecht an, doch das ist nicht das Schlimmste.

Zu seinen Füßen kniet ein dünner, brünetter Junge, angestrengt bemüht, sich Martins Schwanz komplett in den Mund zu stopfen. Martins Hand krallt sich in das Haar des Typen und hält ihn in Position und lässt auch nicht locker, als der Junge zu röcheln beginnt.

Mitten in die Szene hinein klingelt es. Mein Taxi.

Mühsam öffnet Martin die Augen und entdeckt mich.

„Du bist ja noch da“, stößt er genervt hervor und schubst den Jungen derb von sich. Der lässt würgend und hustend Martins Schwanz fahren und sabbert ihm dabei die Hose voll. Er ist jung, sehr jung, wahrscheinlich noch nicht mal volljährig.

Ich versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie tief ich getroffen bin. Wortlos schiebe ich mich an ihnen vorbei, schnappe meinen Koffer und verlasse das Haus.

Am liebsten würde ich alles sausen lassen. Wie soll ich mich jetzt noch auf die Tour konzentrieren? Martin hat alles verdorben.

 

 

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Abgehetzt und völlig fertig komme ich am Flughafen an. Ich bin zu spät, spüre die teils neugierigen, teils mitleidigen Blicke der anderen auf mir und schäme mich für mein Aussehen in Grund und Boden. Niemand sagt etwas, nur Dylan kann sich nicht zurückhalten und kräht lauthals:

„Na endlich! Die ganze Nacht durchgefickt, oder was?“

Ich habe weder Lust noch Kraft, mich mit ihm auseinanderzusetzen, also ignoriere ich ihn und suche mir einen Platz an der Seite. Schräg gegenüber sitzen Nick und Dragon. Der Kleine sieht auch nicht sonderlich glücklich aus, er klebt an Nick, als hätte er eine zusätzliche Portion Zuneigung bitter nötig. Die könnte ich jetzt gerade auch gut gebrauchen.

 

Plötzlich schiebt sich von der Seite ein Becher Kaffee unter meine Nase und Morten Frings, der mir in den letzten Monaten ein guter Freund geworden ist, lässt sich neben mich fallen.

„Hat er wieder Stunk gemacht?“, fragt er leise. Er weiß über meine beschissene Situation Bescheid, denn ich habe ihm vor ein paar Wochen mein Herz ausgeschüttet, als er versehentlich mitten in eine von Martins Eifersuchtsszenen platzte.

„Er hat mir ein Ultimatum gestellt“, antworte ich. „Wenn ich die Band nach der Tour nicht verlasse und zu Hause bleibe, macht er Schluss.“

„Und was wirst du tun?“, fragt Morten sofort und überrascht stelle ich fest, dass es auf diese Frage nur eine Antwort geben kann.

„Bei den Pilots zu spielen habe ich mir von allem am meisten gewünscht. Das, und mit Martin den Mann fürs Leben gefunden zu haben. Er betrügt mich, Morten, wahrscheinlich schon sehr lange. Natürlich werde ich mich von ihm trennen. Nach all den Eifersüchteleien, den ungerechtfertigten Vorwürfen und dem Ultimatum besitzt er doch tatsächlich die Frechheit, vorhin mit einem Jungen aufzukreuzen, der wahrscheinlich nicht mal volljährig ist. Wahrscheinlich treiben sie es gerade in unserem Bett. Ich könnte kotzen, wenn ich nur daran denke.“

 

„Hey, ihr Schwucken, der Flug wurde aufgerufen. Ihr könnt im Flugzeug weiter rummachen“, Dylan stößt mit dem Fuß gegen mein Bein.

Morten fährt auf.

„Es reicht, Dylan! Lass uns in Ruhe!“

Dylan grinst hinterlistig. Ihm macht sowas einen Heidenspaß.

„Nur für den Fall, dass das ansteckend ist, setzt euch bloß nicht in meine Nähe“, stichelt er weiter. „Was sagt eigentlich Lisa dazu, dass du neuerdings mit unserem Muskelmann rummachst?“

Morten springt auf, packt Dylan am Kragen und donnert ihn gegen die Wand. Der dürre, schlacksige Keyboarder hängt wie ein Schluck Wasser in den kräftigen Händen des Bassisten. Wenn es um seine Frau geht, versteht Morten überhaupt keinen Spaß.

„Halt deine große Fresse, Franklin, sonst beginnt die Tour für dich mit einem blauen Auge!“, zischt er wütend.

„Ist ja gut, war nur ein Scherz“, Dylan hebt ergeben die Hände und grinst. Morten lässt ihn los und ich sehe ihm an, dass er ihm am liebsten wirklich eine verpasst hätte. Ich bin froh, dass die anderen schon mehr oder weniger draußen sind und nur Nick und Dragon die Szene mitbekommen haben.

Der Kleine ist sofort neben mir.

„Alles okay bei dir?“, fragt er und drückt mir meine Umhängetasche in die Hand.

„Er kann es halt nicht lassen“, sage ich schulterzuckend. „Die meiste Zeit ignoriere ich ihn einfach.“

„Homophober Arsch“, knurrt Dragon und bleibt an meiner Seite, bis wir im Flugzeug sind.

Dylan trottet hinter uns her, gefolgt von Morten, der ihn bis in den Flieger hinein mit heftigen Beschimpfungen überhäuft.

 

Im Flugzeug will sich Dragon zu mir setzen, doch ich winke ab. Ich kann jetzt wirklich keine Gesellschaft gebrauchen.

„Sorry, Kleiner, ich leg mich lang. Muss noch ein bisschen schlafen. Ist doch genug Platz hier drin.“

Er sieht mich enttäuscht an und ich kann dem verletzten Blick aus seinen braunen Mandelaugen kaum standhalten. Ich weiß, dass er es hasst, wenn ich ihn Kleiner nenne. Wortlos dreht er sich weg und setzt sich ans hintere Ende des Gangs, weit weg von mir.

Seufzend okkupiere ich die Sitzreihe, knülle ein Kissen in die Ecke und schnalle mich an. Ich befürchte, Dragon ist ein bisschen verknallt in mich. Sein ganzes Verhalten deutet darauf hin. Ich hab ihn sehr gern, er ist ein guter Mann, na ja, wohl eher ein guter Junge mit seinen neunzehn Jahren. Natürlich schmeichelt es mir, dass so ein gutaussehender, junger Kerl auf mich steht, aber er muss doch wissen, dass es für ihn keine Chance gibt. Schließlich habe ich Martin.

 

Ach fuck … alles, was ich habe, ist ein egozentrischer, narzisstischer Mann, der mich nach Strich und Faden betrügt und ein notorischer Lügner ist. Wahrscheinlich ist er deshalb so eifersüchtig. Wie heißt es so schön? Der Mensch geht zu neunundneunzig Prozent von sich selbst aus. Muss was dran sein, denn ich habe ihn nie betrogen und ihm immer vertraut. Und jetzt? Jetzt stehe ich vor den Trümmern meiner Beziehung. Jetzt habe ich gar nichts mehr.

 

 

 

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Die knapp drei Stunden Flug zwischen Los Angeles und Seattle verschlafe ich komplett, komme erst wieder zu mir, als mich eine der Flugbegleiterinnen sanft weckt und mich bittet, mich aufzusetzen und anzuschnallen.

Was dann kommt, ist Routine.

Vom Flughafen zum Hotel, einige Tänzer wollen die Stadt erkunden und Essen gehen.

Noch eine Mütze voll Schlaf.

Die Band fährt am frühen Nachmittag geschlossen zum Soundcheck und nach und nach trudeln auch die Tänzer ein, machen sich warm, probieren noch ein paar Passagen.

Catering, Herumsitzen, Warten …

 

Und irgendwann kippt die Stimmung und Nervosität greift um sich. Das ist immer so, kurz vor einem Auftritt, Heute ist es sogar noch einen Tacken heftiger, denn niemand weiß, wie das Publikum reagieren wird.

Ich schiebe meine private Misere in die hinterste Ecke meines Hirns und versuche, mich nur noch auf den Auftritt zu konzentrieren. Wird ungewöhnlich genug für mich werden, denn mein Schlagzeug steht auf einer kleinen, rollenden Plattform, die von den Tänzern ständig über die Bühne geschubst wird und sich dabei permanent um ihre eigene Achse dreht.

 

Ich schlüpfe, wie meine Bandmates auch, in ein auf die Tänzer abgestimmtes Kostüm und dann muss ich in die Maske. Mein langes Haar wird zu einer seltsamen Turmfrisur zusammengesteckt und als Krönung des Ganzen verwandelt eine Maskenbildnerin mein Gesicht in eine futuristische Maske. Ich hasse die Schminkerei, aber mir soll es recht sein, denn ich sehe immer noch nicht viel besser aus als heute Morgen.

 

Wie immer kurz vor einem Gig brauche ich ein paar Minuten für mich. Ich suche mir ein ruhiges Plätzchen, doch dann steht plötzlich Dragon neben mir.

„Hast du die Massen da draußen gesehen? Ich bin so scheiße nervös“, sagt er und hält mir die Hände entgegen. Sie zittern zum Steinerweichen. Ich umschließe sie mit meinen und er wird sofort ruhiger.

Der Kleine sieht umwerfend aus. Er hat ein goldschimmerndes Makeup bekommen, seine Augen wirken durch geschickte Schminktechnik viel größer als gewöhnlich und sie sprühen Funken vor Nervosität. In sein tiefschwarzes, schulterlanges Haar hat die Maskenbildnerin bunte Bänder eingewoben und das hautenge, türkis schimmernde Kostüm bringt seine schlanke, aber trotzdem muskulöse Tänzerfigur aufreizend zur Geltung. Er ist perfekt, so perfekt, dass ich mich neben ihm total plump fühle.

 

„Das Lampenfieber ist vergessen, sobald der Vorhang aufgeht“, verspreche ich ihm. „Aber du kennst das doch, du trittst doch nicht zum ersten Mal auf. Heute sitzen eben nur ein paar Zuschauer mehr im Publikum.“

„Ein paar ist gut. Da draußen sind mehr als dreitausend Leute“, Dragon schüttelt sich.

„Ist halt nur eine kleine Location“, entgegne ich scherzhaft.

„Für dich vielleicht“, murrt er und lächelt schüchtern. „Ich habe bisher vor maximal fünfhundert Leuten getanzt.“

„Du musst keine Angst haben“, ich lege meine Hände auf seine Schultern und ziehe ihn ein Stückchen heran. „Du bist ein hervorragender Tänzer, Dragon. Du siehst toll aus heute Abend. Ach, was sage ich da, du bist wunderschön! Sieh dich doch nur an! Du gehst da raus und ziehst dein Ding durch und ich garantiere dir, die Leute werden dir zu Füßen liegen.“

Dragons Blick geht mir durch und durch, so voll Liebe und Wärme und tiefer Sehnsucht. Verdammt, wann bin ich zum letzten Mal von jemandem so angesehen worden?

 

Ehe ich begreife, wie mir geschieht, spüre ich seine schlanken Hände an meinen Wangen und volle, weiche Lippen auf meinen.

„Ich hab dich so lieb, Tris“, flüstert er und dann ist er weg.

Ich stehe wie vom Donner gerührt, erwache erst aus meiner Starre, als Donovan seine Hand auf meine Schulter fallen lässt.

„Auf geht’s, Alter!“, brüllt er. „Lassen wir’s krachen!“


Fünf

Dragon

 

 

 

 

Lautes Stimmengewirr durchzieht die Garderobe. Man versteht sein eigenes Wort kaum, obwohl gar nicht so viele Menschen im Raum sind. Aber nach der umjubelten Premiere vorhin sind alle noch voll auf dem Adrenalintrip und entsprechend aufgekratzt.

Auch ich natürlich. Mein ganzer Körper kribbelt, obwohl ich eigentlich hundekaputt sein müsste nach dem kräftezehrenden Auftritt. Am liebsten würde ich die ganze Zeit herumspringen und laut brüllen, um die Aufregung, aber auch die unbändige Freude herauszuschreien, die in mir brodelt.

 

Meinem Bewegungsdrang kann ich gerade nicht nachgeben, denn ich fläze bequem auf einem Sofa in unserer Garderobe und genieße es, denn Tristan lehnt neben mir. Gerade lacht er dröhnend und ich lache automatisch mit, obwohl ich gar nicht weiß, worum es geht.

Wahrscheinlich hat Donovan Novak, Leadgitarrist der „Yellow Pilots“, mal wieder einen eindeutig zweideutigen Witz gerissen. Das kann er gut, vor allem, wenn er, wie jetzt gerade, zu unseren Füßen auf dem Boden sitzt und gleich zwei Frauen im Arm hält. Links hat er Cally, eine unserer Tänzerinnen, am Wickel, rechts sitzt Anna, die Kostümbildnerin, und er flirtet, was das Zeug hält. Besonders Cally scheint es zu mögen, sie wirft den Kopf in den Nacken und lacht schallend.

 

Eigentlich wollte ich untertauchen, mich vor Tris verstecken, nach dem, was ich mir vor dem Auftritt geleistet habe. Ich habe ihn einfach geküsst und ihm gesagt, was ich für ihn empfinde. Wie konnte ich mich nur so vergessen? Aber Tristan kennt mich ganz gut, wusste instinktiv, dass ich kneifen würde. Er hat mich gleich nach der Show am Bühnenrand abgepasst, mich ganz fest umarmt und mir gesagt, wie gut ich gewesen bin. Das ging runter wie Öl und die Scham und die Verlegenheit waren schlagartig wie weggeblasen.

 

Ich fühle mich so wohl neben ihm. Heimlich spüre ich seiner Wärme nach. Wenn er sich bewegt, streift mich ein Hauch seines herben Duftes, umtanzt meine Nase und ich würde sie am liebsten in seiner Halsbeuge vergraben, um nie wieder etwas anderes riechen müssen.

Würde ich meinen Arm nur ein paar Zentimeter nach links verschieben, könnte ich seine schöne, kräftige Hand berühren, die ein Weinglas hält, während er mit den anderen scherzt. Ich stelle mir vor, wie meine Fingerspitzen die ausgeprägten Adern, die sich vom Handrücken über seinen Arm ziehen, verfolgen, und wie ich ihm dabei in seine sturmgrauen Augen sehe, von denen ich manchmal glaube, dass sie auf den Grund meiner Seele blicken können, dass sie genau wissen, was in mir vorgeht.

Doch auch, wenn es mir in den Fingern juckt, wenn der Drang, wie aus Versehen einfach seine weiche Haut zu streifen, immer stärker wird, halte ich mich zurück. Das ist reiner Selbstschutz, denn ich weiß, was passiert, wenn ich ihn berühre. Der Ablauf ist immer gleich, es beginnt mit einem Prickeln in den Fingerspitzen, welches sich in Windeseile über meinen Arm zieht, sich ausbreitet und in einem wohligen Schauer, der über meinen Rücken flattert, endet. Und dann gelange ich unweigerlich an den Punkt, an dem ich mich am liebsten in seine Arme werfen würde, um ihn nie wieder loszulassen.

 

Ich bin so verliebt in ihn, so richtig, mit allem was dazugehört, Herzrasen, feuchte Hände, Schmetterlinge im Bauch, sobald ich nur erahne, dass er da ist. Natürlich weiß das niemand, zumal es auch vollkommen hirnrissig ist, denn Tristan ist vergeben. Dabei tröstet mich auch nicht, dass niemand, wirklich niemand in der Band und auch nicht in der Dance Company, seinen Freund Martin mag. Aber Tristan liebt ihn aus irgendeinem Grund und damit ist er verloren für mich, denn er ist absolut treu, was natürlich für ihn spricht. Wer will schon einen Freund, der fremdgeht!

Ich weiß, dass er sich wieder mit Martin versöhnen wird. So oft, wie sie streiten, raufen sich auch wieder zusammen. Immer. Sie scheinen das irgendwie zu brauchen. Mir wäre das nichts.

 

Tris ist ein eigenwilliger Typ, groß, muskulös, mit kräftigen Oberarmen vom ständigen Schlagzeugspielen. Er ist nicht so geschmeidig wie Noah oder Jay, nicht so elegant wie Colin und bei weitem nicht so gut aussehend wie Nick, aber dafür warmherzig, freundlich, großzügig und liebenswert. Wenn wir uns unterhalten, gibt er mir jedes Mal das Gefühl, mir wirklich zuzuhören, sich für das, was ich sage, zu interessieren.

Er ist so talentiert, einer der besten Drummer, die es zurzeit gibt. Wenn ihm das jemand sagt, winkt er mit einem Kopfschütteln ab, doch das ist falsche Bescheidenheit, denn nicht nur die Jungs aus der Band finden das, es wurde sogar schon in diversen Fachzeitschriften erwähnt.

Seit er bei den „Yellow Pilots“ spielt, gibt es in jeder Show mindestens zwei lange Drum- Solos, die vom Publikum frenetisch gefeiert werden. Die Fans mögen ihn, stehen Schlange, um ein Autogramm und ein Foto mit ihm zu ergattern und er enttäuscht sie nie, beantwortet geduldig jede noch so belanglose Frage.

Ich war nicht auf den ersten Blick in ihn verliebt. Am Anfang fand ich ihn einfach nur interessant, weil er so stark und ruhig daherkam, so unerschütterlich wie ein Felsen. Und weil er, wie ich, ein Drachen ist.

Ryū ist japanisch und bedeutet Drachen. Tristan wurde im chinesischen Jahr des Drachen geboren.

Ich liebe meinen Namen und so habe ich mir während meiner Zeit in der Straßengang viele, ineinander verschlungene Drachen auf Arme und Oberkörper tätowieren lassen. Tristan trägt nur einen auf der Brust, einen wirklich hübschen Kerl mit goldbraunen und grünschimmernden Schuppen und einem langen Hals, der sich um eine seiner Brustwarzen schmiegt und den ich nur zu gern einmal liebkosen würde. Illusorisch, ich weiß. Tris hat mich gern, aber mehr ist da nicht, leider.

Für ihn bin ich nur ein Junge, mit dem er scherzt und lacht und über den er sich manchmal ein wenig lustig macht. Aber ich kann trotzdem nicht anders, als mir Abend für Abend vorzustellen, wie er mich küsst, wie seine sanften Lippen an mir hinabgleiten und mich verwöhnen, mich langsam …

„Leute … Leute!“, Jay klopft laut mit den Fingerknöcheln auf den Tisch und reißt mich damit aus meinem Tagtraum. Verlegen knülle ich meinen Hoodie auf dem Schoß zusammen, um meine beginnende Erektion zu verdecken.

„Auch, wenn ihr mich jetzt hasst, aber ich würde sagen, wir machen Schluss für heute. Die Nacht wird kurz und ihr solltet morgen topfit sein für Denver. Abfahrt vom Hotel zum Flughafen ist sieben Uhr dreißig. Verschlaft nicht!“

„Nix mit Sex & Drugs & Rock’n‘Roll. Auf dieser Tour herrscht Zucht und Ordnung und um zehn Uhr ist Nachtruhe“, blökt Don, reicht Cally und Anna jeweils eine Hand und zieht die beiden schwungvoll vom Boden hoch. Sie lassen sich gegen seine Brust fallen und himmeln ihn theatralisch übertrieben an.

„Na komm, Süßer“, flötet Anna und Cally klapst ihm auf den Hintern. „Wir bringen dich ins Bett.“

Tristan verdreht die Augen und grinst mich an.

„Ich glaube, diese Tour wird sehr interessant“, raunt er und zwinkert mir vielsagend zu. Ich zucke lachend mit den Schultern, ziehe meinen Hoodie über und mache mich langsam auf den Weg nach draußen.

 

Noah und Colin stehen schon vor der Tür. Colin hat die Hände in Noahs Haar vergraben und die beiden knutschen, was das Zeug hält.

„Könnt ihr nicht warten, bis ihr im Hotel seid?“, stichle ich und lege übermütig ein paar Steppschritte auf den Asphalt hinter der Halle. Cally kommt kichernd an meine Seite und auch Anna gesellt sich zu uns und gemeinsam legen wir so gekonnt los, dass Fred Astaire neben uns vor Neid erblasst wäre.

„Ich wusste gar nicht, dass du steppen kannst“, rufe ich Anna zu.

„Du weißt so einiges nicht, kleiner Drachen“, sie lacht und dreht gekonnt eine Pirouette.

 

Niemand beachtet den Wagen, der ein Stück hinter uns den Motor anlässt. Schließlich befinden wir uns auf gesichertem Gelände hinter der Halle. Doch dann bemerke ich, dass die Karre mit voll aufgeblendeten Scheinwerfern und viel zu hoher Geschwindigkeit auf uns zubrettert. Blinzelnd lege ich einen Arm über die Augen, höre noch, wie Colin erschrocken „Was ist das denn für ein Idiot!“ brüllt.

 

Etwas Großes, Hartes knallt gegen mich, schleudert mich zur Seite und ich krache gegen die Wand, schlage mir dabei den Kopf an. Benommen richte ich mich auf, höre schrille Schreie und das unerträgliche Kreischen durchdrehender Autoreifen.

Alles um mich herum scheint sich zu verlangsamen. Wie durch eine dicke Wolke aus Zuckerwatte sehe ich, dass Don, Colin und Noah seltsam ineinander verschlungen auf dem Boden liegen. Neben ihnen Cally. Ihre Beine stehen in einem grotesken Winkel von ihrem Körper ab, ihre Hose ist blutdurchtränkt und ihre Schreie bohren sich in mein Hirn. Halb auf ihr drauf liegt Anna und bewegt sich nicht.

Vor meinen Augen verschwimmt alles. Ich spüre, wie meine Beine unter mir nachgeben, lasse mich langsam an der Mauer heruntergleiten und als ich sitze, sehe ich nur ein kleines Stück neben mir Tristan liegen. Seine Klamotten sind zerfetzt, sein rechter Arm irgendwie verdreht, doch das Schlimmste ist das Blut, das aus seinem Kopf fließt. Es ist wirklich viel Blut und bei dem Anblick wird mir so übel, dass ich mich übergeben muss.

 

Doch dann fügen sich in meinem angeschlagenen Hirn ein paar Puzzleteile zusammen. Ich sehe noch einmal das Auto auf uns zurasen … etwas kracht gegen mich, stößt mich gegen die Wand … das muss Tristan gewesen sein.

Ich krieche zu ihm und atme erleichtert aus. Er lebt! Seine Augen sind offen, er sieht mich an. Ich zerre den Hoodie von mir runter, falte ihn zusammen und lege ihn ganz behutsam unter seinen Kopf. Tristan stöhnt und ich streichle vorsichtig über seine Wange.

„Es wird alles wieder gut“, flüstere ich und fange vor lauter Hilflosigkeit an, zu heulen.

„Es wird alles wieder gut“, schluchze ich noch mal, so als wollte ich mich selbst davon überzeugen. Und als müsste Tristan mir unbedingt beweisen, dass ich Bullshit rede, verdreht er die Augen nach oben, seine Lider beginnen zu zittern und er kippt weg.

„Scheiße! Nein!“, schreie ich und rapple mich auf die Knie. Er atmet nicht mehr! Fieberhaft versuche ich, mich an den Erste Hilfe Kurs zu erinnern, den ich letztes Jahr an der High School hatte.

Atemspende … Herzmassage …

Ich überwinde den Ekel vor dem vielen Blut und beuge mich über ihn …

 

 

 

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Eine gefühlte Ewigkeit später werde ich grob von Tristan weggerissen.

„Nein!“, brülle ich und schlage die Hände weg, die an mir zerren. „Er atmet nicht, er stirbt, wenn ich ihm nicht helfe!“

„Dragon! Dragon!“, Jays Stimme reißt mich aus meinem tranceartigen Zustand und ich finde mich in seinen Armen wieder.

„Ryū, alles ist gut. Der Notarzt ist da. Er kümmert sich um Tristan.“

Tris ist eingekreist von einem ganzen Pulk Menschen. Ich höre laute Rufe und Kommandos und alles in mir drängt mich zurück zu ihm, doch Jay lässt mich nicht.

„Ich will doch nur bei ihm sein“, flüstere ich. „Ich kann ihn doch nicht allein lassen.“

„Wir lassen ihn nicht allein“, sagt Jay und zieht mich an sich. „Wir sind alle für ihn da. Aber wir müssen die Ärzte ihren Job machen lassen, okay?“

Ich nicke und schluchze auf, spüre, wie meine Beine nachgeben und ich langsam in Jays Armen zusammensacke. Er hält mich fest umklammert und dann ist plötzlich Colin da und packt ebenfalls zu.

„Dir ist nichts passiert!“, heulend lasse mich gegen ihn fallen.

„Nur aufgeschlagene Knie“, sagt er leise. „Noah und Don geht es auch soweit gut. Noah hat sich den Arm gebrochen, aber das wird wieder.“

Die beiden schleppen mich zu einem Krankenwagen, vor dem bereits Nick steht. Genau wie Jay war er zum Zeitpunkt des Unfalls noch im Haus und ist unverletzt.

„Dragon, Gott sei Dank, dir ist nichts passiert“, ruft er, als er mich sieht und zieht mich in eine knochenbrecherische Umarmung. Ich jaule auf und er lässt mich erschrocken los.

„Nicht so schlimm“, beschwichtige ich sofort. „Ich bin nur gegen die Mauer geflogen.“

Ein Sanitäter bedeutet mir, mich auf die Trage zu legen, zieht mein Shirt hoch und tastet mich ab.

„Ist geprellt, vielleicht eine Rippe angeknackst“, brummt er, als ich scharf Luft zwischen die Zähne ziehe.

„Hast du noch woanders Schmerzen?“, er leuchtet mir in die Augen.

„Mein Schädel brummt. Hab mir den Kopf angeschlagen.“

„Ist dir übel?“

„Hab gekotzt, aber das war wegen dem vielen Blut.“

„Könnte auch eine leichte Gehirnerschütterung sein“, er dreht sich um und ruft:

„Wir nehmen ihn mit. Na los, in den Wagen mit ihm.“

Man schiebt mich in den Krankenwagen, in dem bereits Noah mit dem Arm in einer provisorischen Schiene sitzt. Sein Gesicht ist versteinert. Er sagt kein Wort, greift nur nach meiner Hand und hält sie ganz fest.

„Was ist mit Cally und Anna?“, frage ich. „Wo sind sie?“

Noah und der Sani wechseln einen schnellen Blick und schlagartig wird mir wieder schlecht.

„Der Amokfahrer hat direkt auf uns zugehalten. Colin und ich standen hinter euch, als ihr getanzt habt. Don konnte uns gerade noch wegstoßen, als das Auto angerast kam, er ist auf uns draufgefallen, deshalb ist ihm auch nichts passiert. Cally und Anna …“, Noahs Stimme bricht weg und ich sehe Tränen in seinen Augen schimmern.

„Sind sie tot?“, flüstere ich und er wendet sich ab, fährt sich mit der unverletzten Hand übers Gesicht.

„Cally lebt, aber sie ist sehr schwer verletzt. Anna hat es nicht geschafft“, sagt er leise. „Das Auto hat sie voll erwischt. Und wenn Tristan dich nicht weggestoßen hätte ...“

Schockiert sehe ich ihn an.

„Er hat sich einfach dazwischen geworfen. Er hat dir damit wahrscheinlich das Leben gerettet.“

„Und dafür seins aufs Spiel gesetzt“, sage ich erstickt. „Wenn er stirbt, werde ich mir das nie verzeihen.“

 

„Gib dir bloß nicht die Schuld dafür, Junge!“, mischt sich der Sanitäter ruppig ein und zieht die Wagentür hinter sich zu. „Hier hat sich nur einer schuldig gemacht, und das ist der Verbrecher, der in euch reingerast ist. Ich habe gesehen, wie du deinem Freund geholfen hast. Das war spitzenmäßig und glaub mir, sowas machen nur sehr wenige Leute. Wenn er das hier übersteht, dann nur, weil du da warst und ihn so gut beatmet hast. Du solltest stolz auf dich sein, Kleiner.“

„Kleiner …“, flüstere ich. „Tris nennt mich manchmal so, um mich zu ärgern, obwohl er weiß, dass ich es hasse. Er darf nicht sterben. Er darf es einfach nicht …“

Noah streicht sanft über meinen Kopf.

„Wird er nicht. Er ist zäh. Wir werden ihn nicht verlieren. Du wirst ihn nicht verlieren.“

Sein Blick ist wissend und ich kann die Tränen nicht mehr zurückhalten.

„Ich liebe ihn, Noah“, schluchze ich. „Ich liebe ihn so sehr.“

„Ich weiß, Ryū.“

„Ist es so offensichtlich?“

„Nur, wenn man dich besser kennt. Ausgerechnet unser Unsensibelchen Colin hat es als erster bemerkt. Du weißt, dass wir damit nicht hausieren gehen.“

Ich nicke unter Tränen und greife dankbar nach dem Taschentuch, welches mir der Sani entgegenhält.

‚Er muss es schaffen‘, hallt es in meinem Kopf wie ein Mantra. ‚Er muss es schaffen.‘

 

Sechs

Dragon

 

 

 

 

„Hey Dragon, alles klar?“, Steve, einer der Krankenpfleger auf der Intensivstation, nickt mir zu und hält mir den obligatorischen Papierüberwurf und die Plastiküberschuhe entgegen, mit denen ich mich jedes Mal vermummen muss, wenn ich Tristan besuche.

Zwei Tage sind seit dem Unfall vergangen und seitdem schläft Tristan fast pausenlos. Weil er bei meiner Rettungsaktion mit dem Kopf aufgeknallt ist, hat er eine Schädelfraktur und ein Epiduralhämatom erlitten und musste operiert werden. Es geht ihm den Umständen entsprechen gut und er wird wieder vollkommen gesund, jedenfalls sagte man uns das. So richtig habe ich das Kauderwelsch nicht verstanden, mit dem uns die Ärzte bombardierten, nur so viel, dass der Schlaf positiv für den Heilungsprozess ist.

 

Ich verbringe die meiste Zeit bei ihm im Krankenhaus, habe mich strikt geweigert, ihn zu verlassen. Ich wechsle mich mit Tristans Eltern ab, die nicht weit von hier in Rugbens, einer Kleinstadt unmittelbar an der kanadischen Grenze leben. Nick hat sie gleich nach dem Unfall per Helikopter einfliegen lassen.

Mister und Misses Strong, oder Troy und Rosie, wie ich sie mittlerweile nennen darf, haben sich nach kurzer Irritation an meine Anwesenheit gewöhnt. Ich glaube, Troy ist mittlerweile sogar dankbar, dass ich da bin und seiner Frau und ihm Pausen verschaffe. Die beiden sind schon über siebzig, haben Tristan erst sehr spät bekommen, als die Hoffnung auf Nachwuchs schon fast begraben war, wie mir Rosie unter Tränen verriet.

Wir haben Zimmer in einem Hotel, nur einen Block weiter von hier, bezogen. Es ist ziemlich schäbig dort und die beiden hätten weiß Gott etwas Besseres verdient, aber es liegt tatsächlich nur um die Ecke vom Krankenhaus und wir wollen einfach schnell erreichbar und in Tristans Nähe sein.

 

Gerade war ich zwei Stunden im Hotel, habe versucht, zu schlafen, aber es geht einfach nicht. Eigentlich habe ich seit dem Unfall nicht mehr richtig geschlafen, die Sorge um Tristan hält mich wach und außerdem bekomme ich jedes Mal Alpträume.

 

Vor Tristans Zimmer steht sein Vater zusammengekrümmt, das Gesicht in den Händen vergraben und hemmungslos weinend. Scheiße, Tris … er wird doch nicht …

„Troy … Troy, was ist los?“, panisch rüttle ich an seinem Arm. „Troy, was ist mit Tristan?“

Er reißt mich in seine Arme und klammert sich an mir fest.

„Er ist aufgewacht“, schluchzt er. „Er ist wach und er hat uns erkannt. Der Arzt sagt, dass er auf einem guten Weg ist.“

Seine Hände krallen sich in meine Oberarme, er schiebt mich von sich. Unter all den Tränen strahlen seine grauen Augen und mir scheint, als würde Tristan mich aus ihnen ansehen. Sofort schießen auch mir Tränen in die Augen und ich umarme ihn erleichtert.

„Jetzt wird alles wieder gut“, flüstere ich und drücke seine Hand. Plötzlich bin ich total nervös. Mein Herz rast und als ich die Türklinke zu Tristans Zimmer herunterdrücke, zittere ich am ganzen Leib.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739498683
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Mai)
Schlagworte
Schwul Hollywood Millionär Queer homosexuell Slash Los Angeles Erotik

Autor

  • Sasha Lilus (Autor:in)

Sasha Lilus, geboren und aufgewachsen im grünen Herzen Deutschlands, schreibt seit frühester Jugend. „Für mich ist das Schreiben ein Instrument, um mich aus dem stressigen Alltag auszuklinken. Ich mag es, zu träumen und dabei meiner Fantasie freien Lauf zu lassen und wenn sich meine Leser und Leserinnen von meinen Fantastereien einfangen und auf eine aufregende Reise mitnehmen lassen, habe ich alles erreicht, was ich mir wünsche.“
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Titel: Rock Dance Love_3 - DRAGON