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Lovecrafts Schriften des Grauens 03: Das Mysterium dunkler Träume

von Andreas Ackermann (Autor:in)
224 Seiten

Zusammenfassung

In seiner wahnwitzigen Abenteuergeschichte konfrontiert der Autor den Filmvorführer Maxemilian Meissner mit dem lovecraftschen Grauen. Vor der Kulisse eines monströsen Prag der Zukunft, in der Magie gleichwertig neben überlegener Technik existiert, inszeniert er einen spannenden Wettlauf um Leben und Tod. Die Printausgabe umfasst 350 Buchseiten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis




Es war eine seltsame Welt hinter den Spiegeln ...

Drei Uhr nachts im Botanischen Garten. Obgleich ich hätte schwören können, dass ich den verwilderten Park um den Zodiac-Brunnen auf meinen rastlosen Wanderungen schon Hunderte Male durchquert hatte, war mir das Koma Kino niemals aufgefallen, bis ich, der Wegbeschreibung des Psychospiels folgend, in der Nacht zu Allerheiligen vor dem verfallenen Gebäude stand.

Noch immer quält mich die Frage, was mich veranlasst hatte, den alten Filmpalast zu betreten. Wilde Blumen rankten sich über die abbröckelnden Fassaden des düsteren Gemäuers. Ihr schwerer Duft weckte Erinnerungen an Dunkelheit und Wahnsinn. Je länger ich darüber nachdachte, desto sicherer war ich mir, dass es dieser eigentümliche Geruch war, der meine Seele hinabzog.

Die Flügeltüren des Foyers wurden von konturlosen Steinskulpturen bewacht, die trotz angelaufenem ­Messing und blinden Scheiben vom einstigen Glanz träumten. Wann immer sie sich unbeobachtet wähnten, veränderten die Wächter ihre Position, ohne das verwitterte, von ihren Gasleuchtern beschienene Plakat absetzen zu können, das hoch über dem Eingang für die Erstaufführung des Gefährlichsten Spiels von allen warb.

Während die Türen mit leisem Wispern die Realität ausschlossen, erklang aus der Ferne das zynische Lachen des Grafen Zaroff.

Der Raum vor mir war so finster wie die Nacht. Ich benötigte endlose Augenblicke, um mich an die ­Dunkelheit zu gewöhnen. Schwarzer Marmor führte hinab in den bodenlosen Abgrund. Die von feinen Rissen durchzogenen Stufen endeten seitlich in verschlissenen Samtkissen, auf denen dunkelgekleidete Gestalten lagen. Aus ihren bleichen Körpern ragten obskure, verchromte Instrumente hervor, in denen sich die Glut der Wasserpfeifen spiegelte. Der Geruch von türkischem Tabak, Marihuana und Opium lag in der Luft.

In der Ferne vernahm ich leises Trommeln, begleitet von beschwörendem Gesang, der die Götter des Chaos pries. Unwillkürlich wandte ich mich zur Tür um, um von diesem unwirklichen Ort zu fliehen, fand diese jedoch fest verschlossen vor. Durch das verschmierte Glas erblickte ich Straßen, auf denen Menschen wandelten, doch keiner der Passanten beachtete mich, wie sehr ich auch versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.

So ging ich zurück zu dem finsteren Abgrund, den hungri­gen Augen entgegen. Schaudernd hielt ich den starren­den Blicken der reglos zusammengesunkenen Krea­turen stand, die einem Albtraum entsprungen schienen.

Mein Weg führte mich hinab ins kalte, dunkle Herz der Erde. Schemen düsterer Geschehnisse tanzten im Verborgenen, während meine Schritte unnatürlich laut von den mit dichten Spinnweben überzogenen Wänden widerhallten.

Inzwischen konnte ich den Grund des Gewölbes erkennen. Am Fuße der Treppe wiegte sich eine chromglänzende Abscheulichkeit zum Rhythmus der Trommeln. Aus klinisch blankem Stahl rann dunkles Blut hervor, aus dem sich zusehends Gewebe und Haut bildeten. Metallische Tentakel durchbrachen die Kopfhaut der rothaarigen Frau. Ihr Körper war von Tätowierungen überzogen, die sich bewegten, als seien sie selbst lebendig.

Ich kannte die Frau aus meinen Träumen. In ihren Augen lag das Versprechen von Sünde ohne Erlösung. So wie ich sie begehrte, hatte ich niemals zuvor eine Frau begehrt. Für nur eine weitere fiebrige Nacht mit ihr hätte ich mit Freuden alles gegeben, was ich besaß. Wie hypnotisiert eilte ich die Treppe hinab, ohne mir Gedanken über die Gefahr zu machen, in der ich schwebte.

Vor ihrem Sockel gabelte sich der Pfad; rechter Hand beschienen Fackeln einen in den Fels gehauenen Durchgang, links gähnte Dunkelheit. Während ich einen Atemzug am Abgrund der Nacht verweilte, um in das verführerische Angesicht des Traums zu blicken, schlugen dornenbewehrte Tentakel nach mir. Sie teilten mein Fleisch und zertrümmerten die aufgestapelten Schädel in ihren rings um mich ins Gewölbe eingelassenen Grab­nischen. Scharfe Klingen rissen Haut von Muskelgewebe und Sehnen und legten pulsierende Adern frei.

Mit unerbittlicher Gleichgültigkeit zerschlug der oberste Richtherr das Stundenglas der Ewigkeit. Schwarzen Tränen gleich rann vergeudete Zeit durch seine Klauen. Blut und Leben pulsierten aus den Wunden. Schmerz schrieb Symphonien der Lust, während die Göttin der Träume begann, in der Farbe der Qual zu malen.

Ausweichend taumelte ich hinüber ins Licht.

Die Tunnel endeten in einem von rußgeschwärzten Petro­leumlampen spärlich erhellten Raum. Der Feuerschein prallte auf die Kälte der aus genieteten Stahlplatten zusammengefügten Wände. Eisige Flammen spiegelten sich in glänzendem Chrom, vor dem weitere Schädel angehäuft lagen. Sie mochten von Reptilien oder Dämonen stammen; menschlichen Ursprungs waren sie jedenfalls nicht!

Unschicklich bekleidete Puppen bewegten sich aufreizend zwischen rostigen, von der Gewölbedecke herabhängenden Ketten, die in blutbeschmierten, rasiermesserscharf geschliffenen Fleischerhaken ausliefen. Es handelte sich um wundersam mechanisches Spielzeug mit beinahe menschlicher Seele.

Auf einem mit Schlangenleder überzogenen Kanapee lag der Herr dieses unterirdischen Labyrinths. Seine Haut war über und über von rituellen Narben und Tätowierungen bedeckt. Eine grausig bemalte Maske verbarg den Großteil seines Gesichts.

Gemächlich erhob er sich und winkte mir einladend, näher zu kommen. Als ich vor ihm stand, griff er mit seinen langen, scharfkantigen Krallen nach der blutenden Wunde an meinem Hals.

Ich schrie vor Schreck auf. Seine Berührung erinnerte mich an totes Fleisch. Unwillkürlich zuckte ich zurück, als ich die Kälte spürte. Meine Reaktion entlockte ihm ein Grinsen, bei dem viel zu viele Zähne sichtbar wurden. Er glich den Abbildungen der Traumdämonen, die in den Chroniken der Geisterstadt zu finden waren.

„Ein Quäntchen Blut, ein Quäntchen roter Wein“, murmelte er vor sich hin.

Der Maskierte griff nach einem Glas mit rotem, dickflüssigem Inhalt, von dem er genüsslich trank. Dann deutete er auf eine silberne, mit Dämonenfratzen verzierte Vitrine, in der betörend schöne Plastiken aus metall­gefasstem Stein aufgereiht lagen. Sie hatten Ähnlichkeit mit den Goldstaubgewichten der Tuareg, wirkten aber dunkel und nachtseitig.

Mit ihnen wog man Albtraumstaub. Es handelte sich um die Maßeinheit für Schwarze Träume!

„Womit kann ich dienen?“, fragte er mich. Sein leises Flüstern wob Schatten in meine Seele. Unterdessen öffneten sich die Augen einer der schlafenden Figuren. Töd­liches Eis reflektierte den Trubel des schwebenden Marktes, die Schönheit des Verfalls. Leise erzählen sie mir von ihrer Welt, während ich in ihrem Traum versank ...



Lass alle Hoffnungen fahren, der du hier eintrittst

Es war einmal in einer träumenden Stadt, halb so alt wie die Zeit selbst. Noch immer überragte Das Schloss dunkel und unheilvoll die verfallenen Häuser und labyrinthischen Gassen der Altstadt, in denen seit jeher Vorsehung und Chaos zusammentrafen. Immer wieder verschwanden hier Anwohner und Touristen, ohne Spuren zu hinterlassen, was der Nähe der Katakomben und ihren grauenhaften Bewohnern zugeschrieben wurde.

Der fiebrige Rhythmus ferner Voodoo-Trommeln beherrschte die Dunkelheit. Wir rannten durch den Irrgarten des Nachtmarkts, verfolgt von vermummten Mitgliedern des Höllenfeuer-Klubs. Die Luciferi waren für die Grausamkeit berüchtigt, mit der sie verstümmelten und mordeten.

Hinter den Schießscharten der verrammelten Läden und Lokale drängten sich die Schaulustigen. Jene, denen es nicht gelungen war, sich in einem der Gebäude in Sicherheit zu bringen, verfolgten die Blutjagd aus nächster Nähe. Im Takt der Trommeln schlugen sie mit ihren Klingen gegen Holz und Metall.

Unsere Flucht endete am Planetarium, nahe dem Abgrund über der schlafenden Stadt. Sie hatten uns zu einem der Stollen gehetzt. Ein bis zur Unkenntlichkeit verwitterter, über gekreuzten Knochen in den Fels eingelassener Schädel markierte den Eingang zur Unterwelt. Aus den Tunneln zogen Nebelschleier durch die Gitterstäbe des mit massiven Holzbalken vernagelten Tores.

Uns blieb kein Ausweg.

Zu beiden Seiten des Labyrinthes gähnte die unergründliche Tiefe. Verkümmerte Pflanzen krallten sich in den Abhang. Ihre knorrigen Wurzeln ragten aus dem zerklüfteten Fels hervor. Während wir hinab auf das kalte Neonlicht der Smaragdstadt starrten, nahten unsere Verfolger gemächlichen Schrittes.

Wir hatten einen der ihren getötet, und sie würden sich unsere Köpfe holen!

Wenige Stunden zuvor wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, dass ich um mein Leben fürchten musste, auch wenn sich seit Wochen die Anzeichen mehrten, dass das Ende der Zeit nahte.

Die Geschichten über die Spiralmänner, die meinen Großeltern noch Angst eingejagt hatten, waren seit Langem vergessen. Nur die Alten trafen sie im Schlaf, sprachen im Wachen aber nie von ihnen. Heutzutage glaubte keiner mehr daran, dass der Weltuntergang bevorstand, wenn sie wieder auftauchten. Lediglich die Insassen des städtischen Irrenhauses schrien ihre unverständlichen Warnungen in die Dunkelheit hinaus, doch kaum jemand achtete auf die Voraussagen aus den Gefilden des ­Deliriums, von dem aus ein düsterer, schmaler Treppenschacht hinauf zu den seltsam unwirklichen Bauwerken des Botanischen Gartens führte.

In den Chroniken der Geisterstadt fanden sich flüchtige Hinweise, dass manches dieser Gebäude bereits alt gewesen sei, lange bevor sich die Menschen am Ufer der Moldau angesiedelt hatten. Sowohl der Rote Turm des Alchemisten als auch Midian wurde erwähnt, doch die Herkunft der Bauwerke blieb verborgen.

Unzählige Legenden rankten sich um die Heimstätten der Verdammten.

Die merkwürdigsten Geschichten kursierten über Rabensteins Labor. Der berüchtigte Alchemist hatte die Nebel des Orion noch kurz vor dem Bau der Großen Mauer besucht. Es wurde gemutmaßt, er habe bei seinen Forschungen zum Chaos, dem Urzustand der Welt, die Alten Götter erzürnt. Manch einer glaubte, das Verschwinden Midians sei eine fatale Folge der gewagten Expedition gewesen.

Im Laufe der Zeit hatte das Wachstum der exotischen Vegetation das Antlitz der verfallenen, im Stile der unterschiedlichsten Epochen erbauten Türme, Kuppelbauten und Minarette verändert. So war ein sagenumwobener, verwunschener Ort entstanden, dessen dunkles Herz Das Asyl der Altstadt genannt wurde. Unter den pflanzenüberwucherten Gebäuden befanden sich weitverzweigte, zum Teil überflutete Tunnel.

Fand man einen der Eingänge zur Unterwelt, war alles möglich, und selbst die Todeshändler scheuten den Schritt hinab in die verbotenen Schächte. Nur Verzweifelte und Verrückte betraten die Gänge abseits des frei zugänglichen Teils der Katakomben. Es hieß, das Brechen der mit dem Bildnis der Göttin Kali versehenen Tonsiegel an der Pforte sei mit einem schrecklichen Fluch belegt.

Seit dem rätselhaften Blitzeinschlag im Altstädter Brückenturm waren die Hängenden Gärten geradezu besessen vom Okkulten. Man munkelte, etwas unsagbar Böses sei bei dem Brand im Spiegelzimmer freigesetzt worden. Gerüchte sprachen von der Wiederkehr der Pest, und schnell verbreitete sich über das Funkfeuer die Nachricht, die Prager Gothic-Rock-Legende XIII. Stoleti habe ein neues Album aufgenommen. Es handelte sich um das erste Lebenszeichen der Band seit fast einem Jahrzehnt. Alle Exemplare der Lichtbogen-Crash-EP waren bereits am Tag der Veröffentlichung restlos ausverkauft worden. Rückwärts abgespielt fand sich im Text die auf Deutsch gesprochene Botschaft: ­Armageddon folgt dem Feuer.

Der Verrückte Spielzeugmacher fertigte Amulette mit Abbildungen des brennenden Turms, die nicht selten als Obolus für die Fahrt über den Styx unter der Zunge von Toten gefunden wurden.

Als sich in den Umrissen des Mondes ein schemenhafter roter Drache abzuzeichnen begann, prophezeite ­Lunare, der berühmte mechanische Astrologe des Goldenen Gässchens, dass die Verstorbenen schon bald unter den Lebenden wandeln würden. Zeitgleich hatte eine entsetzliche Mordserie begonnen. In rascher Folge waren bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Leichen in Nähe der Katakomben gefunden worden. Die alte Hysterie breitete sich von Litfaßsäule zu Litfaßsäule, über den Ǽther zu den psychiatrischen Behandlungszimmern aus: Jack sei zurückgekehrt, und die Toten reisten schnell!

Der Mythos des Rippers hatte anfänglich scharenweise Touristen angelockt, doch die Sensationsgier war schnell versiegt, nachdem bekannt wurde, dass die blutigen Kameraimplantate verschwundener Nachtschwärmer bei den Organhändlern des Nachtmarkts aufgetaucht waren. Todesclips ihrer letzten Augenblicke verbreiteten sich virengleich weit über die Stadtmauern von Metroprag ­hinaus, und das schemenhafte Grauen beschwor lange vergessene Ängste herauf. Der Alchemist destillierte aus dieser Angst das neue Voodoo-Elixier für die Adrenalin-Junkies. Die rauschbringende Essenz wurde in Parfümfläschchen aus dem China der Ming-Zeit abgefüllt. In den roten Ton waren obszöne Sexszenen und Abbildungen von Höllengöttern geprägt. Sie wurden von den ­Straßenapothekern im Asyl zum Verkauf angeboten und fanden sich gleichermaßen in teuren Handtaschen, modischen Geh­röcken und abgetragenen Lederjacken. In tief in das Fundament gegrabenen Tunneln und mondänen Nachtklubs vermischten sich Dekadenz und Todesnähe so zu einem albtraumhaften Cocktail.

Die Nachfrage nach neuem, immer extremerem Grauen stieg, was professionelle Todeshändler zum Nachtmarkt lockte. Das Kopfsteinpflaster im Labyrinth der Hängenden Gärten wurde seit Wochen von Cliphändlern, Kopfjägern und Blutreportern bevölkert. Der stetige Nachschub aus der Büchse der Pandora forderte einen ungewohnt hohen Blutzoll. Dies hatte die Händlergilde veranlasst, zur Verstärkung der Nachtwache zusätzliche Söldner anzuheuern. Sie rekrutierten sich vorrangig aus ledergekleideten Jagdmeistern, deren tätowierte, von scharfen Zähnen gezeichnete Körper nicht selten mit Stahl und künstlichen Muskeln verstärkt waren.

Der übliche Broterwerb dieser exotischen Jäger war es, die Abschussprämie für menschenfressende Flusskrokodile und mutierte Reptilien zu kassieren, von denen die Einwohner innerhalb der Stadtmauern bedroht wurden. Im Grunde wusste jeder, dass es sich bei ihnen um gnadenlose Halsabschneider handelte, doch in diesen gefährlichen Zeiten waren selbst sie gerne gesehen. Dennoch wurden jede Nacht entsetzlich zugerichtete, oft noch unnatürlich lange zuckende Leichen unter den toten Augen des träumenden Golems in seiner in das Mauerwerk der Karlsbrücke eingelassenen Gruft gefunden.



Die Nacht im Orchideengarten

Schon seit Wochen leerten sich die Randbezirke des Asyls mit Beginn der Dunkelheit. Seither verirrte sich kaum noch ein Besucher in mein Kino, egal, welche Kostbarkeiten ich zeigte. Nur bei Vollmond, wenn ich John Brahms Der Schlitzer von London aufführte, fanden sich noch zahlende Gäste ein, von denen einige ähnlich beängstigend auf mich wirkten wie der Hauptdarsteller des Films.

Seit der Sender XXIII über diese Ripper-Nächte berichtet hatte, bestand das Publikum ausschließlich aus diesem lichtscheuen Gesindel. Nach jeder Vorstellung musste ich den Saal ausgiebig lüften, um ihren ekelhaften Gestank loszuwerden. Dabei lohnte es sich kaum, den Raum zu heizen.

Im Grunde konnte ich das Kino ganz schließen!

Anfang der Woche hatte mir ein Mitarbeiter von Videodrome, einem Lebemann und Abenteurer, der mit außerirdischen Artefakten und verderbten Träumen handelte, das Angebot unterbreitet, den Streifen käuflich zu erwerben. Solange der Ripper in der Altstadt wütete, wollte er ihn regelmäßig von einem seiner Blutkanäle ausstrahlen lassen.

Noch konnte ich mich nicht dazu durchringen, ihn zu veräußern, doch irgendetwas musste ich unternehmen. Weitere zwei Wochen ohne Einnahmen, und mir würde nichts anderes übrig bleiben, als mich von einigen der Filme oder gar dem Projektor zu trennen.

Es wäre nicht das erste Geschäft, mit dem ich scheiterte. Als junger Mann hatte ich vom Verkauf seltener Schriften und Folianten gelebt. Ich handelte mit Büchern, an denen mein Herz hing, um in einer Welt überleben zu können, die mir nichts bedeutete. Von vielen Exemplaren hatte ich mich nicht trennen können, obwohl mich dieses Geschäftsgebaren an den Rand des Ruins brachte. Sie fanden sich noch heute in meinem Besitz.

In jenem langen, kalten Winter, in dem selbst die Moldau zugefroren war und die Händler ihre Stände auf dem Eis errichtet hatten, konnte ich nicht einmal mehr genügend Geld für Brennholz auftreiben. Um nicht zu erfrieren, war ich gezwungen gewesen, so viel Zeit wie möglich in geheizten Räumen zu verbringen. Der zufällige Besuch einer Mitternachtsvorstellung von Robert Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari hatte mich dabei in eine fremde, seltsam faszinierende Schattenwelt geführt. Noch Monate später glaubte ich manchmal, ich würde mich durch die verschlungenen Gassen einer merkwürdig farblosen Stadt bewegen, die sich im Umkreis eines diabolischen Jahrmarktes angesiedelt hatte.

Zusehends verfiel ich in eine Art moralische Anarchie. Meine Welt, meine Regeln! Seltene Bücher, exotisches Essen, Gothic-Rock und ein nie endender Reigen an Drogen und fleischlichen Genüssen bestimmten mein Leben. Regelmäßig besuchte ich nun die Mitternachtsvorstellungen der Programmkinos. Nosferatu, M – Eine Stadt sucht einen Mörder, Die schwarze Katze, Alraune und der Golem, Der Mann, der zweimal lebte, Dracula und ­Wolfen. Die Jagd nach weiteren, vorrangig schwarz-weißen Kostbarkeiten wurde zu meiner Obsession.

Wann immer es mir möglich war, bereiste ich weit entfernte Städte, um Filmkopien, Plakate und Aushangfotos zu erwerben. Während einer dieser Expeditionen stieß ich in den Gewölben eines verfallenen Kinos, tief in den verschneiten Karpaten, auf einen vollständigen Satz der Zellu­loid-Rollen von Tod Brownings London After Midnight.

Dieser legendärste aller verschollenen Filme weckte schnell das Interesse begüterter Cineasten. Drei Jahre lang zog ich von Metropole zu Metropole, um den Streifen in exklusiven Klubs aufführen zu lassen.

Lon Chaneys Rückkehr auf die große Leinwand ermöglichte es mir, in Metroprag mein eigenes Lichtspielhaus zu eröffnen. Das Koma Kino, eine Heimstadt für die Gesellschaft der Schatten.

Dank der gut besuchten Mitternachtsvorstellungen hatte ich mich bis vor kurzem dem Müßiggang hingeben können. Ich wohnte in Josefov, dem ehemaligen Judenviertel, das von den Einheimischen Whitechapel genannt wurde, seit Jack the Ripper hier im Winter des Jahres 1891 sein Unwesen getrieben hatte.

Zu den ersten Opfern des Serienmörders gehörten zwei Inspektoren von Scotland Yard, die ihm von London aus nach Prag gefolgt waren. Die Zeitungsmeldungen über ihr schreckliches Ende verdrängten damals selbst die Schlagzeilen über den – wie sich drei Jahre später herausstellen sollte – fingierten Tod von Sherlock Holmes von den ­Titelseiten.

Die verstümmelten Leichen der beiden Inspektoren waren auf der Schwelle eines mittelalterlichen Gebäudes gefunden worden, das in einer ausgestorbenen Gasse inmitten des Elendsviertels lag. Zu jener Zeit befand sich im Keller des Hauses eine berüchtigte Lasterhöhle.

In ganz Josefov stank es unglaublich. Ratten und Ungeziefer machten dem dort lebenden Gesindel den Platz streitig.

Nachdem Maria Theresia der jüdischen Bevölkerung die Bürgerrechte in ganz Böhmen gewährt hatte, verließen die wohlhabenderen Familien das ummauerte Getto. Ihre Wohnungen, ungeheizte Löcher ohne fließendes Wasser und Kanalisation, wurden von den Ärmsten der Armen in Besitz genommen.

Viel zu viele Menschen hausten hier auf engstem Raum zusammen. Prostitution und Verbrechen wucherten wie ein Krebsgeschwür in die besseren Gegenden der Stadt hinein.

Um die Jahrhundertwende herum wurden die meisten der elenden Häuser niedergerissen und durch moderne Bauten ersetzt, die den Spekulanten die Taschen füllten.

Heute stand an gleicher Stelle ein vierstöckiges Jugendstilhaus, von dem eine ungemein morbide Atmosphäre ausging. Es war von dem als Hexenmeister verschrienen Petr d’Argon entworfen worden. Der damaligen Mode entsprechend, zierten von rankenden Blumenornamenten umgebene Frauenkörper die Wände. Ebenso wie die verschwenderischen Holzarbeiten und die üppigen Muster der aus farbigen Glassegmenten zusammengesetzten Scheiben in den Türen und Fenstern, kämpften die verblassenden Malereien gegen das Vergessen an. Doch die Zeit machte nur vorm Teufel halt.

Schon seit ich das Haus das erste Mal gesehen hatte, war es mir nicht mehr aus dem Sinn gegangen. Als eine der Wohnungen zum Verkauf angeboten wurde, hatte ich die Gelegenheit ergriffen und sie erworben. Nach und nach richtete ich die Räume nach meinem Geschmack ein. Alle Zimmer waren angefüllt mit kostbaren Möbeln, dicken Teppichen, wertvollen Gemälden und alten Zeichnungen.

Mein Domizil erstreckte sich über das gesamte Dachgeschoss des Hauses. Vom Turmfenster aus konnte ich die eingesunkenen Grabsteine des jüdischen Friedhofs sehen, um den sich seit alters her so viele Legenden rankten.

Der offene Kamin des Opiumzimmers, in dem sich meine Bibliothek befand, war ein Traum aus Tausendundeiner Nacht. Die Decke des Raumes bestand aus geschliffenem Kristallglas, das im Mondlicht in den unirdischsten Farben glühte.

Hoch über der fiebrig träumenden Stadt verbrachte ich hier den Großteil meiner Nächte mit dem Studium seltener, obskurer Bücher, doch statt in der Sicherheit meines gemütlichen Heims zu verweilen, trieb mich ein seltsamer Zwang wie zur Buße immer wieder in selbstzerstörerische Situationen.

Auch diese Nacht atmete Wahnsinn. Einem Insassen des Deliriums war es am Abend gelungen, sich mit den Zähnen die Schlagader aufzureißen. Ehe er sein Leben aushauchte, hatte er irgendetwas mit seinem Blut an die Wand der Zelle geschrieben. Ich sah mir den Todes-Clip, der zu den am häufigsten ausgestrahlten der Blutkanäle zählte, immer und immer wieder an.

Inzwischen glaubte ich, Cthulhu fhtagn entziffern zu können. In seinem Haus zu R’lyeh wartet träumend der tote Cthulhu! Welch furchtbare Drohung.

Es ist nicht tot, was ewig liegt!

Wenn man Doktor Rabensteins Traktat Zur Lobpreisung der Dunklen Götter Glauben schenken durfte, waren solche Schmierereien das erste Mal in der Nacht auf den 19. Juli vierundsechzig in Rom aufgetaucht, als neun von vierzehn Stadtteilen brannten, während Nero zur Lyra Verse zum Fall Trojas vortrug.

Seither fanden sie sich überall dort, wo das Chaos wütete!

Seit Stunden versuchte ich mir nun einzureden, dass ich mich geirrt hatte, doch das Böse zog die Stadt abwärts, einem grausigen Ende entgegen. Die Meldungen über schreckliche Unfälle und mysteriöse Selbstmorde häuften sich. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Ich fürchtete meine Träume. Was blieb, waren eine Kanne Tee, das vertraute Klicken der Würfel oder einige Blüten des Bösen.

Warten auf das Ende der Zeit!

Gekleidet in nachtschwarzem Heroin Chic, machte ich mich auf den Weg zu den Feuern der Nacht. Lediglich die abgetragene Lederjacke stammte nicht aus einer der teuren, auf schäbig getrimmten Boutiquen am Wenzelsplatz, die eine Rasierklinge, Seife oder das Symbol der Anarchisten als Hauszeichen führten.

Sie hatte meinem Großvater gehört und wärmte mich seit meiner Jugend in den dunkelsten Nächten.

Ausgetretene Treppenstufen wisperten die Geheimnisse von Jahrhunderten in die Nacht. Sie verfolgten meine Schritte in den Abgrund der Welt. Über dem Asphalt wütete ein Sturm, der in der Lage war, selbst die mächtigsten Gebäude nach Oz zu tragen.

Inmitten der Schatten, im Angesicht der sich windenden Schemen über dem fahlen Schein des Mondes, die mich unwillkürlich an William Blakes Aquarell Der große Rote Drachen und die mit der Sonne bekleidete Frau erinnerten, würde niemand die Existenz des Bösen leugnen.

Die Straßenschluchten wurden zum Schlachtfeld dunkler Götter, während sich die Schritte sterblicher Menschen unbeachtet in der Unendlichkeit verloren.

In der ehemaligen Wachstube, die zum Tor der verfallenen Mauer um die Siedlung der Altneu-Synagoge herum gehört hatte, betrieb Max Orloff ein auf schäbige Art gemütliches Lokal, den Orchideengarten, die letzte Zufluchtsstätte für die Verlorenen.

Unzählige Kerzen warfen Schattenspiele auf die mit Kondenswasser beschlagenen Fensterscheiben der Gaststube. Die Flammen projizierten Traumbilder in die Dunkelheit, zu denen die vergessenen Helden des Wave den melancholischen Soundtrack lieferten.

Orloff besaß eine Vielzahl unschätzbarer Kostbarkeiten auf knackendem Vinyl. Es handelte sich um eingefrorene Momentaufnahmen mitternächtlicher Schatten. Blass und kahlköpfig wirkte er selber wie einer der ­Schattendämonen, die er in so vielen, lange vergessenen Episoden der Traumstaub-Filmserie dargestellt hatte. Fast konnte man glauben, er sei dem vergilbten Kinoplakat entstiegen, das hoch über dem Eingang des Lokals kreischend im Wind schaukelte.

Hinter der Theke standen eingestaubte, mit dem Namen verschwundener Stammgäste gekennzeichnete Branntweinflaschen neben in Alkohol konservierten Reptilien, denen Vergänglichkeit und Verwesung die Konturen geraubt hatten.

So als handele es sich um Strandgut der Zeit, lagen mehrere Schichten abgetretener Teppiche über den Boden verstreut. Angeblich verbargen sie in das Fundament des Gebäudes eingelassene Glasplatten, die den Blick hinab in den Garten der Lüste ermöglichten.

Sicherlich war dies kaum mehr als ein Gerücht, doch der Gedanke, zu unseren Füßen würden sich unsagbare Orgien abspielen, war durchaus erregend. Wahrscheinlicher war es jedoch, dass sich irgendwo dort unten das Torture-Chamber befand, das von der Hunting Lodge für die Produktion der berüchtigten tribal warning shot Filme genutzt wurde.

Die barbarischen Sex- und Folterstreifen wurden exklusiv von Videodrome vertrieben. Es gab kaum jemanden, der zugab, den Sender XXIII abonniert zu haben. Dennoch war es der erfolgreichste Blutkanal, der aktuell ausgestrahlt wurde.

Zwischen Miniaturwäldern in Glassäulen, die mit giftgrün glimmendem Nebel angefüllt waren, pseudo­wissenschaftlichen Exponaten und erotischen Plastiken aus den Goldenen Zwanziger Jahren, verbarg sich eine schemenhafte Gesellschaft von Nachtexistenzen. Sie waren auf der Flucht vor dem Albtraum der Realität.

In der Hoffnung, den Schweif des Teufels zu erhaschen, beanspruchten Abenteurer und Kopfjäger die Fensterplätze, während Todeshändler auf der Jagd nach den Reliquien des Rippers unablässig die Blutkanäle des Ǽthers durchforschten.

Tiefer im Dunkeln, auf abgewetzten Sofas und wackeligen Stühlen, saßen jene, die oftmals vergeblich hofften, dem Teufel niemals zu begegnen. Zwischen ihnen fand ich meinen Platz, bestellte eine Kanne Gewürztee und starrte in das unruhige Flackern der allmählich erlöschenden Kerzen. In der Wärme des Kachelofens lag das Versprechen auf Schlaf. Mir fielen fast die Augen zu, doch im Schlaf lauerte die Eintrittskarte zur dunklen Seite des Mondes. Dem Nachtmahr, der uns alle verschlingen würde!

Meine Träume führten mich stets zurück in die düsteren Gewölbe, tief unten in den Eingeweiden der Stadt. Zu meinen Kunden gehörten in jener Zeit zwei rätselhafte Herren aus dem fernen Cathay. Sie waren der stetige Quell eines süßverdorbenen Duftes, der mich unwillkürlich erschauern ließ. Noch heute glaubte ich manchmal, ihr heiseres Flüstern in der Dunkelheit zu vernehmen. Ein leises Wispern in den Schatten.

Ihr Interesse galt dem Okkulten. Sie investierten hohe Beträge in seltene Bücher, für die sie mit abgegriffenen Silbermünzen bezahlten, die bei einigen Händlern des Nachtmarkts gegen ein Vielfaches des Materialwertes eingetauscht werden konnten. In die Oberfläche der Geld­stücke waren Abbildungen von labyrinthischen Bauwerken geprägt, deren Architektur den physikalischen Gesetzen gänzlich widersprach.

Es handelte sich um pures Chaos inmitten scheinbarer Ordnung!

Eines Abends, ich hatte meinen Laden gerade schließen wollen, schlugen sie mir vor, ich solle als Mittelsmann für die Einfuhr alter Kunst aus ihrer Heimat fungieren. Ohne Zweifel handelte es sich dabei um ein interessantes, wenngleich äußerst gefährliches Angebot. Das karge Land gehörte zu den Traumlanden. Zoll und Inquisition achteten peinlich genau auf Einfuhren und kontrollierten jede Lieferung.

Noch lange, nachdem sich die beiden an diesem Abend entfernt hatten, verweilte ihr Geruch, das Unglück anziehend, in meinem Laden. In den folgenden Nächten träumte ich von erschreckenden Abenteuern in den regennassen Gassen einer verderbten Stadt, irgendwo am anderen Ende der Welt. Mehrere Wochen lang, in denen sich unerklärlicherweise zunehmend weniger Kunden in meinen Bücherladen verirrten, dachte ich über ihren Vorschlag nach. Dem Bankrott nahe, willigte ich schließlich ein, nach Cathay zu reisen.


*


Bei der Erinnerung an das befremdliche Land mit seinen absonderlichen Bewohnern wurde ich noch immer von Furcht übermannt.

Ich erreichte die Stadt zur Zeit der Mondfinsternis.

Erneut glaubte ich, die verdorbenen Gerüche der wild wuchernden Pflanzen wahrzunehmen und hörte den ständigen Regen auf das Dach meines schäbigen Quartiers trommeln.

In der siebenten Nacht meines Aufenthalts besuchte ich die albtraumhaften Räumlichkeiten des Cathayer Saloons. Dort, inmitten einer unglaublichen Sammlung phantastischer Malerei, stellte ich den Kontakt zum Oberhaupt eines traditionsreichen Handelshauses her, dem ich auftragsgemäß sechs antike Silbermünzen übergab, die zu schweben begannen, als er sie zusammenfügte.

Er führte mich hinab in die Tunnelstadt, zum Kontor eines verwachsenen Mannes, dessen tätowierte Haut von Hunderten Nadeln durchstoßen wurde.

Wieder spürte ich das Adrenalin durch meine Venen kreisen, wie in jenem Moment, da er mir das obskure Objekt übergeben hatte, an das mir später jegliche Erinnerung fehlte. Wenn ich fortan versuchte, mich daran zu erinnern, bekam ich schreckliche Kopfschmerzen. Nur manchmal, in fiebrigen Nächten, offenbarten mir flüchtige Traumsplitter Trugbilder einer reptilienähnlichen Kreatur, deren schlangengleich verwobene Glieder den Blick auf einen seltsam begehrenswerten Körper freigaben.

Die betörende Bestie existierte im Inneren eines schwarzen Raumes, der lebende Materie absorbierte. Das Dunkel strahlte eine furchtbare Hitze aus, die mich, dem Wahnsinn nahe, schweißgebadet erwachen ließ, ehe mein Geist im Feuer verging.


*


Orloff brachte mir meine Bestellung. Ich griff nach der Metallkanne und schenkte mir Tee ein. Dann gab ich Milch und reichlich Zucker dazu und kramte eine Tafel Schokolade aus der Tasche.

Nachdem der süße Gewürztee die Schatten der Vergangenheit vertrieben hatte, beobachtete ich die Nachtbrut mit ihren Absinth-Gläsern, Rauchutensilien und synthetischen Drogen.

Die Königin der Nacht regierte ihr Reich mit schrecklicher Schönheit! Weißer Rauch durchzog die eingefrorenen Welten im Inneren der Wasserpfeifen. Mit jedem Atemzug glühten die blutroten Augen teuflischer Fratzen auf. Der süße, traumbringende Duft der Drogen lag wie Nebel in dem überheizten Raum.

Spinnen und Skorpione, gezeichnet mit den Insignien des Alchemisten, krochen über ausgemergelte Körper. Sie schlugen ihren Stachel in zerstochene Venen.

Die grüne Fee, die im Absinth lebte, küsste ihre Freier, um ihnen die Seele zu rauben. Nur die Todeshändler und Kopfjäger verschmähten ihre Gunst.

Sie warteten auf neue Nachrichten aus der Hölle!

Über die Wände des Lokals flimmerten ausländische Wochenschauen. Die grobkörnigen Bilder zeigten den berüchtigten Bunker 51, der sich irgendwo in den militärischen Sperrgebieten des Thüringer Waldes befand. Der Reporter berichtete, das parapsychologische Institut der Akademie der Wissenschaften in Berlin habe eine Expedition nach Metroprag entsandt, die unter Führung eines hochrangigen Mitglieds des Deutschen Herrscherhauses die Sichtung von Flugscheiben über dem Hradschin untersuchen würde.

Amüsiert schüttelte ich den Kopf. Wahnsinn und Verschwörungstheorien. Schon seit Wochen machten wilde Gerüchte die Runde, mehrere Großmächte hätten Agenten in die Stadt geschickt, um ein im Niemandsland abgestürztes Flugobjekt zu bergen. Ebenso wie der Ripper würden diese Alien-Jäger die nächtlichen Straßen durchstreifen.

Ich trank von dem Tee, lehnte mich zurück und schloss die Augen. Wieder verloren sich meine Gedanken in der Vergangenheit.

Nach einer entbehrungsreichen Reise durch die zerklüfteten Bergregionen des indischen Subkontinents war ich zu einem verfallenen Hafen gelangt, der auf den Seekarten nicht verzeichnet war. Die Gewölbe der Altstadt wurden von schuppigen Kreaturen bevölkert, die nur noch entfernt an Menschen erinnerten. Mit ihrer Hilfe gelang es mir, drei verschlossene Kisten nach Metroprag zu schmuggeln.

Die Übergabe der Behälter sollte am Tag nach meiner Ankunft in den Katakomben stattfinden. Ich war wirklich froh, die Gegenstände so schnell aus dem Haus zu bekommen, denn sie raubten mir den Schlaf. Eine seltsame Unruhe hatte mich erfasst, seit sie in meinem Besitz waren.

Meine Auftraggeber erwarteten mich in einer spärlich beleuchteten Halle. Ich konnte sie schon von ­Weitem ­riechen. Ihr eigentümlicher Körpergeruch überlagerte selbst den Gestank des Abwassers.

Die beiden waren in rote Kutten gehüllt. Um den Hals trugen sie massive Goldketten, an denen Elfenbeinschnitzereien krakenähnlicher Wesen befestigt waren.

Chaos-Kult!, schoss es mir durch den Kopf, als ich sie sah. Selbst die merkwürdig geschnittenen Bärte der Männer konnten das entrückte Lächeln nicht verbergen, mit dem sie jeden meiner Schritte beobachteten. Ihre Augen erinnerten mich an Reptilien. Als ich dicht genug vor ihnen stand, um die wabernden Schatten in der Dunkelheit um sie herum wahrnehmen zu können, begannen die beiden, gleichzeitig wie ein Mann im Chor zu sprechen. Mit monotoner Stimme wiesen sie mich an, das Schmuggelgut zu ihnen in das Gewölbe zu schaffen.

Während ich die schweren Kisten in den Tunnel schleppte, fiel mir auf, dass bei einer das gefälschte Einfuhrsiegel der Inquisition verkohlt war, so als habe Feuer aus dem Inneren das Kreuz ausgelöscht.

Die beiden Männer standen wie erstarrt da und blickten mir mit versteinerten Gesichtszügen entgegen. Sie schienen nicht mehr zu atmen. Auf ihr Geheiß hin öffnete ich den Behälter, der mir eben schon aufgefallen war. ­Schuppige Ranken peitschten mir daraus entgegen. Ihre scharfkantigen Dornen zerfetzen mein Fleisch, und der Schmerz führte mich tief in die Dunkelheit hinein.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich zusammengesunken auf dem Boden des Abwasserkanals. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre ertrunken.

Die Herren aus Cathay waren verschwunden. Selbst ihr Geruch hatte sich inzwischen verflüchtigt.

Meinen Lohn hatten sie achtlos in den Dreck geworfen. Dreißig Silberlinge. Mit ihnen finanzierte ich später die Expedition in die Karpaten. Dort hatte ich mich vor den Unbilden der Witterung in eine lange verlassene Geisterstadt flüchten müssen, wo mir die Filmrollen in die Hände gefallen waren, die über so viele Jahre meinen Lebensunterhalt gesichert hatten.

Nachdem meine Wunden vernarbt waren, verunstalteten verschlungene Symbole meinen Körper. Von Rachsucht getrieben suchte ich nach den Männern, die mir das angetan hatten, sah sie aber niemals wieder durch die Straßen der Altstadt streifen.

Auch die Kisten aus jener anderen Welt blieben verschwunden. Im Laufe der Zeit hatte ich versucht, das Geschehene zu verdrängen, doch tief im Innersten wusste ich, dass etwas unsagbar Böses meine Welt betreten hatte.

Grauen, das in der mystischen Vergangenheit eines sagenhaften, vom Chaos beherrschten Landes wurzelte.

Es mag seltsam klingen, aber seither hatte sich alles verändert! Schleichend, fast unbemerkt, verschwanden ganze Stadtviertel.

Die Verbotenen Zonen wuchsen wie Pilze aus dem Boden. Überall gab es außerirdisches Gestein zu kaufen, und an jeder Straßenecke wucherten exotische Pflanzen, die in unseren Breitengraden früher nicht heimisch gewesen waren.

Manchmal des Nachts, wenn der Regen auf das Dach meiner Wohnung trommelte, hatte ich das Gefühl, auf ewig in Cathay gestrandet zu sein.

Die Sekunden verrannen wie geschmolzenes Blei. Am Altstädter Ring verklang der dritte Glockenschlag der St.-Nikolaus-Kirche. Er kündete vom Jahr der Pest, dem Zeitalter der toten Seelen. Die schwere Eisentür öffnete sich. Kälte strömte in den Raum hinein, als ein neuer Gast Zuflucht an den Feuern der Nacht suchte.

Der Fremde schien von weither zu kommen. Seine Kleidung, abgetragen und staubbedeckt, wirkte selbst hier exotisch. Der Mantel war aus Reptilienleder gearbeitet worden. Die Knöpfe bestanden aus den silbern eingefassten Zähnen der tödlichen Kreaturen. Blickdichter Stoff hing wie Spinnweben von der Krempe seines Zylinders herab.

Minutenlang starrte er aus der Schankstube zurück auf die Straße hinaus, so als glaube er, verfolgt zu werden. Doch da waren nichts als Schatten im Nebel.

Schließlich wendete er sich ab und durchquerte den Raum. Für Augenblicke zog er das Interesse der Kopf­jäger auf sich, während er ins Dunkel hineinglitt. Schwarze Flammen spiegelten sich im rot getönten Glas seiner Brille, das auf eine Art geschliffen war, die ich vorher noch niemals gesehen hatte. Der Mann legte Zylinder und Mantel ab, nahm auf dem Diwan mir gegenüber Platz und zog eine mit spiralförmig angeordneten Schriftzeichen verzierte Schale aus der Tasche.

Mit dem Tongefäß wies er auf die Kanne, und ich schenkte ihm Tee ein, von dem er kostete, während die menschenleeren Straßen weiter seine Aufmerksamkeit gefangen hielten.

Beinahe eine Stunde war inzwischen vergangen, ohne dass weitere Gäste gekommen waren oder die Kunde von neuen Gräueltaten des Rippers die Fensterplätze geleert hatte. Ungeduldig warteten die Todeshändler darauf, dass der Serienmörder erneut zuschlagen würde. Während sie zwischen den Sendern der Blutkanäle hin und her wechselten, die sie in sich gekehrt auf den Bildschirmen ihrer runden Brillen beobachteten, berührten sie unbewusst immer wieder die Griffe ihrer Pistolen und Macheten.

Der Fremde starrte in die Flammen, ohne von seiner Umgebung Kenntnis zu nehmen, um dann plötzlich, so als habe ihn eine lang erwartete Nachricht erreicht, aus seiner grüblerischen Weltabgewandtheit zu erwachen. Feuerzungen brachen sich im Pentagramm seines Ringes, während er vorsichtig eine zerbeulte Tabakdose öffnete, um zwischen spitzen Fingernägeln eine zuckende Spinne ans Licht zu fördern.

Das Siegel des Alchemisten fehlte, was den Biss des Traumträgers zu einem unkalkulierbaren Wagnis machte. Beiläufig setzte er sich das Tier an den Hals und wartete auf den Schmerz.

Während ihm die Spinne den schwarzen Staub in die Venen jagte, bäumte sich sein Körper auf. Er begann zu zittern und sein Blick wurde glasig. Unterdessen huschte die Spinne davon, um sich zum Sterben in eine finstere Ecke zu verkriechen.

Als er erstarrte, hielt ihn die Wirrnis fest im Griff. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf seinen im Flammen­schein funkelnden Ring.

„Mancher glaubt, dieser Ring habe einst Bela Lugosi gehört“, begann er unvermittelt zu sprechen. Sein Akzent rief in mir Bilder der schneebedeckten Hänge des Borgo-­Passes in den Karpaten wach. „Man sagt, sein Besitzer lebe ewig, und mancher glaubt, ich hätte Lugosi deshalb getötet.“ Er sah auf und blickte mir mit beängstigender Intensität in die Augen. „Glaubt Ihr, im Blut liegt Ewigkeit?“, fragte er schließlich leise, offensichtlich ohne eine Antwort zu erwarten. Ich hatte den Eindruck, er alleine wusste, ob Lugosi mit seinem Ring begraben worden war.

Dann förderte er aus den unergründlichen Tiefen seines Mantels ein reich verziertes Backgammon-Spiel und eine aus Knochen geschnitzte Figur zutage. Das Abbild einer orien­talischen Gottheit maß etwa fünfzehn Zentimeter. Die rot blitzenden Augen waren aus geschliffenen Edelsteinen gefertigt worden. Sie hatten etwas seltsam Hypnotisches an sich.

Während er das Spiel aufbaute, gelang es mir kaum, den Blick von dem Schmuckstück abzuwenden, das er zwischen uns auf den Tisch gestellt hatte.

Schließlich lagen sich die mit Traumsymbolen verzierten Spielsteine auf dem Backgammon-Brett gegenüber. Er deutete auf den Baudelaire, in dem ich bis dahin gelegentlich gelesen hatte. „Ihre dunklen Blumen gegen meine Traumgöttin“, forderte er mich zum Spiel heraus. Ich nickte zustimmend. Was immer es mich kosten würde, ich musste Sie besitzen! Die edelsteinbesetzten Augen der Traumgöttin verhießen mir die Erfüllung ungeahnter Lüste.

Die Würfel fielen.

Mein Gegenüber war ein vorsichtiger Spieler, dem das Glück gewogen war. Nach und nach trotzte ich ihm Siege ab, bis wir zur abschließenden, alles entscheidenden Partie kamen.

Wir teilten uns den letzten Tee, als er erneut zu sprechen begann. „Gleich wird sich Jack ’ne Seele fangen“, sagte er unvermittelt.

Bei seinen Worten lief es mir eiskalt über den Rücken. Mit jeder endlosen Sekunde zweifelte ich mehr daran, die grausige Prophezeiung aus dem Mund des Fremden vernommen zu haben, der gerade die Steine seines ersten Zuges setzte. Es schien mir, als wandle mein überreiztes Hirn, genährt durch Schlafentzug und bewusstseins­erweiternde Substanzen, am Rande des Wahnsinns. Dessen ungeachtet gewann ich das Spiel mit geradezu lächerlicher Leichtigkeit.

Der Fremde reichte mir den versprochenen Preis, während seine Pupillen feurig zu glühen begannen. Ich bekam einen elektrischen Schlag, als ich die Figur berührte. Sie fühlte sich heiß an, pulsierend vor Leben.

Plötzlich verstand ich. Er war ein Traumfänger. Die Essenz der Sünde und die Seele der Nacht vereinten sich in seinen Elixieren.

Wie in Trance griff ich nach der zuckenden Spinne, die er mir auf der Innenfläche seiner Hand entgegenstreckte. Das Gift ihres Bisses schickte Schmerz durch meinen Körper, der mir den Weg hinüber ins Reich der Schwarzen Träume wies.


*


Mein Geist wandelte über die im Wind schwankenden Seilbrücken der Hängenden Gärten. Trotz der späten Stunde war die Luft angenehm, so als habe das Gewitter die Nacht von den düsteren Schatten befreit, die auf ihr gelastet hatten.

Natürlich war dies eine Illusion. Wie immer brodelte das Höllenfeuer dicht unter dem Asphalt. Nebel verschlang das Zwielicht und erschuf einen labyrinthischen Irrgarten zwischen den mächtigen Baumstämmen.

Schließlich stand ich im schier undurchdringbaren Dickicht in der Nähe der Katakomben. Die Natur brach sich ihren Weg durch das verwitterte Pflaster. Eine phantastische Albtraumwelt umgab mich. Die trügerischen Versprechen von Sicherheit konnten hier allzu schnell zwischen den Zähnen eines mutierten Reptils enden. Dornige Schlingpflanzen überwucherten die Fassaden der verfallenen Pavillons, zwischen denen Marmorskulpturen längst vergessener Götter und Helden standen.

Elmsfeuer markierten die Eingänge zur Unterwelt. Der plötzlich aufkommende Sturm riss die Realität in das graue Gewölbe über der Zeit zurück. Ich fasste den Griff meines Stocks fester und wendete mich dem Schwarzen Karneval des Asyls zu.

Schon vor Jahren war hier die Moldau über das Ufer getreten. Im Fundament des ehemaligen Reptilienhauses hatte sich der Fluss ein neues Bett gegraben. Seit vier Wochen ragten die in die Böschung eingelassenen Gebetsmühlen aus den schnell dahintreibenden Fluten hervor. Es waren Tausende. Noch wurden sie unablässig angetrieben, doch der Wasserpegel sank zusehends, und es stand geschrieben, stünden sie still, nahe das Ende.

Abgeschieden vom Fluss, geschützt durch schmiedeeiserne Gitter, die in rasiermesserscharf geschliffenen Spitzen ausliefen, hatten Händler, Schausteller und fahrendes Volk ihre von bunten Laternen beleuchteten Stände errichtet. Nacht für Nacht verwandelten sich die engen Gassen unterhalb der Hängenden Gärten in ein märchenhaftes Wunderland.

Den Nachtmarkt.

In den Räuberhöhlen und Spelunken des Asyls konnte man weit mehr als nur seine Barschaft verlieren. Es gab kein Laster, das nicht befriedigt, kein Bedürfnis, das nicht gestillt wurde. Mancher Besucher sah die Sonne niemals wieder aufgehen, andere landeten sabbernd und stammelnd in einer der Gummizellen im Delirium, und von dort gab es keine Wiederkehr.

Der Rote Turm des Alchemisten überragte das Areal. Streng gesicherte Handelskontore, phantasievoll bemalte Bauwagen, bunte Zelte, düstere Opiumhöhlen und funkelnde Freakshows drängten sich in seinem Schatten.

Eine einzigartige, in den Mauern des Turms verborgene mechanische Konstruktion ließ den oberen Teil des Bauwerks beständig um die eigene Achse rotieren. Das Gebäude wirkte, als hielten Knochen, Fleisch und Sehnen die Mauern zusammen. Zwischen den Fenstern glühte ein brennendes, von Stacheldraht eingefasstes Herz.

Im Inneren der Räume war es stickig und warm, fast wie auf einem fremden Planeten. Exotische Pflanzen wucherten über die Wände und verbreiteten den süßen Duft des Wahns.

Durch die kreuzförmig angeordneten Schießscharten beobachteten Virellis Gardisten das Gewimmel im Schein der Gaslaternen. Es war unübersehbar, wie ähnlich sich die Krieger sahen. Gerüchte besagten, es handele sich bei ihnen um Klone, geschaffen im Schein des Schwarzen Sterns, eines steinernen Relikts aus dunkler Vergangenheit.

Das achteckige Symbol war das Signum des Alchemisten. Es zierte seine Traumträger und Münzen. Der Legende nach handelte es sich um das fehlende Teil des Leeren Raumes, der sagenhaften Quelle des Chaos. In den Chroniken der Geisterstadt stand geschrieben, käme der Stein an seinen angestammten Platz zurück, würde die Welt wieder wüst und leer, und die Alten Götter würden sich erneut erheben!

Es wurde berichtet, der Leere Raum befände sich in der Krypta eines heute verschütteten Gebäudeteils von Xibalbá, der kraterähnlichen Festungsanlage der Mondvölker. Seit dem Ende der Dämonenkriege wurde das auf alten Landkarten als Nebel des Orion bezeichnete Territorium von einer undurchdringlichen Mauer umschlossen. Die Kampfhandlungen seien einst nur begonnen worden, um diesen mythischen Ort zu erobern. Auf zivilen Karten war das Gebiet gar nicht mehr verzeichnet. Es handelte sich zweifellos um die am stärksten gesicherte Zone der zivilisierten Welt, doch kein Mensch konnte sagen, was jenseits der Mauern geschah.

Inmitten der Menschenmenge suchte ich den Weg zur Rue du temple. Dort, in Nähe des aufgegebenen Planetariums, befand sich der Laden des Kartografen, der in seinem Verkaufsraum antike Bücher und Karten feilbot, darunter Erstausgaben von H. P. Lovecrafts Traumtagebüchern, Hieronymus Boschs Seelenkarten und manch seltener Grimoire.

Es handelte sich allesamt um Wegweiser zu sagenhaften, verzauberten Orten.

Eine solche Karte war mein Begehr. Ich suchte nach Dantes Träumen, einem handgeschriebenem Fragment, illustriert mit düsteren Skizzen von bedrückender Schönheit, so als sei schwarz-weißes Zelluloid über blutige Leinwand gegossen worden und habe eine unwirkliche, fremde Welt erschaffen, in der die Auserwählten ewig lebten.

Der Autor kam vom Rande der Hölle. Mit schnellen Strichen hatte er seine ketzerischen Visionen skizziert, um sie in den Flammen zu vernichten. So zerstörte er seine Träume, um leben zu können, wie er gelebt hatte, um den Tod zu finden.

Nur wenige Exemplare seiner Schriften waren dem Feuer entgangen. Ich hatte gehört, eines der Bücher befinde sich im Besitz des Kartografen. Dieser habe bei Ausgrabungen im fernen Cathay eine versiegelte Flasche gefunden, die jahrhundertelang unter dem Wüstensand verborgen gewesen sei. Der darin eingeschlossene Djinn habe ihm die Erfüllung von drei Wünschen versprochen, wenn er sich auf einen gefährlichen Handel einlasse. Doch der Preis, den er dafür entrichten müsse, sei hoch. In der Stunde seines Todes werde der Herr der Wünsche aus seinem Gefängnis befreit und erhalte die Seele des Kartografen für seine Dienste.

Man erzählte sich, während eines verheerenden, plötzlich auftretenden Sandsturms habe der Kartograf einen ersten Wunsch ausgesprochen, um sein Leben zu retten. Der zweite Wunsch sicherte ihm sein Märchenreich im Labyrinth der vergessenen Schätze, und erfülle sich schließlich sein letzter Wunsch, wäre er des Teufels.

Zwischenzeitlich war die vierte Stunde angebrochen, ohne dass das Wüten des Rippers weitere Opfer gefordert hatte. Vereinzelt waren Musik und sogar Lachen zu hören. Schwertkämpfer, Akrobaten und spärlich bekleidete Tänzerinnen verkürzten den Herumtreibern die Zeit. Bunte Lampen, Wunderkerzen und exotische Düfte lockten Kunden in die Zelte der Kolonialwarenhändler, die Opiumkonfekt und andere rauschbringende Süßigkeiten verkauften. Garküchen priesen in Alkohol eingelegte Reptilien, Krokodilsteak und köstlich riechendes Rattengulasch an.

Maskierte, in Korsagen geschnürte Frauen flanierten unter den Nachtschwärmern. Einige von ihnen hatten weit mehr Schleier abgelegt, als schicklich war.

In der Straße des Blutes praktizierten Chirurgen, denen man die Zulassung entzogen hatte. Sie setzten Jagdmeistern, Kopfjägern und Krawallbrüdern Reißzähne, Stahl und künstliches Muskelgewebe in die Körper ein.

Garantien gab es keine. Wenn ihr Eingriff misslang, siechten ihre Kunden elendig am Chrom-Fieber dahin, bis sie qualvoll starben.

Augäpfel aus geklontem organischem Material schwammen in eisgekühlten Bottichen. Die Pupillen waren mechanische Wunderwerke. Sie ermöglichten Nachtsicht und Kameraaufnahmen.

Verborgen in den Nebelschwaden der Kühlflüssigkeit lagen ausgemusterte Waffenprothesen aus militärischer Fabrikation, die gelegentlich unkontrolliert zuckten, wenn der Geist in der Maschine flüchtige Impulse durch die Zahnräder der Implantate jagte.

Komplexe Ofen- und Bewässerungssysteme versorgten Gewächshäuser, in denen psychoaktive Pilze, Sträucher und Kräuter aufgezogen wurden. Aus ihren Sporen, der Rinde und den getrockneten Blättern mischten Apotheker Gifte und Drogen.

Rappacinis Setzlinge stammten aus dem Todesgarten. Zur Fütterungszeit drängten sich die Schaulustigen in seinem Treibhaus. Adele, die größte der Blumen, bekam jede Nacht mehr Fleisch zu fressen, als den Insassen des Deliriums im ganzen Monat vorgesetzt wurde.

Unter der Donnerkuppel, einer riesigen Voliere, beäugten Raubvögel neugierig die Besucher, die ihnen zum Zeitvertreib Fleischabfälle und lebende Mäuse zuwarfen. Immer wieder kam es zu blutigen Luftkämpfen, wenn sie sich gegenseitig die leckersten Happen streitig machten.

In rostigen Stahlkäfigen präsentierten exotische Mena­gerien zweiköpfige Krokodile und geflügelte Affen, die aus der kalten Öde oben auf dem unbekannten Kadath stammten.

Giftige Fische und mutierte Amphibien hausten im Algendickicht chromblitzender Aquarien, neben denen dickbauchige Gläser standen, in denen Schlangen, Skorpione, Tausendfüßler und glühende Albtraumkäfer zur Schau gestellt wurden.

Im verborgenen Teil der Zelte weideten chirurgische Schlachter die Körper noch zuckender Skarabäen aus, die von den Priestern des Apophis-Kults mit einer Schlange gekennzeichnet worden waren. Die Käfer wurden in den Grabkammern der Pharaonen aufgezogen und mit Luftschiffen in die ganze Welt exportiert. Ihr Fleisch landete in den Garküchen und Restaurants, während die Nervenstränge vom verrückten Spielzeugmacher als Leitungen für seine Traumportal-Nachbauten genutzt wurden. Bei diesen Zauberkästen handelte es sich um den Schlüssel zu fremden Welten, in denen unsagbare Abenteuer auf einen warteten. Die Imitate waren weit billiger als die Originale der Staalplaat-Manufaktur, bargen aber ein hohes Infektionsrisiko. Wenn sie zu heiß wurden, hinterließen die Geräte eine kreuzförmige Brandnarbe zwischen den Augen. Jene, die sich dabei mit dem Traumvirus infizierten, mutierten zu Zombies. Den Mondsüchtigen. Mit vom Wahnsinn gezeichneten Zügen, verfilzten Haaren und vor Schmutz starrender Kleidung irrten sie fortan umher, ohne jemals wieder schlafen zu können. Der Großteil von ihnen siechte im verrufenen Schwarzen Viertel hinter der Týn­kirche einem hässlichen Ende entgegen.

Waffenhändler aus dem fernen Ulthar verkauften in ihren wie Festungsanlagen gesicherten Läden Stich- und Schusswaffen aus den entferntesten Gegenden der Erde. Selbst Gorkha-Messer und alte Traumklingen der Mondvölker waren darunter. Sammler, Abenteurer und Söldner bestaunten die seltene Ware.

Wenige Schritte entfernt fertigten halb nackte, lederbeschürzte Schmiede im Schein des Vollmonds Damaszener­klingen über mächtigen Feuern. Wer sich die kostspieligen, alten Stücke nicht leisten konnte, kaufte seine Waffen bei ihnen. Stockdegen, Säbel und Stilette, von denen einige in vielen Jahren auf dem Nachtmarkt eines fernen Landes in den Vitrinen der Waffenhändler auftauchen würden.

Am Altstädter Ring, dicht an der Grenze zum Schwarzen Viertel, teilten die mit dämonischen Fratzen verzierten Wände einer entweihten Kirche den Menschenstrom. Schattenspiele aus legendären Horrorklassikern geisterten über die gotischen Fassaden des Höllenfeuer-Klubs. Manch einen der Filme hätte ich selber gerne im Programm gezeigt, hatte aber keine Kopie auftreiben können.

Auf den Ecktürmen und dem barocken Gewölbe des Mittelschiffs thronten lebendig wirkende Gargoyles über den Gassen. Bedrohlich starrten sie auf den Markt hinab.

Nicht wenige Besucher waren bereit, zu schwören, dass sich die steinernen Figuren an dunklen Feiertagen vor nächtlichem Himmel bewegten.

Gekleidet in Gehrock und Zylinder aus nachtfarbenem Samt, das Gesicht hinter der Maske eines mittelalterlichen Pestdoktors verborgen, gingen die Teufelsanbeter ihren Vergnügungen nach. Vergnügungen, die so widernatürlich waren, dass selbst der sagenhafte Reichtum der Logenmitglieder nicht würde verhindern können, dass sie auf dem Richtplatz endeten, sollte ihre Identität jemals bekannt werden.

Hinter den abgedunkelten Fensterscheiben des Opiumzimmers wetteten die Herrschaften auf die Zeit, die noch verblieb, bis das nächste Mordopfer gefunden wurde. Manch einer von ihnen war bereit, seinem Glück mit geschliffenem Stahl nachzuhelfen, was die meisten Marktbesucher von dem Gebäude fernhielt.

Umso auffälliger war eine junge Frau, die, an die Hauswand gelehnt, vergeblich versuchte, mit ihrem Fleisch gegen die Dienste der mechanischen Konkubinen zu konkurrieren, die im Inneren der rot erleuchteten Gebäude ringsum angeboten wurden. Trotz, oder gerade wegen des bizarren Aussehens der Liebesautomaten, und obwohl es bei makabren Unfällen immer wieder zu bösen Verstümmlungen kam, waren diese Zahnrad-Bordelle recht populär.

Die dunkel gekleidete Frau war von aristokratischer Blässe. Sie hatte langes, tiefschwarzes Haar und mochte etwas über zwanzig Jahre alt sein. Das geschnürte, rückenfreie Kleid enthüllte eine tätowierte Schandlilie auf der rechten Schulter. Ihr Blick traf den meinen, als, von ihr unbemerkt, ein Maskierter hinter sie trat. Sein Messer zielte auf ihren Hals. Während ich instinktiv meinen Stock hob, der eine zweischüssige Remington verbarg, zuckte sie, meine Bewegung missdeutend zurück, der blitzenden Klinge entgegen.

Ich zog den Abzug der Waffe durch. Meine Kugel, mehr verzweifelt als gezielt abgefeuert, traf ins Zentrum der Maske. Sie warf den Angreifer gegen eine versteckte Tür.

Blut quoll aus dem Einschussloch hervor.

Jegliches Geräusch erstarb, dann setzte das Trommeln ein. Die Umstehenden wichen vor uns zurück. Ein Teil der Marktbesucher floh zu den noch offenen Toren, andere blieben und beobachteten das Spektakel aus sicherer Entfernung. Die meisten von ihnen zogen ihre Waffen. Das Geräusch der Klingen, die gegen Holz und Stein geschlagen wurden, hallte gespenstisch durch die Nacht. Unterdessen wurde das Trommeln zusehends ekstatisch. Der schreckliche Rhythmus gemahnte an Wahnsinn und Tod.

Bald beherrschte er die Dunkelheit.

Panisch begannen die Ladenbesitzer damit, die Türen und Fenster ihrer Geschäfte zu verrammeln. Der Preis für einen Platz innerhalb der Gebäude stieg in kurzer Zeit auf fünfhundert Kronen an. Dicht gedrängt standen die Schaulustigen hinter den Schießscharten der gesicherten Läden, um zu beobachten, was jetzt geschehen würde.

Die Leiche des Attentäters wurde aus dem Inneren des Höllenfeuer-Klubs rabiat zur Seite gestoßen. ­Weitere ­Mitglieder der Loge, ebenfalls maskiert und bewaffnet, drängten durch die Tür ins Freie. Die Frau griff nach dem Messer des Toten, um sich die Angreifer vom Leibe zu halten. Ich leerte das Magazin meines Stockgewehrs. Auch wenn der zweite Schuss nicht traf, verschaffte er uns doch die Möglichkeit zur Flucht.

Wir rannten in Richtung Planetarium, vorbei an surreal bemalten Zelten, in denen Tätowierer Traumwelten auf menschliche Leinwand stachen.

Im berüchtigten Mitternachtszirkus wurden wundersame Attraktionen und furchtbare Illusionen dargeboten. Unruhestifter und Krawallbrüder warteten im Schatten des gespenstisch erleuchteten Eingangs der Freakshow auf uns. Mit ihren Knüppeln schlugen sie gegen das Metalltor.

Als wir in ihre Nähe kamen, flogen Steine und Flaschen in unsere Richtung. Mit lautem Knall zerplatzte das Glas auf dem Pflaster dicht vor unseren Füßen. Instinktiv schützte ich mein Gesicht vor den Splittern.

Das Lumpengesindel folgte uns grölend und krakeelend, um uns in die Arme der Luciferi zu treiben. Ihre Fackeln warfen verzerrte Schatten auf die Hausfassaden.

Die gut betuchten Gäste des Sweeney Todd beobachteten das Spektakel. Sie klebten förmlich an den Scheiben des Lokals, auf dessen Karte die leckersten Pasteten und dampfender Nachtmahr-Gumbo standen.

Von dem Sud zu kosten, der aus den Köpfen der in den Menagerien frisch geschlachteten Skarabäen zubereitet wurde, führte zu Fieberträumen, die anregender waren als der Genuss von Opium und Absinth.


*


Die metallgefasste Steinfigur in der silbernen Vitrine stöhnte im Schlaf auf. Ihr Traum führte mich zum Roten Turm des Alchemisten, der zur gleichen Stunde einmal mehr vergeblich versuchte, aus dem Stein der Weisen das Elixirum vitae zu destillieren. Der ekstatische Rhythmus der Trommeln riss Virelli aus seinen Gedanken. Er unterbrach seine Forschungen und eilte zum Fenster, um erstaunt festzustellen, dass die Loge auf Jagd war. An blutiger Zerstreuung interessiert, verfolgte er die aussichtslose Flucht der Opfer. Dies änderte sich schlagartig, als er die Frau erkannte, die von der Todesschwadron des ­Höllenfeuer-Klubs durch die Gassen gehetzt wurde.

Er rief nach von Henzenau, während die Zeit schwerer als sonst auf seinen Schultern lastete.

Mario von Henzenau war ein übel beleumdeter Abenteurer, der sich seinen zweifelhaften Ruf in den Rauchsalons exklusiver Klubs erworben hatte. Zu vorgerückter Stunde zeigte er eine Seekarte vor, die angeblich von Kapitän Nemo stammte, und berichtete von wilden Kaperabenteuern, die er im Pazifischen Ozean erlebt habe.

Er behauptete, er kenne den Weg nach Japan und schwatzte den anderen Mitgliedern Beteiligungen an einer von ihm ausgerichteten Expedition zu den Ruinen von Tokio auf.

Bei dem Untergang Japans handelte es sich um eines der Mysterien der Neuzeit. Im letzten Funkspruch, kurz bevor der Kontakt für immer abbrach, war gemeldet ­worden, dass ein Feuer speiendes Monster aus dem Meer aufgetaucht sei. Schon Stunden zuvor hatte Lunare prophezeit, Godzilla werde sich erheben. Seither erfüllte sich jede seiner Voraussagen, doch bis zum heutigen Tag gab es keine gesicherten Erkenntnisse darüber, was damals wirklich geschehen war. Alle Versuche, die japanischen Hauptinseln zu erreichen, waren gescheitert. Legenden rankten sich um den Reichtum der verlorenen Städte.

Als Monate später die zerborstenen Planken der Nostromo angelandet wurden, zerplatzten die goldenen Träume der Spekulanten. Von der Mannschaft des Schoners fehlte jede Spur, und auch das Logbuch der Schatzsucher wurde niemals gefunden. Hartnäckig hielten sich die Gerüchte, von Henzenau habe das Unglück absichtlich herbeigeführt, um die Investoren um ihre Einlagen zu bringen.

Eine Reihe von Selbstmorden ruinierter Spekulanten war die Folge gewesen. Andere flohen aus der Stadt, um dem Schuldenturm zu entgehen, oder sie mussten einen Großteil ihre Besitztümer verkaufen, um den Verlust ausgleichen zu können. Ihre Familien setzten einen Preis auf den Kopf des Betrügers aus. Von gedungenen Mördern gejagt, hatte er den Beistand eines einflussreichen Gönners benötigt, um der Blutrache zu entgehen. Er bot dem Alchemisten seine Dienste an, der die Skrupellosigkeit des jungen Mannes erkannte und ihn seiner Garde unterstellte.

In den folgenden Monaten starben einige der Hinterbliebenen seiner Opfer bei bis heute ungeklärten Unfällen. Das hörte erst auf, als der Tötungsauftrag zurückgenommen wurde.

Zeitgleich verwüsteten verheerende Feuer die Laboratorien konkurrierender Drogenschmieden. Schließlich stieg von Henzenau zum Hauptmann der Leibwache auf. Schnell wurde er zu einem notwendigen Übel beim Handel mit traumbringenden Substanzen, der bald gänzlich vom Handelshaus des Alchemisten beherrscht wurde.

Vom Lohn seiner Schurkereien kaufte er sich in den Circus Maximus ein. Die blutigen Gladiatorenkämpfe mehrten fortan seinen unredlich erworbenen Reichtum.

Als Virelli nach ihm schickte, legte von Henzenau ungehalten die Zeitungsmeldung über die neueste Missetat von Fantômas aus der Hand. Er hatte den König des Verbrechens letztes Jahr in Marienbad kennengelernt und verfolgte seitdem interessiert seine Abenteuer.

Säure in Parfümflakons. Wie teuflisch!

Erst in diesem Augenblick nahm er das Dröhnen der Trommeln wahr. Eine Blutjagd war im Gange! Schnell streifte er seinen Gehrock über, befestigte die Uhrenkette an der Weste und steckte das Stilett ein. Dann begab er sich in das Laboratorium seines Herrn.

Der Befehl des Alchemisten, die Flüchtende zu retten, kam für ihn unerwartet. Die Beziehung zwischen Virelli und dem Höllenfeuer-Klub war ausgesprochen eng, fast freundschaftlich. Normalerweise kamen sie sich gegenseitig nicht in die Quere.

Neugierig blickte er durch sein Fernglas. Als er sah, wen die Luciferi jagten, befahl er seinen Männern, sich umgehend zu bewaffnen und ihm zu folgen. Durch schwarze Umhänge vermummt, verschmolzen die Krieger mit der Dunkelheit.


*


Unsere Flucht endete am Planetarium, nahe dem Abgrund über der schlafenden Stadt. Sie hatten uns zu einem der Stollen gehetzt.

„Lass alle Hoffnungen fahren, der du hier eintrittst.“ – Dutzende Kerzenstummel enthüllten jene warnenden Worte, die verurteilten Kataphilen in die Haut gebrannt wurden, bevor man sie für immer in eine der Zellen des städtischen Irrenhauses sperrte.

Sieben Maskierte kamen mit gezogenen Macheten aus der Dunkelheit auf uns zu. Funken sprühend klirrten ihre Waffen über den Stein. Das Geräusch übertönte die gespenstische Stille, die urplötzlich eingesetzt hatte, als die Trommeln verstummten.

Uns blieben nur Augenblicke.

Ohne Wegbeschreibung und Laterne waren die Tunnel ebenso tödlich wie die Klingen unserer Verfolger. Jedoch wäre es besser, in den Katakomben zu sterben, als den Mitgliedern des Höllenfeuer-Klubs lebendig in die Hände zu fallen. Selbst die Krawallbrüder kamen ihnen nicht in die Quere. Sie filmten uns aus der Ferne, um das Massaker für ihre Terrorfilm-Sammlung festzuhalten.

Obwohl ich fürchtete, den Fluch auf mich zu ziehen, zerschlug ich Kalis Siegel. Wir versuchten vergeblich, das Tor ins Reich der Toten zu öffnen, bis uns die Jäger eingekreist hatten.

Meine Begleiterin hatte ihr Messer gezückt und hielt die Klinge vor dem Körper ausgestreckt, um sich zu ­verteidigen, sobald sich ihr der erste Angreifer näherte. Auch ich ließ von meinen Bemühungen ab und stellte mich dem ungleichen Kampf. Doch mein Stock, obgleich aus afrikanischem Schwarzholz, bot dem geschliffenen Stahl wenig Widerstand. Schnell entwaffneten sie uns. Ich fühlte die scharfe Schneide einer Machete an der Kehle und hatte ihre hasserfüllten, drogenverdunkelten Blicke vor Augen.

Ihr Anführer rammte seine Waffe in die Erde. Aus der Tasche des Gehrocks brachte er eine kleine Figur zum Vorschein. Eine schwarze Klinge schnellte daraus hervor. Seine Männer traten, im Chor Beschwörungen murmelnd, zurück, während er das Messer zum Mond reckte, um es in den Hals meiner Begleiterin zu stoßen.

Dunkles Blut pulsierte aus ihrer Halsschlagader.

Die Männer lachten, als sie zusammenbrach. Triumphierend streckte der Anführer der Satanisten die Waffe zum Himmel hinauf. Als er sich mir zuwenden wollte, wurde er zu Boden gerissen. Ein Pfeil ragte aus seinem Oberkörper hervor. Immer wieder wurde er von heftigen Hustenanfällen geschüttelt.

Die Angreifer waren in der Finsternis kaum zu erkennen. Mit gezogenem Degen stürzten sie sich auf die Maskierten. Noch während um ihn herum gekämpft wurde, zog einer der Angreifer seelenruhig eine Streichholzschachtel aus der Westentasche. Böse grinsend beugte er sich zu dem Verletzten hinab und zündete die Lunte des Pfeils an, der in seiner Brust steckte. Dann trat er eilig zurück, ohne den Luciferi aus den Augen zu lassen.

Als der Mann am Boden begriff, dass der Schaft des Pfeils mit Schwarzpulver gefüllt war, versuchte er mit kraftlosen Bewegungen, die Flamme zu löschen. Er konnte sich kaum mehr bewegen und hustete Blut.

Der Angreifer über ihm hatte inzwischen seinen Degen gezogen. Er machte sich einen Spaß daraus, dem Verletzten immer dann, wenn es ihm fast gelungen war, die Zündschnur zu erreichen, mit der Klinge die Finger aufzuschlitzen. Inzwischen waren die Hände des Teufelsanbeters nur noch rohes Fleisch.

Schließlich zerfetzte eine Explosion die Pfeilspitze in scharfkantige Metallstücke. Sie rissen tiefe Wunden in die Brust des Mannes. Überall war Blut.

Selbst im Kampfgetümmel blieb seinen Logenbrüdern nicht verborgen, wie grausam man ihren Anführer abgeschlachtet hatte. Sie suchten ihr Heil in der Flucht. Ich hatte den Eindruck, dass man sie absichtlich entkommen ließ. Es wäre für ihre Gegner ein Leichtes gewesen, sie zu töten. Stattdessen bemühten sich die vermummten Krieger um die Sterbende.

Mich beachteten sie nicht. Ohne ein Wort schleppten sie die Frau weg.

Ich griff nach dem Messer, das am Boden vor mir lag, und versuchte zu fliehen. Blind stolperte ich dem Abgrund entgegen, verlor das Gleichgewicht und stürzte schreiend in die Tiefe hinab.

Doch statt zerschlagen auf blutigem Asphalt, fand ich mich zusammengekauert in meinem Sessel im Orchideengarten wieder.


*


Zwischenzeitlich hatten die Kopfjäger und Todeshändler ihre Plätze verlassen, aber die rot glühenden Augen des Fremden hielten mich noch immer in ihrem Bann. Mühsam entzog sich mein gequälter Geist seinem Willen. Nach einem flüchtigen Blick auf die flimmernden Bilder der Blutkanäle stellte ich erleichtert fest, dass es sich bei dem Opfer dieser Nacht nicht um meine Traumbekanntschaft handelte.

„Besser, du lässt nachts immer eine Kerze brennen!“, vernahm ich die Stimme des Fremden, der nur Augenblicke später, als ich mich erneut dem Diwan zuwendete, spurlos verschwunden war. Fast war ich überzeugt, es habe ihn nie gegeben, als mir ein ungewohnt vertrauter Gegenstand das Gegenteil bewies. Die Edelsteinaugen der kleinen Göttin blickten mich an.

Als ich den versteckten Auslöser des Messers betätigte, sprang eine schwarz glänzende Steinglas-Klinge aus dem Inneren der Figur hervor.

Wie im Traum trat ich auf die Straße hinaus und musste erstaunt feststellen, dass die Stadt über Nacht niedergebrannt worden war. Surreale Maler hatten die Hausfassaden auf rußgeschwärztem Beton neu erschaffen.

Soldaten der Alchemisten-Garde streiften umher. Für einen Augenblick glaubte ich, inmitten der davonhastenden Besucher den Fremden zu erblicken, der durch das rote, mit chinesischen Schriftzeichen verzierte Tor des Nachtmarkts eilte, in dessen Schatten Todeshändler gerade die sterblichen Überreste des letzten Opfers bargen. Die Reporter der Blutkanäle filmten die grausige Szenerie mit ihren Kameraimplantaten, um sie direkt in den Ǽther zu übertragen.

Ich hatte den Eindruck, mein Albtraum habe sich in die Gassen der Altstadt verirrt und sei zur Realität geworden.


*


Im Tal erwachte unterdessen die Smaragdstadt. Die grün erleuchteten Fensterfronten der Manufakturen und Handelskontore, denen sie ihren märchenhaften Namen verdankte, erstrahlten wie kunstvoll geschliffene Edelsteine.

Auf dem Weg zur Arbeit ergötzten sich die Bewohner am Grauen der Nacht. Die Clips der Blutkanäle zeigten die erschreckenden Bilder in reißerischen Großaufnahmen.

Jeder Aufruf der makabren Filmchen füllte Video­dromes Konten.

Für den Herrn der Blutkanäle war der Ripper ein Geschenk der Hölle, denn was auch immer den Spiralmann antrieb, kam nicht von dieser Welt!


*


Zu Hause fiel ich in einen unruhigen Schlaf. Ich hatte es nicht versäumt, vor dem Zubettgehen eine Kerze anzuzünden, doch der eisige Atem der Nacht beherrschte meine Träume.

Als ich erwachte, schien der Mond in mein Zimmer. Die Flamme war lange erloschen. Jegliches Zeitgefühl war mir abhandengekommen, und ich begriff nur langsam, dass ich den ganzen Tag verschlafen hatte.



Im Garten des Todes

In der Ferne läuteten die Glocken der Altstädter Rathaus­uhr. Noch eine Stunde bis Mitternacht. Während ich ein karges Nachtmahl zu mir nahm, betrachtete ich die aus Knochen geschnitzte Traumgöttin im Schein des Gaslichts.

Die rot funkelnden Augen waren aus lupenreinen Rubinen gearbeitet worden. Im Sockel der Figur befand sich der Auslöser für das Messer, das lautlos hervorschnellte, sobald man den Elfenbeinknopf betätigte. Die Obsidian-­Klinge wies Bearbeitungsspuren von einem primitiven Werkzeug auf, das ein archaisches Muster in dem Vulkanglas hinterlassen hatte. In den Einkerbungen fanden sich Blutspuren. Meine Gedanken überschlugen sich. Was war auf der dunklen Seite des Mondes geschehen, was war real? Ich zermarterte mir das Hirn, um Traum und Erinnerung zu trennen.

Hatte ich die Frau gestern Nacht im Drogenrausch getötet?

Wenn ich gewusst hätte, was mir bevorstand, wäre ich fürstlich essen gegangen, um mein restliches Geld mit Laudanum, Absinth und liederlichen Frauenzimmern im Garten der Lüste durchzubringen. Stattdessen machte ich mich kurz vor Anbruch der Geisterstunde zum Orchideengarten auf, um meinen Träumen zu folgen.

Orloff gab niemals Auskunft über seine Gäste. Als ich ihn nach dem Fremden fragte, entlockte ihm dies ein Grinsen, bei dem seine spitz gefeilten Eckzähne sichtbar wurden. Das war ein wirklich beängstigender Anblick, bei dem manchem Kinobesucher fast das Herz stehen geblieben war.

Wen auch immer ich ansprach, niemand konnte sich an einen großen Mann mit brennenden Augen, Reptilienledermantel und Zylinder erinnern. Mir blieben lediglich vage Erinnerungen an ein rätselhaftes Buch im Besitz des Kartografen, eine schöne Unbekannte und den Fluch des Siegels.

Sie wiesen mir den Weg ins Herzen des Asyls.

Als ich hinaus auf die Straße trat, fuhr mir der eisige Wind in die Glieder, der aus den Karpaten heraufzog. Mit hochgeschlagenem Kragen ging ich zum Planetarium hinüber.

Eine merkwürdige Starre war über den Markt gekommen. Stille lastete auf den Buden und Ständen. Nur vereinzelt waren Menschen unterwegs, doch auch in dieser Nacht wurden Geschäfte getätigt, die das Tageslicht scheuten.

Wie immer blieben die Nachtschwärmer dem Höllenfeuer-Klub fern. Die Schatten der Drei Mütter geisterten über seine Fassaden. Meine Schritte führten mich tiefer ins Labyrinth der Hängenden Gärten hinein. Ich ließ die verfallenen Überreste der gewaltigen Treibhäuser hinter mir. Unruhig flackernde Gaslaternen erhellten riesige Steinfiguren, die von den Osterinseln stammten. Grünspanüberzogene Köpfe hinduistischer Gottheiten und Totems der Mondvölker säumten den spärlich beleuchteten Pfad, der in das Niemandsland führte.

Schließlich betrat ich ein verstecktes Gewölbe abseits des Weges, über dessen Pforte die Jahreszahl 1334 in den Stein geschlagen worden war, jenes Jahr also, in dem in Europa die Pest ausbrach.

Das Morpheum, abgeschieden am Rande des Todesgartens gelegen, hatte sich auf den Ankauf von Traumstaub spezialisiert. Der rot getünchte Raum war überfüllt mit stöhnenden, sich im Schlaf wälzenden Leibern, die auf elenden Matratzen morphiumschwangere Träume in sumerische Opfergefäße bluteten.

Unergründlich wie eine Sphinx beobachtete Medusa ihre Traumsklaven. Als ich sie sah, musste ich unwillkürlich daran denken, dass sie in direkter Blutlinie vom Schwarzen Pharao abstammte.

Sie war eine mächtige Hexe.

Mit schlafwandlerischer Sicherheit jonglierte sie Kristallkugeln zwischen den metallisch glänzenden Fingernägeln ihrer linken Hand.

Das Licht fing sich in dem durchscheinenden Stein.

Ich fragte sie, ob das, woran ich mich erinnerte, tatsächlich geschehen war. Mit unbewegten Gesichtszügen hörte sie sich meine Geschichte an. Die Kugeln kreisten schneller, während ich ihr vom Tod der jungen Frau berichtete.

Lichtreflexe blendeten mich.

Nach kurzem Zögern nannte sie mir ihren Preis. Als ich akzeptierte, begann Medusa damit, die Karten aufzudecken. Anfänglich zeichnete Mitleid ihren Blick, das schnell in blankes Entsetzen überging. Die Kugeln fielen zu Boden und zersprangen in Tausende Splitter. Das Licht verdunkelte sich. Drohend stand Medusa vor mir.

„Verlasst diesen Ort und kehrt niemals zurück!“, schrie sie mich an. Ihre Faust war zum Schutzzeichen gegen den bösen Blick geballt. Zwei Wächter, die wie aus dem Nichts auftauchten, schleiften mich zu einer Tür, und ich landete hart auf verwittertem Pflaster.

Medusas Schatten füllte den Eingang aus. Sie schleuderte mir die Silbermünze hinterher, die ich als Bezahlung auf den Tisch gelegt hatte. „Ihr habt Euch mit Mächten eingelassen, die Ihr nicht versteht. Feuer zieht mit Euch.“ Die Tür fiel ins Schloss. Sie beschützte die wimmernden Seelen der Träumenden vor dem Bösen, das mich begleitete.

Als ich nach der Münze griff und mich erhob, kreisten unbeantwortete Fragen durch mein Hirn. Lastete der Fluch des gebrochenen Siegels auf meinen Schultern, oder hatte sie den Schatten des Rippers erblickt?

Die berauschenden Farben giftiger Pflanzen beherrschten meine Umgebung. Jäh begriff ich, dass ich mich im Nachtschattenpark befand. Handelte es sich anfänglich um eine Laune des verschrobenen Dr. Rabenstein, war der verwilderte Garten Ende des letzten Jahrhunderts zu einem beliebten Ausflugsziel für die ganze Familie geworden. Doch nachdem immer mehr Besucher vermisst wurden, hatte sich das Publikum gewandelt.

Hellectro-Bands gaben hier berüchtigte Konzerte.

Bei der siebenten Alraune-Nacht waren mehr als hundert Besucher einfach verschwunden. Die Filmaufnahmen des Festivals ließen noch heute die gespenstische ­Atmosphäre erahnen. Es handelte sich fraglos um eine Enklave des Mondes. Seiner dunklen Seite!

Schließlich wurde das Gelände nur noch von Adre­nalin-Junkies und Verrückten für ihre zumeist nächt­lichen Ausflüge genutzt. Die Clips dieser Abenteuer waren begehrt, insbesondere jene, die tragisch endeten.

Infolge der schrecklichen Todesfälle war der Park bereits vor Jahren gesichert und zu einer Verbotenen Zone erklärt worden. Trotzdem überwanden beutegierige Glücksritter immer wieder die Mauern, um nach Midian, dem verlorenen Labor des Dr. Rabenstein zu suchen, von dem es hieß, es beherberge unsagbare Kostbarkeiten und Geheimnisse. Mancher behauptete gar, er hätte vor seinem Verschwinden das Rätsel des ewigen Lebens entschlüsselt.

Die verschollenen Schätze waren legendär, doch im Moment hatte ich ganz andere Probleme! Aus zyklopischen Pilzen rieselte Kontaktgift auf das rote Moos herab. Fleischfressende Pflanzen reckten ihre Tentakel nach mir. Die Tür zum Morpheum war fest verschlossen, und den Weg zurück zum Markt kannte ich nicht. Selbst wenn ich ihn fand, würde ich den nicht minder gefährlichen Zaun überwinden müssen. Stattdessen hier abzuwarten, bewegungslos bis zur Morgendämmerung zu verharren, war ebenfalls keine Lösung. Bloßes Atmen konnte mich töten. Ohne Schutzkleidung würde ich inmitten der giftigen Vegetation nicht lange überleben!

Vergeblich suchte ich nach einem Ausweg. In meiner Verzweiflung warf ich die Münze in die Finsternis der Nacht und sah verblüfft, wie das Silber aus der Luft gegriffen wurde. Ein schauderhaftes Lachen erklang, als sich ein Schatten aus dem Blätterwald löste.

„Womit kann ich dienen?“, fragte mich die schemenhafte Gestalt, eine Verbeugung andeutend, mit metallisch verfremdeter Stimme.

Noch immer wagte ich kaum, zu atmen. Offensichtlich war der Fremde den Aufenthalt zwischen den tödlichen Pflanzen gewohnt. Das konnte gut oder schlecht für mich sein. Nur Schatzjäger und Verrückte trieben sich des Nachts an solch verfluchten Orten herum. Es war unmöglich zu sagen, was als Nächstes passieren würde.

Während er auf mich zu trat, glaubte ich, entstellte Gesichtszüge und grün glimmende Augen wahrzunehmen. „Ihr seid nicht schlaflos. Warum haben Euch die Traumdiebe aus Morpheus’ Armen gerissen?“, fragte er mich.

Der Fremde hatte auf der Schwelle des Morpheums auf schlaflose Träumer gewartet. Weshalb er die Gesellschaft der Mondsüchtigen suchte, konnte ich nur mutmaßen, aber ehrbare Absichten hatte er sicherlich nicht!

Ich erkannte, dass er Atemmaske und Nachtsicht­gerät aus aufgegebenen Armeebeständen trug. Zumindest war er nicht so verrückt, den Park ohne Schutzkleidung zu betreten. Wenn es sich bei ihm um einen ­professionellen ­Schatzräuber handeln sollte, würde er Ersatz für den ­Notfall bei sich tragen. Das konnte mir das Leben retten!

„Die Visionen der Hexe haben mir nicht gefallen“, antwortete ich ihm. Betont vorsichtig zog ich meine Geldklammer aus der Tasche. „Bitte vermietet mir Schutzkleidung und bringt mich aus dem Park.“

Seine Finger, die in Gummihandschuhen steckten, griffen nach den wenigen Scheinen im Maul des silbernen Drachen. Es waren nicht einmal fünfzig Kronen.

„Mehr ist Euer Leben nicht wert?“ Achtlos warf er die Banknoten auf den Boden und wendete sich ab.

Meine Gedanken rasten. Wenn er jetzt ginge, wäre das mein Ende! Hastig zog ich die Traumgöttin aus der Tasche. „Vielleicht interessiert Euch dann dies“, rief ich ihm hinterher.

Der Maskierte blickte zurück und kehrte um. Als er die Figur betrachtete, war er mir so nahe, dass ich seinen stoßweisen Atem hörte. „Woher habt ihr den Schlüssel?“, wollte er wissen.

Da ich nicht verstand, was er meinte, sparte ich meinen Atem und überließ ihn seinen Gedanken. Nach endlosen Minuten des Schweigens rang er sich zu einer Entscheidung durch. „Ich gebe Euch hierfür Kleidung, aber aus dem Park kann ich Euch erst nach Morgengrauen bringen“, bot er mir an.

Notgedrungen stimmte ich seinem Vorschlag zu.

Nachdem er die Figur eingesteckt hatte, warf er mir eine Kampftasche zu, in der ich einen Umhang mit ­Nachtsichtbrille und Atemmaske fand. Der Filter war alt. Ich bekam nur schwer Luft, doch meine Überlebenschance war deutlich gestiegen.

Mit schnellen Schritten entfernte sich der Plünderer vom Morpheum. Ich beeilte mich, ihm zu folgen. Durch das Nachtsichtgerät sah ich die Vegetation in ein unwirklich grelles Grün getaucht.

Über das Moos zu gehen, war ungewohnt, so als sauge sich die feindlich gesonnene Natur an den Schuhen fest. Die Stille machte mir Angst. Es gab keine Tiere in diesem verwunschenen Garten, aber einige der Pflanzen spürten unsere Anwesenheit. Ihre Äste schlugen nach uns. Dornen krallten sich in meiner Kleidung fest.

Gelegentlich wich mein geheimnisvoller Führer vom geraden Weg ab, mied Blumenfelder und umging besonders angriffslustige Sträucher. Vorsichtig sammelte er Proben der giftigen Pflanzen ein, die in Metallbehältern verpackt in seinem Tornister landeten.

Nach etwa vierzig Minuten erreichten wir ein merkwürdiges Gebäude, bei dem es sich um einen kleinen Turm auf einem seltsamen Fundament zu handeln schien. Je näher wir kamen, desto unwirklicher wirkte das Bauwerk auf mich. Plötzlich begriff ich, dass es das Dach eines im Boden versunkenen Hauses war.

Der Plünderer hielt inne. Aufmerksam beobachtete er das von wilden Pflanzen umgebene Gebäude. Er wies auf ein rundes Fenster, das nur wenige Zentimeter über dem Boden lag, und ging dann entschlossenen Schrittes darauf zu. Obwohl es absolut windstill war, bewegten sich die Bäume und Sträucher plötzlich, als fege ein furchtbarer Sturm über den Wald.

Während ich ihm folgte, geisterten die Erinnerungen verlorener Seelen durch die Nacht. Als ich endlich die Bedeutung der verstreuten Knochen auf meinem Weg erkannte und gewahr wurde, dass sich der Plünderer hatte zurückfallen lassen, war es bereits zu spät: Ein stachelbewehrter Tentakel schoss auf mich zu!

Bei dem Versuch, den Angriff abzuwehren, stürzte ich zu Boden. Schlangengleich wanden sich Holz und Sehnen zwischen meinen Händen. Die Pflanze wollte mir die Spitze des Stachels zwischen die Augen rammen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie mich aufspießen würde.

Der Tentakel entglitt meinem Griff. Ich war erledigt!

In der Zwischenzeit hatte der Plünderer sein Gorkha-Messer gezogen. Breitbeinig stand er neben dem Tentakel, der sich wild durch die Luft bewegte, und hackte darauf ein. Bei den Göttern! Als er den Stachel abtrennte, hörte ich das erste Mal in meinem Leben eine Pflanze schreien! Aus dem wild um sich schlagenden Stummel spritzte eine ätzende Flüssigkeit hervor. Wo sie auftraf, begann es zu brennen. Ich konnte von Glück sagen, dass ich nichts davon abbekam.

Mein Retter zerrte mich auf die Beine und trieb mich voran. Gemeinsam rannten wir auf das Haus zu. Kleinere Tentakel schlugen nach uns, verfehlten uns jedoch.

Als wir bei dem Fenster angekommen waren, schwenkte der Plünderer lachend den abgeschlagenen Tentakel durch die Luft. „Der Wächter ist tot“, schrie er. „Götter des Chaos, der Wächter ist tot!“

Er schien dem Wahnsinn nahe. Während sich die Feuer ausbreiteten, beruhigte er sich ein wenig und verpackte den ausgebluteten, prall mit Gift gefüllten Stachel für den Transport.

Unterdessen hatte ich begriffen, dass er mich als Opfer für die Wächterpflanze hierher geführt hatte, wie wohl schon andere vor mir. Die Traumdiebe versorgten ihn mit Mondsüchtigen, die er der Pflanze zum Fraß vorwarf. Während des Kampfes hatte er die Gunst der Stunde genutzt. Nun würde es Monate, ja vielleicht sogar Jahre dauern, bis ein neuer Wächter herangewachsen wäre, und so lange lag die Schatzkammer des Nekromanten schutzlos vor ihm. Er musste keine weiteren Opfergaben darbringen, um ihrer habhaft zu werden.

Einen Mitwisser jedoch konnte er nicht dulden!

Mit den Feuern im Rücken, wog ich die Gefahr, die für mich von dem Schatzjäger ausging, gegen meine Überlebenschance im Nachtschattenpark ab, wenn ich alleine unterwegs wäre. Es schien mir besser zu sein, auf eine Möglichkeit im Haus zu hoffen, als den Unbilden der aufgebrachten Natur ausgeliefert zu sein.

Der Plünderer öffnete das Fenster und kroch ins Innere des Kaninchenbaus. Während ich ihm folgte, fürchtete ich, er würde auf der anderen Seite mit blanker Klinge auf mich warten, doch er half mir in den Raum hinein und verriegelte sorgsam das Fenster. Dann begann er damit, die Schutzkleidung abzulegen. Als ich seine Gesichtszüge erkannte, spürte ich, wie das Höllenfeuer meine Haut versengte.

Ich konnte nicht glauben, was ich sah! Bei dem Schatzjäger handelte es sich um den Alchemisten.

Virelli zündete ein Streichholz an. Die plötzliche Helligkeit blendete mich. Ich riss mir die Nachtsichtbrille vom Gesicht, benötigte aber Zeit, um mich an das Licht zu gewöhnen.

Es roch nach alter, feuchter Friedhofserde.

Im Schein unruhig brennender Kerzen saß der Alchemist in einem prächtigen, roten Ledersessel. Seine abgetragene Kleidung war aus derbem Stoff gefertigt worden. Die Hände gefaltet, das Messer auf den Knien, beobachtete er mich. „Wisst Ihr, wer ich bin?“, wollte er wissen. Ungefiltert klang seine Stimme dunkel. Sie verlor sich in den Schatten.

Wortlos nickte ich. Daraufhin warf er mir einen prall gefüllten Lederbeutel zu. „Genug Silber, damit sich dieses Abenteuer für Euch lohnt!“

Es war sicherlich mehr als ein Jahresverdienst. Während ich den Beutel in der Hand wog, erinnerte ich mich an die abgenagten Knochen am Zugang dieses Hauses. Auch wenn ich das Geld wirklich brauchte, lohnte es sich nicht, dafür mein Leben zu riskieren!

Als ich die Münzen dennoch in der Tasche verstaute, deutete er das als Zustimmung. Für einen Augenblick küsste Wahnsinn seine Züge. „Euch hat das Chaos gesandt!“, verkündete er. Besessenheit lag in seinen Augen. Er zog die Traumgöttin aus der Tasche und betrachtete sie im Feuerschein. „Tief im Abgrund, nahe dem Sockel dieses Hauses, findet sich ein verschlossener Raum, in dem Rabenstein die Aufzeichnungen zu seinen Experimenten verwahrt hat. Kein Abguss der Siegel vermochte es bisher, die Kammer zu öffnen.“ Als er sich erhob, fasste er die Figur fester. „Doch – bei den Dunklen Göttern – dieser Schlüssel wird passen!“

Wann immer ich den Alchemisten gesehen hatte, war er von Gardisten beschützt worden. Er war ein Gelehrter, kein Soldat. An diesem unseligen Ort wirkte er jedoch selber wie ein Krieger.

„Seid ihr wirklich Doktor Virelli?“, fragte ich ihn zögernd.

Der Unglaube in meiner Stimme belustigte ihn offensichtlich. „Ich bin, man könnte sagen, Fleisch von seinem Fleisch“, antwortete er mir, und begann schallend zu lachen.

Im spärlichen Schein einer Laterne wagten wir den Abstieg. Erneut ließ er mir den Vortritt. Vorsichtig prüfte ich, ob das altersschwache, unter meinen Tritten ächzende Holz mein Gewicht tragen würde. Es war ein verrückter Tanz auf des Messers Schneide. Je tiefer wir kamen, desto kälter wurde es. Überreste einstmals teurer, geschmackvoller Teppiche und Möbel lagen in unserem Weg. An den Turmfenstern bot sich ein merkwürdiger Anblick: Erdreich und Wurzeln drängten sich gegen das Glas. Näher am Fundament hatten die Pflanzen das Mauerwerk bereits besiegt. Die Wurzeln waren mit den Stufen förmlich verwachsen. Wasser drang in das Gebäude ein und rann in die Tiefe hinab. Während mein Blick dem Rinnsal folgte, riss mich die Stimme des Alchemisten aus meinen Gedanken.

„Wenn du in den Abgrund schaust, schaut der Abgrund in dich!“ Er zog mich mit sich. Schließlich erreichten wir das Ende der Treppe, die sich in trübem, merkwürdig aufgewühltem Wasser verlor. Was auch immer dort lauerte, wartete auf Fleisch und Blut!

Virelli wies hinüber zu aufwärts führenden Treppenstufen, die kaum fünf Meter von uns entfernt waren. „Dort oben finden sich unvorstellbare Kostbarkeiten. Gehen wir weiter!“

Ich kam seiner Aufforderung nicht nach. Irgendetwas war da im Wasser, und ich würde kein weiteres Mal den Köder spielen!

Der Alchemist legte seine Hand auf den Griff des Messers, doch ich war mir sicher, dass er mich jetzt noch nicht angreifen würde. Er glaubte an Chaos, Muster aus Zufällen. Nach seiner Überzeugung hatten mich die ­Sieben ­Götter des Chaos zu ihm geschickt. Für ihn gehörte ich zu den Geheimnissen dieser Nacht. Erst wenn er den Schlüssel zum ewigen Leben in den Händen hielt, würde er mir das Herz aus dem Leib reißen, um es genüsslich zu verspeisen. Verächtlich blickte er mich an. „Die Angst vor dem Sterben ist schlimmer als der Tod selbst.“ Er spie mir die Worte förmlich entgegen. Dann versuchte er vorsichtig, im Wasser Bodenkontakt zu finden. Als er festen Grund spürte, belastete er das Bein, aber das morsche Parkett hielt seinem Gewicht nicht stand. Mit einem Schrei brach er ein und wurde vom Abgrund verschlungen.

Die Wasseroberfläche begann zu brodeln, als sich ein Schwarm metallisch glänzender Fische auf ihn stürzte. Dies war die Stunde! Sein Blut färbte das Wasser rot. Hätte ich mich jetzt doch nur abgewandt und wäre geflohen!

Stattdessen griff ich nach ihm. Die Zähne der Fische waren so scharf, dass ich ihre Bisse im ersten Moment kaum spürte. Ich bekam sein Hemd zu fassen und zog den leblosen Virelli aus dem Wasser. Entsetzt stellte ich fest, dass ihm die Tiere in Sekundenschnelle das Fleisch vom Körper genagt hatten. Aber dort, wo hätten Knochen sein müssen, war Metall! Das, was leblos vor mir lag, war eine mechanische Spielerei, geschaffen als Abbild des Alchemisten.

Da ich weder wusste, ob sich der Uhrwerk-Mensch erholen würde, noch was mir bevorstand, sollte er erwachen, schlug ich mit der Klinge des Gorkha-Messers auf den Hals der Apparatur ein. Unter großer Anstrengung gelang es mir so, den Kopf von den Schultern zu trennen. Aus dem Rückgrat schlängelten sich blutige Fühler hervor. Sie suchten ihre Fortsetzung in dem abgeschlagenen Schädel, dessen Innerstes nun offen vor mir lag.

Es war unglaublich! Ein menschliches Gehirn hatte den Körper über eingepflanzte Sonden, Metallverstrebungen, Federn und Zahnrad-Mechanik gesteuert.

Doch wessen Wille mochte das Monstrum lenken?

Nachdem ich meine blutenden, inzwischen stark schmerzenden Arme notdürftig verbunden hatte, schlitzte ich vorsichtig den Giftbeutel der Wächterpflanze auf und bestrich die organischen Überreste der Maschine damit. Dann stieß ich den Torso in das Wasser zurück, das augenblicklich wieder zu brodeln begann. Nur wenig später trieben unzählige Fische leblos auf der Oberfläche. Sie bestanden aus einer Art Metalllegierung, hatten verkümmerte, blinde Augen und riesige Zähne.

Wenngleich auch diese Gefahr gebannt war, scheute ich doch den direkten Kontakt mit dem Gift im Wasser. Nach kurzem Überlegen zerschnitt ich den Schutz­umhang, wickelte die Stofffetzen um meinen Körper und befestigte sie mit Baumwollstreifen, die ich aus meinem Hemd gerissen hatte.

Dann durchsuchte ich die Besitztümer der Maschine, um die Traumgöttin wieder an mich zu bringen. Außerdem steckte ich das Geld, die Waffe und den Beutel mit der Schutzkleidung ein. Auch den Tornister, wasserdicht verpackte Streichhölzer und die Kerzen behielt ich. Nur die Behälter mit den Pflanzenproben ließ ich zurück.

Nun blieb noch zu entscheiden, was mit dem Kopf des künstlichen Alchemisten geschehen sollte. Die Wangen­knochen und der Kiefer waren in massives Silber eingebettet, das von tiefen Furchen durchzogen wurde. Selbst jetzt noch bewegten sich winzige Kugeln in den Kanälen. Ich nahm an, dass sie die darüber liegenden Haut- und Gewebeschichten kontrolliert hatten, sodass der Eindruck entstanden war, es handele sich bei dem Plünderer um einen lebendigen Menschen. Einem plötzlichen Impuls folgend, wollte ich den Schädel ebenfalls einpacken, doch als ich ihn berührte, verspürte ich körperliches Unbehagen, Abscheu und Furcht.

Düstere Vorahnungen überkamen mich. Angewidert schmiss ich den Kopf in eine Wandnische, holte tief Luft und stieg in den nach Verwesung stinkenden Tümpel, um hinüber auf die andere Seite zu gelangen. Wie zuvor Virelli tauchte ich sofort unter. Das Wasser schlug über mir zusammen. Ich fürchtete zu ertrinken, stieß mich ab und stolperte blind vorwärts, bis ich aufwärts führende Stufen unter meinen Füßen spürte. Das musste der Weg an die Oberfläche sein. Ich ließ mich nach vorne fallen und kroch an Land, wo ich schwer atmend liegen blieb.

Mir war furchtbar kalt. Ich zitterte und konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Mit klammen Fingern gelang es mir schließlich, eine Kerze anzuzünden, die mit unsteter, blauer Flamme brannte. Das kümmerliche Licht reichte nicht aus, damit ich etwas von meiner Umgebung sehen konnte.

Es gab zusehends weniger Sauerstoff.

Da die Nachtsichtbrille das Wasserbad überstanden hatte, löschte ich das Feuer, doch die verbesserte Sicht machte das erdrückende Dunkel nur greifbarer, das sich von den Grenzregionen meines Sichtfeldes bis in unergründliche Tiefen erstreckte.

Die Stufen gehörten zu einem weit älteren Teil des Hauses. Sie führten zu einer massiven Tür hinauf, in die, ähnlich den Pforten in die Unterwelt, das Abbild der Todesgöttin eingelassen war. Am unteren Ende der Aussparung befand sich eine Vertiefung. Als ich die Figur in die Form einpasste, vernahm ich Schritte. Das leise Geräusch erstarb augenblicklich. Nachdem ich minutenlang in die Stille gelauscht hatte, glaubte ich, mich geirrt zu haben. Trotzdem lockerte ich den Griff des Gorkha-Messers, das ich am Gürtel trug, bevor ich die Traumgöttin erneut in das Schloss einsetzte.

Die Figur hielt in der Fassung, ohne dass sich die Tür öffnete. Auch als ich sie zu bewegen versuchte, rührte sich nichts. Schließlich ließ ich die Klinge hervorschnellen. Daraufhin setzte sich ein Mechanismus in Bewegung, der die Riegel ächzend zurückklappen ließ. Schutt und Gestein rieselten von der Decke herab. Ich fürchtete, das Gebäude würde einstürzen. Noch minutenlang bewegte sich der Boden unter meinen Füßen. Übertönt von dem Geräusch des Schlosses, hörte ich erneut Schritte. Diesmal waren sie dicht hinter mir. Schnell überschritt ich die Schwelle zu einem geschmackvoll eingerichteten Kabinett, das ungefähr fünf mal sechs Meter maß. Während ich die Tür hinter mir mit einem Stuhl sicherte, war ­wiederum kein Geräusch zu vernehmen. Trotzdem war ich mir sicher, nicht alleine zu sein.

Auf den Tischen und Schränken standen silberne Leuchter, deren Form amphibischen Lebewesen nachempfunden war. Diese schrecklichen Kreaturen konnten nicht wirklich existieren. Es musste sich bei ihnen um die Ausgeburt einer kranken Phantasie handeln.

Schaudernd schob ich die Nachtsichtbrille in die Stirn und zündete die schwarzen Kerzen an, die dem Geruch nach aus menschlichem Körperfett hergestellt worden waren.

Der Boden des Zimmers bestand aus versteinertem Holz, das selbst im Halbdunkel der Flammen unirdisch glühte. Es erinnerte mich unwillkürlich an die Decke des Opium­zimmers in meiner Wohnung. Ein alter Orient­teppich, den ein zum Symbol des Ewig Suchenden verschlungener Drachenkörper zierte, bedeckte den Stein fast vollends.

Die mit Abbildungen von exotischen Pflanzen verzierte Wandverkleidung war aus gehämmertem, grün bemaltem Schlangenleder gefertigt worden. Es handelte sich um die Haut riesiger Anakondas, die am Amazonas beheimatet waren. Sie ernährten sich von der Essenz der Blutorchidee, einer seltenen, lebensverlängernden Pflanze.

Auf dem Pult des wundervoll erhaltenen Schreibtischs und in den mit Seerosen und Algen verzierten Jugendstilschränken fanden sich unzählige Bücher, vielarmige hinduistische Gottheiten, versteinerte Fossilien und mancherlei obskures Metallobjekt. Der mumifizierte Schädel von Frankensteins Monster stand neben Vasen mit der Signatur von Émile Gallé und Entwürfen von John Merchants mechanischen Spielereien.

Die Bilder waren natürlich Originale; Gemälde und Zeichnungen von Benjamin Lacombe, Tomasz Beksinski, Miroslav Pecho und Horst Janssen hingen an den Wänden. Sie zeigten wundersame Albträume und traumhafte Ausschweifungen. Eines der Porträts stellte den entsetzlich gealterten Dorian Gray dar. Die Leinwand war von Schnitten übersät. Einen Augenblick lang überlegte ich, ob es sich um das Original handeln mochte. Innerhalb dieser Mauern war das nicht auszuschließen.

Die Gegenstände in diesen Räumen konnten sich mühelos mit den Objekten in König Salomons ­Schatzkammer messen. Sollte es mir gelingen, aus diesem goldenen Käfig wieder zu entkommen, würde ich vom Erlös eines Bruchteils von ihnen im Herzen der Altstadt, dem vergessenen Brügge oder im verwunschenen Cathay bis ans Ende meiner Tage prunkvoll leben können. Die Chancen dafür standen jedoch alles andere als gut. Der Sauerstoff ging zur Neige, irgendetwas lauerte vor der Tür dieses Kabinetts, und wenn ich nicht bald aus der nassen Kleidung herauskam, würde ich später an einer Lungenentzündung sterben.

Doch das Glück hatte mich noch nicht ganz verlassen. An das Studienzimmer grenzte eine Kammer, in der Anzüge, Schuhe und Schutzkleidung aufbewahrt wurden. Nachdem ich mich meiner nassen Montur entledigt hatte, probierte ich einen der Anzüge an. Er war eine Nummer zu groß, aber mit einem Gürtel würde es gehen. Auch die Stiefel hatten nicht meine Größe. Ich musste sie mit Stofffetzen auspolstern. Dann streifte ich den Schutz­overall über. Er saß wie eine zweite Haut. Meine Bewegungs­fähigkeit wurde durch das gummiartige Material kaum eingeschränkt.

Allmählich pulsierte wieder Leben durch meinen Körper. Meine Hände und Füße begannen, unangenehm zu kribbeln. Auch der Schmerz kehrte zurück und mit ihm mein Selbsterhaltungstrieb. Eilig begab ich mich in Rabensteins Studienzimmer, wo ich damit begann, die Bücher zu sichten, die zum Großteil in toten Sprachen abgefasst waren. Es handelte sich um bedeutende Schriften der ­Mystik und Alchemie.

Auf dem Schreibtisch fanden sich so sagenhafte Werke wie Ludvig Prinns De Vermis Mysteriis, von Junzts Unaussprechliche Kulte, das Cultes des Goules des Grafen d’Erlette und sogar ein in menschliche Haut gebundenes Exemplar des Necronomicons, verfasst vom verrückten Araber Abdul Alhazred. Die Buchrücken waren unter einer dicken Schicht Staub begraben.

Zwischen den Büchern lagen Aufzeichnungen zu Rabensteins Forschungen und Notizen mit Wegbeschreibungen zu merkwürdigen Orten, fernab unserer Welt. Im ersten Moment glaubte ich, sie seien auf Papyrus geschrieben worden. Bei näherer Betrachtung stellte ich jedoch fest, dass das Papier eine organisch anmutende Struktur hatte. Fast wie gegerbtes Leder, das von winzigen Schuppen überzogen war.

Ein silbernes Flachrelief zeigte krakenähnliche Lebewesen, die im All schwebten. Zwischen ihnen waren Sterne zu sehen. Als ich es in die Hand nahm, versetzte es mir einen elektrischen Schlag und meine Narben begannen zu brennen. Mit Grauen dachte ich an die Großen Alten, die ich trotz meiner Begegnung in den Katakomben immer für einen Mythos gehalten hatte.

Eilig begann ich damit, die Schätze zusammenzu­tragen, doch schon bald wurde mir klar, dass ich nur wenige der Kostbarkeiten bergen konnte. Es waren einfach zu viele. Außerdem bekam ich auf die Schnelle nicht heraus, welche der Aufzeichnungen wichtig waren. Ich würde später wiederkommen müssen, um sie zu sichten. Jetzt konnte ich nur so viel wie möglich von dem mitnehmen, was sich gut verkaufen ließ.

Die Zeit verrann. Neben dem Flachrelief entschied ich mich für einige der okkulten Bücher, silberne Füllfederhalter und mehrere mit kryptischen Symbolen verzierte Dosen, die mit ungeschliffenen Monddiamanten gefüllt waren. Gerade, als ich gehen wollte, fiel mein Blick auf eine architektonische Zeichnung, die an der gegenüberliegenden Wand hing. Während ich sie betrachtete, begriff ich, dass es sich um den Grundriss dieses Hauses handelte. Dort, wo jetzt das Wasser war, befanden sich Keller­gewölbe von enormem Ausmaß.

In diesem Flügel des Gebäudes, oberhalb des Raumes, in dem ich mich jetzt gerade aufhielt, war ein Übergang zu dem großen Turm eingezeichnet, den der Erdboden noch nicht gänzlich verschlungen hatte.

Ich nahm den Bauplan aus dem Rahmen, zog das Nachtsichtgerät über die Augen und verließ das Kabinett. Als die Klinge der Traumgöttin zurückschnellte, verschlossen schwere Riegel die Schatzkammer wieder. Mit der letzten Umdrehung des Schlosses begann eine in der Wandverkleidung versteckte Uhr damit, die Zeit rückwärts zu zählen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783957194237
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Alptraum Grauen Horror Zukunft Monströs Prag

Autor

  • Andreas Ackermann (Autor:in)

Andreas Ackermann wurde 1967 in Thüringen geboren und lebt heute in einem Dorf in Niedersachsen. Seit seiner Jugend interessiert er sich für phantastische Literatur, seltsame Filme, Dark-Wave und Gothic-Rock. Manchmal des Nachts, wenn der Regen auf das Dach des Hauses trommelt, hat er das Gefühl, auf ewig in den Traumlanden gestrandet zu sein.
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Titel: Lovecrafts Schriften des Grauens 03: Das Mysterium dunkler Träume