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Lovecrafts Schriften des Grauens 06: Der dunkle Fremde

von W. H. Pugmire (Autor:in)
148 Seiten

Zusammenfassung

Bei einer solchen Gelegenheit sah ich den dunklen Fremden, der in der gewölbten Türöffnung des Hauses stand, dieses riesige Schattenwesen, dessen Gewand um es herumfloss, als werde es von einem Sturm bewegt, obwohl die Nacht ruhig war. Aus meinem Versteck in sicherer Entfernung beobachtete ich, wie das Wesen eine Hand aus Mitternacht erhob, die dem Mond Zeichen machte. Dann warf es seinen Kopf zurück, sodass es aussah, als wollte es heulen. Doch das einzige Geräusch, das ich hörte, war ein leises Summen aus dem Innern des alten Gebäudes. In den USA ist W. H. Pugmire längst einer der besten Autoren, die in der Tradition Lovecrafts schreiben. Hierzulande harrt sein vielseitiges Werk bislang noch der Entdeckung. Mit diesem Buch legt der BLITZ-Verlag eine exemplarische Sammlung von Pugmires Erzählungen vor, in denen der Reichtum und die Intensität seiner Bilder in bester Weise zum Ausdruck kommen. Die Printausgabe umfasst 234 Buchseiten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis





Das Fenster zwischen den Welten


I.

Ich habe durch schwarze Bäume auf einen vertrockneten und toten Mond geschaut,

Dort, in einem verfinsterten Himmel, einem Ort des absoluten Nichts,

Der sich über uns ausbreitet wie eine Brutstätte von Albträumen,

Ein Abgrund aus Abend.

Über uns brodelt ein Universum, das aufklafft,

Als wollte es die Welt verschlingen, und uns,

Die wir bedeutungslos darauf herumkriechen,

Die wir herumstolpern und keinen Halt aus Vernunft finden.

Ein frostiger Wahnsinn tropft aus der Dunkelheit herab.

Er berührt die uralten Steine

Dieses unheiligen Hauses in diesem Tal,

Wo Chaos und Irrsinn tanzen,

Wo sie sich bewegen in einer Stimmung,

Die verfolgt wird vom Spott Seiner Maskerade,

Seiner Fassade Herrschaftlicher Mitternacht.

Er reicht Seine Hand unserer Zunge.

Rohentwurf eines Gedichts von William Davis Manly, unvollendet geblieben zur Zeit seines Verschwindens


II.

Es gibt einen Ort der Vorstellungskraft und Furcht und der Erhabenheit, wo man Dinge findet, in der Dunkelheit, und manches Mal auch im Traum.

April Dorgan fand solche Dinge in einem verwunschenen Tal, das von schroffen Bergen und lieblichen Hügeln umgeben war. Einem Ort, der einen gleichsam umwarb, verspottete und vergiftete. Es war ein unheimlicher Ort, und das war vermutlich ein Teil des Zaubers, den er auf April ausübte, denn die junge Frau besaß eine unkonventionelle Art, die ihre behäbige Familie verwirrte, die nicht verstehen konnte, wie sie sich anzog, welche Bücher sie las und wie sie redete.

Als April, gerade erwachsen geworden, die Buchhandlung ihres Großvaters erbte, verwandelte sie den Ort in einen Tummelplatz für Gleichgesinnte und ersetzte den Großteil der Bücher durch die Titel, die genau den dekadenten Geschmack seiner Kundschaft trafen. Es gab jedoch einen Raum, zu dem niemand Zutritt hatte, und das war das große Hinterzimmer, das ihr Großvater als seinen persönlichen Wohnbereich und seine Bibliothek eingerichtet hatte. Und diese Bibliothek verwirrte April auf dieselbe Weise, wie sie die Menschen in dieser biederen Stadt in Wisconsin verwirrte. Den Raum umgab eine besondere Aura, denn hier hatte sie als junges Mädchen bei ihrem kränklichen Großvater gesessen und seinen exzentrischen Ausführungen zugehört. Hier zeigte er ihr bestimmte Bücher, die er in einem verschlossenen Wandschrank aufbewahrte. Manchmal murmelte er von der Zeit, die er am finstersten Teil von Rick’s Lake verbracht hatte, und davon, was er glaubte, dort erlebt zu haben.

April hatte sich darüber geärgert, wie ihre Mutter und ihre Onkel versucht hatten, sie vor den seltsamen Geschichten des alten Mannes zu beschützen, so, als würde sie sich mit einer Art geistiger Krankheit anstecken, wenn sie ihm zuhörte. Deshalb schuf sie ein geheimes Band mit ihrem Großvater, darum hatte er ihr in seinem Testament die Buchhandlung vermacht. Das war gut so, denn niemand sonst in ihrer Familie hatte das geringste Interesse an der Buchhandlung, und daher hätte man sie wahrscheinlich verkauft.

April aber liebte sie. Sie liebte das alte Haus, dessen ersten Stock die Buchhandlung einnahm. Sie liebte es, sich in das Leben eines Buchhändlers zu stürzen und Kontakte mit Gleichgesinnten zu knüpfen, die, nachdem sie einmal Aprils besonderen literarischen Geschmack entdeckt hatten, ihr häufig Geschenke mit provozierenden Titeln schickten, oft auf Französisch.

Aber am meisten liebte sie das Arbeitszimmer ihres Großvaters, in das sie ein Bett hineinstellte, sodass sie dort schlafen und träumen konnte, oft mit einem der seltsamen Bücher des alten Mannes neben sich. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann sie das private Tagebuch ihres Großvaters entdeckt hatte, in dem sie zum ersten Mal vom Sesqua-Tal und seinen ­sonder­baren Bewohnern erfahren hatte. Es war seltsam, das Lesen dieses Tagebuchs brachte Erinnerungen an ihre Kindheit zurück, von denen sie gedacht hatte, es seien schlechte Träume. Wie sie als ganz junges Mädchen auf dem Fußboden der Buchhandlung ihres Großvaters saß und große Bilderbücher anschaute, als bestimmte Leute kamen, um ihren Großvater zu besuchen, Leute, die zu den seltenen Menschen gehörten, denen er Zutritt zu seinen Privat­räumen gewährte. April erinnerte sich an die geheimnistuerische Art dieser Leute und an etwas an ihrer Erscheinung, das sie gleichermaßen beeindruckte und beunruhigte. Ein sehr großer Mann, der stets einen breitkrempigen Hut trug, faszinierte sie besonders. Denn der blieb immer bei ihr stehen, kniete sich neben sie und fragte: „Was lesen Sie heute, Miss April?“

Sie hatte eine schwache Erinnerung an etwas Merkwürdiges in seinen Augen und an den Geruch seiner Kleidung. Sie erinnerte sich auch an den aufgewühlten Zustand, in dem sich ihr Großvater oft befand, nachdem er sich mit diesen seltsamen Besuchern unterhalten hatte. Einmal, kurz bevor es mit ihm zu Ende ging, als er es ihr erlaubte, bei ihm in seinem Arbeitszimmer zu sitzen und über die Zukunft der Buchhandlung zu sprechen, erwähnte sie beiläufig diese Besucher.

„Ah“, hatte der alte Mann erwidert. „Simon Gregory Williams und seine Brut. Ja, er wird vielleicht mal seine Schnauze hier hereinstecken, wenn er erfährt, dass du das Geschäft übernommen hast. Die haben Interesse an einigen der Titel, die ich unter Verschluss halte. Du möchtest bestimmt nichts mit ihnen zu tun haben. Sie sind so etwas wie Okkultisten, glaube ich.“

Erst nach dem Tod ihres Großvaters entdeckte sie, in einer Schublade seines Schreibtisches, eines seiner privaten Tagebücher. Darin fand sie weitere, allerdings verstörende Informationen. „Ich habe Williams einige der Bücher zu ihm nach Hause ins Sesqua-Tal gebracht. Es waren gute Bücher, und er bezahlte einen anständigen Preis. Er stellte mir ein paar verwirrende Fragen über Rick’s Lake und Professor Gardner, die ich ihm nicht beantworten konnte. Ich hatte kürzlich von neuen Aktivitäten am Rick’s Lake gehört. Jemand hat das seltsame kleine Steintotem entfernt, das neben der Hütte stand, das mit dem gesichts­losen Gott als oberstem Bild. Ich habe einen gewissen Verdacht, aber ich sagte damals nichts zu Williams. Er hatte seine üblichen Fragen gestellt über den Professor, und ich erklärte ihm erneut, dass wir keine echten Exemplare von De Vermis Mysteriis und den Pnakotischen ­Manuskripten hätten, sondern lediglich Fotokopien der Manuskripte und gedruckte Auszüge aus diesen Texten. Er glaubt mir nicht, denn er hat auf manche der Werke gestarrt, die ich seitdem gesammelt habe, Bücher, die ich unter Verschluss halte. Er fragte mich nach meinen Träumen. Verflucht sei er! Wie er von solchen Dingen wissen konnte, kann ich mir nicht erklären. Seine Stimme hat beinahe etwas Sinnliches, wenn er von den alten Texten und ihren verführerischen Überlieferungen spricht.

Er ließ mir eine weitere Liste von Titeln da, an denen er Interesse hatte. Ich frage mich, ob er sich denken kann, dass ich die geheimnisvollen Bücher aus einer seiner früheren Listen gefunden und in meiner persönlichen okkulten Bibliothek versteckt habe. Einige der Bücher haben sich als verstörend erwiesen, sie bei mir zu haben, war höchst unangenehm. Deshalb habe ich ein paar in eine Kiste gepackt und sie zu Adam Websters Buchhandlung im Sesqua-Tal gefahren. Die Erinnerung an diesen Ort ... Nun, ich kann mich nicht daran erinnern. Auch jetzt kann ich mich an keine Einzelheit meines Besuchs dort erinnern, oder an das Tal selbst. Ich habe nur einen unbestimmten, äußerst unangenehmen Eindruck. Das ist alles!“

In einem anderen Tagebuch hatte April eine solche Liste mit Titeln gefunden, an denen Simon Gregory Williams besonderes Interesse bekundet hatte, zusammen mit den außergewöhnlichen Preisen, die Williams für diese Bücher zu zahlen bereit war. Es bereitete der jungen Frau Unbehagen, einige dieser Werke hinter den Glastüren des verschlossenen Schranks zu sehen. Es gab auch eine Landkarte des Nordwestens, in dem das Tal lag, mit handschriftlichen Notizen ihres Großvaters von seiner Reise dorthin.

Damit war ihre Neugierde geweckt. April packte ein paar der Bücher in eine Kiste, fügte das Tagebuch hinzu, das ein paar der Titel in der Kiste erwähnte, an denen Simon Gregory Williams Interesse hatte, und begab sich ins Sesqua-Tal.

Sie fuhr einen ganzen Tag, übernachtete in einem tris­ten Motel und beendete ihre Reise nach weiteren sieben Stunden, als sie in ein Tal hinab kam, das von Bergen und bewaldeten Hügeln umgeben war. Eine kurvige Straße brachte sie in eine kleine Stadt. April war sofort von der Stimmung des Ortes verzaubert, von seiner Aura von Stille, von den hölzernen Gehsteigen und der umliegenden Waldlandschaft. Ein gigantischer Berg mit zwei Gipfeln aus weißem Stein nahm sie mit seiner überwältigenden Schönheit gefangen, wie er im fahlen Sonnenlicht des späten Morgens schimmerte.

Sie parkte das Auto, stieg aus und atmete die süße Luft ein, während sie die alten Gebäude bewunderte, die die Innenstadt zu bilden schienen. April schaute sich um, entdeckte aber nichts, das wie eine Buchhandlung aussah. Sie hörte Schritte auf dem hölzernen Gehsteig, wandte sich um und lächelte zwei junge Männer an, die auf sie zukamen.

„Hallo“, begrüßte sie sie. „Ich suche nach Adam Websters Buchhandlung.“

Der kleinere der beiden Jungen antwortete. „Das geht den Hügel hinauf, auf der Straße der Habichte. Ich bin gerade auf dem Weg dorthin.“

Sie reichte ihm die Hand. „Ich bin April Dorgan aus Wisconsin. Mein Großvater verkaufte seltene Bücher an Mr. Simon Williams. Ich habe ein paar Exemplare mitgebracht, von denen ich dachte, sie könnten ihn oder Mr. Webster interessieren. Darf ich Sie in meinem Wagen mitnehmen? Dann könnten Sie mir den Weg zeigen.“

Die beiden jungen Männer wechselten einen kurzen Blick. April studierte die merkwürdigen Züge ihrer Gesichter, die sie an etwas erinnerten, das sie nicht einordnen konnte.

„Ich bin Cyrus. Ja, ich zeige Ihnen den Weg. Es ist nicht weit.“ Er klopfte dem anderen Jungen auf den Rücken und stieg mit April zusammen ins Auto. Dann dirigierte er sie aus der Stadt hinaus, eine ausgefahrene Straße entlang, die sich den Hügel hinaufstreckte. „Da ist das Haus, gleich hinter diesen Bäumen. Sie können hier bei der Treppe parken. Lassen Sie mich die Bücherkiste tragen, Miss Dorgan. Sie sieht schwer aus.“

April parkte neben einer Steintreppe, die zu einem der seltsamsten Häuser führte, die sie je gesehen hatte, unheimlich, abgeschieden und sehr alt. Schweigend folgte sie Cyrus die Treppe hinauf, die von Unkraut und gelbem Gras überwuchert war. Sie bemerkte, wie neugierig er die Bücher in der Kiste betrachtete, die er trug. Als sie das Ende der Treppe erreicht hatten, gingen sie auf einem Kiesweg zu den drei Holzstufen, die zu einer riesigen überdachten Veranda hinaufführten. Darauf standen eine Hollywoodschaukel und ein Eimer mit weggeworfenen Büchern. Die Haustür stand offen, und aus dem Innern hörte April, wie jemand Flöte spielte.

Sie überschritten die Schwelle, und April betrachtete aufmerksam den großen Mann, der ihnen den Rücken zuwandte, während er aus einem nach Osten gehenden Fenster schaute, in Richtung des weißen Berges. Er war es, der die Musik spielte, und als er aufhörte und sich umdrehte, sah April, dass er eine Flöte in der Hand hielt, die aus leuchtend rotem Holz gefertigt war. Er lächelte sie nicht an und sagte auch nichts. Etwas in dem strengen Blick seiner silberfarbenen Augen verunsicherte sie mit leiser Furcht und Erinnerung. Das Gesicht erschien ihr auf unheimliche Weise sehr vertraut, und sie fühlte sich abgestoßen von seinen hässlichen Gesichtszügen, die sie an eine Mischung aus Frosch und Wolf erinnerten.

Die unfreundlichen Augen wandten sich Cyrus zu, der die Kiste auf einen niedrigen Tisch gestellt hatte. „Was ist das?“, fragte der Mann.

„Vor einigen Jahren besuchte Simon Gregory Williams von Zeit zu Zeit die Buchhandlung meines Großvaters in Wisconsin und zeigte Interesse an den Büchern hier in der Kiste“, erklärte April. „Aus unbestimmten Gründen wollte sich mein Großvater nicht davon trennen. Könnten Sie die Bücher Mr. Williams zeigen, vielleicht gelingt es mir dann, mich mit ihm auf einen Preis zu einigen.“

„Simon ist in Europa, aber ich kenne seinen Geschmack. Ich werde bis morgen beschäftigt sein. Können Sie über Nacht bleiben? Ich habe oben ein Zimmer, das Sie gerne benutzen können, solange Sie im Sesqua-Tal bleiben. Wenn Ihr Großvater Laird Dorgan hieß, dann habe ihn einmal getroffen, als ich Simon in die Stadt begleitete. Cyrus wird Ihnen das Zimmer zeigen. Ich esse heute spät zu Abend. Vielleicht möchten Sie mir Gesellschaft leisten, und wir können reden. Ja? Ausgezeichnet!“ Er wandte sich an den Jungen. „Das Ostzimmer, Cyrus, mit seinem großartigen Blick auf den Mount Selta und den umliegenden Wald.“ Und dann sagte er zu April: „Ist Ihr Gepäck im Auto? Geben Sie Cyrus Ihre Schlüssel, und er bringt alles auf Ihr Zimmer. Sie sind sicher nach so einer langen Fahrt müde. Ein wenig Ruhe wird Ihnen guttun. Das Bett ist gemütlich.“

Sie folgte dem jüngeren Mann aus dem Zimmer und eine mit Teppich ausgelegte Treppe hinauf. Das Zimmer, in das er sie führte, war klein und geschmackvoll mit robusten alten Möbeln eingerichtet. Das Bett sah einladend aus.

Nachdem sie Cyrus für seine Hilfe gedankt und ihm die Autoschlüssel gegeben hatte, legte sie sich auf das Bett, schloss die Augen und lauschte der eindringlichen Flötenmelodie aus dem Erdgeschoss.


III.

Das Universum war ein schwarzes, stilles Meer, in dem ihre Augen blind umhertrieben. Die Situation erinnerte sie an das Sonett Die ungeschaute Unendlichkeit von Sri Aurobindo und seinen Vers über den unbewussten schrecklichen stummen Abgrund. Ihre Augen trieben umher und schauten, das Weiße in ihnen waren die einzigen Sterne. Dann erhob sich aus dem Meer der Unendlichkeit eine Gestalt, schwärzer als das Vergessen. Sie richtete sich auf und beobachtete April beinahe mit Neugier in ihrem dunklen Gesicht, einem Gesicht, das nahezu keine Züge trug. Die Hände der Gestalt, gehüllt in Handschuhe aus Mitternacht, hoben sich zu ihrem noch unvollendeten Gesicht und zogen daran, bis das Gesicht frei lag. Die Gestalt näherte ihr Gesicht Aprils Augen, die sich darauf zubewegten und sich in engen Augenhöhlen befestigten. Als April wieder in das Nichts blickte, sah sie die Wirbel aus Schatten, die sich drehten, wie eine Vision Hesekiels, Kreise aus Schwärze, die innerhalb ihrer selbst umherwirbelten und an ihrem innersten Wesenskern zerrten. Die Maske, in der ihre Augen steckten, drehte sich wie ein Netz aus Düsternis in dem kosmischen Nichts. Mit großer Anstrengung schloss sie die Klappen der Maske, die ihre Augenlider waren.

Sie öffnete ihre Augen in die Dunkelheit, fokussierte ihren Blick und bemerkte das trübe Rechteck aus Licht, das einen Umriss enthielt, der sie anschaute. Sie erhob sich auf ihre Ellbogen und starrte die Gestalt an, deren Gesicht sie nicht sehen konnte.

„Warum ist es so dunkel?“

„Sie haben geschlafen, die Dunkelheit kommt um diese Jahreszeit sehr schnell ins Tal. Haben Sie Hunger? Ich habe für uns den Tisch gerichtet. Kommen Sie.“

Sie setzte sich auf und zog die Sandalen über ihre Füße. Dann erhob sie sich und ging auf die Gestalt auf der Türschwelle zu. Der Mann trat zurück, um sie aus dem Zimmer zu lassen. Das sanfte Licht des Korridors beleuchtete sein seltsames Gesicht.

„Ich habe tatsächlich ein bisschen Hunger“, gab sie zu.

„Ausgezeichnet. Ich habe eine kleine Mahlzeit vorbereitet.“ Er bot ihr seinen Arm an. Sie ergriff ihn, gemeinsam stiegen sie die Treppe hinunter und betraten das Speisezimmer. Er zog einen Stuhl für sie hervor und ging zu einem Beistelltisch. Dort öffnete er abgedeckte Schüsseln und legte Speisen auf Teller. Sie ergriff das Glas vor ihr und atmete das süße Aroma des Weines ein, das sie an die Düfte des Tals erinnerte, die sie umweht hatten, als sie es am Vortag zum ersten Mal betreten hatte. Er ließ sich nieder und begann, schweigend zu essen, ohne sich im Geringsten um sie zu kümmern.

Die Mahlzeit war köstlich, wie auch der Wein. Nachdem April gespeist hatte, hatte sie ein wenig von dem unguten Gefühl verloren, das dieser Ort und sein Bewohner in ihr geweckt hatten. Er schaute auf und bemerkte, dass sie sein Gesicht anstarrte. Er lächelte geheimnisvoll. Der Mann erhob sich und trat an einen kleinen Beistelltisch, von dem er einen Gegenstand nahm. Dann zog er einen der Stühle vom Esstisch näher an April heran und setzte sich. Sie erkannte das Tagebuch ihres Großvaters, in das sie die Bücher notiert hatte, die der geheimnisvolle Simon Williams hatte haben wollen.

Webster legte das kleine Tagebuch neben sie und tippte mit dem Finger darauf. „Wissen Sie, was aus den Büchern geworden ist, die am Ende dieses Tagebuchs erwähnt werden, den Pnakotischen Manuskripten und dem Buch von Eibon? Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob es echte Ausgaben waren oder Fotokopien, wie auch das Necronomicon.“

April runzelte die Stirn. „Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.“

„Ah! Vielleicht haben Sie nicht bemerkt, dass hinten im Tagebuch etwas stand, nach vielen leer gelassenen Seiten.“ Er schlug das Buch auf und zeigte ihr ein paar Seiten hinten aus dem Buch, auf die ihr Großvater, vor langer Zeit, ein paar seltsame Notizen gekritzelt hatte, offensichtlich nur für sich.

Träume von dem, der in der Dunkelheit wohnt, vielleicht eine Folge der Erinnerungen, die vom Studium der Fotokopien des Necronomicon, des Buches von Eibon und den P. Manuskripten geweckt wurden. Ich sehe das verdammte Totem vor mir, das neben der Hütte im Wald stand, mit seinem Gesicht wie dem eines Reptils und seinen Flügeln. Ich spüre die Versuchung, noch mal zu Rick’s Lake zu fahren, um die Markierungen auf dem Totem zu kopieren, dennoch widerstrebt es mir, dorthin zurückzukehren. Ich möchte nicht noch einmal diese summenden Stimmen oder das heulende Ding hören. Und trotzdem zieht es mich dort hin, an diesen verfluchten Ort.

„Ich habe diese Passagen nie zuvor bemerkt.“ April log, als sie andere Seiten mit ebenso kryptischen Notizen in der Handschrift ihres Großvaters durchblätterte. „Das Buch von Eibon und De Vermis Mysteriis in der Kiste, die ich mitbrachte, kaufte Großvater nach dem Vorfall an Rick’s Lake und nachdem er seine Stellung an der Universität aufgegeben hatte, um seine Buchhandlung zu eröffnen. Er erzählte mir die Geschichte von Rick’s Lake kurz vor seinem Tod, viele Male, und ich weiß, dass die Fotokopien der okkulten Bücher, die sie in der Hütte hatten, auf unerklärliche Weise verschwanden. In einer Zeit, als er sich mit schlimmen Träumen verrückt machte, ging ich einmal mit ihm zu der Hütte. Er schien beunruhigt, dass das steinerne Totem beseitigt worden war, weil er gerade dieses untersuchen wollte. Sehen Sie, er öffnete sich mir, als ich anfing, mich für seinen unkonventionellen Lebenswandel zu interessieren, und begann, Freunde in die Buchhandlung mitzubringen. Er schien begeistert davon, sich unseren Séancen und ähnlichen Dingen anzuschließen.“

„Sind Sie interessiert am Okkulten, Miss Dorgan?“

Sie klappte das Tagebuch ihres Großvaters zu und schob es von sich. „Nein. Ich habe gesehen, was diese Dinge mit Großvater gemacht haben, und das hat mich eher abgeschreckt. Kurz vor seinem Ende ging es ihm sehr schlecht. Er schrieb Zeichen mit Kreide auf die Wände und Fußböden, schlich sich heimlich aus dem Haus und rannte nackt durch die angrenzenden Wälder. In einem dieser Wälder fanden wir ihn, tot, mit einem merkwürdigen Buch in seiner Hand.“

„Und welches Buch war das?“

„Ich weiß es nicht. Ich habe es nach der Beerdigung verbrannt. Ich war versucht, all die unheimlichen Bücher zu verbrennen, die er in seinem Schrank eingeschlossen hatte. Dann fand ich dieses Tagebuch mit den außerordentlichen Preisen, die ihm von Mr. Williams geboten worden waren. Das bewahrte die Bücher vor den Flammen. Die Buchhandlung läuft recht gut, und meine Bedürfnisse sind auch bescheiden. Dennoch wäre es gut, für besondere Anlässe eine angemessene Menge Geld auf der Bank zu haben. Wann erwarten Sie Mr. Williams zurück aus Europa?“

„Das weiß niemand. Spielt aber keine Rolle. Ich bin befugt, Ihnen die Beträge zu zahlen, die er Ihrem Großvater geboten hat. Diese Bücher sind in der Tat selten und in einem ausgezeichneten Zustand. Simon wird zufrieden sein.“ Er nahm das kleine Tagebuch und lächelte sie an. „Gefällt Ihnen Ihr Zimmer?“

„Oh ja! Es ist zauberhaft. Diese schönen Antiquitäten ...“

„Fein! Bleiben Sie so lange, wie Sie wollen. Es ist gut, mal abzuschalten, wie man so sagt.“ Er erhob sich, nahm ihre Teller und verließ den Raum.

April stand ebenfalls auf und streckte sich. Dann ging sie zur Eingangstür, setzte sich in die Schaukel auf der Veranda und blickte auf das nächtliche Tal und den weiten Horizont. Die Sterne erschienen ihr nicht vertraut, etwas, das ihr nie zuvor passiert war. Sie hatte aber auch nie viel Interesse am Himmel gezeigt. Sie fing einen trüben Rest ihres Traumes auf und dachte erneut an die Gedichtzeile den unbewussten schrecklichen stummen Abgrund und spürte dieses Bild so intensiv wie niemals zuvor. Die Schwärze über ihr erschien ihr wirklich wie ein Abgrund, in den sie stürzen würde, wenn sie ihren festen Griff um die Lehne der Schaukel losließ. April dachte an die Schlussverse des Sonetts, in denen die Beziehung der Seele des Menschen mit dem Ungesehenen enthüllt wird, mit dem der Mensch verwandt ist. Das war die krankhafte Besessenheit ihres Großvaters. Sie hatte nie ernsthaft über diese Sache nachgedacht und sie als die geistigen Irrfahrten eines älteren Geistes abgetan. Und dennoch hatte ihre Ankunft im Sesqua-Tal etwas in ihr ausgelöst, das sie nicht verstand, hatte sie erfüllt mit einem Gefühl von Unruhe, das ganz und gar nicht unangenehm war.

Gewiss, es war beunruhigend, Menschen zu treffen, denen die fixen Ideen ihres Großvaters genau so ernst waren wie ihm selbst. Das Interesse Adam Websters an den Büchern und der Geschichte ihres Großvaters war echt. Er zeigte sich außergewöhnlich interessiert. Vielleicht waren die alten Bücher weit bedeutungsvoller, als sie annahm. Vielleicht waren sie kostbarer, als ihr Großvater vermutet hatte, wertvoller als das großzügige Angebot, das Simon Gregory Williams ihm unterbreitet hatte.

Ihr Kopf schmerzte vom vielen Nachdenken. Ja, sie würde noch einen oder zwei Tage hierbleiben, einen kleinen Urlaub von zuhause nehmen und sich anschauen, wie andere Menschen lebten. Sie stellte fest, dass ihr Leben angefangen hatte, einer sicheren und regel­mäßigen Routine zu folgen. Und das ärgerte sie, weil dies ihrem Bild einer Frau widersprach, die ein interessantes Leben führte, ein Leben so anders als die abgeschmackte Wirklichkeit ihrer Familie, ihrer langweiligen Mutter und langweiligen Onkel, die kein Gespür für ein abenteuerliches Leben, für radikale Gedanken hatten. Es war ihre Rebellion gewesen, einem Lebensstil zu folgen, den sie als alternativ empfand. Aber sie bemerkte, dass es nicht viel gebraucht hatte, um in ihrer kleinen Stadt in ­Wisconsin als anders zu erscheinen. Heute lachte sie darü­ber, wie naiv all dies gewesen war. Hier, in dem abgelegenen Sesqua-­Tal, fühlte sie sich wirklich ­abgesondert von der ihr bekannten Normalität. Sie schloss ihre Augen und stieß sich mit den Füßen ab, sodass die Schaukel sich sanft hin und her bewegte. Diese Bewegung brachte plötzlich eine Erinnerung hervor. Sie saß als Kind auf dem Schoß ihres Großvaters, während er sie hin und her schaukelte. April lächelte.


*


Adam Webster saß mit geschlossenen Augen aber angespannten Sinnen im Schein eines weichen elektrischen Lichts. Er hörte die Bewegung hinter sich, als der junge Cyrus den Raum betrat.

„Du siehst ernst aus“, sagte der Junge.

„Ich mag diese Art von Überraschungen nicht, wenn Simon nicht da ist. Wir hatten ein paar angenehme ruhige Jahre ohne Fremde, die in unser Gebiet eindringen.“

Cyrus lachte leise. „Wir sind die Eindringlinge, Adam. Sie ist hier eher zuhause als wir.“

„Wie wenig du bisher verstehst. Das Tal ist unser Reich. Wir sind ein Teil seiner Luft und seiner Erde. Für eine kleine Weile sind wir in diese primitive Erscheinung aus Sterblichkeit gehüllt, bis zu jener Zeit, wenn wir in das Reich aus Schatten und Nebel zurückkehren werden. Der Berg ist unser Urahn. Dieses Tal gibt uns Gestalt, Fleisch und Atem. Wir sind eins mit ihm. Für eine gewisse Zeit.“

Cyrus zuckte die Schultern. „Was sollen wir also mit ihr tun?“

„Das Tal wird uns Anweisungen geben. Halte dein Ohr an die Erde.“

„Sie ist nicht wie die üblichen Außenseiter, Adam. Sie ist von dem Draußen befleckt worden. Kannst du es nicht an ihr riechen?“

„Das kann einfach nur die Ansteckung durch die Krankheit ihres Großvaters sein, die ihn befiel, während er in Rick’s Lake war. Simon weiß darüber mehr als ich, aber ich weiß genug. Sie hat in die alten Bände geschaut, und wenn man das tut, wird man berührt, gleichgültig, wie sehr man die Erscheinungen von Traum und Furcht missversteht. Die Großen Alten spielen ständig Streiche, wie du weißt. Miss Dorgan ist sicherlich durch jemandes Einwirken und seinen Plan zu uns gebracht worden. Es gibt keinen Zufall. Sie mag dich, und deshalb wirst du ihr Freund sein. Wir behalten sie ein paar Tage hier, bis ich ihr Schicksal verstehe oder es bestimmen muss.“ Er wandte den Kopf und blickte dem jungen Mann fest in die Augen. „Halte dein Ohr an die Erde, Cyrus! Es wird Zeit, dass du dich daran gewöhnst. Du hängst zu sehr an der Welt der Sterblichen. Geh und verrichte deine Arbeit.“

Der Ältere sah zu, wie der Junge sich umdrehte und den Raum verließ. Er griff in die Tasche seiner Jacke, holte seine Flöte hervor und führte sie an seine Lippen. Die leichte Musik stieg hinauf in die dunkle Luft. Sie trieb auf die Veranda hinaus und drang in die Träume des Eindringlings, der auf der Schaukel eingeschlafen war.


IV.

April erwachte aus einem tiefen und traumlosen Schlaf und merkte, dass sie in ihrem Bett lag. Sie hatte keine Erinnerung daran, wie sie in ihr Zimmer gelangt war und sich hingelegt hatte. Ihre Koffer standen im Zimmer, ihre Autoschlüssel lagen auf dem Nachttisch. Als sie frische Kleidung angezogen hatte, ging sie ins Erdgeschoss, fand dort aber niemanden. Daher entschied sie sich, im Tal herumzuschlendern und irgendwo zu frühstücken.

Es war ein sonniger und angenehmer Tag. Sie beschloss, an der Straße entlang zu gehen, die in die umliegenden Wälder führte. Es lag eine solche Stille über dem Tal, dass es beinahe unnatürlich ruhig schien. Ihr drängte sich die Vorstellung auf, dass das Tal lauschte, vielleicht sogar ihr selbst zuhörte. Niemals zuvor hatte eine Gegend eine solche Aura eines geduldigen Empfindungsvermögens besessen. Es war, als sei das Sesqua-Tal eine lebendige Erscheinung, die alle Dinge um sich herum, und somit auch April, bewusst wahrnahm.

Der Berg mit seinen zwei Gipfeln ragte empor wie eine Art Wächter, der den Ort beschützte. Schließlich gelangte sie auf eine Lichtung, die von Mammutbäumen umgeben war. Sie blieb stehen, um eine seltsame Statue aus schwarzem Stein zu betrachten, die gut einen Meter hoch war. Sie ähnelte einem Wasserspeier mit einem Katzengesicht, einem Kopf, der zum Heulen erhoben war, und einer groben Andeutung von angelegten Schwingen auf dem Rücken. Der Stein, aus dem das Wesen gefertigt war, war glatt wie Seide.

Sie wandte den Blick ab und weiteren Statuen zu, die schief im Gras vor ihr standen. Hinter diesen Statuen erblickte sie ein Bauwerk, das auf einem höher gelegenen Streifen Land platziert war. Von diesem stiegen feine Dämpfe aus malvenfarbigem Nebel empor. Ein beinahe identisches Gebäude hatte sie einmal in einer Sendung über Wales gesehen, die sie auf PBS angeschaut hatte, eine Kirche, die im 18. Jahrhundert erbaut worden war. Dieser schwarze Steinhaufen vor ihr mochte noch aus jener Zeit stammen. Der Ort wirkte absolut verlassen und wenig einladend. Dennoch spürte die junge Frau einen Zwang, sich ihm zu nähern, die kleine Steigung zu bezwingen und ihre Hand auf die kühlen groben Steinblöcke zu legen, aus denen das Gebäude erbaut worden war.

April blieb vor einer der großen gewölbten Aushöhlungen stehen, die in die von Nebel umschlossene Kirche hineinführten, und betrachtete das Totem, das sie begrüßte. Die bizarre Schöpfung verströmte eine Aura von Alter wie die schwarzen Steine des Gebäudes. Sie glich bestimmt nichts, das sie jemals zuvor gesehen hatte, denn sie hatte noch nie ein Totem gesehen, an das lange schmale Arme angebracht worden waren. Einer der Arme war auf merkwürdige Weise ausgestreckt, die Finger in einer Position, die wie ein Zuwinken aussah, während der andere Arm an der Seite herabhing, dass die Hand beinahe den grasigen Boden berührte. Die Arme ­wuchsen aus dem niedrigsten Teil des Totems heraus, einem über einen Meter hohen Sockel, in den vor Ewigkeiten kaum lesbare Zeichen oder Buchstaben eingemeißelt worden waren. Darüber befand sich das erste Gesicht, das wenig mehr war als ein verzerrter Schädel mit einem ovalen Mund, der April an Munchs Der Schrei erinnerte.

Oberhalb dieses Gesichts saß ein länglicher tintenfischähnlicher Kopf, an dem zwei kleine, adlerähnliche Schwingen angebracht worden waren. Der dritte, oberste Kopf dagegen erfüllte April mit Unbehagen und ließ sie vor Abscheu aufkeuchen. Denn da befand sich kein wirkliches Gesicht, sondern eher eine glatte, maskengleiche Oberfläche, die dennoch spöttisch zu blicken schien. Das verwirrte die junge Frau gänzlich. Ihre Augen begannen zu brennen, während sie dieses Ding betrachtete. Ihre Hände wanderten zu ihren Augen, die sich schlossen. Doch während sie sich die Augen rieb, wurde sie von einem gewaltigen Schwindel erfasst. Rote und schwarze Schatten drehten sich vor ihren Lidern, zogen sie in eine kaleidoskopartige Leere, in der sie herumwirbelte.

Während sie vorwärtsstolperte, streckte April den Arm aus und berührte die Mauer des alten Gebäudes. Sie erschauerte vor der Kälte der Steine, die auch vom Sonnenlicht des späten Vormittags nicht erwärmt worden waren.

Es war schwer für sie, etwas zu sehen. Ihr Blick war verschwommen, als sie sich an der Wand bis zu der Öffnung entlangtastete, die in das Gebäude hineinführte. Sie fand den gewölbten Eingang und stand da, während sie dem sanften Chor der Geräusche zuhörte, der von irgendwo aus dem Innern der Kirche kam. Geräusche, die auf sie zu waberten wie sanfter Wind, der ihr Gesicht reinigte und ihr Sehvermögen klärte. Im Gegensatz zu den Steinen des Gebäudes war der Wind heiß, wie ein lebendiger Atem, der aus dem Maul eines Tieres auf sie eindrang. Sie überschritt die Schwelle und betrat die Kirche, anfänglich verwirrt von dem Anblick, der sich ihr bot.

Der Ort war eindeutig ein Tempel der Kunst. Seltsame und groteske Statuen standen an den Wänden und in dämmrigen Ecken. Diabolische Figürchen und satanische Kultgegenstände kauerten auf Säulen unterschiedlicher Höhe und Durchmesser. Eine kleine Statue, die sie zuerst für eine Darstellung Luzifers gehalten hatte, stellte tatsächlich Pan dar, der auf seiner Flöte spielte und dessen gehufte Beine Anstalten machten, sich im Tanz zu erheben.

April bekam eine Gänsehaut. Sie schlang die Arme um sich und rieb sich mit den Händen darüber. Sie war überrascht von ihrer Reaktion auf diesen Ort. In ihrem unkonventionellen Leben hatte sie nur wenige Menschen getroffen, die sich als Hexen bezeichneten, und sie hatte einmal sogar an einem Hexensabbat teilgenommen. Aber das fühlte sich für sie alles irgendwie eher intellektuell an und hatte nichts von dem, was sie gemeinhin für magisch hielt.

Die heiße Luft wirbelte um sie herum und leitete Aprils Augen, die an dem Teil der Kirche entlangwanderten, den sie für das Mittelschiff hielt, obwohl es keine Kirchenbänke gab. Ihr Blick ruhte auf den Wänden, die schmale gemeißelte Öffnungen anstelle von Fenstern hatten. Sie ging auf die erhabene Plattform des Altars zu, auf dem sie keine Statuen und keine Kunstgegenstände entdecken konnte. Da war jedoch ein Rechteck schimmernder Schwärze, das an Ketten befestigt war, die von Deckenbalken herabhingen.

Als sie den Altar erreicht hatte, stieg April dessen Stufen hinauf und stand unmittelbar vor dem Ding, das aussah wie ein schmutziges Glasfenster, gefertigt aus einem schwarzen Material. Was dieses Kunstwerk ausdrücken sollte, entzog sich Aprils Kenntnis. Das Bild auf dem Fenster schien einen dunklen Raum darzustellen, mit Wirbeln merkwürdiger Leuchtkraft, die in diesem Nichts aus Kernschatten verstreut waren. Sie hatte nie zuvor eine solche Schwärze gesehen, die so fest, so greifbar aussah. Eine Woge entropischer Energie entströmte der gläsernen Oberfläche. Linien, wie Blitze, schmerzten ihren Augen. Ihr Mund begann zu brennen, sodass sie sich unwillkürlich mit der Zunge über die Lippen fuhr, während sie das Fenster anhauchte. Wo ihr heißer Atem das Glas berührte, bildete sich ein Kreis aus hellem Gelb, der einen Augenblick lang aufglühte und dann wieder verschwand. Während er dies tat, verschwand auch Aprils Sehvermögen, als etwas ihren Geist betäubte. Sie bekam kaum mit, dass sie auf den Boden vor dem Altar stürzte.

Weiche Lippen pressten sich auf ihr Ohr und atmeten unheimliche Worte in sie, mit einer schwerfälligen und sich kühl anfühlenden Lautbildung, während sie in ihren Geist eindrangen. Die Worte waren anders als jede Sprache, mit der sie vertraut war, mehr wie ein unbeholfenes Murmeln als echte Worte. Aber sie taten ihre Wirkung, sie klärten ihren Geist und linderten die Schmerzen in Aprils Augen.

Cyrus kniete neben April und half ihr, sich hinzusetzen. Er fuhr mit seiner Hand durch ihr Haar und berührte die blutende Beule auf ihrem Kopf. „Das war ungeschickt“, sagte er.

Sie lachte und seufzte, als der Schmerz ihren Kopf durchbohrte. „Mein Gott, das war unheimlich. Blute ich? Warten Sie, ich habe ein sauberes Taschentuch in meiner Hosentasche.“

„Versuchen Sie, aufzustehen“, sagte der Junge, während er ihr half, auf die Beine zu kommen.

Zusammen gingen sie zu einem niedrigen Gestell, auf dem sie ein Becken mit dunklem Wasser bemerkte. Cyrus nahm Aprils schwarzes Taschentuch, tränkte es mit Wasser und führte es an die Wunde, um sie zu reinigen. Er schaute sie mit seinen merkwürdigen silbernen Augen an. „Haben Sie es berührt oder mit ihm gesprochen? Ich meine das schwarze Fenster.“

Als er das Fenster erwähnte, überkam April plötzlich Gänsehaut. „Nein, natürlich nicht! Was um Himmels willen sollte ich dem Ding denn sagen, Cyrus?“ Sie konnte jedoch nicht anders, als sich umzudrehen und das Ding nochmals anzuschauen, das über dem Altar hing. „Was zum Teufel ist das für ein Ort? Er sieht so alt aus.“

„Hier bewahrt Simon Gregory Williams seine besondere Kunstsammlung auf. Das Gebäude ist einer Kirche nachempfunden, die er in Europa gesehen hat. Die Steine und die Ziegel, aus denen er sie hatte bauen lassen, wurden aus Irland und Wales herübergebracht, sie sind sehr alt. Hier, pressen Sie das gegen ihren Kopf! Tut’s noch weh?“

„Ja. Muss etwas mit dieser unerträglichen Luft und Hitze zu tun haben. Mir wurde schwindlig. Ich will hier weg!“ Ohne auf seine Antwort zu warten, eilte sie zu dem gewölbten Eingang und entkam dem finsteren Ort. Sie war glücklich, wieder warmes Sonnenlicht zu spüren. Als sie sich umwandte, sah sie Cyrus langsam aus der Kirche herauskommen. „Was haben Sie gesagt, als ich auf dem Fußboden lag?“, fragte April.

„Hmm?“

„Was haben Sie mir zugeflüstert, diese unheimlichen Worte?“

Er legte die Stirn in Falten. „Ich habe nichts geflüstert.“

Sie schüttelte verärgert den Kopf. „Verdammt! Dieser Ort ist seltsam.“ Sie schaute sich verwirrt um. „Wo geht’s von hier aus zur Buchhandlung?“

„Wir gehen zusammen.“ Er entfernte sich von ihr und ging auf die Wälder zu. Aus dieser Richtung war sie nicht gekommen, das wusste April genau. Und dennoch folgte sie ihm, während sie den sehr weißen Himmel über ihnen betrachtete und den Ball aus fahlem Feuer. Die Sonne. Der Äther hatte ein wenig von seiner klebrigen Süße verloren, aber seine für die Jahreszeit viel zu große Hitze bewahrt. April war froh, die Dunkelheit zwischen den Bäumen zu betreten, während sie dem schweigsamen Jungen folgte. Sie beobachtete ihn und spürte wieder seine seltsame Aura. Cyrus bewegte sich mit der Leichtigkeit eines Tieres durch die Waldlandschaft, die dichter und dunkler wurde, als sie immer tiefer eindrangen. Ihr fiel auf, wie er Bäume berührte und ihre Beschaffenheit betastete, so wie jemand einen lieben Freund berühren würde. Und dann hielt sie den Atem an, als er sie zu einem Kreis hoher stehender Steine führte, die sich unter dunklen Baumästen aneinander anlehnten.

„Hier geht es nicht zu Webster ...“, sagte April vorwurfsvoll.

„Nein. Aber hier ist es toll, nicht wahr? Kommen Sie, ich dachte, es würde Ihnen gefallen. Mit Ihrem Hintergrund.“

„Welchen Hintergrund meinen Sie, Cyrus?“

Er lächelte geheimnisvoll und trat zwischen die Steine, die er mit Händen und Stirn berührte. April kam näher heran und betrachtete die Muster, die hinein gemeißelt waren. Sie erinnerten sie vage an die Manitu-Steine, die sie von zuhause kannte. Cyrus fuhr die Linien eines Steines mit seinem Finger nach und begann zu pfeifen. Es war ein hohes Geräusch, das April als unangenehm empfand. Es war merkwürdig, denn das Geräusch schien sich von seinen geschürzten Lippen zu entfernen und sich über sie beide zu erheben, hinein in die grüne Stille.

Sein Gesicht sah merkwürdig aus an diesem schattigen Ort, besonders die silbernen Augen, die beinahe von innen heraus zu leuchten schienen. Sie trat näher zu ihm, während sein Lied leiser wurde. Sie ergriff seine Hand, die die Stammeszeichen auf den Steinen nachfuhr. Sein Lächeln war unheimlich, als er die Lippen erneut schürzte und auf andere Weise pfiff. Die Hand, die April hielt, hob sich von dem Stein weg und auf ihr Brustbein zu.

Sie erschauerte, als sie spürte, wie sich die Hand weiter nach oben bewegte, zu ihrem Gesicht hin, während sie ein geheimnisvolles Symbol auf ihre Haut zu zeichnen schien. Sie stoppte die Bewegung seiner Hand und hob sie an ihr Gesicht. Ihre Nase sog den süßen Duft ein, einen Duft, den sie zuvor schon in der Luft wahrgenommen hatte. Seine Haut war sehr weich, als sie seine Hand an ihren Mund brachte und sie mit ihrer Zunge berührte.

Er lachte leise und führte sie von dem Ort weg, durch die Waldlandschaft, bis sie auf dem Hügel standen, auf dem Adam Websters Buchhandlung lag.


V.

April lag im Bett. Die Fenster waren geöffnet, und sie schaute der brennenden Kerze zu, die sie auf einen Fenster­sims gestellt hatte. Das Stück Himmel vor ihrem Fenster war schwarz, ohne jedes Sternenlicht. Die winzige Flamme der Kerze bewegte sich nicht, denn es ging kein Luftzug. Während sie auf die Kerze starrte, wurden ihre Augen schwer. Sie verstand das Geräusch nicht, das vor ihrem Fenster zu flüstern schien, die Sprache, in der in der Kirche zu ihr gesprochen worden war, die sie nicht verstehen und an die sie sich nicht hatte erinnern können. Auf merkwürdige Weise konnte sie sich jetzt aber daran erinnern, wo sie drauf und dran war, zu träumen.

April fiel in einen tiefen Schlaf, während sie sich selbst etwas zuflüsterte. So sah sie auch nicht, dass der Himmel vor ihrem Fenster sich leicht zu verändern begann und sich das Bild darin abzeichnete, das sie auf der Glasscheibe in der Kirche beobachtet hatte. Sie hörte auch nicht die Dinge, die auf dem Berg mit den zwei Gipfeln zu seufzen begannen, und nicht das sanfte Pochen, das von irgendwo unter der Erde des Tals ertönte. Vielleicht träumte sie von diesen Dingen, während sie im Schlaf sprach. Vielleicht stellte sie sich den Ort vor, tief in den Wäldern von Sesqua, wo sich ein malvenfarbener Nebel erhob und eine zweite, andere Waldlandschaft freigab, in der ein Tunnel aus dunklen gebogenen Bäumen von schwarzen glatten Füßen betreten wurde. Vielleicht sah sie den, der an der Schwelle zwischen den zwei Wäldern stand, wo sie sich vorübergehend trafen, den, dessen spöttisches Gesicht von dem phosphoreszierenden Moos beleuchtet wurde, das sich an den Stämmen von Bäumen festklammerte und die einzige schwache Lichtquelle war.

Dann schmolz der Wald mit den moosigen Bäumen dahin, und der Schwarze Mann stand auf Sesquas Boden, dem Staub, der erschauerte unter den dämonischen Berührungen dieses Seltsamen, als dieser durch die Waldlandschaft schritt, auf den Hügel zu, auf dem die alte Kirche errichtet worden war.


*


In seinem persönlichen Arbeitszimmer unter dem Zimmer, in dem April Dorgan schlief, liebkoste Adam Webster die Runenknochen in seiner Hand, ließ sie auf einen Tisch fallen und runzelte die Stirn angesichts der Vorzeichen, die sie enthüllten. Seine große Hand fegte die Knochen auf den Fußboden und nahm die teilweise fertiggestellte Übersetzung der Gesänge von Dhol, das eines der Bücher gewesen war, die Laird Dorgan gehört hatten. Er sprach einen der Gesänge mit leiser Stimme nach und verwendete dabei die ursprünglichen chinesischen Flexionsformen. Er spürte die durch den Äther schwebende psychische Reaktion desjenigen, der die alte Kirche betreten hatte. Im Zimmer über seinem flüsterte die schlafende Frau eine Antwort auf Adams gemurmelte Worte.


*


Cyrus bewegte sich kriechend unter dem fremdartigen Sternenlicht. Nie zuvor hatte der Himmel so ausgesehen wie heute Abend, war er der Tafel aus Fensterglas so ähnlich, die aus einer verfluchten Kirche in Providence, in Rhode Island, entnommen worden war, kurz bevor das Gebäude dem Erdboden gleichgemacht wurde. Dunkelheit wirbelte in Dunkelheit, und Licht tanzte innerhalb der Linien aus Licht. Als er in den Himmel hinaufblickte, spürte Cyrus wie noch niemals zuvor, dass er ein Wesen dieses Tals und seiner Elemente war, fest verwurzelt mit diesem Planeten und seiner besonderen Verbindung aus Erde und Luft. Diese Luft war jetzt befleckt von der Wesenheit, die in sie eingedrungen war, aber der heilige Boden war noch rein.

Cyrus fiel wieder auf die Knie, grub seine Hände in die Erde und verrieb sich den Schmutz im Gesicht. Er hörte dem Erdboden zu und spürte den gedämpften Schlag des Herzens seines Tals. Dann erhob er sich und ging auf den Hügel zu, auf dem Simon Gregory Williams seine Kathedrale geheimnisvoller Kunst hatte errichten lassen. Er erklomm die Stufen aus Erde, die ihn die Steigung zu dem schwarzen alten Gebäude hinaufbrachten, das auf merkwürdige Weise im Schatten lag, trotz des allumfassenden Mondlichts.

Cyrus näherte sich der gewölbten Öffnung, durch die er dunkles, lilafarbenes Licht sah, das die Kirche erfüllte. Das Licht entströmte der großen und hageren Gestalt, die auf dem Altar stand und eine Hand auf das Rechteck aus schwarzem Glas gelegt hatte, das einmal ein Fenster in einer gespenstischen Kirche in Neuengland gewesen war.

Das Kind des Sesqua-Tals betrat das verfluchte Reich und erblickte die formlosen Gestalten, die hin und her huschten und kleine Haufen von Weihrauch entzündeten. Er schritt durch das lilafarbene Licht zu der erhabenen Plattform des Altars.

Der Dunkle schaute ihn nicht an, als er sagte: „Ah, Kind des elementaren Schattens, was bietest du mir?“

„Ich biete dir nichts. Ich bin kein Sterblicher, mit dem du spielen kannst. Warum zeigst du dich?“

„Ich bin gerufen worden, Cyrus. Ich gehe nicht mit leeren Händen. Ist das Tier nicht unter euch?“

„Nein, Simon ist in Prag.“

Der Dunkle stieß ein Lachen aus, tief und unirdisch. „Er amüsiert mich. Es tut mir leid, dass ich ihn verpasst habe. Komm zu mir, Kind des Schattens!“

Cyrus erschauerte, als er zusah, wie sich die Hand von der Glasscheibe entfernte und sich ihm darbot. Aber er bewegte sich nicht. „Ich biete dir nicht die Verehrung eines Sterblichen.“

Darauf wandte sich die Gestalt um und starrte ihn mit hochmütigen Augen an, in einer stolzen und schönen Fassade, die Cyrus an das Gemälde eines Erzengels erinnerte, das er einst in Italien gesehen hatte. Das Werk eines unbekannten Künstlers.

Das Wesen vor ihm wirkte noch jung und von sich eingenommen. Seine männliche Kleidung war von schwarzem Tuch mit einer dunkelroten Nuance. Als es sprach, bewegten sich die weichen Töne durch die Luft, wie eine flüssige Sprache. „Dann werde ich mir meinen Teil von jemand anderem holen. Aber du irrst, wenn du denkst, du hast keine sterbliche Seele. Denn wenn der Stoff, aus dem du bestehst, durch diese Welt hier geht, gekleidet in Fleisch und Blut, dann lebst du innerhalb der irdischen Gesetzmäßigkeiten, die weit entfernt sind von deiner Welt aus Schatten und Nebel. Das ist der Teil von dir, den ich mir jederzeit holen kann. Sei vorsichtig, Cyrus Lynchwood!“ Der Dunkle glitt vom Altar herunter und baute sich vor dem Jungen auf. Er bot ihm ein zweites Mal seine schwarze Hand an. „Solange du in diesem Tal weilst, bist du ein Tier. Tu, was die Tiere der Erde tun müssen, Kind! Gewähre mir Verehrung durch deinen Mund!“

Da spürte Cyrus das junge Wesen, in einer Art, wie er es nie zuvor gekannt hatte. Den samtenen Kuss der Angst. Er sah, wie seine Hand zitterte, als sie die andere Hand ergriff.


VI.

April erwachte, als jemand an die Tür ihres Zimmers klopfte. Sie war überrascht, als Adam Webster hereinkam und ein großes Tablett trug, das nach Frühstück duftete. Sie beobachtete ihn schweigend, als er es wie einen Tisch über ihre Beine stellte, die noch unter der Decke steckten.

„Hier gibt es keine Uhr“, murmelte sie und schaute sich um.

„Es ist früher Nachmittag. Sie haben tief geschlafen. Ich denke, Sie müssen halb verhungert sein. Sie haben seit Ihrer Ankunft kaum etwas gegessen. Ich war so frei, Ihnen ein spätes Frühstück zuzubereiten. Ich nehme an, Sie wollen heute zurück nach Hause. Vielleicht wird dieser Betrag für die Kiste mit den Büchern genügen. Wenn Sie einverstanden sind, habe ich das Geld in meinem Arbeitszimmer.“

Sie blickte auf die Zahl, die auf das Stück Papier geschrieben war, das er ihr zuschob. „Das ist weit mehr, als ich erwartet habe.“

Er zuckte die Schultern. „Die Bücher sind in der Tat erlesen, zudem sind sie in einem hervorragenden Zustand. Simon wird glücklich sein, sie zu bekommen. Wann also haben Sie vor, das Tal zu verlassen?“

„Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Ich hätte nicht vermutet, dass es so angenehm sein wird, meiner kleinen Welt in Wisconsin den Rücken zu kehren. Trotzdem habe ich Ihre Großzügigkeit lange genug in Anspruch genommen. Ich suche mir ein Zimmer in der Stadt.“

„Unsinn! Es ist wunderbar, Gesellschaft zu haben. Ich dachte, vielleicht hätten Sie Lust, mich heute Abend zu einem kleinen Treffen von Dichtern zu begleiten. Ich kann mir vorstellen, die Gesellschaft dort könnte das ansprechen, was ich für den unkonventionellen Teil Ihres Ichs halte.“ Er lächelte.

Obwohl sein Gesicht dabei merkwürdig aussah, schien sein Lächeln aufrichtig. Daher nahm sie seine Einladung an. Sie aß und kleidete sich an. Danach ­entschloss sie sich, noch einen Spaziergang zu machen, und schlenderte ein weiteres Mal zu der alten Kirche und ihrer Sammlung geheimnisvoller Kunst. Sie dachte, dass sie vielleicht in der Nacht von diesem Ort geträumt habe, aber die Erinnerung an ihre Träume war verschwommen und vage. Sie wusste allerdings, dass sie an einem bestimmten Punkt in ihrem Traum auf das schwarze Fenster gestarrt hatte und in seinen sanft wirbelnden Strudel gezogen worden war.

Der Tag war kühler und der Himmel wolkenverhangen, vermutlich würde es bald regnen. Sie freute sich auf den Moment, wenn der Regen die noch immer heiße Atmosphäre des Tales abkühlen würde. Obwohl ein recht starker Wind wehte, reichte seine Kraft nicht aus, die Nebelschwaden zu verwehen, die sich von dem kleinen Plateau erhoben, auf dem die alte Kirche stand. April stieg die natürlichen Stufen hinauf, die sie zu dem alten Gebäude hinaufbrachten. Sie runzelte verwirrt die Stirn, weil sie die Bewegung des Lichts nicht verstehen konnte, die sie verfolgte, als sie in die rechteckige Öffnung blickte.

Sie betrat den dunklen und einsamen Ort und begriff nicht, was sie da sah. Eine nicht klar erkennbare Gestalt stand auf dem Altar hinter der Scheibe aus schwarzem Glas und schien eine lila schimmernde Kugel in ihren Händen zu halten. Das schwarze Licht, das aus der Kugel herausströmte, fiel durch die Fensterscheibe ­herein und warf fahles Licht an die Decke. Ein Muster aus seltsam gefärbtem Licht, das sich über ihr krümmte und wirbelte. Niemals zuvor hatte April solch fremdartige Farb­mischungen gesehen, und während sie sie anstarrte, spürte sie einen stechenden Schmerz in ihrem Kopf. Es war, als blicke sie zu einer unergründlichen kosmischen Kraft auf, einer sich drehenden Schar von Sternen. Und aus den Abgründen zwischen diesen Sternen fegten eisige Ströme von Schmerz heran, die ihre Augen zu durchbohren und ihren Kopf zu spalten schienen. Dieser stechende kalte Schmerz kroch von ihrem Kopf in jede Faser ihres Fleisches, das wie unter Schüttelfrost zitterte. Dann trat die Gestalt hinter dem schwarzen Fenster nach vorne, durch die Dunkelheit und das Licht hindurch auf sie zu.

April betrachtete die dunkle Haut und das junge, etwas unheimliche Gesicht. Als sie in seine Augen sah, verstärkte sich ihr Gefühl nervöser Anspannung, und sie begann stark zu zittern. Und dann umschlossen die kühlen Hände des Fremden Aprils Arme, sie wurde ruhiger.

Er stand vor ihr, der dunkle Mann, wie ein unheim­licher, empfindsamer Schatten, und er studierte ihr Gesicht, als kenne er sie und werde sie bei ihrem Namen nennen. April aber wollte nicht, dass dieses Wesen ihren Namen nannte. Sie öffnete ihren Mund und wollte etwas sagen, aber sie war nicht in der Lage, einen Ton hervorzubringen. Die Kugel mit dem seltsamen Licht, die der Mann in den Händen gehalten hatte, war verschwunden, wie auch die Lichtspiele an der Decke über ihnen.

Der dämmrige Ort war still, doch in ihrem Kopf tobte ein Flüstern. Ihre Haut fröstelte, und sie hob die Hände, um ihre Arme zu reiben. Dabei bemerkte sie, dass niemand sie hielt, dass sie alleine im Mittelschiff stand.

Sie war sicher, noch zu träumen, denn um sie herum war alles zerstört und deformiert. Die Mauern der alten Kirche waren rissig, manche der riesigen Steine fehlten. Eine schreckliche grüne Farbe ergoss sich aus der Nacht in das Gebäude, wie das Licht eines erstorbenen Mondes. Der Boden, auf dem sie stand, war aufgebrochen, und sie stolperte über aufragende Teile, während sie auf den gewölbten Eingang zukroch. Das schwarze Fenster schwang leicht an den Ketten hin und her, die es hielten. Seine Oberfläche war durchtränkt von einer Art dunkler, lilafarbener Phosphoreszenz, in der Linien aus Licht gelegentlich aufflackerten, die Blitzen ähnelten.

Obwohl April die Gestalt nicht entdecken konnte, die sie zu sehen geglaubt hatte, fühlte sie deren Gegenwart um sich herum. Das Gefühl verstörte sie derart, dass sie aus dem Gebäude lief, hinaus in die dunkle Luft. Der Sturm war noch nicht losgebrochen, aber der Himmel über ihr war schwarz von wallenden Unwetterwolken.

April wandte sich nochmals nach der alten Kirche um, erkannte jedoch keinerlei Anzeichen der gewaltsamen Zerstörung, die sie sich vorgestellt hatte, als sie drinnen gewesen war. Allein die Gestalt des merkwürdigen Totems erregte ihre Aufmerksamkeit. Etwas an dem Ding ließ sie an ihren Großvater denken und an die Geschichten, die er ihr, über sein Erlebnis an Rick’s Lake erzählt hatte, als er schon alt gewesen war. Sie konnte sich nicht mehr richtig daran erinnern, aber je mehr sie das merkwürdige Totem betrachtete, desto mehr drang die Aura von Tod auf sie ein, die diesen Ort umgab.

April wandte sich ab und eilte den grasbewachsenen Abhang zu der Straße hinab, die sie wieder in die Stadt zurückbrachte. Der Anblick von Websters Anwesen vermittelte ihr ein Gefühl von Erleichterung. Webster selbst saß am Schreibtisch in seinem Laden. Er blickte sie fragend an, als sie am Eingang stehen blieb, als wolle sie mit ihm sprechen. Aber dann riss sie sich von der Tür los und lief die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Sie hatte eines der kleinen Fenster offengelassen. Nun strömte kalte Luft hinein und ließ sie frösteln. April schloss das Fenster, als es endlich zu regnen anfing. Der Klang des Regens beruhigte sie. Wiederum beunruhigte sie hingegen, dass sie den Drang nach Ruhe verspürte. Sie verstand nicht, was sie in der Kirche erlebt hatte, auch nicht die emotionalen Nachwirkungen dieses Erlebnisses. Irgendetwas hatte ihren Geist berührt, etwas Verstörendes, das ihre Vorstellungskraft übertraf.

Die Welt vor ihrem Fenster verdunkelte sich, und plötzlich wollte April nicht mehr alleine sein. Sie zog ein Kleid an und trug Make-up auf. Dann ging sie die Treppe ­hinunter in den Verkaufsraum von Websters Buchladen, wo Adam noch immer an seinem Schreibtisch saß und in alten Büchern blätterte. „Gehen wir immer noch aus heute Abend?“

„Ja. Es ist ein guter Zeitpunkt, da sich eine kleine Gesellschaft trifft, Künstlerseelen des Tals.“

„Wir können mein Auto nehmen, außer Sie wollen fahren“, schlug April vor.

„Ich fahre kein Auto, Miss Dorgan.“

Sie verließen das Haus und gerieten in einen leichten Regen, der sich für April erfrischend anfühlte. Die drückende Hitze, die das Tal gequält hatte, hatte sich aufgelöst, und die Süße, die April anfänglich in der Luft gespürt hatte, war zurückgekehrt. Der merkwürdige Mann neben ihr im Auto schwieg und sagte ihr nur, wohin sie fahren sollte. Ihre anfängliche Skepsis ihm gegenüber war inzwischen völlig verflogen.

Er war nur ein einsames Wesen in einer lächerlich kleinen Stadt und war einen solchen plötzlichen Einbruch in seine Isolation sicherlich nicht gewohnt, den sie ihm zugemutet hatte.

Ihr Ziel war, wie April vermutete, das Stadtzentrum. Sie parkte ihr Auto vor einem Haus, zu dem er sie gelotst hatte. Die alten Gebäude waren nahe nebeneinander gebaut worden und wirkten, als seien sie vor sehr langer Zeit errichtet worden. Die Gehsteige aus Holz gaben April das Gefühl, als sei sie in eine frühere Zeit geflüchtet.

Der Alte verließ das Auto und wartete an der Tür des Klubs oder was immer es sein mochte auf sie. Sie nickte ihm freundlich zu, als sie an ihm vorbei in das Gebäude ging.

Es war ein Klub wie viele andere, die April schon gesehen hatte, mit gedämpftem Licht und vielen Tischen, an denen Menschen über ihre Drinks hinweg einander zuflüsterten. An einer Stelle befand sich eine kleine Plattform, die als Bühne diente. Als April sie anschaute, fröstelte sie für einen Moment, sie fühlte sich an den Altar in der Kirche erinnert. Eine dunkle Gestalt stand auf der Bühne. Einige der Gäste tauschten besorgte Blicke aus.

Ein großer Mann stand still und hatte eine Hand auf den Kopf eines Jungen gelegt, der im Schneidersitz vor ihm saß. Es war Cyrus, er sah die Besucher nicht an, als er eine Flöte an seinen Mund hob. Die Musik, die dem Instrument entströmte, war beunruhigend. Es verwirrte April, wie ein solch sanfter, tiefer Ton aus einem solch kleinen, schmalen Stück Holz kommen konnte. Ein Ton, der sie an den Widerhall des Windes erinnerte, den man in den Regenrinnen riesiger Dächer hören konnte.

Der schwarze Mann lächelte, als er die Besucher betrachtete. Obwohl seine Haut pechschwarz war, wirkten seine Gesichtszüge nicht negroid, sondern erinnerten April an die Nachbildung einer ägyptischen Sphinx, die sie einmal gesehen hatte. Sie hatte gelesen, dass das griechische Wort vom ägyptischen schesep ankh abgeleitet wurde, das so etwas bedeutete wie lebendes Bild. Der Mann, der sie von der Bühne aus betrachtete, konnte mühelos ein solches Wesen sein, es lag etwas Maskenhaftes, Unechtes in seinen jugendlichen Zügen, wie eine Verhöhnung der Sterblichkeit. Der wie gemeißelt wirkende Mund öffnete sich, als der schwarze Mann zu singen begann.

„Ich puste gegen den Staub der Erde,

Bis er zerstreut ist.

Puste gegen den Staub der Erde.

Ich puste gegen die ruhmreiche Sonne,

Bis diese Kugel verschwunden ist.

Puste gegen die ruhmreiche Sonne.

Oh, ich bringe dich um deinen sterblichen Verstand.

Dann lasse ich dich weit hinter mir,

Taub und stumm und blind.“

April fand die sanfte Stimme des Mannes verstörend, sie klang nicht echt und besaß eine Eigenschaft, die sie beinahe wie eine alte Plattenaufnahme vernehmen ließ. Sie mochte es nicht, wie die schwarze Hand des Mannes durch Cyrus’ Haar fuhr, beinahe wie die Klaue eines Raubtiers. Sie bemerkte, wie Adam von seinem Stuhl aufstand, zu der Bühne ging und die Hand des Mannes von Cyrus’ Kopf nahm.

April dachte, sie habe gehört, wie Adam dem schwarzen Mann etwas wie Du kannst ihn nicht haben zu murmelte. Dann zog er Cyrus von der Bühne und führte ihn an ihren Tisch, während er selbst an die Bar ging und Drinks bestellte.

Der schwarze Mann von der Bühne schien zu schweben, kam auf sie zu. Er blieb neben ihrem Tisch stehen und lächelte auf sie herab. „Ich bin Khem. Erfreut, Sie begrüßen zu dürfen, Miss Dorgan. Ich kannte Ihren Großvater.“ Während er sprach, hielt er ihr seine Hand hin, die April unwillkürlich ergriff. Die Haut des Mannes war weich wie Seide. April sah zu, wie er ihre Hand umdrehte und die Innenfläche betrachtete. Dann beugte er sich über sie und küsste sie. Er ließ ihre Hand los, nickte Adam zu und verließ den Klub. Als er gegangen war, merkte April, dass sie die ganze Zeit den Atem angehalten hatte.

„Das war unheimlich“, sagte sie und atmete tief aus. „Er kann Großvater nicht gekannt haben, er ist viel zu jung. Wer zum Teufel ist er?“

„Niemand von Bedeutung, Miss Dorgan.“

April nippte an ihrem Drink, ohne zu schauen, woraus er bestand. Er schmeckte süß und glitt leicht durch ihre Kehle.

„Nennen Sie mich April, Adam!“ Sie blickte sich im Raum um und lachte. „Das ist der verklemmteste Haufen von Intellektuellen, den ich je gesehen habe. Warum starrt uns jeder an? Mein Gott, diese Stadt ist wirklich unheimlich.“ Sie schaute ihre Hand an, die Stelle, die Khem geküsst hatte.

Cyrus rückte näher an sie heran und betrachtete ihre Handfläche.

„Seine Lippen waren die weichsten, die ich je gespürt habe“, redete April weiter. „Hast du seinen Atem gerochen? Er hat mich an die Kassiaschoten erinnert, die Großvater immer benutzt hat, wenn er seinen besonderen Nachtisch gemacht hat.“ Sie schaute sich wieder im Raum um. „Möchte keiner mehr etwas vortragen?“

„Dies ist hauptsächlich eine soziale Einrichtung, Miss ... April. Ich befürchte, unsere Avantgarde muss recht zahm wirken, verglichen mit dem, was Sie gewohnt sind.“

April kicherte. „Oh! Ich bin auch aus einer Kleinstadt, wissen Sie. Wir werden nie so wild wie die in der Großstadt. Wir haben einen Hexenzirkel und experimentieren mit Sex und Rauschgift. Aber ich war schon immer mehr den Büchern zugetan, und für mich sind die Intellektuellen, wenn wir sie so nennen wollen, verwurzelt in Büchern und Kunst. Trilby ist ein Buch, das ich verehre.“ Sie schnippte mit den Fingern. „Daran hat mich der Kerl erinnert.“ Sie wandte sich zu Cyrus. „Es schien, als hätte er Macht über dich ausgeübt. Wer zum Teufel ist er?“

Adam und Cyrus tauschten einen kurzen Blick aus.

„Sie haben Simons Kathedrale der Kunst besucht, habe ich gehört“, erwiderte Adam, ohne ihr zu antworten. „Eine faszinierende Sammlung.“

Das erinnerte April an etwas, das sie beschäftigte. „Adam, Sie sagten, Sie hätten meinen Großvater besucht, zusammen mit diesem Simon. Waren Sie hier, als mein Großvater ins Sesqua-Tal kam?“

„Wahrscheinlich. Aber falls es so war, hinterließ eine Begegnung keinen bleibenden Eindruck. Warum?“

„Erinnern Sie sich daran, dass Sie mir diesen Eintrag über dieses merkwürdige Totem im Tagebuch meines Großvaters zeigten? Es gibt ein solches direkt vor der Kirche. Es ähnelt dem Ding, das Großvater beschrieb. Ich meine mich zu erinnern, dass Großvater aufgebracht war, als das Totem aus der Gegend verschwunden war. Wäre es nicht phantastisch, wenn das Ding hierher ins Sesqua-Tal gelangt wäre?“ April versuchte, spielerisch und unschuldig zu klingen, um ihre Besorgnis und ihr zunehmendes Unbehagen zu verbergen.

„Das wäre amüsant. Ich kann mich gerade nicht an das Ding erinnern. Wir haben so viele von diesen Totems und Figuren, die von unseren kunstfertigen Bürgern geschaffen und an vielen Orten im Wald aufgestellt wurden. Einige von ihnen sind recht ungewöhnlich. Möchten Sie noch einen Drink, April?“

„Danke! Für mich keinen Whiskey mehr. Das war doch Whiskey, oder? Aber da war noch etwas dabei? Ich muss sagen, der hat es in sich.“ Sie lachte über sich selbst. „Ich denke, ein Spaziergang zurück zum Buchladen wird mich ein bisschen ausnüchtern. Ich bin schon ewig nicht mehr so viel zu Fuß gegangen. Ich mag das wirklich. Hier fühle ich mich so weit weg von allem. Kann ich mein Auto bis morgen früh hier stehen lassen?“

Cyrus erhob sich. „Ja, das ist in Ordnung. Komm! Ich bring dich nach Hause. Ich glaube, der Regen hat aufgehört.“

April stand auf. Für einen Augenblick war ihr schwindelig. Sie war nur selten berauscht gewesen, doch was immer sie eben getrunken hatte, hatte sie benebelt. Ihr Kopf fühlte sich heiß an, und ihr Blick verschwamm, als sie die Wunde betastete, die sie sich bei ihrem Sturz in der Kirche zugezogen hatte. Sie lachte über sich selbst und wandte sich lächelnd den anderen Gästen in dem überfüllten Raum zu, die sie alle beobachteten. „Gute Nacht, meine Freunde“, sagte sie, erhob ihr leeres Glas und setzte es an ihre Lippen.

Cyrus nahm ihr das Glas aus der Hand und stellte es wieder auf den Tisch. Dann begleitete er April aus dem Haus. Der Regen hatte aufgehört, die Luft fühlte sich frisch an.

April schaute auf und spürte noch einmal eine Welle von Schwindel, denn sie glaubte, im dunklen Himmel leuchtende Spiralen zu erkennen, die sie an die Muster auf dem schwarzen Fenster erinnerten. Aber dann verschwamm das Bild, und sie sah nur noch das gewöhnliche Sternenlicht. „Wie alt bist du, Cyrus?“, fragte sie, während sie auf den hölzernen Gehsteigen gingen.

„Nun, was denkst du?“

„Hmm, siebzehn oder achtzehn?“

Er lächelte sie an, gab aber keine Antwort.

„Warst du jemals in einer Großstadt?“

„Oh ja. Es war interessant, aber nirgendwo ist es so schön wie zuhause.“

„Das kann ich im Moment nicht sagen. Mir gefällt es hier. Es fühlt sich auf authentische Weise anders an. Ich kann es nicht genau erklären. Die Leute, mit denen ich zuhause herumhänge ... Sie geben sich große Mühe, radikal zu sein, aber sie sind alle so normal und langweilig. Ihre radikalen Naturen haben sie vom Leben anderer Menschen gelernt, die sie versuchen nachzuahmen. Aber sie sind nicht authentisch, es ist alles nur Klischee. Die Leute da drin aber, die waren anders. Ich habe etwas gespürt, das ich nicht genau benennen kann. Du hast es auch, eine Art geheimer Natur. Etwas Fremdartiges. Es ist in deinen Augen.“ Sie blieb stehen und legte ihre Hand an sein Gesicht.

Er nahm sie und küsste ihre Handfläche. „Du bist wirklich betrunken. Adam muss dir von dem besseren Zeug gegeben haben.“

„Warum ist er so angespannt?“

„Du bist eine Außenseiterin, eine, mit der das Tal gewisse psychische Bindungen hat. Hat wahrscheinlich mit deinem Großvater, Simon und diesen Büchern zu tun. Und mit dem Ort, von dem du kommst, Rick’s Lake. Wir haben hier nicht viele Besucher. Nur eine besondere Seele findet das Sesqua-Tal. Allein die Tatsache, dass du hier bist, sagt eine Menge.“

„Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.“

„Doch! Du bist nicht zufällig hier. Du bist hier aus einem bestimmten Grund. Du bist eine sehr schlechte Schauspielerin, muss ich sagen. Adam ist angespannt, weil er deine wahren Absichten noch nicht ergründet hat. Er hat noch nicht bemerkt, dass du es selbst nicht verstehst. Du bist gekommen, weil du nach Antworten gesucht hast, oder vielleicht, weil du deinen Fragen und deiner Verwirrung Gestalt verleihen wolltest. Du bist vom Sesqua-Tal berührt worden. Daher wirst du nie mehr die sein, die du mal warst.“

„Du bist ein unheimlicher Junge.“ Sie lachte. „Man will mich haben, meinst du? Wie dich?“

„Was?“

„Ich habe gehört, was Adam zu diesem Khem gesagt hat, als er dich von der Bühne holte. Was für eine Beziehung hast du zu diesem schwarzen Mann?“

Er hakte sich bei ihr unter und führte sie zu der staubigen Straße. „Meine einzige Beziehung ist die zu diesem Tal, April. Nichts anderes kann mich haben.“

Das Gefühl, das sie plötzlich überkam, war seltsam. Sie wollte den Jungen beschützen. Sie legte ihre Arme um seine Taille, als sie auf den dunklen Wald zugingen.


*


Adam Webster fuhr mit seiner Hand über den Stein, aus dem das Totem gehauen worden war, und berührte die hineingemeißelten Zeichen. Er flüsterte in der Sprache der Zeichen und fühlte, wie sie den sanften Wind bogen, der aus den Wäldern auf ihn zuwehte. Der Boden, auf dem er stand, bebte leicht, als der weiße Berg seine beiden Gipfel verschob. Adam stöhnte auf, als er das Wehklagen vernahm, das jenen Gipfeln entströmte, das Geheul der Bestien, die in den abgelegenen Orten des Berges träumten. Er spürte mit Bestimmtheit, dass er von der profanen Welt der Menschen getrennt war, und fühlte, dass sich seine Zeit der Sterblichkeit ihrem Ende zuneigte. Das Reich aus Nebel und Schatten rief ihn heim. Würde er aufbegehren und sich diesem Ruf widersetzen, so wie Simon Gregory Williams es mehr als ein Jahrhundert lang getan hatte? Vielleicht. Jetzt verstand er Simons Weigerung viel besser, sich von der Welt der Sterblichen und des Sesqua-Tals zu lösen. Sein eifriges Begehren, das Tal vor dem zu schützen, was es verletzen und verderben würde. So wie das Ding, das jetzt hinter ihm stand.

Adam beugte sich hinab zu dem Totem und betrachtete dessen oberstes Bild, das Bild des Gesichtslosen Gottes. „Warum versucht eure Art, sich mir zu widersetzen?“

„Wer von uns hat das versucht? Simon verehrt dich, wie dieses Gebäude bezeugt. Aber deine Anliegen haben mit uns nichts zu tun.“

„Welche meinst du?“

„Die Menschheit und ihr Schicksal. Wir stehen solchen Dingen gleichgültig gegenüber.“

„Du kannst die kosmische Gleichgültigkeit nicht verstehen. Du bist so sehr ein Teil dieses kleinen irdischen Bereichs. Der Nebel und die Dunkelheit, denen du entstammst, sind irdische Produkte übernatürlicher Art – aber dennoch von diesem Planeten. Dein Wesen ist mit diesem Tal verwurzelt, von dem du immer ein Teil warst und ein Teil sein wirst, solange es besteht.“

„Unser Reich erstreckt sich jenseits der Welt bis hin zu den Traumwelten, die in anderen zeitlichen und räum­lichen Dimensionen existieren. Ich denke, deshalb kommst du so oft zu uns. Wegen des Ortes, an dem der Wald der Träume unseren eigenen berührt. Simon hat mir aus älteren Überlieferungen davon erzählt. Er hat mir über dich und deinesgleichen berichtet.“

Der schwarze Mann kniete sich auf den Boden und vergrub seine Hände in die Erde. Als Adam sich schließlich umwandte, um ihm in die Augen zu schauen, sah er, dass er den Schmutz, das Gras und den Sand, die er gesammelt hatte, zu einer Kugel aus Unrat formte. Adam zitterte, als der Dunkle die Kugel anhauchte und ihr eine Ahnung von Leben verlieh. Er beobachtete, wie der Dunkle seine Hände von der Kugel nahm, die nun das Grün und Blau des Lebens angenommen hatte und in der Luft vor der Brust des Dunklen schwebte.

„Was denkst du, wird deinem Reich aus Nebel und Dunkelheit widerfahren, wenn diese Welt zerstört und ausgelöscht sein wird? Was wird aus ihr werden, wenn ich ihren Staub weggeatmet habe?“ Darauf schürzte der Dämon seine perfekt geformten Lippen und atmete aus. Eine schwarze Wolke entwich seinem Mund und hüllte die kleine Kugel ein, die sich in winzige Partikel auflöste. Dann gluckste der Dämon angesichts dessen, was er im Spaß gestaltet hatte, und blies die Kugel aus Staub davon.

Adam blickte auf zu dem Himmel, der sich verdunkelte. Er sah, wie die Schwärze sich auf den Berg zuschob und dessen weißen Stein trübte, sodass er ein Obelisk aus Obsidian wurde. Diese Illusion dauerte nur einen Augenblick, bis der Himmel und das Tal wieder ihr ursprüngliches Aussehen annahmen. „Warum bist du hier?“

Der Dunkle lächelte. „Ich wurde gerufen.“

„Dann nimm und geh wieder!“

„Alles zu seiner Zeit, Kind des Schattens.“

Adam sah nicht hin, als der Dämon an ihm vorbei in die alte Kirche hineinglitt. Er kniete sich dorthin, wo der Dunkle den Boden durch sein Graben verletzt hatte. Er legte seine Hände über die Stelle und flüsterte etwas, dann rieb er über die Erde, bis sie wieder glatt und eben war. Er konnte die elektrische Entladung riechen, die aus dem Gebäude zu ihm herausdrang.

Er schritt auf die Buchhandlung zu.


VII.

April war zu wach, um einschlafen zu können, nachdem Cyrus sie nach Hause gebracht hatte. Daher begab sie sich in den Verkaufsraum der Buchhandlung und fand die Abteilung für Lyrik. Sie setzte sich auf den Fußboden und griff nach einem Buch aus dem untersten Regal, das sie magisch anzog.

Sie führte das Buch an ihre Nase und trank den Duft aus altem Leder und vergilbten Seiten. Der in vergoldeten Buchstaben geschriebene Titel lautete Der ­Hermaphrodit und andere Gedichte. Sie blätterte durch die spröden Seiten, bis sie ein Gedicht über Oscar Wilde, einen ihrer literarischen Helden, entdeckte. Laut sprach sie die Schlussverse vor sich hin.

„Dort, in der heidnischen Dunkelheit,

Spürte er die eigne strahlende Pein

Und hörte die Götter zustimmen.

Wonach du suchtest, mögest du finden.

Schönheit, einen Atemhauch des ziehenden Windes,

Staub und den schlaftrunkenen Wurm.“

Ein Schatten schälte sich aus der Wand von Büchern. „Was lesen Sie da, Miss April?“

Sie erschrak. „Äh, einen wundervollen Gedichtband.“ Sie stand auf und blickte Adam in die Augen. „Kann ich es kaufen? Das trifft genau meinen Geschmack.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783957194268
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Schattenwesen Grauen Horror

Autor

  • W. H. Pugmire (Autor:in)

Wilum Hopfrog Pugmire ist ein Schriftsteller der Horror-Literatur in Seattle, Washington. Seine Arbeiten werden normalerweise als W. H. Pugmire veröffentlicht und seine Fiktion ist oft eine Hommage an die Lovecraft-Überlieferung.
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Titel: Lovecrafts Schriften des Grauens 06: Der dunkle Fremde