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Die Wächter von Andalon

von Mario Schenk (Autor:in) Sören Meding (Illustrationen)
435 Seiten

Zusammenfassung

Nur die Weltenwanderin Iris ahnt, dass eine fremde Rasse, die vor Jahrtausenden das magische Inselkönigreich Andalon vernichtete, für das rätselhafte Massensterben weltweit verantwortlich ist. Die Kreaturen sammeln im Verborgenen ihre Kräfte, um diesmal die gesamte Menschenwelt an sich zu reißen. Allein den neun wiedergeborenen Wächtern Andalons kann es gelingen, sie aufzuhalten. Doch kaum jemand weiß um die wahren Geschehnisse damals und wie es gelang, die Invasion zu beenden. Susan ist eine dieser neuen Wächter. Die Bestimmung in Einklang mit der Schule, Familie und ihren Freund zu bekommen, stellt gerade für sie eine besondere Herausforderung dar. Sie betrifft dieser schier aussichtslose Kampf nämlich weitaus mehr, als sie zunächst befürchtet.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Von Magie und Unsterblichkeit

Fragment 1

 

 

Teil 1: Die Wächter von Andalon




 

mit einem herzlichen Dank an


meine Betaleser

Michael Kühnl

Ruth Terasa-Kammerl


weitere Testleser

Sophie Rothkopf

Christina Schmalzbauer

Julia Gilch

Katrin Kroiß

 

 

Prolog

Eine Gestalt torkelte durch das Zwielicht des nach Feuer riechenden Schlachtfeldes. Die tiefschwarze Kutte war von Schmutz und Rissen übersät und die Kapuze hing in Fetzen über den Schultern. Angetrocknetes Blut von einer glitzernden Stirnwunde bedeckte die linke Gesichtshälfte. Die schwarzen Haare waren vom harten Kampf zerrüttet und angesengt.

Das Atmen fiel schwer, denn die Luft wurde von einem massiven Nebel aus Staub und Asche verdrängt.

Die benommene Frau mühte sich über das Trümmerfeld aus Fels- und Mauerresten. Nur noch wenige Leichen der Allianz zwischen Menschen und Elfen bedeckten den zerklüfteten Boden. Die Anzahl toter Feinde dagegen stieg.

Es herrschte eine gedrückte Stille, bestimmt von einem massiven Staubregen. Tonnen von Steinkörnern legten sich auf die Ruinen des Palastes und die Frau, die scheinbar orientierungslos ihren Weg suchte. Doch sie gelangte schließlich zu dem Ort, von dem sie weggeschleudert worden war.

Die bis eben angehaltene Hoffnung erstarb mit einem Mal.

Der Anblick der neun vor ihr liegenden, teils zerfledderten Körper trieb ihr Tränen in die Augen. Die Trauer stach ihr mitten ins Herz.

Ihr Blick fiel auf einen blütenweißen, nach oben spitz zulaufenden Kristallblock, auf dem sich der dunkle Staubregen nicht abzusetzen vermochte.

Unsäglicher Hass und unbändige Wut drangen immer deutlicher aus dem Inneren des Kristalls heraus. Den Wächtern musste es tatsächlich gelungen sein, die Herrscherin zu bannen.

Nur kurz dauerte die Erleichterung darüber an.

Eine stechende Kälte zog herauf. Begleitet von einer bläulichen Dunkelheit nahm sie das zerstörte Königreich schnell ein.

Eilig sammelte Iris die Kristallsplitter und Waffen der gemeuchelten Freunde auf.

Ein letztes Mal blickte sie auf die leblosen Hüllen ihrer teuren Gefährten. Sie wandte sich ab und löste sich nach wenigen Schritten in Luft auf, bevor sich die eisige Barriere um die menschenleere Insel schloss.

 

 

Kapitel 1 - Schreckliche Nacht

„Vielen vielen Dank, dass du noch gekommen bist. Ich hab mich sooooo gefreut.“

Susan rümpfte die Nase, als ihr Tina in der Begleitung einer Dunstwolke aus Cuba Libre um den Hals fiel. Nicht dass sie Alkohol selbst nichts abgewinnen konnte, aber sie war diesmal erst recht spät zu ihren Freundinnen gestoßen und lag daher im Pegel deutlich hinterher. – Ob sie nach einer üblichen Partytour auch so stark roch?

„Ist doch klar. Hat Spaß gemacht“, erwiderte sie und streichelte Tinas Rücken. „Schlaf gut.“

Tina trennte sich mit sehnsüchtigem Blick von ihr und nickte schwerfällig. „Du auch. Komm gut nach Hause.“

Susan drehte sich herum und setzte sich mit einem Lächeln über die Schulter in Bewegung. Dabei schüttelte sie in Gedanken den Kopf. Hatte Tina mehr als zwei Drinks, wurde sie immer so anhänglich. Susan störte das keineswegs. Es war nur schwer vorstellbar, dass Tina durch ein paar Cocktails oder Longdrinks oder Shots noch knuffiger werden konnte, als sie es ohnehin schon war.

Sie verließ das sterile Licht der Lampe am Eingang zu Tinas Wohnblock und atmete tief ein. Die Luft war immer noch stickig und schwül, trotz der späten Nacht. Susan strich sich durch die strohblonden Haare.

Na, das hat sich ja gelohnt, seufzte sie in sich hinein.

Es waren nur drei Stunden gewesen, doch die tropenfeuchte Luft des Stammclubs hatte die Glättarbeit an ihrem penibel frisierten Seitenscheitel zunichte gemacht. Verärgert betrachtete Susan die fransigen Spitzen. Elendiger Spliss. Sie überlegte schon lange, ob sie sich für die allwöchentlichen Clubbesuche womöglich ein schonenderes Haarstyling zulegen sollte.

Susan bog um die nächste Ecke und blieb ruckartig stehen. Einige Meter vor ihr standen außerhalb des Scheins der Straßenlaternen drei Männer zusammen. Einer der Kerle lehnte mit dem Rücken an einer kargen Hauswand und hielt eine Schnapsflasche in der Hand. Eine weitere lag zerbrochen am Boden. Die drei hatten ihre Unterhaltung eingestellt und blickten in Susans Richtung.

Ein Anflug von Unbehagen ließ Susans Kehle trocknen. Sie war schon oft diesen Weg allein nach Hause gegangen. Doch um diese Uhrzeit traf sie für gewöhnlich keine Menschenseele mehr an.

Susan schluckte mit einem Ziehen im Hals und ging weiter. Sie war eigentlich nie ängstlich gewesen oder für Vorurteile empfänglich. Die Gefahr lauerte nicht an jeder Ecke und Männer waren nicht alle nur schwanzgesteuert. Allerdings verbreiterte sich mit jedem Schritt das Grinsen der Kerle. So sehr Susan ihr langärmliges Kleid in Dunkelrot und Schwarz mochte, wünschte sie sich in diesem Moment, dass es doch nicht so eng anlag oder so viel Bein zeigte.

Die Kerle flüsterten miteinander. Susan verlangsamte das Tempo. Allmählich wurde ihr die ganze Sache doch nicht geheuer. Sie sollte vielleicht lieber umkehren.

Verdammt, Susan, sprach sie sich selbst Mut zu. Stell dich nicht so an.

Damit beschwichtigte sie ihren krampfenden Magen aber nur wenig. Ihre Kleinstadt war weit davon entfernt von Kriminellen überlaufen zu sein, aber man hörte hin und wieder andernorts von Situationen, die eine Kombination von Männern und Alkohol beinhalteten. Im Club konnte sie sich den teils ungehörigen Avancen ohne Probleme entziehen. Sie hatte genügend andere Leute um sich. Doch hier, im Schutze der Nacht, allein.

Susan wechselte mit weichen Knien auf die gegenüberliegende Straßenseite. Die laue Sommernacht und der noch immer heiße Asphalt trieben ihr Schweißperlen auf die Stirn. Jeden Schritt setzte sie die Absätze möglichst leise auf. Im selben Takt schlug ihr Herz so stark, dass sie es durch den gesamten Brustkorb spürte. Beachtet mich gar nicht. Ich bin gar nicht da. Die Augen starr auf den Boden gerichtet, ging sie zügig an dem Trio vorüber.

Susan atmete auf. Schien jeder Schritt bis dahin zäh, als würde sie durch eine Schicht Kaugummi laufen, fühlte sich das Aufsetzen ihrer Füße nun an, als würde sie zu einem Weitsprung ansetzen. Leicht und federnd, trotz der Schmerzen in den hochhackigen Schuhen. Wie sie es Woche für Woche überhaupt aushielt, in diesen Dingern zu stehen, geschweige denn zu gehen? Sie überlegte, die Schuhe auszuziehen, und barfuß weiter zu laufen, doch sie wollte ihre gute Strumpfhose nicht ruinieren.

Susan dachte an den früheren Abend zurück, bevor sie zu Tina gestoßen war, und lächelte bei dem Gedanken an ihren Freund. Sie kramte in der Handtasche nach ihrem Handy, um Chris eine Nachricht zu schreiben. Er war sicher über den Schulbüchern eingeschlafen.

Plötzlich schlang sich ein Arm um Susans Hüfte.

Sie schrie laut auf, doch eine Hand presste sich sofort auf ihren Mund.

Ein stämmiger Typ in einem Muskel-Shirt packte ihre Beine. Susan trat mehrere Male nach dem Kerl. Zwei, drei Mal konnte sie sich aus dem Griff befreien. Aber als der dritte zupackte, hatte sie keine Chance mehr.

Susan wehrte sich weiter und kreischte: „Lasst mich los!“

Doch die erstickten Schreie drangen kaum an der klebrigen Pranke auf ihrem Mund vorbei. Die Männer zerrten sie in den Schatten zweier Gebäude.

Ein Finger geriet zwischen Susans Lippen. Der scheußliche Geschmack der salzigen Haut verzog ihr das Gesicht.

Susan biss zu – jedoch ins Leere.

Immer weiter verschwanden sie im Dunkel der Hauswände. Tränen sammelten sich in Susans Augen, als die drei sie an eine Wand neben den Müllcontainern drückten. Schreckliche Angst zog in ihr herauf. Sie zitterte.

„Bitte nicht“, bettelte Susan durch die Handfläche hindurch.

„Keine Sorge. Es dauert nicht lang“, flüsterte ihr ein Typ mit auffällig schiefer Nase ins Ohr.

Er riss ihr das Kleid von den Schultern. Ein anderer zog den unteren Teil hoch bis über ihre Hüfte. Beide schnaubten gierig, während sich der dritte Kerl weiter darauf konzentrierte, Susans Mund mit seiner Hand zu verschließen.

Der Typ mit der schiefen Nase griff ihre linke Brust. Ein unbekanntes Gefühl von Ekel erfasste Susan. Ein Schaudern durchzog ihren ganzen Körper. Ihre nur noch wimmernden Hilferufe schienen niemanden zu erreichen.

Sie flehte um Chris’ Hilfe. Oder um die ihres Vaters. Irgendwer musste sie doch hiervor bewahren können.

Einer der Kerle zog ein Messer.

Susan erstarrte.

Was hat er damit vor?!

Unter Todesangst folgten ihre weit aufgerissenen Augen der Klinge. Das Messer zerschnitt Susans BH zwischen den Drahtbügeln und legte ihre Brüste frei. Eine kalte, feuchte Zunge zog über die nackte Haut.

Tränen stürzten Susan übers Gesicht. Sie schloss angewidert die Augen und versuchte in Gedanken dem Überfall zu entfliehen. Doch ein beißender Gestank aus altem Schweiß und schwerem Alkohol stieg ihr in die Nase und hielt ihr Bewusstsein wach.

Susan fühlte zwischen ihren Schenkeln eine Hand nach oben streichen, deren raue Haut sich in der dünnen Strumpfhose wie Schleifpapier verhakte. Lange Fingernägel bohrten sich schmerzhaft in ihren Hintern. Die Männer geiferten vor Erregung, als sie die Strumpfhose samt Slip nach unten zerrten.

„Lasst das Mädchen in Ruhe!“, drang eine tiefe Stimme vom Anfang der Gasse her.

Schlagartig verschwanden mehrere Hände von Susans Körper. Nur ein Kerl hielt sie noch fest.

Susan öffnete die Augen. Durch die Tränen sah sie die verschwommene Silhouette eines breitschultrigen Mannes. Ein Hoffnungsschimmer durchzuckte Susans Gedanken.

Bitte hilf mir!

„Verpiss dich!“, schrie der Vergewaltiger in dem ärmellosen Shirt.

Nein! Bitte bleib hier!

Der Mann zeigte keine Reaktion.

„Wenn du Ärger willst …?!“, rief der andere mit dem Messer und drehte es auffällig in der Hand.

Ruf die Polizei!

Der Unbekannte blieb weiter regungslos stehen.

Im nächsten Moment stürzten die beiden Kerle auf den schwarzen Umriss zu.

Der Stämmige im Muskel-Shirt holte im Lauf zum Schlag aus.

Bevor er den Mann erreichen konnte, schnellte ihm dieser mit einem unnatürlich langen Schritt entgegen. Ein massiver Faustschlag mitten ins Gesicht stoppte den Angreifer, der benommen zu Boden ging.

Der Messerschwinger hielt inne. Er war wohl ebenso von dem kurzen Prozess überrascht wie Susan. Der schwarze Schatten wandte sich zu ihm. Gleich darauf schlug er dem Kerl die Waffe aus der Hand und trat ihm in den Magen. Der Entwaffnete krümmte sich, schnappte nach Luft und sackte bewusstlos zusammen.

Susan spürte Erleichterung in ihr aufkommen – und auch einen Hauch von Begeisterung. Ihre Rettung war in greifbarer Nähe.

Der verbliebene Typ löste den Griff von Susan, die mit dem Rücken an der Wand nach unten glitt. Er nahm die Arme nach oben und machte einen vorsichtigen Schritt auf den Mann zu. „Alles cool. Ich wollte das gar nicht.“

Er ging langsam seitwärts an der Mauer entlang und zog einen möglichst großen Bogen um den Retter, bis er schließlich kehrtmachte und davonspurtete.

Der Mann wandte den Kopf zu Susan. Kurz darauf bewegte er sich in ihre Richtung. Mit jedem behutsam gesetzten Schritt beruhigte sich Susans Herzschlag. Sie blickte mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Verunsicherung zu der Gestalt in einem langen schwarzen Umhang auf.

Bin ich wirklich in Sicherheit?

Die Panik war verflogen, aber Susan zitterte noch am ganzen Körper. Sie sammelte Kraft und tastete sich mit dem Rücken an der Wand empor. Sie rückte die Kleidung notdürftig zurecht und bedeckte mit verschränkten Armen und Händen die Brust.

Susan versuchte, in das Gesicht des Mannes zu blicken, doch der Kopf war von schwarzen Stoffstreifen umschlungen. Nur die Augen und ein paar dunkle Haarbüschel gab die Maske frei.

Ihr Retter blieb wenige Schritte vor Susan stehen.

„Habt keine Angst. Es ist vorbei“, beruhigte er sie mit seiner durch den Stoff gedämpften Stimme. „Geht es Euch gut? Wurdet Ihr verletzt?“

Susan schüttelte unbeholfen den Kopf. Sie wunderte sich über die altertümliche Art der Ansprache. Doch auch die befremdliche Kleidung störte seltsamerweise das aufkommende Gefühl von Geborgenheit nicht.

„Wo wohnt …“

Der Mann brach mitten in der Frage ab und presste die Hände an die Schläfen. Schwer atmend sank er auf die Knie.

Was hat er denn? Susan sah auf den dunklen Boden, doch ihr Blick wurde getrübt. Sie wischte sich die letzten Tränen aus den Augen, aber von dem Maskierten fehlte jede Spur. Um sie herum lagen nur noch ihre Peiniger.

Die Kerle rührten sich. Ihre Benommenheit würde nicht mehr lange anhalten.

Angst flutete erneut Susans Körper. Ihr Puls stieg.

Schnell weg hier! Susan tapste eilig an den Mistkerlen vorbei und sammelte ihre Schuhe vom Anfang der Gasse auf. Sie rannte, so schnell sie konnte barfuß die Straße entlang. Sie traute sich nicht, sich umzuwenden. Sie betete, dass die Kerle ihr nicht folgten.

Zwei Kreuzungen später erreichte Susan ihr Zuhause. Sie eilte zum Eingang, zog den Schlüssel hinter dem getöpferten Namensschild Conners hervor, öffnete und trat ein. Sie schloss leise die Türe und bemühte sich, ihre Atmung zu beruhigen. Keinesfalls wollte sie ihre Eltern wecken. – Oder sollte sie?

Susan wollte ihrer Mutter keine Sorgen machen.

Sie war nun in Sicherheit. Aber sie stand immer noch an derselben Stelle und überlegte.

Könnte sie doch einfach alles aus dem Gedächtnis löschen.

Schließlich begab sich Susan auf Zehenspitzen nach oben ins Badezimmer. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die kalte Wand. Die Fliesen reflektierten ihren Herzschlag und ließen ihren gesamten Körper erbeben.

Susans Blick fiel auf den Spiegel. Ihr Gesicht war geschwollen und von Wimperntusche verschmiert. Doch nicht der armselige Anblick, den sie bot, beschäftigte sie. Sie fühlte sich auf eine andere Art schmutzig.

Sie entledigte sich der Reste ihrer Kleidung und stieg in die Dusche. Unter dem nahezu brühend heißen Wasserschwall versuchte sie, all die ekligen Berührungen durch mehrere Waschgänge vom Leib zu schrubben.

Doch Susan empfand sich noch nicht sauber genug. Erneut kamen Tränen, während sie mit Nagelbürste und Waschlappen immer stärker und schneller rieb.

Verzweifelt ließ sie von ihrer rot gescheuerten Haut ab und kauerte sich unter dem fließenden Wasser weinend in der Duschwanne zusammen.

 

 

Kapitel 2 - Befremdlicher Samstag

Susan erwachte am späten Vormittag aus einem unruhigen Schlaf.

Das Sonnenlicht drang nur gedämpft durch die Vorhänge. Dennoch schmerzte es in den blinzelnden Augen.

Susan drehte sich vom Fenster weg und bemerkte ein unangenehmes Ziehen in nahezu allen Muskeln ihres Körpers.

Die Erinnerung an die vergangene Nacht schlug sofort auf sie ein und stürzte ihr Gemüt ins Bodenlose. Als läge ein tonnenschwerer Felsbrocken auf ihr, fesselten sie ihre Gedanken an die Matratze.

Sie starrte an die Decke. Die Bilder in ihrem Kopf wurden von Minute zu Minute lebendiger. Ihre Haut kribbelte und juckte. Der beißende Gestank der Kerle hatte sich in ihrer Nase festgesetzt und peitschte ihren Puls nach oben. Sie spürte die Zunge auf ihrer Haut.

Susan setzte sich ruckartig auf und strich sich übers Gesicht, als könnte sie die Erinnerungen wegwischen. Ihre pochenden Schläfen beruhigten sich allmählich, während sie überlegte, was sie als Nächstes unternehmen sollte.

Sollte sie es der Polizei melden? Sich doch ihren Eltern anvertrauen? – Sie wollte ihnen keinen Kummer bereiten. Und wie würde Chris darauf reagieren? Wie würde er sie nach diesem Vorfall sehen? Hatte sie das provoziert?

Nein, Schuld daran hatte sie sicher nicht. Dennoch hatte sie sich etwas vorzuwerfen: Wäre ich bloß zu Hause geblieben! Hätte ich Tinas Einladung einfach ausgeschlagen. Der Abend verlief bis dahin doch perfekt.
 

Chris hatte sie zum Abendessen nach Hause eingeladen.

Bislang war sie den Eltern von nur zwei ihrer Verflossenen begegnet. Die letzteren schienen sich gar nicht für sie zu interessieren und beachteten sie kaum. Bei den anderen hatte es in der Wohnung gemüffelt. Es roch nach Katze. Dabei mochte Susan Katzen sogar sehr. Sie hatte sich immer eine gewünscht, aber ihr Vater war leider allergisch. Doch der Geruch bei ihrem Ex hatte weniger mit den drei Katzen an sich zu tun, als mit dem allgemeinen hygienischen Zustand der Wohnung.

Bei Chris’ Elternhaus dagegen gab es nichts auszusetzen. Zwar leider keine Katze, aber mit Frau und Herrn Berger verstand sie sich auf Anhieb. Sie begegneten Susan mit einem Lächeln und schienen überaus neugierig auf sie. Chris’ Mutter nahm sie sogar in den Arm. Über zwei Stunden brachten sie mit – zumal peinlichen – Geschichten aus Chris’ Kindertagen und Unterhaltungen über Susans Interessen zu. Frau Berger bedauerte, dass Susan das Klavierspielen aufgegeben hatte. Sie selbst spielte leidenschaftlich gerne Gitarre.

„Wegen Schule und dem Schwimmverein blieb leider keine Zeit mehr für die Musik.“ Dabei war das gelogen, aber es war eine gute Ausrede. Susan hatte schier das Interesse am Klavier verloren. Sie hätte lieber E-Gitarre gespielt, oder hätte gerne in einer Band gesungen. Aber ihr Gesangstalent war leider nicht vorhanden. Vielleicht konnte Frau Berger ihr irgendwann mal die Gitarre beibringen.

Nach dem Abendessen – es gab eine hervorragende Lasagne mit Spinateinlagen – begaben sich Susan und Chris in sein Zimmer. Eine Stunde schmiegten sie sich auf dem Bett aneinander und genossen wortlos die Stille und Nähe zueinander. Chris war vielleicht ihr dritter, oder vierter Freund. Weitere nur wenige Wochen oder gar Tage andauernde Beziehungen konnte man gar nicht als solche bezeichnen. Susan hatte einfach keinen Draht zu ihnen gefunden und hat sie schließlich wieder ziehen lassen. Oder war sie einfach zu wählerisch? Stefan jedenfalls sah man es bald an, dass er nur auf eine sexuelle Eroberung abzielte. Spätestens nachdem er begonnen hatte, sexy Fotos per Chat zu erbetteln war der Ofen aus.

Doch das mit Chris war anders. Ganz anders. Susan war es so, als würden sie sich schon ewig kennen. Zuerst war da nur diese Anziehung aus der Entfernung. Seine strahlend grünen Augen vermochten es auch noch quer über den Schulhof ihr Herz zu erreichen und ihre Haut zum Prickeln zu bringen. Dann die erste Berührung ihrer Hände – ihrer Lippen. Unvergleichbar, einzigartig – jedes einzelne Mal. Sie fühlte sich wie eine andere Person in seiner Gegenwart. Wie Romeo und Julia vielleicht, nur ohne dem tragischen Part.

Mit dem Kopf auf seiner Brust wiegten Chris’ ruhiger Atem und Herzschlag Susan fast in den Schlaf. Doch so sehr es beide schmerzte, hielten sie sich mit ein paar Minuten Verzug an den Plan.

Chris würde sich noch eine Stunde hinter die Schulbücher klemmen, alleine zu Bett gehen, um früh aufzustehen und auch den folgenden Tag mit Lernen zu verbringen. Die Abiturprüfung stand in wenigen Wochen an. Sein Ehrgeiz war dafür nicht zu bremsen. Und das wollte Susan auch auf keinen Fall. Stattdessen hätte sie sich langsam mal ein Beispiel an ihm nehmen sollen.

Bevor der gemeinsame Abend endete, gönnten sie sich einen ihrer magischen Küsse. Alles um Susan herum verschwand. Nur seine weichen Lippen waren auf ihren zu spüren. Die Spitze seiner Zunge, seine Fingerkuppen an ihrer Wange, die zum Hals entlang wanderten.

„Nun aber nach Hause mit dir“, weckte sie Chris aus dem himmlischen Gefühl. „Meine andere Freundin kommt bald.“

Susan schlug die Augen auf und blickte in sein neckisches Grinsen.

„Dann sag ihr einen lieben Gruß von mir. Ich hoffe, ihr Herpes ist nicht ganz so schlimm, wie alle sagen.“

Chris lachte auf und gab ihr einen Schmatz auf die Stirn, bevor sie sich vom Bett erhoben und er Susan zur Haustüre begleitete.

„Schreib mir, wenn du zu Hause bist. Pass auf dich auf.“

„Mach ich. Bis Montag dann in der Schule.“

Susan ging ein paar Schritte rückwärts. Chris stand im Türspalt und lächelte ihr hinterher. Sie strahlte zurück. Und das tat sich auch noch, als sie sich mehrere Straßen von seinem Haus entfernt hatte, bis sich die Müdigkeit einmischte. Sie gähnte, während sie ihr Handy aus der Hosentasche fischte, um es wieder auf erreichbar zu setzen. Beim ersten Blick seit Stunden auf das Handy verflog die einsetzende Bettschwere.

„Hey. Ich weiß ja nicht, wie lange du heute bei Chris bist. Aber wenn ihr mögt, ich bin mit Nicki und Mel im Soda. Würd mich freuen Image

Susan grinste. Auf ein, zwei Cocktails mit den Mädels hatte sie schon noch Lust. Und Mel war auch dabei. Der Garant für Spaß mit dem hübschen Barkeeper und Free Shots. Letzteren verweigerte sich Susan aber spätestens nach der zweiten Runde. Sie wollte einen einigermaßen klaren Kopf behalten, um auf Tina aufzupassen, die Alkohol so gar nicht vertrug. Im Gegensatz zu ihr – zumindest ihrer eigenen Einschätzung nach. Außerdem hielt sie gern ihre offenen Getränke im Auge. Auch hier soll es vor zwei Monaten einen Fall mit K.O.-Tropfen gegeben haben.

Zu Hause angekommen legte sie eilig die Abendgarderobe an und unterzog ihre widerspenstigen Haare einer Glättkur, anstatt das eigene Bett zu beehren. Dieses lockte leider nicht genug.
 

Nun aber stellte es ein sicheres Rettungsboot dar. Susan verließ es nur, um die Toilette aufzusuchen. Dort behandelte sie ihr aufgedunsenes Gesicht mit kaltem Wasser und Feuchtigkeitscreme, bürstete die struppigen Haare grob aus, kämmte sie nach hinten und bündelte sie mit einem Gummiband. Zurück im Zimmer zog sie sich vor dem Wandspiegel neben der Türe aus, um ihren Körper zu begutachten.

Susan atmete erleichtert auf. Bis auf leichte Striemen an ihren Handgelenken und am Nacken erkannte sie keine gröberen Spuren des Überfalls.

Ihr Blick verharrte auf ihrem Gesicht im Spiegel. Ihre Augen wurden glasig, während sie ihre Gelenke rieb. Wie sie wohl aussehen würde, wenn der Maskierte nicht aufgetaucht wäre? Wenn die Kerle mit ihr fertig gewesen wären?

„Mittagessen!“

Susan zuckte zusammen. Der Ruf ihrer Mutter hatte ihre Gedanken wie eine Bungee-Seil aus der Gasse herauskatapultiert.

„Susan, bist du wach?!“

„Ja! Bin wach! Hab aber keinen Hunger!“ Abgesehen vom Appetit war sie auch noch nicht bereit, ihrer Mutter gegenüber zu treten und wollte sie vorerst auf Abstand halten.

Susan kleidete sich in ihre bequemste Hose und ein weites T-Shirt, verkroch sich unter die Decke und lenkte sich mit Musik von ihrem Notebook ab. Grundsätzlich hörte sie alles querbeet, bis auf Rap. Doch diesmal öffnete sie eine Playlist mit ausschließlich melancholischen Songs aus dem Rock und Pop Bereich, darunter Biffy Clyro und Keane.
 

Vielleicht schlief Susan kurz ein. Sie wusste es nicht. Mehr als ein paar Minuten konnten es nicht gewesen sein.

Wo war eigentlich ihr Handy? Sie streckte den Kopf unter der Decke hervor und hielt nach ihrer Handtasche Ausschau. Am Türhaken hing sie nicht.

Susan schaute durchs Zimmer, konnte sie aber nicht entdecken. Sie rollte zur Kante und blickte übergebeugt unter das Bett. Außer ihren zerrissenen Klamotten lag da aber nichts.

„Shit.“ Hatte ich sie überhaupt dabei, als ich zu Hause war?

Susan kämpfte sich aus der Rolle ihrer Decke und suchte im Badezimmer nebenan. Zurück in ihrem Zimmer schaute sie sich mit steigendem Puls nochmal genauer um.

Ach Kacke!

Susan atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen.

Es klingelte an der Haustür, doch Susan beachtete es nicht weiter.

OK. Bis zu der Begegnung mit den Typen hatte ich sie sicher noch.

Den Weg zurück in diese Gasse zu gehen war das letzte, was sie sich für heute hätte vornehmen wollen. Sollte sie Tina um ihre Begleitung bitten? Oder besser Chris? – Irgendeine Erklärung wäre aber dann fällig.

„Susan! Komm mal runter!“

Susan hielt den Atem an. Die Stimme ihrer Mutter klang ungewöhnlich ernst. Wer würde denn zu ihr wollen? Und vor allem wieso?

„Ja! Einen Moment!“, rief sie durch den Spalt der Zimmertüre und streifte ein langes Hemd von Chris über, um damit ihre Handgelenke zu verdecken.

Sie verließ das Zimmer und erkannte beim Hinabsteigen der Treppe zwei Polizisten im Türrahmen stehen, die ihr zusammen mit ihrer Mutter entgegensahen.

Was macht denn die Polizei hier? Sind die wegen dem Überfall hier?

Susans Herz pochte so stark, dass es ihr die Kehle zuschnürte. Jeder Schritt wurde langsamer und zäher, als würde sie durch frischen Beton schreiten. Ihr war zum Heulen zumute, als sie in das Gesicht ihrer Mutter blickte.

Weiß sie es?

Die Polizistin streckte Susan nach einer knappen Begrüßung eine schwarz-rot getigerte Handtasche entgegen. „Ist das deine?“

Susans Augenbrauen zogen sich nach oben. „Ich – glaub schon“, brachte sie nach einem Anflug von Sprachlosigkeit hervor.

„Die Tasche wurde vor einer Stunde nicht weit von hier gefunden. Kannst du dir vorstellen, wie sie da hingekommen ist?“

Ihre Mutter redete auf Susan ein: „Bist du überfallen worden?“

„Nein!“, entgegnete Susan aus einem Reflex heraus, während ihre Mutter sie von oben bis unten musterte. „Die muss mir gestern im Soda gestohlen worden sein. Ich war mir nur nicht sicher. Ich hätte sie auch liegen lassen können oder Tina hätte sie mitgenommen.“

Was mach ich denn?!

Es fühlte sich so falsch an, doch in diesem Moment besser als die Wahrheit. Wäre es doch bloß die Wahrheit.

„Seid ihr denn nicht zusammen heim?“, fragte ihre Mutter.

„Schon, aber ich weiß halt nicht genau, was mit der Tasche war.“ Susan wollte sich nicht in Details verstricken. „Ich hab etwas mehr getrunken.“

„Magst du mal reinschauen und uns sagen, ob was fehlt?“, bat die Polizeibeamtin.

Susan sah die uniformierte Frau unsicher an, nahm die Tasche an sich und wühlte darin herum. Es fehlte nichts, sogar Geld und Handy waren noch da.

Die Polizistin übergab Susan eine Visitenkarte.

„Wenn du uns noch etwas mitzuteilen hast, oder sonst über irgendetwas reden willst, kannst du jederzeit anrufen.“

Susans Hände schwitzten. Sie nickte.

„Da wir keinen konkreten Hinweis auf einen Diebstahl haben, behandeln wir das Ganze vorerst als Fundanzeige.“

Die beiden Beamten verabschiedeten sich und wünschten einen guten Tag, worauf sich Susan und ihre Mutter bedankten. Die Anspannung in Susan löste sich. Es war überstanden. Fast.

Ina Conners schloss die Türe mit einem Lächeln, das auf der Stelle erstarb. Sie ging auf ihre Tochter zu, legte die Hände auf ihre Schultern und blickte ihr tief in die Augen. „Sag mir die Wahrheit, Susan. Ist gestern wirklich nichts anderes passiert? Geht’s dir wirklich gut?“

Susan gelang es nicht, dem Blick standzuhalten. Sie neigte den Kopf zur Seite und wich aus. „Nein, Mum. Wirklich nicht. Können wir das bitte sein lassen? Es war mein Fehler und es tut mir leid.“

Der letzte Satz blieb Susan fast im Hals stecken.

Ina schürzte die Lippen und ließ von ihr ab. „Na gut. Aber du weißt, dass du jederzeit mit mir reden kannst. Hörst du?“

„Ja. Aber da gibt’s nichts zu reden. Nur – bitte sag Dad nichts davon, ok? Ich will ihn nicht auch noch beunruhigen.“

Ina sah sie schief an, nickte aber nach kurzem Zögern.

„Danke.“ Susan umarmte ihre Mutter.

Die beiden lösten sich voneinander und lächelten einander zu, bevor Susan auf dem Absatz kehrtmachte und in ihr Zimmer lief. Sie schloss die Türe hinter sich, ließ sich mit dem Rücken dagegen fallen und rutschte auf den Boden. Sie atmete tief durch, legte den Kopf in den Nacken und starrte an die Decke.

Susan hasste es, ihre Mutter zu belügen. Es tat weh, ihr Vertrauen so zu missbrauchen. Bisher hatte sie ihr tatsächlich immer alles anvertrauen können, wie damals die Sache mit Stefan. Oder die Dummheit mit dem Joint.

Aber Susan hatte das Gefühl, dass es diesmal besser sei, mit der Situation alleine umzugehen. Nur so könne diese Angelegenheit schnell aus der Welt geschafft werden.

Ein gedämpfter Benachrichtigungston drang aus der Handtasche.

Chris hatte geschrieben. „Hallo, mein Stern. Wie geht’s dir? Warst du noch in der Stadt? Miss u Image

Susan lächelte. Sie war so froh, ihn zu haben. Wie gerne läge sie jetzt in seinem Arm. Ohne ein Wort. Allein seine Nähe hätte alles wieder gut gemacht.

Sie atmete durch. „Bei mir alles klar soweit. Ja, waren wir, aber nur kurz. Wie lange hast du noch über den Büchern gebrütet? Image

Wozu ihn einweihen? Ihn damit verrückt machen und vom Lernen abhalten? Es war doch eigentlich alles glimpflich ausgegangen. Ja, im Grunde genommen ist ihr doch gar nichts passiert. Kein Anlass, irgendwen damit zu behelligen. Sie sollte damit einfach abschließen. – Fürs erste zumindest.

Susan legte das Handy beiseite und zog die zerrissenen Klamotten unter dem Bett hervor. Ihr Blick verharrte nur einen Moment lang auf ihrem Lieblingskleid, das sie mit ihrer Mutter in München gekauft hatte. Ein teures Stück Stoff. Sie erinnerte sich noch an Tinas strahlende Augen, als sie es zum ersten Mal ausführte. Oder an Chris’ schwärmendes Lächeln. In diesem Kleid hatte er sie zum ersten Mal geküsst. Doch nun war es getränkt mit Erinnerungen von ekligen Berührungen.

Das Kleid wanderte ohne Reue zusammen mit der Unterwäsche in eine Plastiktüte, in die sie auch die entleerte Handtasche steckte und in der Hausmülltonne unter zwei darin liegenden Müllsäcken entsorgte. Nichts sollte sie mehr an die vergangene Nacht erinnern. Sie wollte wirklich damit abschließen. Doch es fiel schwer – gerade wegen der Schmerzen. Die Striemen brannten sogar noch mehr, als Susan sie mit Feuchtigkeitscreme und etwas Make-up überdeckte.

Während ihre Mutter im Keller die Wäsche machte, holte sie rasch das Mittagessen nach. Kartoffelgratin, bestreut mit Röstzwiebeln und Lauch. Nicht ihr Lieblingsgericht, aber es gab nichts aus Mutters Küche, das ihr nicht schmeckte. – Ausser Gemüsesuppe. Das wäre noch der Abschuss für diesen schon brechwürdigen Tag gewesen.

Zurück in ihrem Zimmer, brachte sie mit einem schwarzen Stift den Wandkalender auf den aktuellen Stand und schaltete den Fernseher ein. Oft schaute Susan nicht fern. Dafür war das Programm meistens zu öde. Nur ein paar wenige Comedy-Serien waren zu gebrauchen. Und eine solche hatte sie nun auch nötig. Doch sich richtig auf die Sendung zu konzentrieren schaffte sie nicht.

Ihre Gedanken, wie auch ihre Augen, wanderten immer wieder an dem Bildschirm vorbei. Erst eine Laufschrift am unteren Bildrand zog ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Im Anschluss an das laufende Programm unterbrechen wir für eine Nachrichten-Sondersendung mit den neuesten Informationen zu den unerklärlichen Todesfällen von tausenden Menschen weltweit. Die nachfolgende Sendung verschiebt sich daher um wenige Minuten. Wir bitten um ihr Verständnis.“

Unerklärliche Todesfälle? Susan las keine Zeitung, außer gelegentlich mal den Lokalteil. Aber das hier hörte sich danach an, als würde die ganze Schule am Montag darüber reden. Und Herr Rosenberger würde sich diese Gelegenheit sicher nicht entgehen lassen, ein Referat in politischer Bildung in Auftrag zu geben.

Für tragische Nachrichten hatte sie im Moment allerdings gar nichts übrig. Und so wechselte sie den Kanal beim Einsetzen der Titelmelodie der Nachrichtensendung mehrere Male, doch offenbar wurde auf jedem Sender das Programm unterbrochen. Schließlich schaltete sie den Fernseher aus.

Sie saß nur wenige Sekunden tatenlos auf dem Bett, da wollte wieder etwas in ihre Gedanken kriechen.

Susan strich sich mit den Händen übers Gesicht und sah sich nach einer weiteren Ablenkung um. Im Regal über dem Schreibtisch befanden sich zwei gerahmte Bilder. Das erste zeigte sie mit Tina im Skilager in der 7. Klasse. Beide lachten sie in die Kamera, so unbeschwert noch.

Das andere Foto stammte von einem der Familienurlaube. Als ihre Großeltern väterlicherseits noch lebten, besuchten sie sie einmal im Jahr in Schottland und unternahmen Reisen über die ganze britische Insel. Auf dem Foto standen sie zusammen vor den Steinkreisen von Stonehenge. Das war der letzte Ausflug mit Oma und Opa. Susan war vielleicht 7 oder 8. Eine freche Göre die mit ihren zerzausten Löckchen und Zahnlücken da breit in die Kamera grinste, und mit der Opa Francis immer schimpfen musste.

Susan wischte sich eine Träne aus dem Auge. – Sie musste an die frische Luft.

Susan kleidete sich in ihre Sportklamotten, setzte die Ohrhörer ein, startete die Lauf-App auf dem Handy und verstaute es in der Hüfttasche der Laufhose. Sie verließ das Haus, und begab sich auf ihre Laufstrecke im nahe gelegenen Park, die sie ein- bis zweimal pro Woche absolvierte.

Als sie vor zwei Jahren mit dem Training begann, hatte sie sich regelmäßig dazu zwingen müssen. Sie mochte das Laufen im Schulsport nicht, das immer auf der Tartanbahn stattfand. Das ständige, eintönige im Kreis Laufen, nur auf Kurzstrecken und Leistung bedacht. Doch der Fitnessgedanke hatte sie angetrieben und Susan fand Gefallen an der Abwechslung von Schotter- und Teerwegen entlang grünem Gras und bunten Blumenbeeten oder im Schatten der Bäume.

Bei nahezu wolkenlosem Himmel versprach auch diese Tour einen zumindest vorübergehenden Tapetenwechsel. Der Blick auf die stets zahlreich bevölkerten Grünflächen würde sie bestimmt auf andere Gedanken bringen. Die Leute suchten Entspannung, indem sie sich auf einer Decke räkelten oder die Beine in den See hielten. Auch die im Halbschatten gelegenen breiten Gehwege waren üblicherweise von anderen Joggern überlaufen.

Aber heute war die gesamte Anlage fast wie ausgestorben. Die Wiesen waren leer. Nur vereinzelte Leute gingen mit dem Hund spazieren oder befanden sich auf ihrer eigenen Lauftour. Susan nahm es ratlos zur Kenntnis und die Gelegenheit wahr, um sich auf einer der leeren Bänke am Ufer des Sees niederzulassen. Der Muskelkater machte sich immer stärker bemerkbar. Mit Musik eines Electronic House Podcasts in den Ohren starrte sie auf das Wasser und verlor sich ungewollt in ihren Gedanken.

So sehr sie sich bemühte, es zu verdrängen, die Erinnerungen holten sie immer wieder ein und vergifteten ihren Verstand erneut. Aber auch ihr Retter kam ihr in den Sinn. Was hatte es mit der maskierten Gestalt auf sich? – Sie hätte sich bei ihm bedanken sollen. Wäre er nicht gewesen …

Die Sonne färbte den Horizont orange.

„Mist!“ Susan musste sich beeilen, um vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause zu sein. Alleine würde sie sich so schnell nicht wieder durch die Nacht wagen. Sie erhob sich von der Bank, streckte sich und stockte. Sie war die einzige Person im Park.

Die Laternen an den Parkwegen flackerten auf. Die langen Schatten der Bäume verbreiteten eine gespenstische Stimmung, als würde in der Dunkelheit etwas lauern.

Ein Schauer lief über Susans Rücken.

Sie begab sich sofort in einen schnellen Laufschritt und steigerte die Geschwindigkeit unwillkürlich. Kalter Schweiß trat auf ihre Stirn. Sie spurtete auf das Ende des Parks zu, als wollte sie vor etwas flüchten. Nur wusste sie nicht wovor.

Nicht mehr weit, bis sie die Schatten des Parks hinter sich lassen konnte. Susan konzentrierte sich, atmete gleichmäßig, beschleunigte noch einmal ihre Schritte – und blieb dann abrupt stehen.

Aus den dichten Büschen sprang eine dunkle Gestalt.

Susans Kehle krampfte. Ihre Augen wurden weit.

Mit gewaltigen Sätzen kam das zweibeinige Wesen auf Susan zu. Es erinnerte an ein Skelett mit pechschwarzer, grau schimmernder Haut, die sich über die Knochen spannte. Lange, silbrig glänzende Zähne prangten aus dem entstellten Gesicht.

Ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, sah Susan lediglich zu, wie eine hagere Hand nach ihr ausholte.

Hinter dem Wesen blitzte etwas im dämmernden Abendhimmel auf. Ein in pinkfarbenem Licht strahlender Kristallsplitter schnellte, wie aus einer Pistole geschossen, auf die Kreatur zu, die nur noch wenige Meter von Susan entfernt war. Der Splitter durchschlug die Schulter und hinterließ ein winziges Loch, jedoch ohne eine Wirkung zu erzielen.

Das kleine Objekt flog weiter auf Susan zu und bohrte sich in ihre Stirn. Sie verlor augenblicklich das Bewusstsein. Anstatt den Kopf zu durchdringen, riss die Wucht Susan von den Beinen, sodass die Kreatur mit der Hand, die auf ihre Brust zielte, ins Leere griff. Susans Stirnwunde leuchtete hell, als sie mit der Kreatur über sich durch die Luft flog. Susans Augen stießen auf. Gänzlich weiß erfassten sie das Gegenüber mit einem stechenden Blick.

In ihrer rechten Hand erschien aus dem Nichts ein Schwert. Augenblicklich schwang sie die weißglühende Klinge mit einer Längsrolle ihres Körpers durch die Luft und zerteilte das Wesen in zwei Hälften. Das Strahlen auf der Stirn erstarb und die Augen fielen wieder zu. Susan schlug auf dem Boden auf, schlitterte über den Schotter und blieb regungslos liegen.

 

 

Kapitel 3 - Bestimmung

Bilder von prachtvollen Parkanlagen zuckten durch Susans Kopf. Ein riesiger Palast inmitten blühender Wiesen. Gärten mit bekannten, als auch völlig fremd anmutenden Pflanzen. Eine glich einer Orchidee, besaß aber verschiedenfarbige Blüten an einem einzelnen Stängel. Die goldenen fünfzackigen Blätter eines rosafarbenen Busches erinnerten an Seesterne auf einer Portion Zuckerwatte.

Susan fand sich auf einer der Blumenwiesen einer Gruppe Personen in weißen, im seichten Wind flatternden Kleidern gegenüber. Sie standen lachend in einem Kreis zusammen und bemerkten Susan nicht.

Sie machte einen Schritt auf die Gruppe zu. Dabei spürte sie das Aufsetzen ihres Fußes nicht. Er glitt ohne Widerstand durch das hohe Gras. So unwirklich war dieser Ort.

Das muss ein Traum sein, stellte Susan auch durch das Fehlen ihres Muskelkaters und der Striemen an den Handgelenken zweifelsfrei fest, doch sie fühlte sich hellwach.

„Verzeihung?“, fragte sie vorsichtig in Richtung der Gruppe.

Eine blonde Frau drehte sich zu ihr.

Susan erschrak. Sie konnte keine Gesichtszüge erkennen. Dort, wo das Gesicht sitzen sollte, war nur ein verschwommener Fleck. Es wirkte wie eine überbelichtete Fotografie.

Die Frau mit geflochtenem Haar trat aus dem Kreis heraus und schwebte auf Susan zu.

„Es freut mich, dich kennenzulernen, Susan. Mein Name ist Celes.“ Ihre Stimme klang verzerrt, aber freundlich.

„Kennen wir uns?“, entgegnete Susan unsicher.

„Mitnichten“, antwortete Celes. „Vielmehr sollte es unmöglich sein, dass wir uns jemals gegenüberstehen. Doch diese Situation ließ es nicht vermeiden. Ich musste dich zu meiner Nachfolgerin erklären. Es tut mir wirklich schrecklich leid.“

Susan verstand kein Wort. „Zu was hast du mich erklärt?“

„Nur durch die Verbindung mit meinem Lebenssplitter konntest du den Angriff der Kreatur überleben. Dass du allerdings bei dem Aufschlag das Bewusstsein verlierst, war nicht vorherzusehen. Glücklicherweise gelang es mir während der Dauer der Verschmelzung, die Gefahr für unser Leben zu beseitigen. Doch damit bist du nun eine Wächterin von Andalon.“

Susan konnte sich vage an ein Wesen erinnern, das auf sie zugestürmt kam. Doch spielte ihre Wahrnehmung ihr da keinen Streich?

„Hat dieser Titel irgendwas zu bedeuten? Und was meinst du mit unser Leben?“, fragte Susan.

„Es mag dir sicher ebenso unglaublich anmuten wie mir: In dir wohnt mehr als nur eine Seele. Ich wurde in deinem Körper wiedergeboren und begleite dich, seit dem Beginn deiner Existenz. Aber erst der Kristallsplitter, der in deinen Kopf eindrang, bildet eine Brücke zwischen uns.“

Susan runzelte die Stirn. „Tut mir leid, aber kann es sein, dass hier irgendeine Verwechslung vorliegt? Du redest so, als wär das alles ganz normal. Allein schon dieser Ort …“

Susans Blick schweifte über die Umgebung. Welch wundervoller Traum das sein hätte können, wäre nicht dieses absurde Gespräch.

„Was du hier siehst, ist meine Heimat – bevor sie von einem unbekannten Feind vernichtet wurde. Schreckliche Kreaturen, wie die eine, die uns eben nach dem Leben trachtete. Meine Gefährten und ich verfügten über große Macht – körperliche, wie auch magische. Dennoch gelang es uns nicht, die Menschen von Andalon vor der schieren Übermacht der Gegner zu schützen. Wir kämpften bis zum letzten Atemzug, um zu verhindern, dass sie auch in andere Länder einfallen. Doch nun sind sie zurückgekehrt und setzen ihr Vorhaben fort.“

„Moment. Das heißt, dieselben Dinger sind jetzt für die Todesfälle auf der ganzen Welt verantwortlich?“

„Daran besteht nun kein Zweifel mehr. Daher müssen wir dem Treiben ein rasches Ende setzen, bevor die Kreaturen ihre volle Kraft entfalten.“

Wir? Du meinst damit ...?“

„Uns beide“, ergänzte Celes. „Wir haben einen Weg zu finden, gemeinsam und dauerhaft über deinen Körper zu bestimmen.“

„Nein, tut mir leid“, winkte Susan energisch ab. „Ich habe schon genug Probleme. Halt mich da bitte raus.“

Celes’ Stimme wurde eindringlicher: „Das ist ein Umstand, der sich nicht verhandeln lässt. Du kannst dich damit abfinden und daran wachsen. Oder du sträubst dich und siehst zu, wie ein geliebter Mensch nach dem anderen vor deinen Augen sein Leben verliert, obwohl du es hättest verhindern können. Wenn du dich darauf einlässt, erhältst du unvergleichbare Macht und damit die Möglichkeit, gegen Alles und Jeden zu bestehen. Kein Mensch wird dir mehr auch nur ein Haar krümmen können.“

Susan blickte in das unscharfe Gesicht und versuchte zu erkennen, ob bei diesen Worten mehr zwischen den Zeilen zu lesen war. Wieso betonte sie ausgerechnet, dass sie von keinem Menschen mehr bedroht werden könnte? Bei dem, was sie angegriffen hatte, handelte es sich bestimmt nicht um einen Menschen.

Wusste Celes davon? Hatte sie miterlebt, was Susan in der Gasse zugestoßen war, hatte aber nichts unternehmen können?

Susan durchdrangen Bilder von dem schrecklichen Ereignis am Vorabend. Sie hatte sich so hilf- und kraftlos gefühlt. Sie wünschte sich, die Stärke gehabt zu haben, um diese Scheißkerle in tausend Fetzen zu reißen.

„Ich will stark sein“, sagte Susan leise mehr zu sich selbst und senkte den Blick.

Celes legte die Hand auf Susans Schulter. „Du wirst stark sein. Stark, um nicht nur dich selbst, sondern auch jeden zu beschützen, der dir lieb und wichtig ist.“

Die Hand zog sich zurück. Celes wich davon, ohne sich umzuwenden. Sie erreichte rückwärts schwebend ihre Freunde und reihte sich in die lachende Gemeinschaft ein, als hätte das Gespräch mit Susan nie stattgefunden.

Susan selbst entfernte sich immer weiter und schneller von den Leuten, der Wiese und dem Palast, als würde ihre Figur von einem Spielbrett genommen.
 

Susan blinzelte in ihr dunkles Zimmer. Ihr Atem ging tief und ruhig. Sie genoss die Stille, aber sie war sich unsicher, was sie von diesem Traum halten sollte.

Moment.

Was machte sie überhaupt im Bett? Draußen war es bereits stockdunkel. Wie um alles in der Welt war sie nach Hause gekommen?

Susan schaltete die Nachttischlampe ein, als der gedämpfte Ruf ihrer Mutter aus dem Erdgeschoss die Ruhe durchbrach: „Susi! Telefon! Chris ist dran!“

Susans Gesichtszüge versteinerten. Hass kochte in ihr auf. Sie sprang aus dem Bett, stürzte zur Zimmertür und riss diese fast aus den Angeln. Sie machte einen Satz zur Treppe, krallte sich mit beiden Händen in das Geländer, beugte sich über und brüllte mit vor Wut brennender Stimme nach unten: „NENN! MICH! NICHT! SUSI!“

Schnaubend stieg sie die Treppe hinab. Ina stand mit einem verstohlenen Schmunzeln im Türrahmen zur Küche, das schnurlose Telefon von sich gestreckt. Susan nahm es wortlos entgegen und warf ihrer Mutter mit zusammengepressten Lippen einen drohenden Blick zu, bevor sie sich wegdrehte und zurück Richtung Treppe ging.

Susan verzweifelte daran, immer wieder von ihrer Mutter mit diesem verhassten Kurznamen aufgezogen zu werden. Niemand in der ganzen Schule wagte es mehr, sie seit ihren Kindertagen so zu nennen. Manchmal dachte sie, in ihr eine jüngere, streitsüchtige Schwester zu haben, statt einer erwachsenen, fürsorglichen Mutter.

Als Susan das Telefon ans Ohr führte – die letzte Wut und Anspannung verdrängend, um mit einer sanften Stimme Chris zu begrüßen – vernahm sie ihre Mutter ein weiteres Mal. „Du hast da was an der Stirn, Susi!“

Susan explodierte innerlich. Sie konnte den Drang, sämtliche im Flur stehenden Schuhe auf die Küchentüre, hinter die sich ihre Mutter in Sicherheit brachte, zu feuern, gerade noch unterdrücken. Sie würde sich bei anderer Gelegenheit dafür revanchieren.

„Sorry. Der Akku muss wohl leer sein“, entschuldigte sie sich bei Chris, während sie ihr Handy mit einer Hand aus der Hüfttasche holte und auf die Seitentasten drückte. „Hast du schon lang versucht, mich zu erreichen?“

„Ach was, gar nicht“, schauspielerte Chris, was Susan lächeln ließ. „Sollten zwanzig Anrufe in Abwesenheit drauf sein, wenn du es wieder einschaltest, dann stimmt sicher was mit deinem Handy nicht.“

Susans Lächeln wurde noch breiter. Sie schloss die Zimmertüre hinter sich, ließ sich aufs Bett fallen und genoss die Stimme ihres Liebsten. Auch wenn er die Tage sehr viel über den Abi-Stoff redete.

Sie wischte sich über die Stirn und spürte etwas Raues.

Was zum … – Ist das …?

Susans Herzschlag stieg an. Sie erhob sich vom Bett und bewegte sich mit starren Augen auf den Wandspiegel zu. Den Hörer noch am Ohr erkannte sie getrocknetes Blut auf der Haut.

„Liebling“, unterbrach Susan Chris in flachem Ton. „Kann ich dich zurückrufen?“

„Ähm, klar. Bis gleich.“

Susan legte das Telefon auf dem Schreibtisch ab, ohne den Blick vom Spiegel zu nehmen. Sie betastete den bröckelnden Fleck.

„Offenbar hast du dich gut von der Vereinigung erholt“, drang eine Frauenstimme an Susans Ohr.

Susan fuhr herum und sah mit weit aufgerissenen Augen eine Person in einer schwarzen Kutte und Kapuze im Zimmer stehen. Sie schreckte einen Schritt zurück, worauf der Spiegel splitterte. „Wer bist du?!“ Susans Herz raste. „Was machst du in meinem Zimmer?!“

„Mein Name ist Iris“, stellte sich der Eindringling vor. „Um den Spiegel tut es mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken. – Susi ist der Name, habe ich gehört?“

Susan verzog die Augenbrauen. Ihr Atem ging schnell. Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Dem beschädigten Spiegel widmete sie nur einen beiläufigen Blick und der Verwendung ihres verhassten Spitznamens schenkte sie keinerlei weitere Beachtung. Sie wollte davonrennen, doch ihre Beine gehorchten nicht. Auch nach ihren Eltern um Hilfe zu rufen vermochte sie nicht. Zu sehr steckte die Angst in ihren Gliedern. Wie eine Ohnmacht, die nur ihren Körper befiel.

„Entschuldige bitte. Aber das konnte ich mir nicht verkneifen“, sprach die Person mit einem schuldbewussten Lächeln, das im Licht der Nachttischlampe nur zu erahnen war. „Ich habe dich bewusstlos im Park gefunden und nach Hause gebracht.“

Der Druck der Fingernägel, die sich in Susans Handflächen bohrten, ließ etwas nach. Ich? Bewusstlos im Park?

Susans Augen wurden glasig. Die Bilder von dem dunklen Wesen, das auf sie zugestürmt war, kamen ihr erneut in den Sinn.

Sie konzentrierte sich wieder auf den Gast. „Was ist da im Park geschehen?“ Zweifelsohne musste ihr Gegenüber etwas damit zu tun haben. Das Auftreten und die Kleidung waren sicher kein Zufall. „Wozu diese Aufmachung?“

„Dir gefällt mein Kleidungsstil nicht?“, antwortete die Gestalt mehr mit Belustigung in der Stimme als Enttäuschung. Sie nahm die Hände an die Kapuze und zog sie gemächlich nach hinten ab.

Susan hielt den Atem an. Sie blickte auf eine hübsche Frau von etwa 30 Jahren mit einem schmalen Gesicht, der pechschwarze Haare auf die Schultern fielen.

Susans Glieder entspannten sich. Auch wenn die weite Kutte die Körperform weitestgehend verschleierte, wirkte die Frau alles andere als kräftig. Auch das verhaltene Lächeln strahlte keine Bedrohung aus, sondern mehr ein freundliches Bemühen.

„Das im Park zu erklären fällt mir selbst schwer. Ich beschäftige mich damit, seit ich dich aufgelesen habe. Ich hatte die Hoffnung, dass du mehr Licht in die Sache bringen könntest.“

Susan Augen wurden weit. „Ich? Du meinst, das Gespräch, während ich bewusstlos war? Das war kein Traum?“

Iris schüttelte den Kopf. „Ich bin mir nicht sicher, was du damit meinst. Aber auch mich haben die letzten Stunden mehr als überrascht.“

Susan atmete tief durch. „Woher weißt du überhaupt, wo ich wohne? Und warst du die ganze Zeit hier im Zimmer?“

„Nein, ich stand auf dem Balkon“, antwortete Iris, worauf Susan zur verschlossenen Balkontüre blickte.

Die Frau kam der nächsten Frage zuvor. „Ich habe mich hereinteleportiert. Versperrte Türen bereiten mir keine Mühe. So konnte ich dich auch unbemerkt ins Haus bringen. Und deinen Wohnort hat mir der aufgezeichnete Laufweg auf deinem Handy verraten.“

Susan zog eine Augenbraue nach oben. Teleportation? Sollte sie das ernst nehmen, was die Frau da von sich gab? Oder war diese Begegnung immer noch ein Traum?

Susan betrachtete die Gestalt vor sich eindringlicher. Iris stand immer noch am selben Fleck. Bis auf einzelne gemächliche Gesten ihrer in den langen Ärmeln verborgenen Arme rührte sie sich keinen Zentimeter. Für Susans Geschmack strahlte sie angesichts der Situation eine zu starke Ruhe aus. Sie machte einen unwirklichen Eindruck. Doch ihr ruhiges Auftreten schien auf Susan abzufärben. Sie trat nicht länger auf der Stelle. Der Fluchtgedanke hatte sich ausgedünnt. An dessen Stelle traten aber immer mehr Fragen, die drohten, Susans Kopf zum Zerplatzen zu bringen.

Sie schloss für einen Moment die Augen und nahm eine Hand an die rechte Schläfe. „Und was hast du mit der ganzen Sache zu tun?“

Iris blickte sie immer noch mit demselben Lächeln an. Es wirkte jedoch nicht aufgesetzt. Susan meinte aber auch, einen Hauch von Sorge in ihren Augen erkennen zu können.

„Ich folgte dem Kristallsplitter, den ich bis vor Kurzem hütete und der sich jetzt offenbar in deiner Stirn befindet. Ich fand dich bewusstlos vor. Neben zwei Leichenteilen, die sich zersetzten und in Rauch auflösten.“

„Leichenteile? Das Ding wurde getötet? Von wem?“

„Nun. Dieses Schwert, das sich ebenfalls bis vor wenigen Stunden in meiner Obhut befand, lag in deinen Händen.“ Iris zog die Waffe unter ihrer Kutte hervor. „Deshalb bin ich davon ausgegangen, dass du dafür verantwortlich bist. Etwa nicht?“

Susan betrachtete die glänzende Waffe. Die gerade Klinge war nicht breiter als zwei Finger und reichte Susan vom Boden bis über die Hüfte. Die Oberfläche schimmerte in einem weißen Glanz wie frisch poliert und wirkte scharf wie eben erst geschliffen. Dabei bestand die Klinge sicher nicht aus Metall. Sie war nahezu durchsichtig und erinnerte mehr an Glas oder Diamant. Der lange, für zwei Hände gefertigte Griff war filigran mit pinkfarbenen Verzierungen, goldenen Ornamenten und kunstvollen Fräsungen überzogen.

Susan riss ihren Blick von dem Schwert los und konfrontierte Iris mit einer Gegenfrage. „Sagt dir der Name Celes etwas?“

Iris’ Gesichtszüge froren für einen Moment ein. „Allerdings kenne ich diesen Namen. Celes war eine sehr enge Freundin.“

„Sie ist nicht mehr am Leben, nehme ich an?“, hakte Susan nach, bevor Iris eine eigene Frage formulieren konnte.

„Ja. Und das schon seit langer Zeit.“

„Die anderen auch?“

„Wenn ich annehmen darf, dass du mit den anderen die restlichen Wächter meinst, dann muss ich auch das bejahen. Bist du ihnen im Traum begegnet? Das Gespräch, das du erwähnt hast?“

Susan nickte zögerlich. Etwas an Iris erinnerte sie an ihre Grundschullehrerin Frau Göhring. Da war ein Glanz in ihren Augen, der sie vollkommen einnahm. Nichts schien wichtiger, als dieser Moment ihrer Unterhaltung, gleichberechtigt, alles andere ausgeblendet, vollem Bemühens um Verständnis. „Celes sprach davon, dass sie in meinem Körper wiedergeboren wurde und dass der Kristallsplitter eine Verbindung zwischen ihr und mir herstellt.“

Iris’ Mundwinkel zogen sich nach oben. „Das ergibt Sinn.“

Susan blickte prüfend auf ihren ungebetenen Gast und versuchte zu ergründen, ob sie sich über sie lustig machte. Doch dazu fand sie keinen Anhalt.

„Was hat sie noch gesagt?“

Susan atmete ein. „Dass Feinde, die sie damals bekämpften, auferstanden sind und dass wir sie daran hindern müssen, die Menschheit zu vernichten, oder so ähnlich.“

„Noch etwas?“

Susan blickte nachdenklich an die Decke. „Nein, da war glaub ich nicht mehr.“

Iris drehte sich zur Seite. „Celes und die anderen Wächter lebten vor mehreren tausend Jahren in einem Reich namens Andalon. Ihnen gelang es, die Invasion der Finsternis zu stoppen, indem sie deren Herrscherin in einen mächtigen Kristall versiegelten, doch bezahlten sie für den Sieg mit ihrem Leben. Ich glaube, dass die Feinde nun einen Weg gefunden haben, ihre Herrscherin zu befreien. Sie rauben dazu den Menschen ihre Seelen – oder nenn es Energie, ihre Lebenskraft.“

Susans Magen zog sich zusammen. Sie mochte nicht, in welche Richtung sich die Unterhaltung entwickelte. Im Traum hatte sie sich Celes entziehen können. Bei der Person in ihrem Zimmer war das nicht so einfach. Nicht dass Iris einen unglaubwürdigen Eindruck machte, trotz der Umstände und der befremdlichen Kleidung. Susan nahm gerne alles Gehörte als gegeben auf. Doch was bedeutete das für sie?

„Verstehe ich das richtig, dass ich allein verhindern soll, dass noch mehr Leute umgebracht werden?“

„Nun, eventuell nicht ganz allein. Da Celes in dir wiedergeboren wurde, besteht die Möglichkeit, dass das auch bei den anderen Wächtern der Fall ist. Diese gilt es aber erst einmal aufzuspüren. Zusammen habt ihr sicherlich gute Chancen, die Kreaturen auszulöschen.“

Susans Stirn legte sich in Falten. „Auslöschen? Was verstehst du bitte unter auslöschen?“

„Vernichten. Du musst sie töten.“

„Töten?!“, schrie Susan auf und schüttelte den Kopf. „Ich?! Jemanden töten?! Das ist doch ein Witz. Ich töte doch niemanden!“

„Anhand der Häufigkeit und Anzahl an Todesopfern, die bisher bekannt sind, vermute ich nur wenige hundert Wesen. Damals hatten es die Wächter mit einer erheblich größeren Streitmacht zu tun.“

„Hunderte?!“, fragte Susan entsetzt. „Versteh ich dich richtig? Du verlangst von mir, Massenmord zu begehen? Zusammen mit einer Handvoll anderer Freaks mit zwei Seelen im Körper? Das kann doch nicht dein Ernst sein. Das ist eine Sache für die Regierung, das Militär. Aber nicht für mich. Sollen die sich darum kümmern.“

„Susan. Die Kreaturen führen einen Guerilla-Krieg, von dem die Bevölkerung und die Politik bisher nur die zerstörerischen Folgen kennen. Und sollte es ihnen gelingen ihre Herrscherin zu befreien, haben wir eine offene Invasion zu erwarten.“

„Dann sag das alles doch der Polizei. – Und diese angebliche Invasion einer antiken Streitmacht … Denkst du nicht, dass die gegen unsere heutigen Möglichkeiten etwas alt aussehen?“

Iris blickte Susan mit zusammengekniffenen Augen an. „Du weigerst dich also, deiner Bestimmung zu folgen?“

Susan wollte die Frage sofort bejahen. Doch dann kamen ihr Celes’ Worte in den Sinn:

Stark, um nicht nur dich selbst, sondern auch jeden zu beschützen, der dir lieb und wichtig ist.

 

 

Kapitel 4 - Trainingsbeginn

Iris gelang es ohne Mühe, Susan davon zu überzeugen, Chris – nebst ihren Freunden und Eltern – besser nicht in diese Angelegenheit einzuweihen.

„Bin ich denn verrückt und sag ihm so was? Wenn ich es selbst kaum glauben kann, was hier geschieht, wieso sollte es Chris? Der würde mich sofort in die Wüste schicken oder gar in die Klapse.“

Eine fremde Rasse, die sich in Rauch auflöste, wenn sie starb? Menschen, die sich mit wiedergeborenen Seelen den Körper teilten?

Nein. Sie konnte nicht erwarten, dass er das ohne weiteres glaubte.

Susan aber ließ sich trotz jeden Zweifels darauf ein. Der Ausblick auf unsägliche Kraft und magische Fähigkeiten machte sie nicht nur neugierig. Sie sehnte sich nach mehr Unabhängigkeit, weniger Furcht und potentielle Bedrohung. Die letzten zwei Tage hatten ihr deutlich vor Augen geführt, dass diese Welt gefährlicher sein konnte, als gedacht.

Auch ihr Gewissen regte sich. Sollte sie die Möglichkeit haben, auch nur die am geringsten geschätzte Freundin vor einem dieser Wesen zu bewahren, ohne sie natürlich zu töten: Es wäre die Einlassung wert.

Und so begann der folgende Tag früh für Susan. Ihr Wecker läutete um sieben Uhr. Sie drehte ihren Kopf mit dünnen Augenschlitzen zum Nachttisch und betrachtete die blinkenden Zahlen für einen Moment, bevor sie den Alarm abstellte. Wie konnte ich dazu nur zustimmen? An einem Sonntag!

Susan blieb noch kurz liegen. Sie spielte die gestrigen Ereignisse nochmal im Kopf durch. Erneut kamen Zweifel auf, ob das vielleicht nur Einbildung war. Aber wozu hätte sie denn dann den Wecker gestellt? Sie wischte ihre Bedenken bei Seite, um der Motivation Platz zu machen. Schließlich setzte sie sich auf und schlurfte ins Badezimmer nebenan.

Vor dem Spiegel betastete Susan ihre Stirn, wo sich gestern noch das angetrocknete Blut befand. Keine Spur einer Narbe war zu erkennen. Auch kein Schmerz ging davon aus. Wozu ich wohl im Stande bin mit diesem Splitter im Kopf?

Susan hätte es gerne gestern noch ausprobiert, doch Iris hatte sie auf diesen Vormittag vertröstet. Sie wollte dazu etwas vorbereiten. Von eigenen Versuchen riet sie ab. Nicht dass sie aus Versehen das Haus abfackelte. Also irgendwas mit Feuer muss es zu tun haben.

Etwas Ernüchterung zog in Susans Wissensdurst. Dass sie mit ihren neuen Fähigkeiten auch Schaden anrichten konnte, hatte sie nicht bedacht.

Bevor Iris eintraf, wollte sich Susan noch Recherchen widmen. Mit der Zahnbürste im Mund schaltete sie den Fernseher ein. Auf dem erstbesten Nachrichtensender lief bereits ein passender Bericht mit der Einblendung Wiederholung.

Drei Herren saßen in Anzug und Krawatte nebeneinander an einem langen Tisch, der mit einer Masse verschiedenfarbiger Mikrofone bepflastert war. Den Namensschildern zufolge stellten sich der Leiter der Sonderkommission des Bundeskriminalamts, der Bundesinnenminister und der Präsident des Robert-Koch-Instituts einer Reporterschar. Sie berichteten vom Ermittlungsstand der seit vier Tagen andauernden Reihe weltweiter Todesfälle, der auch mehrere tausend Bundesbürger zum Opfer gefallen waren.

„Aufgrund des hohen Ausmaßes und der Ausbreitung über das gesamte Bundesgebiet übernahm das Bundeskriminalamt gestern Abend die zentralen Ermittlungen. Bisher lässt sich weiterhin keine Todesursache benennen. Zwar wurden bei allen Fällen ähnliche Hautverletzungen festgestellt, allerdings sind diese keinesfalls lebensbedrohlicher Art. Alle toxikologischen Untersuchungen verliefen bislang negativ, sodass wir momentan nicht von einer Epidemie ausgehen. Da es sich aber längst um ein globales Phänomen handelt, stehen wir mit der WHO und anderen nationalen Sicherheitsbehörden, wie der Seuchenschutzbehörde der USA in engem Kontakt.“

Eine Reporterin stellte eine Zwischenfrage: „Es wurde auch von Zeugenaussagen berichtet, die von seltsamen Gestalten sprechen, die für den Tod der Menschen verantwortlich sein sollen. Was können sie dazu sagen?“

Der Leiter der Sonderkommission entgegnete: „Ich versichere ihnen, dass jedem Hinweis höchste Aufmerksamkeit gewidmet und entsprechend nachgegangen wird. Die verhältnismäßig wenigen Beobachtungen, von denen sie sprechen, müssen allerdings besonders geprüft und bewertet werden. Zu deren Wahrheitsgehalt und Sachdienlichkeit können wir aber bisher keine Stellung nehmen. Tatsache ist jedoch, dass bislang kein einziger Todesverlauf einer Person beobachtet werden konnte. Es ist nur festzuhalten, dass einzelne Menschen oder kleine Gruppen ein schneller Tod ohne vorherige Ankündigung ereilte, und zwar überwiegend an öffentlichen, aber abgelegenen oder spärlich besuchten Orten.“

„Was empfehlen sie der Bevölkerung? Kann man sich davor schützen, selbst Opfer zu werden?“, fragte ein weiterer Reporter.

Der Bundesinnenminister entgegnete sichtlich ratlos: „Da bisher weder krankheitsbedingte, noch kriminelle Ursachen gänzlich auszuschließen sind, empfehlen wir ein erhöhtes Maß an Aufmerksamkeit in allen täglichen Lebensbereichen, ohne jedoch in Panik zu verfallen. Hamsterkäufe zum Beispiel sind keinesfalls notwendig. Nehmen sie nur abgepackte Getränke zu sich und Kochen sie Leitungswasser vorsichtshalber ab. Alle Wasserwerke werden innerhalb der nächsten 48 Stunden einer Generalvisite unterzogen. Verzehren Sie landwirtschaftliche Produkte oder auch Selbstangebautes und Gesammeltes wie Pilze immer ausreichend gesäubert und gegart. Über den Fortschritt aller getroffenen Maßnahmen informiert das Bundesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit auf einer Internetsonderseite.

Vermeiden Sie darüber hinaus nach Anbruch der Dunkelheit den Aufenthalt an menschenleeren Orten. Bleiben Sie außerhalb der eigenen vier Wände möglichst immer in Gesellschaft größerer Gruppen, achten aber bitte auf einen Sicherheitsabstand zueinander. Bitte halten sie Türen und Fenster ständig verschlossen. Stellen sie Klimaanlagen insbesondere in Bürogebäuden ab. Auch eine teilweise Verseuchung der Atemluft wird aktuell untersucht. Außerdem wurde eine spezielle Rufnummer eingerichtet, bei der sämtliche sachdienliche Hinweise der Bevölkerung direkt vom Bundeskriminalamt aufgenommen werden. Aber auch die herkömmliche Notrufnummer 110 steht Ihnen zur Verfügung.“

Der Bericht endete und ein Live-Reporter vor den Toren des Bundeskanzleramts war zu sehen. Dieser konnte allerdings mit keinen neuen Informationen dienen und wiederholte nur die eben gehörten Aussagen.

Das erklärt wohl den menschenleeren Park gestern.

Hätte sie die Sendung gestern doch besser nicht abgeschaltet. Welchen Ärger sie sich damit erspart hätte – oder sich noch ersparen hätte können.

Pünktlich um acht Uhr stand Iris in Susans Zimmer. „Guten Morgen.“

Susan fiel fast vom Schreibtischstuhl.

Iris schmunzelte. „Ganz schön schreckhaft bist du.“

Susan fing sich und atmete tief durch. „Von Klopfen hast du wohl noch nie was gehört.“

„Ich hätte auch an der Haustüre klingeln können.“

„Damit hatte ich eigentlich gerechnet. Wie es jeder normale Mensch erwarten würde. Allerdings …“ Susan blickte auf Iris’ Outfit. „Läufst du immer in dieser schwarzen Kutte rum?“

Iris betrachte sich selbst im gesplitterten Spiegel an der Wand. „Gibt es daran etwas auszusetzen?“

Susan schaute sie schief an. „Hast du denn nichts Unauffälligeres auf Lager?“

„Grundsätzlich nicht. Aber ich kann mich ja mal umschauen. Aber jetzt zum Training. Frischen wir als Erstes den Umgang mit Elementarmagie auf. Gehen wir ins Badezimmer und widmen uns der Beherrschung von Wasser.“

Susan atmete entschlossen durch und führte Iris nach nebenan.

„Meine Eltern haben ihr Schlafzimmer und ein eigenes Bad im Erdgeschoss. Wir sollten also ungestört sein, sofern wir nicht zu laut sind.“

„Das sollte kein Problem sein“, beruhigte Iris und stellte den Wasserhahn der Badewanne an. „Fangen wir mit etwas Leichtem an. Forme einen einfachen Fächer.“

„Einen Fächer aus Wasser formen?“, fragte Susan. „Und wie genau?“

„Allein durch deine Gedanken. Keine Zaubersprüche, Beschwörungsformeln oder Zauberstäbe. Ganz allein deine Vorstellungskraft ist entscheidend.“

„O-Kay“, antwortete Susan unsicher. Weil mein Vorstellungsvermögen ja so groß ist.

Susan erinnerte sich an eine Serie um den Zauberer Merlin. Da wurde mit Sprüchen gezaubert. Nur die höchste Stufe der Zauberei, die nur wenige erreichten, kam ohne gesprochene Worte aus. Aber das half Susan hier leider nicht weiter.

Sie blickte auf den Wasserstrahl und konzentrierte sich. Sie stellte sich einen Fächer vor. Zunächst einen kleinen Handfächer, wie man ihn auf einem Jahrmarkt gewinnen konnte. Dann einen größeren, einen schönen aus der japanischen Museumsausstellung, die sie mit der Schule letztes Jahr besucht hatte. Aber Auswirkungen zeigte das nicht einmal im Ansatz. Susans Blick wurde starr. Ihr Körper verkrampfte sich. Aber auch nach Minuten tat sich nichts.

„Du musst dich mehr konzentrieren!“, kam es ungeduldig von der Seite.

Susan fuhr herum. „Ach was! Ich soll mich konzentrieren? Einen besseren Rat hast du nicht zu bieten?“

„Nun gut. Machen wir es einfacher. Versuch erstmal den Wasserstrahl umzulenken. Egal wie. Bring ihn aus der Bahn.“

Susan atmete tief durch und umgriff mit beiden Händen den Rand der Badewanne. Sie erinnerte sich an den Physikunterricht zurück, wie der Lehrer einen Stab an einem Tuch rieb und die statische Aufladung den Wasserstrahl umlenkte.

Susan stellte sich einen Stab vor und brachte ihn in Gedanken dem fließenden Wasser näher. Sie hatte sogar das Molekülmodell von H2O vor Augen und die verschieden geladenen Teilchen. Aber es gelang nicht mal annähernd.

„Das dürfte nicht so schwer sein.“

Susan ließ genervt ab. „Dann mach du es doch vor. Wie soll so ein Wasserfächer ausschauen? Ist das in Andalon Mode?“

„Ich kann dir das nicht vormachen. Ich selbst beherrsche nur Heil- und Unterstützungszauber, aber keine fortgeschrittenen Elementartechniken. Entschuldige. Ich bin davon ausgegangen, dass du uneingeschränkt auf das magische Potential zugreifen kannst, das sich in dem Kristallsplitter befindet. Kein neuer Wächter musste die Grundlagen je neu erlernen, sondern konnte sofort aus dem vollen Umfang schöpfen. Dies hier sollte nur der Auffrischung dienen, um dich mit den Kräften vertraut zu machen. Tut mir leid.“

Susan sah Iris die Enttäuschung deutlich an. Ihr stoisches Lächeln war wie ausradiert. Sorgenfalten bestimmten das beschämt nach unten geneigte Gesicht.

Das ist ja wohl nicht deine Schuld. „Ist Luft denn einfacher zu beherrschen?“

Iris blickte auf. Die Mundwinkel zuckten nach oben. „Wir werden sehen. Komm mit.“

Sie wechselten zurück in Susans Zimmer. Iris zog eine herausstehende Daunenfeder aus dem Kopfkissen und legte sie auf dem Schreibtisch ab. „Versuch die Feder von der Tischkante zu fegen.“

Also gut. Susan atmete tief durch, ging vor der Tischkante in die Hocke und fixierte die Daune.

Sie stupste sie in ihrer Vorstellung an – mehrmals – aber ohne das geringste Ergebnis. Als wäre das Ding festbetoniert. Sie konzentrierte sich weiter – versuchte alles andere um sich herum auszublenden. Nur die Feder hatte sie vor Augen. Doch nichts veränderte sich.

Susan schweifte mit den Gedanken ab. Zweifel kamen auf. Was mache ich hier eigentlich? Ist das alles nicht einfach Humbug?

Sie blickte aus den Augenwinkeln zu Iris, die gespannt neben ihr stand. Wieso vertraue ich der überhaupt? Sollte ich mal im Krankenhaus anrufen, ob ihnen nicht eine Patientin fehlt?

Susan fasste wieder die Daune ins Auge. Diese machte ihr nun einen deutlich größeren Eindruck. Mit weiten Augen betrachtete sie die feinen Härchen an den äußersten Spitzen und erkannte einen winzigen Lufthauch, der sie umspielte. Der Sog war unkontrolliert – ungleichmäßig. Doch dann veränderte sich das Bild. Die Luftlinien glichen sich an und ordneten sich.

„Sie hat sich bewegt!“, rief Iris aus.

Susan sah wieder die gesamte Feder vor sich. Keine Bewegung. Sie blickte auf Iris, ob sie ihr keinen Streich spielte. Aber sie sah kein Zeichen der Belustigung, sondern nur kurz aufgeflammte Begeisterung. „Weiter, weiter."

Susan widmete sich wieder der Feder. Ihr Blick geriet näher an die Spitzen. Die Wirbel waren ungeordnet. In Gedanken griff sie mit beiden Händen in die einzelnen Luftstränge ein und lenkte sie um. Es war ein schwieriges Unterfangen, denn die Stränge umgingen ihre Bemühungen. Immer wieder glitten sie ihr durch die Finger. Susan biss die Zähne zusammen. Sie hatte noch nicht alle Strömungen unter Kontrolle, aber es reichte, um die Feder ins Wanken zu bringen. Diesmal bemerkte Susan die Bewegung selbst und strahlte über das ganze Gesicht. Sie blickte an der lächelnden Iris vorbei, ob nicht doch das Fenster offen stand.

„Weiter!“, spornte Iris an.

Susan ging wieder in die Hocke. Sie tauchte erneut in den Luftstrom ein. Komm schon… Die Aufregung machte sich immer breiter. Susans Herzschlag donnerte durch ihren Körper. Sie lenkte die Luftteilchen nach ihrer Vorstellung und wenig später fegte sie die Feder vom Tisch.

„Ja!“ Susan sprang auf und präsentierte sich Iris stolz.

Diese atmete erleichtert aus. Das Lächeln nahm allerdings ab und mit ihm Susans Glücksgefühl.

„Was ist los? Das ist doch ein Erfolg, oder nicht?“

„Ja schon, aber bei dem geringen Potential brauchen wir mit Erdmagie erst gar nicht zu beginnen.“

Das stieß Susan sauer auf. „Hey! Jetzt schraub deine Erwartungen mal nach unten. Bis eben glaubte ich nicht mal an so was wie Magie.“

„Tut mir leid. Echt. Ich bin sogar erleichtert. Das zeigt zumindest, dass du Zugriff auf den Kristallsplitter hast, wenngleich nur sehr geringen. Aber damit bleibt die Hoffnung, dass wir das Potential steigern können.“

„Motivationsreden sind nicht deine Stärke, hm?“

Iris lächelte schuldbewusst.

Das kann ja heiter werden.

„Was als Nächstes?“, trieb Susan sie beide an, bevor die Stimmung noch weiter kippte.

Iris blickte sich um, zog einen Bleistift aus dem Stiftehalter und legte ihn auf die Tischfläche. „Wie wär’s hiermit?“

Es erforderte mehr Zeit und Anstrengung, aber auch den Stift brachte Susan nach wenigen Versuchen dazu, vom Tisch zu rollen. Doch je schwerer die Objekte, desto ineffizienter wurde Luftmagie. Für ihren Fernseher hätte sie schon einen Minitornado erzeugen müssen, um ihn anzuheben. Daher befassten sie sich als Nächstes mit Telekinese. Gegenstände direkt beeinflussen zu können war allerdings deutlich kräftezehrender, als die umgebende Luft zu steuern. Und so war nach dem Versuch, eine Münze schweben zu lassen, schnell die erste Pause fällig.

Susan wischte sich die feuchte Stirn am Ärmel ab und ließ sich auf ihr Bett fallen. Sie nahm die Gelegenheit wahr, ihre Gedanken zu ordnen.

„Bezüglich Celes“, stieß Susan ein Thema an, das ihr gestern Abend noch in den Sinn gekommen war. „Du sprachst davon, dass sie und du Freundinnen wart. Wie kann das sein, wenn der Krieg ein paar tausend Jahre zurückliegen soll?“

„Ich lebte damals mit den Wächtern zusammen auf Andalon“, antwortete Iris knapp, während sie sich im Zimmer nach weiteren Versuchsobjekten umsah.

„Dann bist du nach dem Untergang des Reichs in diese Zeit gesprungen?“

„Nein, ich kann keine Zeiten wechseln. Ich habe die letzten Jahrtausende die Entwicklung der Menschheit verfolgt und studiert.“

„Du willst also damit sagen … Wie alt bist du?“, fragte Susan ungläubig.

„Dazu kann ich keine vernünftigen Angaben machen. In meinem Volk gibt es kein Lebensalter.“

„In deinem Volk? Von welchem Volk redest du? Stammst du denn nicht von Andalon?“

„Nein. Weder bei Andalon noch irgendeinem anderen Teil dieser Welt handelt es sich um meine Heimat.“ Iris atmete kurz durch, bevor sie fortfuhr. „Ich gehöre einem Volk an, die sich selbst als Weltenwanderer bezeichnet. Wir studieren fremde Völker und begleiten ihre Geschichte. Dabei passen wir unser Aussehen immer der Erscheinung der jeweiligen Bewohner an, um nicht aufzufallen. Mit anderen Worten: Du siehst hier nicht mein ursprünglich Äußeres – und ich habe auch nicht vor, dir meine wahre Gestalt zu zeigen, um einer eventuellen Frage deinerseits zuvorzukommen. Ich habe im Laufe der Zeit mein menschliches Antlitz lieben gelernt.“

Susans verblüfftes Gesicht nahm kurz den Ausdruck von Enttäuschung an, bevor Iris unbeirrt weiter sprach. „Grundsätzlich war es nie die Absicht meines Volkes, uns in die Entwicklung anderer Welten einzumischen. Der Krieg um Andalon allerdings hatte seinen Ursprung nicht auf der Erde. Die Herrscherin der Finsternis gelangte aus einer weit entfernten Welt hierher und fiel mitunter zuerst in Andalon ein. Ich fühlte mich dazu verpflichtet, einzuschreiten und die Wächter zu unterstützen. Leider wurde ich in der entscheidenden Schlacht außer Gefecht gesetzt, sodass ich mich nicht an die Geschehnisse danach erinnern kann. Das Erste, dessen ich mir bewusst wurde, war, wie ich über das Schlachtfeld schritt, auf dem die Herrscherin versiegelt worden war. Ihr gegenüber fand ich die erloschenen Kristalle der Wächter neben ihren toten Körpern und unzähligen weiteren Leichen.“

Die Erzählung lag Susan schwer im Magen.

„Geht’s dir gut?“, fragte Iris besorgt. „Ist dir das unangenehm, dass ich kein Mensch bin?“

Susan schaute Iris prüfend an. „Nein, das ist es nicht. – Naja. Schon auch. Immerhin bist du eine Außerirdische. Sollte mir das nicht unangenehm sein? Oder zumindest einen Schreck einjagen? Müsste ich sowas nicht der Polizei melden?“

Iris Augenbrauen zogen sich zusammen.

„Werd ich schon nicht.“ Als würde mir das ohnehin jemand glauben. „Es ist nur – diese Verantwortung. Dieser Krieg. Ich weiß nicht, ob ich dem gewachsen bin.“

„Mach dir darüber keine Gedanken“, versuchte Iris, ihre Sorgen zu zerstreuen. „Wir können im Moment nicht mehr machen, als trainieren.“

Susan blickte in Iris’ entschlossenes Gesicht. Auch wenn sie kein Mensch war, strahlte Iris eine beeindruckende Natürlichkeit aus. Sie rief ein Gefühl von Vertrauen hervor, das Susan antrieb. Sie nickte und erhob sich vom Bett.

Der wundervolle Geruch von Schweinebraten stieg Susan in die Nase. Sie sah auf die Uhr.

„Es ist gleich Mittag.“ Sie blickte hoffnungsvoll auf Iris, während ihr das Wasser im Mund zusammenlief.

„Dann stärke dich und wir sehen uns in zwei Stunden wieder. Wir treffen uns am Waldrand des Bergrückens dort drüben.“ Iris zeigte nach draußen. „Ich habe einen Ort gefunden, der gut geeignet für dein Schwerttraining ist.“

Susan freute sich auf ihr zweitliebstes Gericht und hätte ansonsten zu allem ja gesagt, solange sie die Mahlzeit pünktlich zu sich nehmen konnte.

„Äh, magst du mitessen?“, erinnerte sich Susan noch an ihre Manieren, aber ihr Blick fiel wieder auf Iris’ Kutte. Sie so als kurzfristigen Besuch anzukündigen fiele etwas schwer. „Ich kann dir was mit hochbringen.“

„Das ist nicht nötig, vielen Dank. Ich bereite derweil das Gelände vor.“

„Du weißt nicht, was dir entgeht. Meine Mutter kocht wie von einem anderen Stern.“

Iris schmunzelte. „Von welchem denn genau? Vielleicht kenne ich ihn.“

Susan verstand im ersten Moment nicht. Doch dann begannen beide zu lachen.

 

 

Kapitel 5 - Aller Anfang …

Iris führte Susan vom Waldrand aus auf den bewaldeten Bergrücken. Sie gelangten an eine Stelle, an der die Bäume weiter auseinanderstanden. Susan fand mehrere Gebilde aus Altholz vor, die wie Vogelscheuchen aufgebaut waren.

Iris übergab ihr Celes’ Schwert und wies sie an, die Holzgegner damit anzugreifen.

„Aber bitte pass darauf auf. Die Waffen der Wächter waren ein Geschenk von Elfenkönig Oberon persönlich. Nicht, dass es möglich sein dürfte, sie zu zerstören – immerhin sind sie aus Elfenkristall geschmiedet. Mit nichts auf dieser Welt vergleichbar.“

Ehrfürchtig blickte Susan auf das einzigartige Od in ihren Händen und schwang es mehrere Male um sich. Es war leichter als erwartet und lag angenehm in der Hand. Anders, als die klobigen Eisenschwerter auf dem jährlichen Mittelaltermarkt, die sie mit zwei Händen kaum anheben konnte. Oder machte sich das Gewicht durch die Verbindung mit dem Kristallsplitter weniger bemerkbar?

Sie begab sich in eine Beinstellung, die ihr als Kampfpose geeignet schien, und atmete durch. Sie hob auf einen der Dummys ein und sprengte Borke von den Stämmen. Ein weiterer Hieb schlug einen Ast ab. Bei den stärkeren Zweigen blieb die Klinge mehrmals stecken.

Es fühlte sich komisch an – fremd.

„So hab ich mir das Schwerttraining aber nicht vorgestellt.“ Susan ließ die Schultern hängen. „Kannst du nicht meine Trainingspartnerin sein? Mit Holzschwertern für den Anfang?“

„Ich bin keine Schwertkämpferin“, entgegnete Iris.

„Ich etwa? Halte ich es überhaupt richtig?“

„Es sieht zumindest nicht verkehrt aus. Tut mir leid. Ich weiß wirklich viel über Menschheitsgeschichte, aber die Kriegskunst ist da eher ein blinder Fleck. Die Menschen beherrschten es schon immer gut genug, sich zu bekämpfen. Den Wächtern wohnte ich nur bei wenigen Trainingseinheiten bei.“

„Ist ok. Ich schau mir heut Abend ein paar Tutorials oder Dokus an. Vielleicht hilft mir das ja weiter. Gibt es sonst etwas, was ich alleine hinbekomme?“

„Wir könnten deine körperliche Kraft testen. Mal sehen, aus wie viel Potential du hierbei schöpfen kannst.“

Susan interessierte es tatsächlich sehr, wie stark sie geworden war. Doppelt so stark, oder gerade mal so, dass man es merkte? Sie nahm sich einen der Äste vor, den sie mit dem Schwert nicht zerteilen konnte. Mit beiden Händen umklammerte sie die Enden. Doch bevor sie versuchen konnte, ihn zu biegen, zerbarst er unter ihren Handflächen.

Susan drehte sich ungläubig zu Iris um, die ebenso verdutzt dastand.

„Der ist aber nicht morsch, oder?“, fragte Iris.

Susan schüttelte den Kopf. „Danke für deine Zuversicht.“

Verstimmt nahm sie sich einen weiteren Ast vom Umfang ihres eigenen Oberarms. Sie umklammerte ihn weniger kräftig und bog ihn übers Knie. Ohne Anstrengung folgte das Holz ihrer Bewegung und splitterte.

Susans Augen strahlten. „Sorry Iris, aber das ist schon etwas geil.“

Was sie wohl mit dieser Stärke alles anfangen könnte? Holzfäller würde sie nicht werden wollen, aber allein die Möglichkeit…

„Aber wieso kommst du dann mit der schärfsten Klinge der Welt nicht da durch?“

Susans Lächeln erstarb von einem Moment auf den anderen. Die Begeisterung war bis auf den letzten Funken ausgelöscht. Sie machte auf dem Absatz kehrt und stampfte davon. Sie platzte fast vor Wut.

Was ist ihr Scheißproblem?! So lass ich mich nicht behandeln! Gerade als sie dachte, einen Draht zu dieser Frau gefunden zu haben.

Die Luft vor ihr verschwamm, als spiegelte sich der Wald in Wellen einer aufrecht stehenden Wasseroberfläche. Im nächsten Moment stand Iris vor ihr, die Arme beschwichtigend von sich gestreckt.

„Tut mir leid, tut mir leid, tut mir leid – ehrlich.“

Unverhofft wurde Susan zum dritten Mal Zeuge von Iris’ Teleportation, nachdem sie sich für die Mittagspause und gestern Abend getrennt hatten.

Sie blieb stehen und betrachtete Iris schnaubend.

„Und du warst Celes’ Freundin? Ihr Anspruch war wohl nicht besonders hoch.“

„Ich war seitdem nicht mehr wirklich in menschlicher Gesellschaft. Ich hab meist nur noch aus der Entfernung beobachtet. Meine Umgangsformen sind offenbar eingerosteter, als ich dachte. Ich gelobe Besserung.“

Susan beruhigte ihre Atmung und drängte den Ärger weg.

„Aber lass uns für heute Schluss machen. Ich muss mir über die Situation ins Klare kommen. Meine Erwartungen waren völlig falsch – und das ist nicht im Geringsten dein Fehler, Susan. Sehen wir uns morgen nach der Schule wieder hier?“

Susan nickte zögerlich. Auch sie hatte sich den ersten Trainingstag anders vorgestellt. Ihre anfängliche Euphorie war am Boden, wenn nicht sogar darunter begraben.

„Ich kenne jemanden im Leichtathletikteam meiner Schule.“ Susan versuchte Iris nach ihrer Entschuldigung entgegenzukommen. „Vielleicht kann ich mir über sie ein paar Sportgeräte leihen. Oder Ausrüstung von einem Kampfsportverein.“

Iris lächelte. „Das ist eine gute Idee. Soll ich dich nach Hause bringen?“

„Du meinst mit einer Teleportation? Nein, danke. Ich gehe lieber zu Fuß zurück.“

Allein bei dem Gedanken drehte sich Susan der Magen um. Mal abgesehen von der angeknacksten Vertrauensbasis, war sie nicht dazu bereit, sich in ihre Einzelteile zerlegen zu lassen. Ohne zu wissen, wie es tatsächlich funktionierte, stellte sie sich das Beamen aus Star Trek vor, das laut einem YouTube-Video unter bestimmten Voraussetzungen realistisch möglich sei. Doch auch ohne die Teleportation lag ihr dieser Tag schwer im Magen.

„Bis morgen dann“, verabschiedete sich Susan unterkühlt. „Ich schaffe es vielleicht so bis 14 Uhr?“

„Das ist gut genug. Ich bin hier.“

Susan machte sich auf den Weg zurück, als nach wenigen Schritten das Handy in ihrer Hosentasche vibrierte.

„Hallo, mein Stern. Hast du einen entspannten Tag?“

Ach, wenn er wüsste. Wenn ihre Lehrerin nur etwas sympathischer wäre. Bislang zeigte sie das Einfühlungsvermögen eines Ziegelsteins, der ihr mehrmals gegen den Kopf geschmissen wurde. Doch was erwartete Susan? Iris war kein Mensch. Das hatte sie mehr als deutlich vermittelt.
 

Iris wartete an Ort und Stelle, bis Susan außer Sicht- und Hörweite war, bevor sie lautstark ein erbostes Grollen entweichen ließ, das sich die letzten Sekunden angestaut hatte. Ich bin wohl der kläglichste Mentor aller Zeiten. Sie nahm die Hände vors Gesicht und versuchte sich zu beruhigen. Doch stattdessen verfiel sie in Panik. Selbst wenn es gelänge, alle Wächter zu sammeln und kampfbereit zu bekommen, …

Iris verschwand und rematerialisierte sich in einer stockdusteren Höhle. Sie konnte darin kaum aufrecht stehen oder sich umwenden, so eng war diese Felsspalte. Ihre rechte Handfläche glimmte orangefarben auf. Das geringe Licht spiegelte sich an den feuchten Wänden und vermochte den winzigen Raum nur halbwegs auszuleuchten.

Daran angelehnt standen verschiedenartige Waffen. Sowohl mehrere Ausführungen von Schwertern als auch ein Stab und ein ringförmiges Gebilde. Vor ihr lagen nur noch acht der Lebenssplitter. Alle gaben sie nicht das geringste Funkeln von sich. Nicht mal ihre ursprüngliche Farbe ließ sich von den aschfahlen Kristallen ablesen. Darüber hing eine filigrane Halskette, welche Iris vor sehr langer Zeit als Anwärterin ausgezeichnet hatte. Sie nahm den Anhänger zwischen Daumen und Zeigefinger und strich sehnsüchtig über das auf dem Kopf stehende gleichseitige Dreieck.

„Oh, Ravi. Bin ich wirklich noch so naiv?“, sprach Iris zu sich selbst. „Wie konnte ich glauben, dass sich mir hier eine zweite Chance eröffnen würde. – Was würde ich für nur einen einzigen weiteren Rat von dir geben.“

Iris’ Blick verlor sich in der Mitte des Dreiecks. „Ich habe Angst, weißt du? Angst, dass ich es vermassle. Dass ich letztendlich der Grund sein werde, dass dies nicht funktioniert.“

Das Glimmen ihrer Hand versiegte. Sie schloss die Augen, lehnte sich nach vorne und bettete den Kopf auf die verschränkten Unterarme.

 

 

Kapitel 6 - Zweiter Anlauf

Mit gemischten Gefühlen schritt Susan auf den Waldrand zu. Einerseits hoffte sie, Fortschritte zu machen und zu sehen, wozu sie tatsächlich in der Lage war. Andererseits besaß sie dieselbe Nervosität wie vor einer Schularbeit. Sie mochte die Schule im Allgemeinen schon nicht und jetzt besuchte sie eine zweite, bei einer noch gehässigeren Lehrerin als Frau Schubert.

Auf dem Rücken trug Susan einen Rucksack mit drei Eisenkugeln, Klebeband und zwei Flaschen Wasser. Daran geschnallt ein Bambusschwert und einen Speer. An ihren Schultern zerrten bestimmt zwanzig Kilo, doch das trieb Susan keinen einzigen Tropfen Schweiß auf die Stirn – stattdessen aber ein Lächeln auf die Lippen. Sie fand Gefallen an ihrer gesteigerten Körperkraft.

„Hallo Susan“, begrüßte sie Iris bereits aus der Entfernung. „Ich hoffe, du hattest bisher einen guten Tag.“

Sie strahlte ihr förmlich entgegen.

Bisher... „Alles gut soweit“, antwortete Susan eher verhalten. Lieber die Erwartungen niedrig halten.

„Ich sehe, du warst erfolgreich mit dem Leihen von Trainingsgerät?“

„Ja, ich hab drei verschieden große Kugeln vom Kugelstoßen mitgenommen, weil ich nicht wusste, welche besser für mich geeignet ist. Vielleicht kann man sie auch irgendwie kombinieren. Ich weiß nicht.“

„Die lassen sich bestimmt alle gut verwenden“, meinte Iris überschwänglich.

Die kotzt ja gleich Regenbögen, so fröhlich wie die ist. Mal sehen, wie lange das anhält.

„Du hast hier aber auch einiges erweitert“, stellte Susan fest.

In verschiedenen Entfernungen hingen alte Dart-Scheiben an den Bäumen und Pfeile lagen auf einem Baumstumpf. Auch Seilkonstruktionen erkannte Susan, deren Zweck sich ihr aber im Moment nicht erschloss.

„Ich hatte da so ein paar Ideen“, gab Iris mit einem Lächeln zu.

„Also, womit fangen wir heute an?“

„Ich dachte, mit etwas Praktischem, was dir vielleicht gefallen könnte.“

Susan kniff die Augen zusammen, als Iris auf Celes’ Schwert zeigte.

„Für die Elfenwaffen der Wächter gibt es keine Tragehilfen oder Schwertscheiden“, erläuterte Iris. „Weil man sie gar nicht braucht. Aber nicht nur die Waffen. Es war den Wächtern möglich, auch jedes andere Objekt verschwinden und wieder erscheinen zu lassen – ähnlich einer Teleportation – sobald sie es nur einmal in Händen hielten. Zugegeben, dies stellte in den alten Tagen bereits eine sehr fortgeschrittene Art der Magie dar, die nur die Wächter beherrschten. Im Gegensatz zu ihren Gefährten fiel Celes die Anwendung äußert einfach. Aber das soll keinen Druck auf dich auslösen. Ich dachte mir, versuchen wir es doch mal.“

Susan nahm mit zweifelndem Blick auf Iris das Schwert auf. Iris blickte ihr mit Zuversicht entgegen.

„Also gut. Mit einer oder mit zwei Händen?“

„Wie du dich besser fühlst. Schließ die Augen und konzentriere dich nur auf das Gefühl in deiner Handfläche.“

Susan wendete das Schwert in ihrer rechten Hand und prägte sich den mit Laubblättern verzierten Griff so gut wie möglich ein, bevor sie die Augen schloss und tief einatmete. Sie betastete jede einzelne Rille mit den Fingern und übte unterschiedlichen Druck aus. Susan atmete ein weiteres Mal tief durch. Sie packte nochmal etwas stärker zu, doch sie fasste ins Leere.

„Unglaublich!“, rief Iris aus.

Susan öffnete die Augen und konnte das Schwert weder in der Hand noch um sich herum feststellen. Sie blickte in das begeisterte Gesicht von Iris, die drauf und dran war, ihr um den Hals zu fallen. Sie ließ sich von der Freude anstecken, obwohl sie nicht wirklich verstand, wie ihr das gelang.

„Ok, ok. Aber hol das Schwert erst zurück“, bremste Iris vor allem sich selbst. „Wenn das nicht gelingt, haben wir nämlich ein Problem.“

Und damit war Susans Euphorie dahin. Super. Unter Druck arbeite ich am besten.

Doch Susan ließ sich den Dämpfer nicht anmerken. Sie schloss die Augen und formte eine hohle Hand. Sie versuchte, sich zu erinnern, wie breit der Griff war, als sich bereits die Rillen in ihre Haut drückten.

Susan öffnete die Augen und erkannte verschwommene Bewegungen, wie von heißer, sirrender Luft. In ihrer Mitte das noch halbtransparente Schwert, das sich rematerialisierte.

„Susan! Das war hervorragend!“

Iris war kaum zu halten. Sie strahlte über das ganze Gesicht und sprang von einem Bein aufs andere.

Susan konnte sich der Begeisterung nicht entziehen. Wieso sollte sie auch? Sie stieg in Iris’ Freudentanz ein.

Stolz strahlte inmitten ihrer Brust. Nicht mal der Vorgang selbst fühlte sich besonders an, sondern das Gefühl, tatsächlich etwas Bedeutendes geschafft zu haben.

„Nochmal“, holte sie sich auf den Boden zurück.

Nicht, dass es ein glücklicher Zufall war.

Sie stand still und schloss erneut die Augen. Aber nur für einen Moment. Bereits bei dem Wunsch in ihrem Kopf, das Schwert verschwinden zu lassen, löste es sich durch das Sirren der Luft auf. Gleich darauf holte sie es wieder zurück – diesmal ohne die Augen zu schließen.

Weitere Versuche folgten, in denen die Dauer des Vorgangs von mal zu mal abnahm. Dabei merkte Susan nicht, dass – so einfach es sich auch gestaltete – es ihr doch einiges an Kraft abverlangte. Schweiß tropfte ihr von der Nase.

„Was als Nächstes?“, fragte sie, während sie sich mit der Hand über die Stirn fuhr.

„Wie wärs mit einer der Kugeln?“ Iris’ Stimme klang entspannter als bisher. Auch ihre Körperhaltung schien deutlich unverkrampfter als gestern.

Ich hatte mir zwar etwas Neues vorgestellt, aber gut. Susan nahm die schwerste Kugel mit sechs Kilogramm auf. Sie meinte, die Kugel ebenso schnell verschwinden lassen zu können, wie inzwischen das vertraute Schwert. Doch nun musste sie sich auf die neue Form, das neue Fühlen, einstellen. Die Oberfläche war nicht glatt, sondern uneben, kalt. Sie atmete tief ein. Die Luft sirrte um die Kugel herum, welche kurz darauf verschwand. Einen Moment später hielt Susan sie wieder in der Hand. Nach zwei weiteren Durchgängen hatte sie auch dieses Objekt gemeistert. Sie sah Iris erwartungsvoll an.

Iris lächelte ihr zu. „Gefällt mir.“

Susan nickte freudig zurück.

„Brauchst du eine Pause?“

„Nein, lass weitermachen.“ Susan wischte sich erneut den Schweiß von der Stirn.

„Dann zeig mal, wie weit du die Kugel stoßen kannst.“

Susan blickte die Kugel an und nahm sie an den Hals, wie im Schulunterricht. Sie erinnerte sich, dass es auf den Winkel ankam, in dem man sie wegschleuderte. Einen Nutzen hatte sie durch das Wissen aber bislang nicht ziehen können. Im Schulsport war sie weit davon entfernt mit der geborenen Leichtathletin Becki mitzuhalten. Wie viel Power sie immer in ihre Stöße brachte.

Susan stellte sich mit geschlossenen Augen Becki vor, wie sie tief in die Knie ging und tat es ihr möglichst gleich. Sie spannte die Muskeln an. Mit einer Drehung nach vorne stieß sie die Kugel schräg nach oben. Diese schoss durch die Luft und prallte in etwa zwanzig Metern Entfernung und zehn Metern Höhe gegen einen massiven Baum, von dem ein Nadelregen abging. Die Kugel fiel herab und bohrte sich mehrere Zentimeter in den Waldboden.

Susan verzog das Gesicht. „Oha. Den wollte ich nicht treffen.“

„Die Kugel flog weit genug“, kommentierte Iris. „Sonst hätten wir uns schwergetan, sie wiederzufinden.“

„Ach ja?“ Susan blickte auf ihre offene Hand. Gleich darauf hielt sie die Kugel darin.

Sie schaute auf Iris, die freudig entgegnete: „Sehr gut. Kombination und Einfallsreichtum sind sehr wichtig.“

Susan lächelte zufrieden. Das warme Gefühl in ihr wurde größer und strahlte fast in ihren ganzen Körper.

„Deine Arme sind schon mal gegen jeden Zweifel erhaben. Wie sieht es mit den Beinen aus?“

„Lauftraining? Du willst meine Zeit doch wohl nicht stoppen?“

Susan hasste es, auf Zeit zu Laufen. Sprints waren ja noch in Ordnung, aber insbesondere Dauerläufe auf der Rundbahn empfand sie als Graus.

„Ich habe keine Stoppuhr dabei“, beruhigte sie Iris. „Laufen ergibt auch nur bis zu einer bestimmten Geschwindigkeit Sinn. Springen ist deutlich effektiver und kräfteschonender.“

Susan atmete auf. Sie war gespannt. Mit dem Weitspringen konnte sie Becki zwar auch nicht das Wasser reichen, aber da stellte sie sich wenigstens nicht ganz so wie der erste Mensch an. Doch hier ging es nicht um einzelne Sätze nach gehörigem Anlauf.

„Fangen wir erstmal klein an. Ich will nicht, dass du gegen den nächsten Baum knallst.“ Iris lächelte.

Susan schmunzelte zurück. „Wie fürsorglich von dir, danke.“

„Ich habe mir vorgenommen, meine Schützlinge vor Schaden zu bewahren“, brüstete sich Iris übertrieben. „Also, stell dich hierhin und spring aus dem Stand hierher.“

Iris zeichnete etwa einen Meter entfernt mit einem Stock eine Linie in den Waldboden. Susan gehorchte und machte den Hopps, ohne sich sonderlich zu konzentrieren.

Iris zeichnete eine weitere Linie, etwas weiter entfernt. Susan überwand auch diese Strecke ohne weiteres. Schnell gelangten sie auf eine Entfernung von zehn Metern. Iris hätte schon laufen müssen, um Susan nicht zu lange auf den nächsten Sprung warten zu lassen. Stattdessen teleportierte sie sich von einem Ort zum nächsten, immer weiter um das Trainingsgelände herum.

Wie krass! Wenn sie das nur Tina hätte zeigen können. Oder ihrer Sportlehrerin… Sie konnte es kaum glauben, wie weit sie zu springen vermochte.

Susan wurde ehrgeiziger. Sie steigerte ihr Tempo und versuchte, Iris mit dem folgenden Sprung einzuholen, bevor sie mit dem Zeichnen des Strichs fertig war. Aber auch Iris wurde schneller. Inzwischen waren die Entfernungen so groß, dass Susan sich erst umsehen musste, wo Iris als Nächstes aufgetaucht war. Und so hatte sie bereits mehrere Stationen verpasst.

Iris erschien direkt neben ihr und legte die Hand auf Susans Schulter. „Das reicht fürs Erste.“

Susan atmete schwer und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht, während Iris’ Haut vollkommen trocken war.

„Dies ist ein guter Zeitpunkt für eine Pause. Trink etwas. Danach schauen wir uns die Feuermagie an.“

Feuermagie. War das vielleicht nicht noch etwas früh?

Susan nickte und sprang mit drei kleineren Sätzen zurück ins Trainingsgelände. Sie wischte sich nochmal über die Stirn und nahm eine Wasserflasche aus dem Rucksack.

Bisher macht das wirklich Spaß. Beim Volleyball wäre ich mit den Kräften sicher ein Ass. Meine Aufschläge wären vernichtend. Susan lachte dämonisch in sich hinein.

„Ich beginne erst mal mit der Erklärung“, leitete Iris kurz darauf das Ende der Pause ein. „Setz dich.“

Susan nahm auf einem moosbewachsenen Felsbrocken Platz und blickte wissbegierig aber auch etwas nervös zu Iris. Waren sie in einem Wald nicht etwas fehl am Platz, um mit Feuer zu experimentieren?

„Bei Feuermagie handelt es sich um eine vollkommen andere Art von Elementbeherrschung. Anders als Erde, Luft und Wasser ist Feuer kein allgegenwärtiger Stoff. Man kann zwar das Auftreten von Flammen durch die Verbrennung von Gasen forcieren, aber Feuermagie erschafft das Element gänzlich aus sich selbst heraus. Durch Luftmagie kann man das Feuer zusätzlich schüren, aber von der Qualität des initialen Funkens hängt die endgültige Stärke des Feuers ab. Wie dieser Funke allerdings entsteht, ist bei jedem Wächter unterschiedlich, sogar von Generation zu Generation, unabhängig vom jeweiligen Lebenssplitter.“

Susan hing bis eben euphorisch an Iris’ Lippen, doch der letzte Satz ließ ihre Zuversicht schwinden. Woran sollte sie sich denn dann orientieren?

„Von Celes weiß ich zumindest, dass sie sich stets eine einzelne Fackel inmitten vollkommener Dunkelheit vorstellte, um den Funken in die reale Welt zu holen.“

Na, immerhin etwas. „Gut, dann versuche ich das als Erstes“, sprach sie nicht nur sich Mut zu, sondern auch Iris. Susan erkannte, dass es Iris selbst nicht behagte, mit so wenig Praxiswissen zu glänzen. „Am besten auch wieder klein anfangen? Ich will nicht den ganzen Wald abfackeln. Mit Wassermagie sieht es nämlich auch noch nicht so rosig aus.“ Susan zwinkerte Iris zu.

„Ja, ich weiß.“ Iris lächelte zurück. „Notfalls kann ich das Feuer mit einer Barriere eindämmen und ersticken. Aber schau hier drüben. Ich hab ein Häufchen trockenen Holzes aufgebaut. Ein Lagerfeuer kann sicher mal von Nutzen sein.“

Susan setzte sich im Schneidersitz dem Bündel gegenüber und blickte tief hinein. Sie prägte sich die einzelnen zu einer Pyramide gerichteten Ästchen ein, wie die Rillen ihres Schwertgriffs und schloss dann die Augen. Sie stellte sich eine Fackel vor. Das Feuer loderte gleichmäßig an dem Stock. Rot und Gelb umzüngelten sich gegenseitig und stießen an der Spitze auseinander. Susan spürte die Wärme, die von der Fackel ausging. Es fühlte sich so an, als würde die Hitze nicht nur in ihren Gedanken zu spüren sein.

Susan öffnete gespannt die Augen – doch nichts. Nicht mal ein Glimmen oder ein Rauchfaden war zu erkennen.

Mist! – Naja, es kann nicht alles beim ersten Versuch klappen. Auch Luft konnte ich erst nach mehreren Anläufen beeinflussen.

Sie positionierte ihre offenen Handflächen um das Häufchen und schloss die Augen. Die Fackel in ihren Gedanken brannte weiter, während sie ruhig ein- und ausatmete. Susan blickte noch tiefer in das Feuer. Ihr Blick wurde langsam hineingezogen. Es war ihr, als wäre sie von den züngelnden Flammen umgeben. Sie spürte die Hitze an ihrer Kleidung, an ihrer Haut – in der Luft, die sie einatmete. Susan öffnete die Augen, doch kein Anzeichen eines Feuers.

Das gibt’s doch nicht. Sie legte die Hände nun direkt auf den kleinen Holzstapel. Vielleicht brauchte sie ja unmittelbaren Kontakt, wie beim Schwert oder der Kugel.

Susan presste die Augenlider aufeinander und konzentrierte sich wieder auf die Fackel. Sie stand inmitten der Flammen. Ihre Muskeln spannten sich an. Ihr Kopf sank tiefer – näher an den Holzstapel heran. Sie spürte die trockenen Äste an den Fingern und ertastete jede Vertiefung der Rinde und jede Faserung des Holzes. Susan schritt mit den Flammen um sich herum auf das Häufchen zu. Sie kamen sich näher – sie berührten einander.

„Susan“, hörte sie weit entfernt ihren Namen.

Sie riss die Augen auf. – Nichts. Verdammt!

„Das reicht für heute“, hörte Susan Iris vage von der Seite her.

„Nein, ich will noch einmal.“

„Susan!“ Iris’ Stimme drang jetzt erst wirklich zu Susan durch.

Susan blickte zu Iris auf und erkannte ihr besorgtes Gesicht. Für einen kurzen Moment dachte Susan, die Sorge galt ihrem Scheitern. Doch nun bemerkte sie, dass sie schweißgebadet auf dem Waldboden hockte. Ihre Finger waren verkrampft. Und es wurde bereits dunkel.

„Wie – wie lang sitz ich schon hier?“ Susans Kehle war staubtrocken.

„Zwei Stunden vielleicht seit dem ersten Versuch?“

Susan schaute Iris entgeistert an. Was?!

„Ich bemüh mich seit einer halben Stunde, dich zu wecken. Ich hab mir Sorgen gemacht. Geht’s dir gut? Kannst du aufstehen?“

Susan blickte sich unbeholfen um. Arme und Rücken schmerzten. „Ich glaube, meine Beine sind eingeschlafen.“

„Lass mich dir aufhelfen.“ Iris nahm ihren linken Arm.

Neben Iris’ Händen ergriff Susan auch etwas anderes und strömte bis in ihren Kopf. Für einen kurzen Moment konnte sie ein abgrundtiefes Gefühl von Schuld spüren. Doch bevor Susan es einordnen konnte, war es verschwunden.

Iris zog sie sachte nach oben. Susans Beine lösten sich aus dem Schneidersitz. Ein unangenehmes Kribbeln breitete sich aus. Kurz darauf kehrte die Wärme in die Beine zurück und sie konnten Susan wieder einigermaßen stützen. Doch ihr gesamter Körper war ausgelaugt.

So muss man sich nach einem Marathon fühlen.

„Ich bring dich nach Hause.“

„Nein, nein“, wehrte Susan ab. „Das geht gleich wieder. Ich kann schon selbst laufen.“

„Susan, ich hab dich auch vom Park aus mit einer Teleportation nach Hause gebracht.“

„Ich bin aber nicht bewusstlos. Also nein. Kein Teleportieren. Gib mir nur was zu Trinken, dann geht’s gleich wieder.“

„Und wie willst du deinen Eltern deinen Zustand erklären?“

Susan blickte auf ihre Uhr. „Mein Vater ist auf Geschäftsreise und meine Mutter mit einer Freundin unterwegs.“

Iris setzte sie auf einem Felsbrocken ab und schüttelte den Kopf. „Du Sturschädel.“

Susan lächelte kraftlos. „Mein zweiter Vorname.“

Iris’ besorgtem Blick nach war sie im Moment alles andere als für Witzchen zu haben.

Susan nahm die von Iris gereichte Wasserflasche an die Lippen und leerte sie in einem Zug. Sie atmete tief durch, beugte sich nach vorne und stützte sich mit den Unterarmen auf den Knien ab. Die leere Flasche glitt Susan aus den Fingern und schlug sanft auf dem Waldboden auf. Susans Kopf erhob sich erschöpft in Richtung Iris, die sie immer noch mit in Sorge gelegten Falten auf der Stirn im Auge behielt. „Darf ich dich etwas fragen?“

Iris’ Augenbrauen hoben sich. „Klar.“

„Wieso machst du das? Sorgst du dich denn nicht um dich selbst, um deine eigene Heimat? Wieso bist du immer noch hier?“

Iris schaute Susan mit großen Augen an. Sie hatte vielleicht mit etwas anderem gerechnet. Womöglich Fragen über Celes und die Wächter, die Übungen, die bevorstehenden Kämpfe. Klang es zu harsch? Dass sie sich rechtfertigen sollte?

„Du musst das nicht beantworten“, versuchte Susan zurückzurudern.

„Nein, schon gut.“ Iris nahm den Blick von Susan und starrte auf den von Nadeln und vertrockneten Blättern bedeckten Boden. „Wieso bin ich immer noch hier? – Eine gute Frage eigentlich. Weißt du, ich würde gerne sagen, dass ich mich an diese Welt gewöhnt habe. Ihr Menschen seid eine äußerst interessante Art zu studieren. Doch ihr wiederholt eure Fehler immer und immer wieder, egal wie höher ihr euch entwickelt. Ich hätte schon längst weiterziehen müssen. Aber ich blieb. Vielleicht aus Angst vor den Kreaturen. Hier auf der Erde waren sie besiegt. Auf anderen Welten, auf die sie einfielen, nicht. Vielleicht habe ich mich hier nur versteckt. – Doch jetzt sind sie zurück und ich immer noch da. In der Lage zu helfen.“ Iris’ Blick kreuzte sich wieder mit Susans. „Dir zu helfen.“

Susan verspürte eine schnell aufkommende Wärme in sich. Zuerst stechend, mitten ins Herz. Doch dann formte sich daraus eine tiefe Dankbarkeit, die sich langsam in ihrem Körper ausbreitete. Was wäre wohl geschehen, wenn Iris sie nicht im Park gefunden hätte? Wann hätte sie selbst ihre Kräfte entdeckt?

Mit Iris war sie in der glücklichen Position sie zu testen, sich damit vertraut zu machen und den Sinn dahinter zu verstehen. Ohne Iris’ Anleitung hätte sie womöglich jemanden verletzt. Chris bei einer Umarmung zerquetscht. – Susan schüttelte es bei dem Gedanken.

„Und seitdem bist du hier allein?“

Iris nickte. „Nach dem Untergang Andalons ging ich keine Bindung mehr zu Personen ein und offenbarte mich niemandem mehr. Ich weilte im Verborgenen und interagierte mit Menschen nur aufs nötigste.“

Susan mochte sich gar nicht vorstellen, wie das sein musste. Sie selbst brauchte hin und wieder einen Tag, an dem sie nichts und niemanden sehen wollte. Vielleicht auch mal ein ganzes Wochenende, an dem sie sich in ihrem Zimmer verkroch – gerade wenn die Zeit des Monats anstand. Aber dann fieberte sie darauf, wieder unter Leuten zu sein, mit Tina Zeit zu verbringen, auch wenn es nur in der Schule war.

Doch Jahrtausende allein? So groß und interessant konnte die Erde nicht sein, selbst wenn man jeden Winkel bereisen hätte wollen, als dass einem die Einsamkeit nicht störte. Nur die Vorstellung löste in Susan Sehnsucht nach Chris’ Nähe aus.

Susan verspürte den Drang, auf Iris zuzugehen, sie in den Arm zu nehmen, sie zu berühren. Doch selbst wenn sie ihre Beine die paar Schritte hätten problemlos tragen können: Dort gegenüber saß jemand in der Gestalt und mit dem Verhalten eines Menschen, aber Iris war kein Mensch. Würde sich eine Umarmung rein körperlich anders anfühlen? Wäre ihr Körper vielleicht weicher, empfindlicher, zerbrechlicher? Immerhin imitierte sie den menschlichen Körper nur – soweit Susan es verstand. Imitierte sie aber nicht nur den Körper, sondern auch das Verhalten? Wie würde sie auf eine Umarmung reagieren? – Zumindest würde sie die Geste nicht falsch interpretieren können. Dafür studierte sie die Menschen schon zu lange. Sie hatte dies sicher schon Millionen Mal beobachtet.

Dennoch. Sie war kein Mensch. Susan wusste nichts über die Bedürfnisse von Weltenwanderern. Eventuell war Einsamkeit ihre Natur. Alleine zu reisen, ohne Begleitung. Eine Umarmung am eigenen Leib zu spüren, vielleicht zum ersten Mal, hätte sie womöglich verstört oder beleidigt. So oder so wäre es eine intime Geste. Auch fremde Mitmenschen umarmte Susan nicht einfach so. Was sah Iris in Susan denn überhaupt? Die Wiedergeburt und damit gleichgesetzte Freundin Celes? Oder eine unterbegabte Schülerin, sie selbst in der unverhofften Lehrerfigur?

Susan nahm die Hände an die Stirn. Ihr Kopf schmerzte vom Sturm an Überlegungen und Fragen. – Sie sollte sich jetzt erst mal auf sich konzentrieren und ihre Beine in den Griff bekommen, die sie nach wie vor wackelig auf dem Felsen hielten.

 

 

Kapitel 7 - Motivation

Der Wecker klingelte. Susan schreckte auf, ihr Kopf erhob sich aber nicht vom Kissen.

Zehn Stunden hatte sie durchgeschlafen. Nicht annähernd genug, so ausgelaugt, wie sie immer noch war.

Sie hatte es tatsächlich auf den eigenen Beinen nach Hause geschafft. Ihren Rucksack samt Trainingsutensilien hatte aber Iris an sich genommen. Auch die Dusche überstand sie noch stehend. Danach brach sie auf ihrem Bett zusammen und schlief sofort ein.

Susan schaltete den Wecker aus, rollte zur Bettkante und wollte sich aufrichten. Doch ihr Körper verwehrte die Bemühungen.

Es war anders, als nach ihrem ersten 4000 Meter Lauf im Schulsport. Oder nach dem ersten Trainingscamp mit dem Schwimmverein. Sie verspürte keinen Muskelkater. Vielmehr war ihr, als hätte man ihr jegliche Energie aus dem Körper gesaugt.

Sie tastete sich auf den Boden und krabbelte förmlich ins Badezimmer. Sie zog sich am Waschbecken nach oben und riskierte einen Blick in den Spiegel.

Hm. Ich hab Schlimmeres erwartet.

Ihr körperlicher Zustand sagte mehr als genug darüber aus, wie sie sich fühlte. Dennoch hatte sie ein Lächeln auf den Lippen. Alles in allem war der gestrige Tag großartig gewesen.

Auch wenn sie nicht wusste, wie sie die Schule heute überstehen sollte, freute sie sich bereits auf die Fortsetzung des Trainings.

Tatsächlich schöpfte Susan beim Frühstück neue Kraft. Dass sie sich noch recht langsam Richtung Schule bewegte, war für Tina, die sie jeden Morgen begleitete, nichts Neues. Die vielen Minuten extra waren für Susans generelle Müdigkeit und fehlende Motivation stets eingerechnet. Während der Unterrichtsstunden regenerierte sich Susans Körper rasch. Immerhin brannte er zusammen mit ihrem Gehirn wie immer auf Sparflamme – besonders bei Mathe und Deutsch. Mit den Gedanken befand sie sich bereits wieder im Wald und träumte von ihren Sprüngen und ihrer Kraft. Zwischendurch wanderte ihr Blick auf den Stift, mit dem sie lustlos die Physik-Aufgaben von der Tafel abschrieb. Sie wunderte sich, dass sie nach wie vor normal damit schreiben konnte, anstatt ihn beim Aufsetzen zu zerbrechen, oder dass er sich bei der ersten Berührung nicht schon in Brösel aufgelöst hatte. Aber sie ging ja auch noch ganz normal, ohne mit einem Schritt auf dem nächsten Baum zu sitzen.

Susan liebte es, von Chris hochgehoben zu werden, worauf stets eine innige Umarmung folgte. Was sagte er wohl dazu, wenn sie mühelos die Rollen wechseln würden? Er wäre sicher eingeschüchtert davon. Wenn nicht sogar Schlimmeres. – Sie musste aufpassen. Er durfte wirklich gar nichts von ihren Kräften erfahren.

Ihrem Eifer tat die Sorge aber keinen Abbruch. Und so stand Susan am Nachmittag voller Tatendrang vor Iris.

„Du machst ja einen munteren Eindruck.“

„Ich sagte ja, geht gleich wieder.“ Susan presste die Zähne aufeinander und zeigte ein aufgesetztes Lächeln. „Was steht heute an?“

Iris gab ihr einen ebenso gespielten Augenaufschlag zurück. „Beginnen wir mit etwas Hand-Augen-Koordination. Dem Speer.“

Susan nickte entschlossen und nahm den spitz zulaufenden Stab aus Aluminium in die Hand, der an einem Baum lehnte. Sie balancierte sein Gewicht aus, um den Schwerpunkt zu finden.

„Welches Ziel?“

Iris steckte einen Korken auf die Spitze. „Vorerst nur mal der Heuballen da drüben. Der Korken soll den Widerstand beim Eindringen erhöhen. Nicht, dass der Speer durchzischt und an einem Felsen zerschellt.“

Susan war von Iris’ Weitsicht erstaunt. Sie musste sich wirklich sehr viel Gedanken über das Training gemacht haben. … während ich mich in der Schule tummle. Sie hat wohl jede Minute für die Vorbereitung verwendet. Was blieben ihr denn Alternativen in der selbstgewählten Isolation und Einsamkeit. Aber den gesamten Lebensinhalt nun auf diese Aufgabe auszurichten? Ob Iris das auch irgendwann von ihr verlangen würde? Ihre Freunde – Chris – ihre Eltern? Selbst die Schule würde ihr sicher eines Tages fehlen. Immerhin konnte Susan ihr den Zweck nicht abreden, sie auf das Berufsleben vorzubereiten, bzw. die Weichen hierzu zu stellen. Aber wäre das überhaupt noch von Bedeutung – für irgendjemanden, wenn sie, Susan, hierbei versagte und die Welt im Chaos versank?

Susan schluckte und konzentrierte sich auf die Übung. Alles Weitere lag – hoffentlich – noch in weiter Ferne. Sie zielte aus einer Grätsche heraus auf den Heuballen von vielleicht drei Metern Umfang, der etwa zwanzig Meter entfernt vor einer Anhöhe stand. Ihre Muskeln spannten sich um den Speer, mit dem sie dreimal ruhig ausholte. Mit einer raschen Bewegung nach vorne schoss der Speer aus ihrer Hand und zischte nur für eine Sekunde durch die Luft, bevor er sich in den Ballen versenkte. Der Treffer war nicht mittig, aber dennoch weit vom Rand entfernt.

„Das war schon mal gut.“ Iris wirkte erstaunt.

„Danke“, sagte Susan stolz.

Iris teleportierte sich zum Speer, der bis zur Hälfte in den gepressten Rundballen eingetaucht war, brachte ihn zurück und setzte einen neuen Korken auf.

Nach fünf weiteren Versuchen traf Susan bereits die Zielmitte.

„Ha! Volltreffer!“ Susan freute sich und drehte sich im Kreis.

„Das wollen wir doch mal sehen.“ Iris nahm eine der alten Dartscheiben in die Hand und hängte sie an den Heuballen. Mit einem herausfordernden Lächeln übergab sie Susan den Speer und nahm den Korken ab.

Susan lächelte siegessicher zurück. Sie konzentrierte sich, doch auf die Entfernung war das Bull’s Eye schwer zu erkennen. Sie schloss die Augen und atmete durch.

Einfach nur auf die Mitte der Scheibe. Einfach nur auf die Mitte.

Sie warf und das runde Holzbrett zerbrach. Susan sprang sofort selbst los, um nachzusehen.

Iris nahm die drei Teile auf und streckte sie ihr entgegen. „Na ja.“

„Was heißt hier na ja?“, fragte Susan. „Die Bruchstelle geht mitten durch. Das Bull’s Eye ist halt weggesplittert. Genauer geht’s mit dem Speer nicht.“

Iris präsentierte Susan mit einem Lächeln drei Dartpfeile. „Und hiermit?“

Susan nahm die Pfeile zögerlich entgegen und folgte Iris’ Blick. Am Rand ihres Trainingsgeländes erkannte sie um sie herum weitere Dartscheiben an Bäumen hängen.

Susan spürte die Herausforderung. Sie befühlte die Riffelung der Pfeilschäfte in ihren Händen. In einer Spielhalle hatte sie mal an einer dieser Dartautomaten gespielt, mit Pfeilen mit Plastikspitze. Diese hier hatten aber eine Spitze aus Metall. Der ganze Pfeil fühlte sich schwerer an, als in ihrer Erinnerung. Wie beim Speer suchte sie den Schwerpunkt und den richtigen Griff. Auf die Entfernung von zig Metern brauchte sie eine andere Haltung, als für einen Präzisionswurf zwei Meter vor dem Automaten. Sie fixierte die erste Scheibe und holte weiter bis hinter den Kopf aus, wie mit dem Speer zuvor.

Sie warf. – Drei Meter am Ziel vorbei.

Iris verzog die Lippen. „Hm.“

„Moment, Moment. Ist ja auch was anderes.“

Der zweite Wurf traf den Baum, zwanzig Zentimeter zu hoch. Der dritte Pfeil bohrte sich schließlich in die bunte Korkfläche. Iris holte die Scheibe.

„Nur eine einfache Zehn“, bedauerte Iris.

Susan runzelte die Stirn. „Es geht ja wohl nicht um Punkte. Das war haarscharf am Innenkreis vorbei. Nach nur drei Versuchen, auf die Entfernung.“

„Kriegst du das auch bei beweglichen Zielen hin?“

Iris nahm eine andere Dartscheibe vom Baum, die mit zwei Seilen mehrere Meter über dem Boden an einem Ast befestigt war. Sie ließ sie los und das runde Ziel schwang wie ein Pendel hin und her. Iris reichte Susan drei weitere Pfeile.

Susan packte der Ehrgeiz. Ihr Körper spannte sich an. Ihre Augen kniffen sich zusammen und folgten dem Schwung der Scheibe. Sie hielt den Atem an und warf – vorbei!

Susan verzog das Gesicht. Nicht genug Vorhalt.

Zweiter Versuch.

„Arrrr! Wieder zu spät. – Magst du bitte nochmal neuen Schwung geben?“

Iris kam der Bitte sofort nach.

Susan lockerte die Glieder und atmete ein paar Mal stoßartig aus. Sie ging wieder in Stellung und folgte der Scheibe mit den Augen. – Wurf!

Der Pfeil streifte den Rand und brachte das Pendel aus dem Takt.

Ja! Gleich hab ich’s!

„Ich bin beeindruckt“, beglückwünschte Iris. „Nach einer kurzen Pause machen wir dann mit einer anderen Lektion weiter.“

„Was? Aber ich hab die Mitte noch nicht getroffen.“ Susan verstand nicht, wieso Iris jetzt abbrechen wollte.

„Ich bin davon überzeugt, dass es dir nach ein paar weiteren Versuchen auch gelingen wird. Aber wir müssen dich mit sehr viel mehr Disziplinen vertraut machen. Wir haben zum Beispiel noch das Problem mit dem Schwert, deiner Hauptwaffe. Und im Moment eigentlich noch wichtiger: die Elemente. Selbst wenn du Luft meisterst und auch Wasser und Feuer beherrschst, Erde ist im wahrsten Sinne des Wortes ein harter Brocken. Wenn es nur um die Elemente an sich ginge, könnte man das eine oder andere sicher vernachlässigen. Aber um den Raumkristall zu benutzen, ist ein inneres Gleichgewicht aller vier Elemente erforderlich.“

Iris holte ein grünes Juwel in der Größe einer Mandarine aus ihrem rechten Ärmel hervor.

„Der Raumkristall ist so beschaffen, dass er alle Wächter ausfindig machen kann. Ursprünglich diente er der schnelleren Fortbewegung zwischen den Wächtern untereinander, von einem Ort zum anderen. Und Unterstützung wirst du auf jeden Fall brauchen.“

Susan starrte auf den grünen Klumpen in Iris’ Hand. Bis eben war sie voll des Glaubens, sie mache gute Fortschritte, erkannte aber nun, dass sie noch einen langen Weg zu gehen hatte. Und ja. Alleine würde sie das nicht schaffen können. Auch wenn es nur darum ging, einen Sparringspartner zu haben, mit dem sie vernünftig Schwertzweikampf trainieren konnte.

Genug Zeit für Übungseinheiten hätte ich ja im Moment.

Chris war seit zwei Wochen mit intensivem Lernen für die Abschlussprüfung beschäftigt, so dass sie ihn ohnehin kaum zu Gesicht bekam. Ihre Treffen beschränkten sich daher auf die Schule.

Das große Gesprächsthema bei Schülern wie Lehrern war in diesen Tagen das Stadtfest, welches kommenden Freitag unter der diesjährigen Leitung des Gymnasiums stattfinden sollte. Dabei stand aufgrund der aktuellen Nachrichten die Durchführung auf der Kippe. Da die Todesfälle bislang aber nur in Großstädten auftraten, hielt der Stadtrat vorerst an den Plänen fest. Und so steckte die komplette Schule bis zum Hals in den Vorbereitungen. Auch Tina schickte sich Tag und Nacht an, in der heißen Phase an sämtlichen Organisationsarbeiten mitzuwirken. Sie ging förmlich darin auf.

Susan selbst war bislang nur für die Getränkeausgabe eingeplant. Und das reichte auch. Sie arbeitete lieber unter Menschen und packte mit an, anstatt Sachen zu organisieren, rumzutelefonieren und in Komitees rumzuhängen.

„Ich werde mein Bestes geben, versprochen.“

Iris erwiderte Susans entschlossenen Blick mit einem Lächeln und strahlte damit ein hohes Maß an Zuversicht aus. „Ich glaube dir. – Wollen wir es nochmal mit Wassermagie versuchen?“

Susan nickte. Sie erkannte das Vertrauen, das Iris in sie steckte. Und das wollte Susan nicht enttäuschen.

Iris nahm eine Wasserflasche und goss eine kleine Menge in den Deckel. Sie tauchte den Finger ein und brachte mehrere einzelne Tropfen auf die Fläche eines alten Handspiegels auf, der eben auf einem der Felsen lag. „Versuch sie auf irgendeine Weise zu beeinflussen. Bring sie zusammen oder teile einen der Tropfen.“

Susan kniete sich ehrfürchtig vor den Spiegel, stützte die Ellbogen auf den Oberschenkeln ab und nahm die Hände wie Scheuklappen seitlich an den Kopf. Sie nahm die Tropfen fest ins Auge und blendete alles andere aus.

Mehrere Minuten vergingen, in denen nur das Schlagen des Pulses in Susans Kopf zu hören war und lauter wurde.

Komm schon. – Komm schon, trieb sich Susan immer wieder an, bevor sie in die Verzweiflung abdriftete. Der Erfolgsdruck nagte an ihr.

Weitere Minuten vergingen. Susan spürte den Schweiß auf ihrer Stirn. Sie wurde müde. Das unveränderte Bild vor ihren Augen wurde unscharf. Ihre Gedanken lenkten Susan in die Vorstellung, wie sie in die verwaschene Fläche eintauchte und darin schwamm. Mit Rückwärtsschlägen der Arme schob sie sich auf dem Rücken durch das Wasser. – Wie sehr sie es doch vermisste.

„Susan?“

Sie blinzelte mehrmals die trockenen Augen feucht, während ihr Herz mit jedem Schlag kräftiger zu spüren war. Sie blinzelte noch weiter, denn sie konnte nicht glauben, was sie sah.

Vor ihr schwebte einer der Tropfen. Wie eine flüssige Perle hing er in der Luft. – Ein wundervoller Anblick.

„Träume ich?“, fragte Susan sachte, ohne den Blick von dem sagenhaften Gebilde zu nehmen.

„Frag mich mal“, gab Iris ebenso sanft zurück.

Susan näherte sich mit dem rechten Zeigefinger behutsam dem schimmernden Tropfen, wagte aber nicht, ihn zu berühren. Stattdessen umschloss sie das Kleinod mit den hohlen Handflächen und versuchte damit aufzustehen. Der Wassertropfen folgte ihren Bewegungen und hielt sich im Zentrum der offenen Kugel ihrer Hände. Susan war fasziniert von dem Verhalten der Tropfenoberfläche.

Susans Handy vibrierte. Der Tropfen löste sich und fiel zwischen die Handflächen hindurch auf den Waldboden.

Ach, Mensch! Susan war verärgert, dass sie sich hatte ablenken lassen. Doch der Blick auf Iris’ nach wie vor begeistertes Gesicht ließ auch Susan wieder lächeln.

Sie kontrollierte schnell ihr Handy.

„Mh. Meine Mutter fragt, ob ich zu Hause bin, um ihr mit den Einkäufen und dem Abendessen zu helfen. Sie muss selbst noch was für einen Termin morgen vorbereiten.“

„Geh nur“, winkte Iris ab. „In einer Stunde wäre es hier ohnehin schon zu dunkel um weiter zu machen.“

Susan dankte ihr. „Ich helf dir noch beim Aufräumen.“

Sie schrieb ihrer Mutter kurz zurück und machte sich auf den Weg, den Speer aus dem Inneren des Heuballens zu ziehen. Doch dann blieb sie stehen. Sie schaute auf ihre rechte Handfläche und konzentrierte sich.

„Du musst das Objekt zumindest einmal aus deiner Hand verschwunden haben lassen, bevor du es beschwören kannst“, unterbrach Iris die Bemühungen mit einem freudigen Lachen.

„Wieso haben wir das nicht als Erstes gemacht, bevor wir mit dem Wurftraining begonnen haben?“, fragte Susan belustigt.

„Meine alten Knochen brauchen auch etwas Bewegung.“

Susan schmunzelte.

 

 

Kapitel 8 - Wettrennen

Die Zeitungsartikel und Nachrichtensendungen berichteten wie jeden Tag von neuen Todesopfern. In der Atemluft und im Trinkwasser waren keine Antworten zu finden. Auch Strahlenmessungen wurden durchgeführt. Nahezu alle logischen Ursachen konnte man ausschließen. Umso mehr Raum bot sich für ungewöhnlichere Theorien. Die Klatschblätter stürzten sich vor allem auf die seltsamen Gestalten. Ein paar wenige verschwommene und zu dunkle Aufnahmen aus viel zu großer Entfernung sollten einzelne oder paarweise auftretende Personen zeigen, an deren Stelle kurz darauf tatsächlich Leichen mit vor Angst verzerrten Gesichtern aufgefunden wurden. Bessere Zeugen oder Beweise waren aber bislang nicht aufzutreiben.

Es waren bereits zwei weitere Tage der Kombination aus Schule und nachmittägliches Training vergangen. Susan gelang es inzwischen, einen Wasserstrahl aus dem Wasserhahn des Waschbeckens in die Badewanne umzuleiten und die Pfützen der Fehlversuche vom Boden als schwebende Flächen zu beseitigen. Doch von Feuer war noch keine Spur zu sehen. Erde schoben die beiden solange weiter vor sich her.

Aber der Umgang mit dem Schwert hatte sich schon deutlich verbessert. Dennoch weigerte sich die Klinge geradezu, durch Holz oder andere Übungsmaterialien zu schneiden. Das nagte nicht nur an Iris, sondern besonders an Susan selbst. Wieso gelang es ihr, solch übernatürliche Fähigkeiten anzuwenden, aber an dem Stück Metall und Kristall scheiterte sie? Das magische Potential zog sie aus dem Splitter in ihrem Kopf. Wieso denn nicht auch das Führen dieser Klinge?

Susan saß an einem Baum gelehnt, ein Knie angezogen und trank einen Schluck Wasser. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und starrte nachdenklich auf den Waldboden. „Wer würde wohl ein Wettrennen zwischen uns gewinnen? Ich mit meinen Sprüngen oder du mit deinen Teleportationen.“

Iris hielt kurz damit ein, zerschlagene Äste aufzusammeln. „Das wäre ein unfairer Vergleich. Ich wäre von einem Moment auf den anderen am Ziel.“

„Ich meine mit Zwischenstationen, wie bei einem Zirkellauf. Deine Teleportationen haben auch einen gewissen Zeitverzug zwischen Verschwinden und Wiederauftauchen.“

Iris lächelte. „Das hast du scharf beobachtet. – Ok, aber mach dir keine zu großen Hoffnungen. Gib die Strecke vor.“

Susan sprang auf. Ihr kribbelte es unter den Fingernägeln. Eigentlich ging es ihr nicht darum, zu gewinnen. Sie wollte sich nur messen. Bislang übte sie nur für sich selbst und hatte keinen Maßstab, ob sie gut oder schlecht war. Auch wenn sich dies hier nicht miteinander aufwiegen ließ, es war zumindest etwas.

Susan sah sich um, während, begleitet von einem Sirren der Luft, mehrere Dartpfeile in ihrer Hand erschienen. Sie warf sie in einem Kreis um das Gelände an die Bäume und danach immer weiter weg, bis zu einer Lichtung in etwa dreihundert Metern Entfernung. Dabei war der letzte Pfeil lange in einem Bogen unterwegs. Die Kraft reichte aber noch aus, um sich in die Borke zu bohren.

„Bereit?“, fragte Susan. Voller Vorfreude nahm sie eine tiefere Haltung an.

Iris stand entspannt in ihrer Kutte da. „Soll ich dir einen Vorsprung geben?“

„Pfff! Damit ich noch länger im Ziel auf dich warten muss?“, spottete Susan zurück. „Auf die Plätze – Fertig – Los!“

Kurz nacheinander verschwammen die Konturen der ersten Zwischenstationen, die Susan mit je nur einem einzigen Sprung nahm. An keiner Station war Iris für das Auge vollständig zu erkennen. Im Kreis um das Gelände lag Susan vorne, doch als sich die Stationen auf der Geraden in die Länge zogen und Susan zwei oder sogar drei Sprünge benötigte, holte Iris auf. Kurz bevor Susan ein letztes Mal absprang, erkannte sie die Wellenbewegungen neben dem letzten Dartpfeil.

Ich schaff’s noch!

Sie setzte alle Kraft in den letzten Sprung und schnellte an dem Baum vorbei, nur kurz nachdem Iris ihre Hand auf den Baum gelegt hatte und „Erste!“ rief.

Ach, verdammt!

Doch Susan war nur wenig enttäuscht. Das war super knapp.

„SUSAN!“

Iris’ entsetzter Schrei ließ Susan das Blut in den Adern gefrieren. Gleich darauf erkannte sie den Grund.

Ihr Sprung beförderte sie auf die Lichtung, über die ein Bahngleis führte. Der Triebwagen des in voller Fahrt befindlichen Zugs erwischte ihr linkes Bein. Ein unheimlich knackendes Geräusch erschütterte Susans gesamten Körper. Sie stürzte auf die Wiese neben der Bahnstrecke.

Iris tauchte sofort an ihrer Seite auf. „Susan! Hörst du mich? Bist du verletzt?“

Susan atmete genau so heftig und stand nicht minder unter Schock als Iris. Sie war bei Bewusstsein, doch der Schmerz war schrecklich. Wobei … Eigentlich hätte sie ihn sich schlimmer vorgestellt. Da war ein Gefühl wie von einem tiefen Schnitt im Inneren ihres Beins und ein reißendes Brennen drum herum.

„Mir geht’s gut. Glaub ich. Nur mein Bein.“

Iris legte sofort die Hände auf die verletzte Wade. Ein intensives orangefarbenes Schimmern ging von ihnen aus.

Susan pumpte durch ruhiges Ein- und Ausatmen ihre eigene Panik aus dem Körper. Sie hatte sich vorher noch nie etwas gebrochen. Musste sie jetzt ins Krankenhaus und einen Gips tragen? Wie sollte sie das bloß zu Hause erklären? Und der Versicherung?

Susan beobachte Iris’ konzentriertes Treiben an ihrem Unterschenkel. – Was bedeutete das jetzt für ihre Sache? Ihr Training, ihre Aufgabe?

Was hab ich angerichtet?!

„Wir können froh sein, dass es kein offener Bruch ist“, stellte Iris fest. „Du hast sogar Glück, dass es ein glatter Bruch ist.“

Susans Eingeweide zogen sich zusammen. „Es tut mir leid, Iris. Damit werfe ich uns weit zurück.“

Iris blickte sie fragend an.

„Ich meine, Bruch ist Bruch. Ich werde die nächste Zeit …“

„Ach, Quatsch,“ fuhr Iris sofort dazwischen. „Du siehst doch, dass ich das gerade in Ordnung bringe. Gib mir noch ein paar Minuten und du bist wieder wie neu.“

Nun standen über Susans Kopf Fragezeichen. Ihr krampfender Bauch löste sich etwas aus der Anspannung.

„Ich kann zwar keine Wunder vollbringen, aber so einfache Verletzungen bekomme ich hin. Ich hab doch gesagt, ich habe heilende Fähigkeiten.“

„Ja. Aber ich hab mir da Fieber senken vorgestellt, oder Schnittwunden schließen.“

„Das gehört auch zu meinem Repertoire. Und es wär mir auch lieb, wenn es bei so etwas wie Schnittwunden bleiben könnte. Dein Körper ist durch die Verbindung mit dem Kristall zwar deutlich widerstandsfähiger, aber du bist keinesfalls unverwundbar – ebenso wenig wie ich allmächtig mit Heilungen bin.“

Susan atmete erleichtert auf. „Danke, Iris.“

Ein Lächeln zeichnete sich auf ihren Lippen ab. Doch sie konnte nicht daran glauben, dass sie in ein paar Minuten wieder aufstehen sollte, als wäre nichts gewesen.

„Alles gut“, sagte Iris knapp und konzentrierte sich weiter auf Susans Bein.

Die Schmerzen legten sich bereits. Stattdessen wurde die verletzte Stelle immer heißer, aber nicht unangenehm. Dabei erkannte Susan, wie Iris’ Stirn glänzte, und sich kurz darauf Schweißperlen bildeten.

Susan hatte Iris noch nie schwitzen sehen. Sie wollte Iris nicht in der Konzentration stören und verhielt sich ruhig.

Schließlich ließ Iris von Susan ab und stütze sich mit den Armen nach hinten ab. Sie atmete durch. „Das war’s. Lass die Hitze in deinem Bein aber noch etwas abnehmen, bevor du aufstehst.“

Susan winkelte das Bein vorsichtig an und drehte es sachte seitwärts. Sie betastete die Stelle. Nicht das geringste Anzeichen von Schmerzen, einer Verletzung oder gar einer Schwellung.

„Das ist unglaublich. Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll.“

„Ach, was“, winkte Iris mit einem zufriedenen Lächeln ab.

„Kann ich sowas auch?“

Iris zog die Unterlippe nach vorne. „Vom Grundsatz her konnte jeder Bewohner Andalons in Sachen Heilung, wie auch bei der Elementarmagie, aus einem gewissen Potential schöpfen. Dieses war aber in ihrem Niveau deutlich unterschiedlich. Auch unter den Wächtern gab es da immense Unterschiede. Terra war ein Naturtalent und hätte sich mit meinen Möglichkeiten sicher messen können, auch wenn sich das Prinzip andalonischer Heilkunst und der von Weltenwanderern unterscheidet. Celes war eher mittelmäßig begabt, würde ich sagen. Für einen Knochenbruch hätte es vermutlich nicht gereicht.“

Susan nickte mehrmals sachte, während ihr Blick langsam von Iris’ Gesicht zu ihrem Bein wanderte. Sie hatte das Gefühl, dass sie nach all den fantastischen Sachen, die sie bereits vollbringen konnte, bisher nur an der Oberfläche gekratzt und in dem Buch an Wissen, das sie aufschlagen durfte, nur die Einleitung gelesen hatte.

Wie das mit der Heilung wohl funktionierte? Susan stellte sich die Darstellung von Zellen aus dem Biologieunterricht vor. Wie sie sich teilten, sich das Gewebe vergrößerte und sich verband. Brachte man eine Wunde dazu, sich zu schließen, indem man die Heilkraft seines Körpers irgendwie beschleunigte? Oder lag da mehr dahinter?

„Susan. Hast du noch Träume?“

Susan blickte fragend zu Iris’ ernster Miene auf.

„Ich meine, hattest du die folgenden Tage nach der Vereinigung weitere Gespräche mit Celes?“

Susan bedauerte. „Ich hab noch Träume, jede Nacht sogar. Aber es sind nur unzusammenhängende Bilder. Ich sehe nicht mehr als eine wunderschöne Palastanlage und Personen davor.“

Iris senkte den Kopf.

„Es wäre schon wichtig, auf Celes’ Erinnerungen zugreifen zu können, oder?“

„Es würde einiges erleichtern, glaube ich“, antwortete Iris und driftete in eigene Gedanken ab.

„Wieso bin ausgerechnet ich die Erste?“, holte sie Susan zurück.

Iris blickte Susan mit zusammengepresstem Mund an. „Ich habe leider keine Ahnung. Dabei bin ich ehrlich gesagt nicht einmal sicher, ob die anderen Wächter auch wiedergeboren wurden.“

Susan versteinerte für einen Moment. „Und damit kommst du mir erst jetzt?“

Iris wandte den Blick ab. „Nachdem ich auf die neue Aktivität der Finsternis aufmerksam wurde, suchte ich zum ersten Mal wieder den Ort auf, an dem ich alles aus dem zerstörten Reich sammelte. Ich erkannte, dass dein Lebenssplitter auf irgendetwas reagierte, aber eben nur dieser eine. Auf einmal strahlte er auf, schoss davon und führte mich zu dir.“

Iris blickte unsicher auf ihren Schützling. Susan sah ihr an, dass sie ihre Reaktion darauf fürchtete, dass sie doch nur allein gegen die Bedrohung antreten könnte. Doch Susan hatte sich bereits beruhigt. An dieser Situation konnte sie ohnehin nichts ändern.

„Ich denke, wir hatten für heute genug Aufregung“, beschloss Susan die Unterhaltung.

Sie richtete sich auf und trat ein paar Mal mit ihrem verletzten Bein auf.

Susan bemerkte, wie Iris den Mund öffnete und kam ihr zuvor. „Wage es nicht, mir wieder eine Teleportation nach Hause anzubieten.“

Iris schloss den Mund, der sich zu einem tadelnden Lächeln formte.

„Auch der Teleportation wirst du dich nicht ewig verschließen können.“

„Wir werden sehen“, scherzte Susan über ihre Schulter hinweg, nachdem sie sich bereits in Bewegung gesetzt hatte und an den Gleisen entlang ging.

„Ähm, wegen der Bahn – der Lokführer …“, wandte sich Susan nochmal um.

„Ich erkundige mich nach ihm. Aber die Bahn hielt nicht an. Er oder sie wird angenommen haben, dass es ein Vogel war.“

Susan stimmte zu und war beruhigt. Sie verabschiedete sich und lief weiter.

Wie jeder Tag einfach noch unglaublicher wird, als der vorige.

Sie ging in sich und rief sich die letzten Träume ins Gedächtnis. Sie selbst wollte mehr über Celes und ihr zumindest in gewissermaßen gemeinsames Leben erfahren. Nicht nur zum Vorteil ihres Trainings und ihres Potentials an Elementarmagie. Irgendwann vielleicht auch mal Heilmagie. Aber vielmehr aus Neugier auf die Person in sich. Was verband ausgerechnet sie beide, dass Susan für Celes‘ Seele auserkoren wurde? Inkarnation hatte sich Susan ganz anders vorgestellt.

Sie bemühte sich sehr, doch außer einem Durcheinander von verschiedenen Bildern war nichts zu erkennen. So glasklar sie den Palast, Wiesen und Bäume wahrnahm, von den Wächtern hatte sie nur Silhouetten vor sich, wie sie lachten. Allein Iris sah sie das eine oder andere Mal als Teil der Gesellschaft – gestochen scharf, in ihrer Kutte, exakt so, wie sie heute vor ihr stand. Doch so stark wie nach der Vereinigung mit dem Lebenssplitter war die Verbindung zu Celes nie wieder gewesen. Wie gerne hätte sie noch ein weiteres Mal mit Celes gesprochen. Sie gefragt, wie es war, gegen diese Bedrohung zu kämpfen. Wie sie sich fühlte. – Ob sie Angst hatte.

Es dämmerte bereits, als sie den Stadtrand erreichte. Ein kleiner Schatten geriet in ihr Sichtfeld, der in großen Bögen über die Dächer auf den Stadtpark zusprang. Susan meinte, einen schwarzen Umhang erkennen zu können, der an der Gestalt flatterte. Sofort kamen Erinnerungen an ihren geheimnisvollen Retter auf und dass sie keine Gelegenheit gehabt hatte, sich zu bedanken.

Susan entschloss kurzerhand, dies nachzuholen, und nahm die Verfolgung auf. Nach zwei zuerst vorsichtigen Sprüngen riskierte sie mehr und atmete erleichtert auf, da Iris’ Heilkunst tatsächlich Wunder gewirkt hatte.

Susan lächelte. Auch wenn das Kräftemessen mit Iris einen unschönen, aber zum Glück glimpflichen Ausgang nahm, war sie zufrieden mit sich – stolz auf ihre Fortschritte, auf ihre Stärke.

Ihr Retter hatte es eilig sein Ziel, das in der Richtung der Stadtmitte lag, zu erreichen. Susan vernahm lauter werdende Musik.

Oh, Mist! Das Stadtfest!

Tina hatte sie vor ein paar Stunden extra gewarnt, dass sie ja pünktlich sein sollte. Und mit Chris war sie danach auch noch kurz verabredet.

Susan musste sich mit der Danksagung beeilen. Doch nun fragte sie sich, wieso ihr erster Gedanke beim Anblick einer Person, die über Häuser zu springen vermochte, ihrem Retter galt. Das einzige ihr bekannte Wesen, das in der Lage war, solche Sprünge zu vollbringen, war …

Die Gestalt bemerkte ihre Verfolgerin in diesem Moment und drehte sich im nächsten Satz herum.

Susans Blick auf zwei kleine, goldumrandete Pupillen in einem abgemagerten, dunklen Gesicht führte ihr vor Augen, dass es sich hier nicht um ihren Retter handelte. Sie jagte einem Wesen hinterher, das dem, das ihr vor einer Woche nach dem Leben getrachtet hatte, exakt glich.

 

 

Kapitel 9 - Bewährungsprobe

Das Wesen landete inmitten des menschenleeren Stadtparks auf einem Baumwipfel, welcher langsam schwingend die Wucht des Sprunges abfing. Ein fauchendes Gebrüll stieß Susan entgegen, bevor die Kreatur auf sie zustürzte.

Diese erschrak fast zu Tode und schloss panisch die Augen.

Ein greller Lichtblitz blendete Susan durch die zusammengepressten Lider hindurch. Sie verlor die Orientierung und fiel unsanft zu Boden.

„Keinen Mucks!“, flüsterte Iris’ Stimme in ihr rechtes Ohr. „Seine Augen werden sich schnell erholt haben. Mach dich bereit zu kämpfen!“

„Aber ich kann selbst kaum was sehen“, flüsterte Susan zitternd zurück.

Panik flutete weiter ihren versteinernden Körper. Schwarze Flecken behinderten ihr Sichtfeld. Nur Iris neben sich konnte sie schemenhaft ausmachen. So konnte sie doch nicht kämpfen.

„Stell dich nicht so an. Das hier ist ernst.“

Susans Augen gewöhnten sich zwar rasch an die Dämmerung, aber …

„Worauf wartest du?“, fragte Iris leise. „Zieh dein Schwert!“

Wieso jetzt kämpfen? War denn Flucht nicht auch eine Option? Selbst gegen eine Teleportation hier weg hätte sie nichts einzuwenden gehabt.

„Vorsicht!“, schrie Iris auf und drückte sie nach unten.

Der Wurf einer speerähnlichen Waffe verfehlte Susans Hals nur knapp.

„Komm mit! Und zieh endlich das Schwert!“, drängte Iris zornig.

„J-ja“, stotterte Susan.

Sie versuchte, sich zu konzentrieren. Doch von geordneten Gedanken, wie an ihrem ruhigen Trainingsort, gab es hier nicht im Ansatz eine Spur.

Während sie hinter Buschreihen geduckt liefen, umklammerte Susan schließlich den in ihrer rechten Handfläche entstehenden Griff, der sich inmitten sirrender Luft schnell zu ihrem Schwert erweiterte.

In diesem Moment stürzte die Kreatur durch die Bäume auf Susan zu und schlug von oben mit einer axtartigen Waffe auf sie ein. Susan hob aus Reflex ihr Schwert vor sich. Der Aufprall der geschwungenen Klinge schleuderte es ihr aus der Hand.

Susans Atem stockte.

So einfach konnte sie entwaffnet werden?

Ihre Hand schmerzte von der Wucht des Schlages, während der nächste Hieb auf sie niederging. Susan entkam knapp mit einem Sprung zur Seite. Ihr Herz raste.

„Susan!“ Iris hatte Susans Schwert aufgenommen und warf es ihr zu. Susan fing es auf und konnte gerade noch den Griff mit beiden Händen umgreifen, um damit den nächsten Schlag von ihrem Körper abzulenken.

Ein weiterer Hieb stieß sie zu Boden. Der folgende krachte auf Susans Klinge, verharrte darauf und drückte sie nach unten. Mit zitternden Armen hielt sie dagegen. Doch ein stechender Schmerz durchzog rasch ihre Muskeln.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752119589
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (November)
Schlagworte
Magie Dramatik Elfen Schwert Zeitreise Episch Fantasy High Fantasy

Autoren

  • Mario Schenk (Autor:in)

  • Sören Meding (Illustrationen)

Geboren am 30.12.1980, wohnhaft im Landkreis Deggendorf, legt Mario Schenk sehr viel wert auf einen durchdachten und abwechslungsreichen Geschichtsverlauf mit dramatischen Entwicklungen und Wendungen, als auch auf glaubhafte und liebenswerte Charaktere. Die Helden und vor allem Antagonisten entsprechen möglichst keinem Klischee und sind für die eine oder andere Überraschung gut. Mario ist Mitglied bei PAN e.V. und dem BvjA.
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Titel: Die Wächter von Andalon