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Wenn du wieder gehst

Eine Liebesgeschichte

von A.D. WilK (Autor:in)
408 Seiten
Reihe: WDWG, Band 1

Zusammenfassung

Würdest du der Vergangenheit eine zweite Chance geben, wenn du dadurch die Gegenwart verlierst?

„Hast du nie an mich gedacht?“
„Nein.“
„Nein?“
„Nein. Es hätte mich umgebracht.“

Fast vier Jahre ist es her, seit Lucy das letzte Mal den Sand zwischen den Zehen spürte und Tapas im Strandkorb auf der Terrasse des kleinen Spaniers aß. Nun kehrt sie zurück, um einem alten Freund einen Gefallen zu tun. Dabei ist Niklas nicht einmal mehr das, ein Freund.

Aber warum reißt sein Anblick dann alte Wunden auf und wirft ihre Gefühlswelt aus der Bahn? Sie hatte geglaubt, all das hinter sich gelassen zu haben. Die Trauer, den Schmerz, die Hilflosigkeit. Und die Liebe. Doch je mehr Zeit sie in der fremden Vertrautheit verbringt, umso klarer wird ihr, dass sie sich etwas vorgemacht hat. Und dann ist da noch Ben …


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„Wenn du wieder gehst“ ist der Bestseller-Debütroman von A.D.WiLK, der es bis auf die Shortlist des SKOUTZ-Award 2019 schaffte.

Wenn du Liebesgeschichten magst, die tiefgründig, einzigartig und auf eine Art mitreißend sind, die dich das Ende eines Buches herbeisehnen lässt, nur um es am Ende zuzuschlagen und dir zu wünschen, du hättest langsamer gelesen, dann wirst du Lucys Geschichte lieben.<7p>

LESERSTIMMEN

Thalia Buchhandel Empfehlung: Eine Story, die mitten aus dem Leben gegriffen wurde und in eine emotionsgeladene Liebesgeschichte verwandelt wird. Bei diesem Buch bleibt kein Auge trocken!

Große Emotionen rund um Liebe, Freundschaft und Familie werden überzeugend und fesselnd erzählt. Matti, von MattisBücherecke

Das ist ein ‚Nur-noch-ein-Kapitel‘-Buch. Büchermöhre, Buchblog

Traurig, witzig, lebhaft, verspielt, dramtisch, erotisch. Martina, eine Leserin

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Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Danke Mama, Michi & Martina.

Für meine Lieblingsmenschen.


Die Wölfe.

Die Löwen.

Und die Drachen.

Prolog

Dunkelheit.


Die Welt war schwarz. Und still. Eine stille Dunkelheit, in der nichts anderes zu ihr durchdrang. Aber bewusst war ihr das nicht. Erst als dieses Geräusch auftauchte, erkannte ein winzig kleiner Teil von ihr, dass da vorher nichts gewesen war. Und eigentlich war ihr auch das nicht bewusst, sondern nur ein ungreifbarer Gedanke. Das Geräusch war gleichmäßig, irgendwie beruhigend. Es schien einem festen Takt zu folgen. Und es klang dumpf, aber eigentlich auch wieder nicht. Sie wusste nicht, woher es kam, aber sie konnte sich darauf konzentrieren und es gab ihr einen Halt, den sie in der schwarzen Stille nicht hatte finden können.

Mit dem Geräusch verlor das Schwarz nach und nach seine Undurchdringlichkeit. Erst war es nur ein heller Punkt, der sich langsam ausdehnte und schließlich wurde aus dem Schwarz ein Grau. Ein dunkles Grau. Vielleicht Anthrazit. Sie versuchte, mehr wahrzunehmen, durch den grauen Schleier hindurch zu fühlen und zu hören, aber es gelang ihr nicht. Was auch immer dahinter lag, blieb unerreichbar. Und dann kam das Schwarz zurück.

1

September. Sechs Monate zuvor

Das Haus am Meer.


Ein Windzug stieß die Holzrahmen der Doppelfenster gegeneinander. Der Knall ließ Lucy aufschrecken und sie stand von der Bettkante auf, um das Fenster zu schließen. Eine große, alte Eiche nahm fast ihr gesamtes Blickfeld ein. Ein Ast, dick genug, um sie zu tragen, ragte ihr entgegen. Sie konnte ihn noch immer greifen, wenn sie sich weit genug hinaus lehnte. Wenn sie wollte, könnte sie sich noch immer darauf schwingen und sich auf den Ast darüber ziehen, um bis zum Baumstamm zu balancieren. Dort würde sie sich an den oberen, dünneren Ästen festhalten und auf die andere Seite des Baumes klettern. Sie würde sich auf den breiten Ast setzen, den mit dem Knick nach oben, den Rücken an den Baum lehnen und auf das Meer sehen. So, wie sie es so oft getan hatte. Aber sie tat es nicht.

Vom Fenster aus versperrte das dichte Blätterwerk ihr die Sicht. In ein paar Wochen würde der Baum die Blätter fallen lassen und seine kahle Winter-Erscheinung annehmen. Aber jetzt leuchteten nur ein paar gelbe Punkte aus dem satten Grün heraus. Ein rotbraunes Eichhörnchen kletterte den Stamm empor, blieb wenige Meter von ihr entfernt sitzen und starrte sie irritiert an. Im nächsten Moment drehte es sich um und sprang auf einen anderen Ast. Lucy verfolgte seine flinke Kletterakrobatik, verlor es aber nach kurzer Zeit aus den Augen. Wie gern würde sie ihm hinterher springen. Sie würde nur über einen ausreichend großen Wintervorrat an Nüssen und die sichersten Verstecke dafür nachdenken müssen und nicht länger über all die Dinge, die sie seit fast drei Jahren davon abhielten, hierher zu kommen. Es war so leicht, sie auszublenden, wenn sie die alte Eiche und alles, was sie umgab, nicht vor Augen hatte.

Zumindest war es lange Zeit leicht gewesen. Aber schon als sie das Flugticket bezahlt hatte, hatten Erinnerungen und Ängste die Kontrolle in ihrem Kopf übernommen. Und nicht nur dort. Ein riesiger Stein schien in ihrem Bauch zu liegen und gleichzeitig versuchten Millionen Schmetterlinge ihm seinen Platz streitig zu machen. Keine niedlichen, kleinen, bunten Flatterfalter, wie Verliebte sie beim Anblick ihres Angebeteten spüren. Nein, diese Schmetterlinge raubten ihr den Atem, weil sie keinen Platz für etwas anderes ließen und mit ihren riesigen Flügeln immer wieder schmerzhaft all das aufwirbelten, was sie nicht fühlen und nicht denken wollte.

Sie hatte ihren Koffer fünfmal neu gepackt und die Nacht vor dem Flug nicht geschlafen. Am Flughafen löste sie fast einen Großalarm aus, weil sie vergessen hatte, ihre Nagelfeile aus dem Innenfach ihrer Handtasche zu nehmen. Zumindest benahm sich die Sicherheitsbeamtin, als müsste sie gleich einen roten Knopf betätigen.

Der Flug selbst war eine Tortur. Wegen einer technischen Panne verbrachte sie drei, statt einer Stunde damit, im Flugzeug herumzusitzen. Sie scheiterte bei dem Versuch, die sich im Kreis drehenden Gedanken mit Hilfe der Frauenmagazine, die ihr die Stewardess gegeben hatte, abzuschütteln. Und sie weigerte sich, die immer wieder aufwallenden Gefühle zu sortieren, weil sie ihnen sonst zu nahe kam. Als das Flugzeug endlich landete, war sie sich nicht sicher, ob sie den Mietwagen allein würde steuern können und wäre fast in ein Taxi gestiegen.

Irgendwie hatte sie es dann aber doch geschafft, den viel zu großen schwarzen SUV, den sie nicht selbst gemietet hatte, über die Landstraße zu manövrieren, ohne dabei einen Baum zu rammen oder einen Ausflug in den Straßengraben zu machen.

Es war kein anderes Auto zu sehen gewesen, als sie in die Auffahrt vor dem weißen Haus mit den blauen Fensterläden fuhr. Er hatte sie gestrichen. Das konnte nicht lange her sein. Die Farbe war frisch, es gab keine abgeplatzten Stellen und sie war auch auf der Südseite nicht ausgeblichen. War es das gleiche Blau? Es wirkte so viel dunkler. Einen Moment hatte sie ihre Aufmerksamkeit auf diesen Fensterläden halten können. Aber dann … dann hatte die rotbraune hölzerne Treppe ihren Blick, ihre Gedanken, ihre Gefühlswelt gefangen genommen und es dauerte fünfzehn Minuten, bevor sie wieder klar sehen und die Autotür öffnen konnte. Aber das Geräusch, das der Kies unter ihren Schuhen beim ersten Schritt machte, und der Geruch nach Meer zwangen sie ein weiteres Mal innezuhalten. Sie schüttelte den Kopf, atmete tief durch und holte ihre Sachen aus dem Kofferraum. Mit einem kleinen grünen Koffer in der linken Hand und einer weißen Notebooktasche und ihrer Handtasche über der rechten Schulter lief sie über den schmalen, weißen Steinweg zur Eingangstür.

Der Schlüssel zum Haus lag noch immer unter dem blauen Blumentopf neben der Eingangstür. Das gleiche Blau wie die Fensterläden. Zumindest war es früher dieselbe Farbe gewesen. Jetzt war der Blumentopf deutlich heller. Sie hatte einen eigenen Schlüssel. Aber dieser befand sich in einem schwarzen Karton in einer Ecke in ihrem Keller und sie war nicht im Stande gewesen, auch nur das Vorhängeschloss an der Metalltür zu öffnen.

Das Haus war ruhig, als sie aufschloss. Es war niemand da und sie war froh darüber. So konnte sie ankommen, ihre Sachen in ihr altes Zimmer bringen, sich frisch machen und zu sich kommen. Nach einer Runde Barfußlaufen am Strand, ein paar Sonnengrüßen und einer heißen Dusche fühlte sie sich besser. Der überwältigende erste Eindruck war abgeflaut und sie war ruhiger, auch wenn sie von einer Tiefenentspannung sehr weit entfernt war. Aber es würde schon funktionieren. Es waren nur ein paar Tage und …

„Hey!“

Sie erstarrte. Warum hatte sie keine Schritte gehört? Kein Auto? Wie konnte er so unbemerkt den Raum betreten haben, das Haus, das Grundstück? War sie so tief in ihren Gedanken versunken gewesen? Wie lange stand er schon dort? Hatte er sie beobachtet? Was hatte sie gemacht? Darauf war sie nicht vorbereitet. Wie konnte das sein? Seit Tagen hatte sie an nichts anderes gedacht als an diese Begegnung. Aber eigentlich stimmte das nicht. Sie hatte diese Gedanken seit Tagen unterdrückt, anstatt darüber nachzudenken, wie sie ihm gegenübertreten würde. Adrenalin schoss in ihre Adern und die Aufregung war zurück. Aber das sollte er nicht merken. Sie riss sich zusammen und setzte ein entspanntes Lächeln auf. Zumindest hoffte sie das, denn ihr Körper war noch immer wie erstarrt, während in ihrem Innern alles auf Hochtouren lief. Ihr Herz raste und ihr Hormonsystem sendete Botenstoffe aus, die im Wechsel ihren Fluchtinstinkt aktivierten und Euphorie weckten.

„Hey!“ Sie drehte sich zu ihm, ohne ihn anzusehen. Ihre Stimme überschlug sich fast und sie klang alles andere als sicher.

„Seit wann bist du hier?“ Seine Stimme klang sicher. Und entspannt. Warum war er so entspannt?

Sie atmete tief durch. Langsam, damit er es unmöglich sehen konnte. „Seit etwa zwei Stunden? Und du?“ Besser. So langsam kam die Fassung zurück. Sie ging zu ihrer Tasche, um ihre Wasserflasche zu holen und ihrem Körper eine Aufgabe zu geben. Es waren nur zwei Schritte, aber sie musste sie behutsam gehen. Ihre Beine fühlten sich an wie Gummi. Die Tasche stand auf ihrem alten Schreibtisch zwischen Stiften, Notizblöcken und, tatsächlich, einem Algebra-Buch. Warum hatte ihr Vater dieses Zimmer nie umgeräumt? Ihr Blick fiel auf ein Lineal, auf das mit einem Permanent-Marker unverständliche Buchstabenkombinationen geschrieben waren. Für jeden anderen unverständlich, aber sie wusste, was sie bedeuteten. Und er wusste es auch.

„Ich bin gerade angekommen. Hattest du einen guten Flug?“ Wieder riss seine Stimme sie aus ihren Gedanken. Ihn zu hören, zu sehen, seine Anwesenheit, das Haus und die Holztreppe, all das warf sie aus der Bahn. Diese ganze Situation. Dieser Ort. Es zog ihr den Boden unter den Füßen weg. Sie klammerte sich mit der einen Hand an die Flasche und stützte sich mit der anderen auf dem Schreibtisch ab, um das Zittern in ihren Beinen auszugleichen. Ihre Hände waren feucht und sie rutschte von der Holzplatte.

„Ja, ähm, keine Turbulenzen. Und deiner?“ Sie war nie gut in Small-Talk gewesen. Und nie hatte es sich so lächerlich angefühlt wie in diesem Moment. Sie zwang sich, ihn anzusehen, von unten nach oben: keine Schuhe, ausgewaschene Jeans, ein graues T-Shirt, blaue Augen, nasse Haare. Hatte er geduscht? Seit wann war er hier?

„Ich bin nicht geflogen.“ Ein zartes, kaum wahrnehmbares Grinsen erschien auf seinem Gesicht. Sie hörte es mehr, als dass sie es sah. Es amüsierte ihn, wie ungeschickt sie sich bei diesem Wörter-Ping-Pong anstellte. Er wusste, dass sie es hasste. Natürlich wusste er das. Zog er sie auf? Fast wurde sie wütend. Sie öffnete die Flasche, hob sie an die Lippen und sah, wie seine Mimik sich veränderte. Der leicht belustigte Ausdruck verschwand und sein Blick wurde ernst. Im nächsten Moment wusste sie, warum. Mist.

„Wie lange bist du schon verlobt?“ Sie trank länger als nötig, um der Frage auszuweichen. Aber sie war zu aufgeregt, um Mund und Zunge zu koordinieren, verschluckte sich und musste husten. Was für eine absurde Situation. Als sie wieder atmen konnte, schaute sie ihn nur an. Sein Blick hatte sich nicht verändert und sie brachte es nicht über sich, ihm zu antworten. Da hörten sie, wie die Haustür geöffnet wurde. Jemand trat ins Haus und die Tür fiel mit einem lauten und vertrauten Klack wieder ins Schloss. Die Stimme ihres Vaters erklang von unten: „Hey, seid ihr da?“ Sie antwortete zu laut: „Wir sind oben. Ich komme runter.“ Sie rannte aus dem Zimmer, sah ihn nicht mehr an und schaffte es, sich durch die Tür zu schieben, ohne ihn zu berühren.

Als sie ihren Vater am Fuß der Treppe stehen sah, ging es ihr sofort besser. Niemand außer ihm hatte diese Wirkung auf sie. Sie sprang fast in seine Arme und spürte, wie ihr Herzschlag sich beruhigte und Tränen der Dankbarkeit in ihr aufstiegen. Er hatte einen verdammt guten Augenblick gewählt, um nach Hause zu kommen. Er drückte sie an sich. „Schön, dass du hier bist, Cottee!“ Es war Jahre her, seit er sie so genannt hatte. Und er war der Einzige, der es tat. Kay Cottee war die erste Frau, die ohne Zwischenstopp um die Welt gesegelt war und Lucys Vater hatte ihr Kays Geschichte unzählige Male vor dem Schlafengehen erzählt. Jahrelang wollte sie nichts anderes hören. Und auch heute stand das Buch noch immer in dem kleinen Bücherregal neben ihrem Bett und sie las alle paar Wochen ein paar Seiten vor dem Einschlafen. Dann erinnerte sie sich daran, wie sie als kleines Kind durch den weichen Sand gerannt war, weiße Bettlaken hinter sich herziehend, und gerufen hatte: „Ich bin Kay Cottee, ich segle um die Welt.“

Sie hörte Schritte am oberen Ende der Treppe. Das Knarren der zweiten Stufe, das sie schon als Kinder verraten hatte, wenn sie sich nachts aus dem Bett geschlichen hatten, um die Keksdose zu plündern oder ihrem Vater dabei zuzuhören, wie er Charlie aus der Zeitung oder einem Buch vorlas. Sie löste sich aus seiner Umarmung und ging an ihm vorbei in den Eingangsbereich.

„Nik!“ Ihr Vater sah zu Niklas auf, der die Treppe herunterkam und vor ihm stehen blieb.

„Oliver, du siehst gut aus. Aber …“, er musterte ihn und runzelte grinsend die Stirn. „Weißt du, so ein kaputter Rasierer muss nicht unbedingt bedeuten, dass du in Zukunft mit Terence Hill vier Fäuste schwingen sollst.“ Er sah prüfend an ihm herunter. „Außerdem fehlt dir dazu noch ein bisschen Bauchspeck.“ Ja, richtig, er hatte einen Bart. Das war ihr gar nicht aufgefallen. Ein fast komplett weißer, nur von einigen dunkleren Haaren durchzogener, dichter Flaum lag auf seinem Kinn, rund um den Mund und auf einem Teil der Wangen. Sie schmunzelte, ertappte sich dabei und das Lächeln erstarb.

„Sehr witzig!“ Oliver packte Niklas an der Schulter und zog ihn an sich. Es war seltsam, die beiden in dieser vertrauten Umarmung zu beobachten. Aber Niklas gehörte genauso zur Familie wie Lucy. Er war immer da gewesen. Vom ersten Tag ihres Lebens an. Die beiden so zu sehen, war wie einen Film abzuspielen, den sie lange in dem schwarzen Karton im Keller versteckt hatte. Aber sie fühlte sich fremd in dieser vertrauten Welt.

2

Vor 32 Jahren. Der gleiche Ort am Meer

Es war ein besonders heißer Juli-Tag vor 32 Jahren, als zwei Frauen in einem Krankenhaus auf die Geburt ihrer drei Kinder warteten. Mit ihnen warteten ein Vater und ein Paar Großeltern. Vater Nummer 2 wartete nicht. Er wusste nicht, dass es einen Grund dafür gab. Oder vielleicht hatte er in diesem Moment tatsächlich einen Grund, aber dann war es ein anderer. Niemand hatte ihn informiert, denn niemand wusste, wer er war. Das heißt, ein Computer und vielleicht auch eine Laborantin würden die Samenspende des Erzeugers im Notfall einer Person zuordnen können. Aber solange dies nicht geschah, war der Lieferant der zweiten Hälfte des Genmaterials nur eine Nummer mit einem Steckbrief. Alles, was Mutter Nummer 2 von ihm wusste, war: Er war dunkelblond, hatte blaue Augen, einen IQ von 127, war 187 cm groß, 85 Kilogramm schwer und es gab keine Herzerkrankungen in der Familie, kein Diabetes und keine bekannten Gendefekte. Er hatte einen Universitätsabschluss in Wirtschaftswissenschaften, war Nichtraucher und Marathonläufer. Sie hatte ihn unter einer Vielzahl von Spendern ausgewählt. Nicht, dass sie dies nötig gehabt hätte. Es gab zahlreiche Bewerber, die gern der Vater ihres Kindes geworden wären, aber nach drei sensationell gescheiterten Beziehungen hatte sie das Vertrauen in die Liebe oder vielmehr in die Männer verloren und zog es, zumindest für den Moment, vor, ein Leben ohne maskulinen Lebenspartner zu führen. Aber auf ein Kind wollte sie nicht länger verzichten.

Es gab vier weitere Geburten in jenen Stunden in diesem Krankenhaus. Für den kleinen Ort war es ungewöhnlich, dass an einem Tag sieben Kinder geboren wurden. So gab es weder genug Platz noch ausreichend Ärzte, Krankenschwestern oder Hebammen, um diese Aufgabe konventionell und nach Lehrbuch oder nach den bestehenden Krankenhaus-Richtlinien zu bewältigen. Die drei Kinder wurden deshalb im gleichen Raum, der nicht einmal ein Kreißsaal war, geboren. Im Abstand von wenigen Minuten und mit der Hilfe des anwesenden Vaters, der zwar sein Medizinstudium bereits abgeschlossen hatte, dessen Aufgabengebiet damals aber vorwiegend das Abnehmen von Blutproben und das Säubern von Bettpfannen umfasste.

Lucy war die Erste, die mit einem lauten Schrei in den Armen ihres Vaters landete. Fast zeitgleich kam Niklas unter den Anfeuerungsrufen seiner Großeltern und schließlich, einige Minuten danach, Lucys Bruder Simon zur Welt. Sie machten ihre ersten Erfahrungen mit der Außenwelt gemeinsam, ohne zu wissen, dass sie dieses Erlebnis ihr Leben lang verbinden würde. Niemand der Anwesenden wusste wie sehr. Aber es kam, wie es kommen musste. Die Mütter teilten sich während der nächsten Tage ein Zimmer. Niklas’ Großeltern und Oliver verbrachten viel Zeit miteinander. Nach und nach wuchsen alle eng zusammen und wurden zu einer Familie.

Ein Mitglied dieser neuen, großen Familie zog es jedoch nach einem Jahr vor, zu gehen. Die Mutter der Zwillinge wollte ihre Karriere als Sängerin, Schauspielerin und Tänzerin nicht länger dem Ernähren, Wickeln und Herumtragen von Lucy und Simon opfern und ging. In der Nacht. Sie küsste beide Kinder zum Abschied, hinterließ einen Zettel mit den Worten ‚Ihr bekommt das besser ohne mich hin‘, holte den am Tag zuvor gepackten Koffer aus seinem Versteck in der Garage hinter dem Stapel Winterreifen hervor und verließ das Haus, den Ort, das Land. Fast hätte sie auch den Kontinent verlassen, jedoch sollte es dazu nicht kommen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Nach zwei weiteren Jahren stürzte Niklas’ Mutter bei dem Versuch, einen Drachen aus den Zweigen der alten Eiche zu lösen, von einer drei Meter hohen Leiter. Sie starb wenige Wochen nach dem dritten Geburtstag ihres Sohnes und hinterließ ein tiefes Loch im Herzen aller.

So wuchsen die drei Kinder ohne Mütter auf. Bis Oliver eines Tages Charlotte kennenlernte. Sie war lustig, wunderschön und gutherzig und sie wurde sofort ein Teil der Familie. Alle liebten sie. Und Charlotte, die alle nur Charlie nannten, liebte es, zu dieser ungewöhnlichen Familie zu gehören, deren Angehörige in der Zwischenzeit direkte Nachbarn geworden waren. Sie wohnten nebeneinander in zwei Häusern auf demselben Grundstück, die Zwillinge mit Oliver und Charlie in der Nummer 22a und Niklas mit seinen Großeltern in der Nummer 22b.

Die Jahre vergingen und die Kinder wuchsen zu einer festen Einheit zusammen. Nichts und niemand konnte sie trennen und wer auch immer es wagte, einem von ihnen zu nahe zu treten, musste damit rechnen, Spinnen und Käfer in seiner Schultasche zu finden oder nach dem Sportunterricht T-Shirt und Hose hinter dem Getränkeautomaten in der Cafeteria suchen zu müssen. Sie waren wie Geschwister, teilten Betten, Essen und eben auch die Eltern und Großeltern. Sie gehörten zueinander, vertrauten sich jedes Geheimnis an und erfanden Geschichten, die Außenstehende nicht verstanden.

Es war eine glückliche Kindheit. Voller Liebe, Abenteuer und diesem Gefühl der Sicherheit, das nur Kinder verspüren können, die geborgen aufwachsen. Das Urvertrauen, dass alles immer gut ist und sein wird, egal, was passiert. Es war immer jemand da. Es hörte immer jemand zu. Es gab immer jemanden, bei dem man etwas lernen konnte. Bei dem man wieder ankommen konnte, wenn man selbst verloren war. So war und blieb es für viele Jahre. Bis es plötzlich anders war.

3

September. Freitag. Das Haus am Meer, 22a

Der Moment schien ewig zu dauern. Tatsächlich war es nicht einmal eine halbe Minute bis Oliver und Niklas die Umarmung auflösten, ein paar Worte wechselten und sich dann Lucy zuwandten und sie erwartungsvoll ansahen. Sie fühlte sich dem noch immer nicht gewachsen, murmelte etwas von Tee kochen, drehte sich um und ging in Richtung Küche. Niklas und ihr Vater folgten ihr nicht. Sie bogen, in eine Unterhaltung vertieft, nach links ab und traten auf die Terrasse, auf die die warme September-Sonne schien. Lucy blieb in der Küchentür stehen und sah ihnen nach. Ihr Blick fiel auf eine Kohlezeichnung, die neben der Treppe hing. Sie streckte die Hand aus, erstarrte aber in der Bewegung, bevor sie den Rahmen berühren konnte. Sie ballte die Hand zur Faust, schluckte die Tränen hinunter und trat in die Küche.

Dort nutzte sie die Zeit zum Durchatmen. Mit zitternden Händen füllte sie den Wasserkocher, nahm Tassen, Löffel, Tee und was sie sonst brauchte aus den Schränken und bereitete den Tee in der Kanne mit den blauen Rosen zu. Es war die kitschigste und hässlichste Teekanne der Welt, aber niemand brachte es übers Herz, sie wegzuwerfen. Auch eine Teekanne, so geschmacklos sie sein mag, kann Erinnerungen hervorrufen. Bei dieser waren es warme Sommernachmittage im Garten, Schokoladenkekse und frischer Pfefferminztee.

Alles war hier beim Alten. Wie konnte die Zeit an einem Ort so still stehen? Ihr Vater legte keinen Wert darauf, die Dinge zu verändern. Er war viel unterwegs und vermutlich wollte er nicht, dass etwas anders war, wenn er zurückkam. Vielleicht war es auch sein Weg, um an der Vergangenheit festzuhalten. Vielleicht hatte er Angst, dass er die mit der Zeit verblassenden Erinnerungen ganz verlor, wenn er die Dinge änderte.

Der Tee war fertig und es gab keinen Grund, länger in der Küche zu bleiben. Was sollte das überhaupt? Sie hatte gewusst, worauf sie sich einließ. Ja, sie war etwas überfordert mit den ersten Momenten, aber sie konnte sich zusammenreißen und die Situation meistern. Sie hatte das Wiedersehen mit Niklas zu lange hinausgezögert. Es war an der Zeit, sich ihm zu stellen. Einatmen. Ausatmen. Und los.

Sie betrat die Terrasse und fühlte sich etwas sicherer. Allerdings zitterten ihre Hände noch immer, als sie die Tassen und die Teekanne auf den Tisch stellte. Schnell setzte sie sich auf den Stuhl neben ihrem Vater und verschränkte die Finger auf dem Schoß.

„Hast du ein Bild von dem Stein?“, fragte dieser an Niklas gewandt.

„Was für ein Stein?“ Lucy zog ein Bein zu sich heran und umklammerte das Knie.

Oliver und Niklas sahen sie zweifelnd an.

„Was?“

Noch immer bekam sie statt einer Antwort irritierte Blicke. Und da begann ihr Gehirn wieder zu arbeiten. Sie sprachen von dem Gedenkstein, der morgen auf einer Feier für Niklas‘ Großeltern im Stadt-Zentrum enthüllt werden sollte. Deshalb hatte sie all das schließlich auf sich genommen. Victoria und Samuel waren ein wichtiger Teil der Gemeinde gewesen, jeder hatte sie geliebt und sie hatten sich fühlbar für die sozialen Themen der Stadt engagiert. Der Bürgermeister war im Begriff, sein Amt niederzulegen, und wollte als finalen Amtsakt seinen Freunden, mit denen er gemeinsam die Schule besucht hatte, eine letzte Ehre erweisen.

Es hatte lange gedauert, bis Lucy sich dazu hatte entschließen können, zu kommen. Wochenlang hatte sie eine Ausrede nach der anderen zunächst gefunden, dann ausgeschmückt und schließlich wieder verworfen. Deadlines, Hochzeitsvorbereitungen, lange Flüge und andere Verpflichtungen konnten nicht aufwiegen, was Sam und Vicky ihr bedeutet hatten. Und nachdem Niklas sie über ihren Vater selbst darum gebeten hatte, eine Rede zu halten, hatte sie sich dazu entschlossen, zu kommen. Also waren sie alle hier. Alle außer Simon.

„Oh! Richtig.“ Sie zog ihr Bein näher zu sich und fummelte an einer offenen Naht ihrer Hose herum, um die beiden nicht ansehen zu müssen. Niklas nahm sein Telefon vom Tisch und zeigte ihnen ein Bild des Gedenksteins. Er reichte es zuerst an Lucy. Sie nahm ihm das Smartphone aus der Hand, wobei ihr Zeigefinger leicht die Spitze seines Ringfingers berührte. Sie zuckte zusammen und hätte beinahe das Handy fallen lassen. Niklas hielt es fest, zog aber seinen Finger soweit zurück, dass sie einander nicht mehr berührten. Sie schaute auf und sein Blick traf sie. Sie erwiderte ihn einen Moment zu lange, nahm dann das Smartphone und sah auf das Bild. Es war ein schlichter, unbearbeiteter Findling aus Granit, der Lucy sicher bis zur Hüfte reichte. Auf eine Bronzeplatte geprägt erinnerte er mit den Worten ‚Zum Gedenken an zwei herausragende und unvergessene Menschen.‘ an Niklas‘ Großeltern. Lucy stiegen Tränen in die Augen. Sie wischte sich über die Wange und sah aus dem Augenwinkel, wie Niklas sie beobachtete. Ihr Tod verband sie. Noch immer.

In diesem Moment klingelte Olivers Telefon und er stand auf, um ins Haus zu gehen und das Gespräch dort entgegenzunehmen. Das folgende Schweigen war mehr, als Lucy ertragen konnte. Sie hob den Blick, schaute Niklas direkt in die Augen und sagte: „Seit drei Monaten.“

Er runzelte die Stirn. „Was meinst du?“

Sie atmete tief durch. Diesmal war es ihr egal, ob er ihre Unsicherheit spürte. Sie stellte ihr Bein wieder auf den Boden, überlegte es sich dann aber anders, nahm beide Beine auf den Stuhl und verschränkte sie zum Schneidersitz.

„Ich bin seit drei Monaten verlobt.“ Sie wartete auf eine Reaktion, doch er saß nur da. Und obwohl er ihr direkt in die Augen blickte, hielt er seine starre Fassade aufrecht. Sie fragte sich, wie sie sich fühlen würde, wenn er …

„Herzlichen Glückwunsch.“ In seiner Stimme lag nichts. Nicht der Funken einer Emotion schwang darin mit. Wie konnte er so cool bleiben?

„Danke.“ Sie war sich nicht sicher, ob sie es meinte.

„Es gibt ein Problem!“ Oliver hatte das Telefonat beendet und erschien zurück auf der Terrasse. „Sie können die Zeremonie nicht abhalten. Zumindest nicht morgen.“

„Warum nicht? Was ist passiert?“ Niklas wandte den Blick zu Oliver.

„Der Grund, auf dem der Stein gesetzt werden sollte, trägt ihn nicht. Jemand hat etwas falsch berechnet. Der Stein ist zu schwer und würde mit der Zeit im Boden versinken. Der Untergrund muss verstärkt werden, was ein paar Tage dauern dürfte.“

„Wie viele Tage?“ Lucy spürte wieder die Flügel der fiesen großen Flatterlinge gegen ihren Magen schlagen.

„Das konnte er mir nicht sagen.“ Oliver setzte sich zurück auf den Stuhl neben ihr und goss sich eine Tasse Tee ein. „Möglicherweise nur zwei. Möglicherweise brauchen sie auch eine Woche. Morgen wissen sie mehr.“

„Dann verbringen wir ein paar Tage zusammen.“ Niklas‘ Stimme ließ nicht erkennen, ob er von der Vorstellung begeistert war oder nicht. Aber Oliver lächelte. Er freute sich, die beiden im Haus zu haben. Lucy selbst war sich allerdings nicht sicher, was sie darüber denken sollte. Sie wollte auf keinen Fall mehr als die geplanten zwei Tage hierbleiben. Sie wollte nicht noch länger um Niklas herumschleichen und krampfartige Gespräche mit ihm führen, obwohl sie beide wussten, dass sie sich eigentlich nichts zu sagen hatten. Oder obwohl sie sich viel zu sagen hatten, es aber nicht aussprechen wollten oder konnten oder beides. Andererseits würde es schön sein, etwas mehr Zeit mit ihrem Vater zu verbringen. Sie sahen sich nur alle paar Monate, wenn er sie besuchte oder sie sich an irgendeinem Ort der Welt trafen, an dem einer von ihnen gerade beruflich zu tun hatte.

Und einmal im Jahr fuhren sie mit dem Boot raus, wie früher. Seit Lucy in der Schule war, verbrachten sie jeden Sommer ein paar Wochen auf dem Wasser, während die Jungs in einem Basketball-Camp waren. Für Lucy waren die Bootstouren mit ihrem Vater noch immer das Highlight des Jahres, um das sie ihre Sommertermine herum plante. Als sie klein war, hatte er ihr auf dem Boot die Welt erklärt. Sie hatte jedes seiner Worte aufgesaugt. Aber er war immer auch offen gewesen für ihre Ideen und ihre Fragen. Und wann immer er etwas nicht beantworten konnte, überlegten sie gemeinsam, experimentierten, konsultierten die Bücher auf dem Boot oder fragten im nächsten Hafen jeden, der ihnen begegnete. Vielleicht hatte das den Wunsch in ihr geweckt, Journalistin zu werden und über Fremdes, Unbekanntes und Neues zu schreiben. Immer zu hinterfragen, was ihr unklar war oder suspekt erschien. Immer neugierig zu sein.

„Dann werde ich mal auspacken.“

„Was?!“ Lucy wurde von Niklas‘ Worten, schon wieder, aus ihren Gedanken gerissen.

Er grinste sie schräg an. „Wo bist du denn mit deinen Gedanken?“ In einer anderen Zeit, dachte sie, sagte aber nichts.

„Ich will auspacken, weil es sicher mehr als zwei Tage dauern wird, bis sie das hinkriegen. Es ist Freitag. Hast du nicht gerade mit uns am Tisch gesessen?“ Das hatte sie. Aber offenbar hatte sie ein ganzes Gespräch verpasst. Oh, diese Erinnerungen. Sie brauchte einen klaren Kopf.

„Ähm, doch klar. Mach das. Ich, ähm, dreh mal eine Runde.“

Es war noch nicht einmal vier Uhr. Lucy ging wieder an den Strand. Diesmal ohne Kopfhörer, ohne Laufuhr. Sie genoss die frische Luft und das kühle Wasser, das immer wieder ihre Füße umspülte. Es war windig und die Wellen bauten sich hoch genug auf. Sie überlegte nicht lange, rannte zurück zum Haus, riss die Garagentür auf und da stand es. Neben den Neoprenanzügen, ordentlich aufgereiht zwischen den Brettern von Niklas, Simon und ihrem Vater. Lucy machte sich keine Mühe, ins Haus zu gehen, um sich umzuziehen. Sie schälte sich aus Jeans und T-Shirt, ließ die Unterwäsche an und schlüpfte in ihren türkisfarbenen Anzug. Nach wenigen Minuten war sie fertig. Mit dem Brett unter dem Arm rannte sie zurück zum Meer und hielt dann für einen kurzen Moment inne.

Ihr Herz raste und nach und nach breitete sich ein breites Grinsen auf ihrem Gesicht aus. Sie konnte nicht fassen, wie sehr es sie noch immer packte. Jeden Tag waren sie zum Strand gekommen. Vor der Schule. Bevor irgendjemand sonst im Haus überhaupt daran dachte, aufzustehen, hatten sie die Bretter geschnappt und waren zum Meer gelaufen. Wenn die Wellen nicht ausreichten, hatten sie am Strand gelegen oder sich auf dem seichten Wasser treiben lassen. Im Winter joggten sie auf dem vereisten Sand oder testeten, ob die zugefrorenen Wellen sie tragen konnten. Manchmal mussten sie Taschenlampen mitnehmen, so dunkel war es. Egal, zu welcher Jahreszeit. Egal, welches Wetter. Der Strand am Morgen, der Morgen am Strand gehörte ihnen. Solange, bis einer der Erwachsenen mit den Handtüchern winkte und sie zum Frühstück rief.

Lucy legte ihr Brett aufs Wasser, warf sich darauf, spürte, wie es kurz ein paar Zentimeter tief im Wasser versank, nur, um sofort wieder aufzusteigen. Sie paddelte zu den Wellen hinaus und das Adrenalin schoss durch ihren Körper. In der Stadt gab es keine Möglichkeit zu surfen. Außer im Stadtbad kam sie nur unter der Dusche oder bei Starkregen mit ausreichend Wasser in Berührung, um überhaupt nasse Haare zu bekommen. Selbst der nächste See war so weit entfernt, dass sie nur ab und zu den Weg dorthin auf sich nahm. Manchmal kam sie auf ihren Reisen zum Surfen, aber das war selten und nicht dasselbe. Die Unsicherheit der vergangenen Stunden und Tage fiel ab und sie fühlte sich endlich zuhause. Es war, als hätte es die letzten Jahre nicht gegeben. Sie, das Brett und das Wasser bildeten eine Einheit, die nichts zerstören konnte. Etwas, das sie immer hatte, immer haben würde. Die Glückshormone eroberten ihr Blut und sie vergaß die Welt um sich herum.

Als sie schließlich jemanden rufen hörte, konnte sie unmöglich sagen, wie viel Zeit vergangen war.

„Hey, brauchst du vielleicht ein Handtuch?“ Es war ihr Vater. Er stand im Sand, barfuß und wedelte mit einem weißen Frotteetuch von der Größe einer Picknick-Decke.

Lucy ließ die Wellen hinter sich und paddelte zurück zum Ufer. „Wie lange war ich denn hier draußen?“

„Nicht länger als sonst.“ Sie liebte ihn für diesen Satz. Auch für ihn musste es wie eine Zeitreise gewesen sein, sie auf dem Wasser zu sehen. „Ich habe für halb acht einen Tisch bei José reserviert. Das ist in zwei Stunden.“ Lucys Herz machte einen Sprung. José. Sie schmeckte schon die Gambas auf ihrer Zunge. Sie grinste ihren Vater an und umarmte ihn.

„Ich mach mich fertig und dann können wir los.“

Er schob sie lachend von sich. „Und ich muss mich dann wohl noch mal umziehen.“

„Ach, das trocknet schon wieder.“ Sie ignorierte weiterhin das Handtuch und hakte sich bei ihm unter. Er küsste sie auf die Stirn und legte ihr den Arm um die Schultern.

„Dein Bart kitzelt.“ Sie schmiegte sich an ihn und gemeinsam gingen sie zum Haus.


Kurze Zeit später stand sie frisch geduscht und umgezogen in ihrem Zimmer und ihr Blick fiel auf ihre Tasche. Das Handy ragte halb aus ihr heraus. Oh nein! Ben. Sie hatte ihn völlig vergessen. Sie war vor sieben Stunden gelandet und hatte sich bisher nicht bei ihm gemeldet. Das war nicht nur ungewöhnlich für sie, es widersprach auch ihrer Abmachung. Sie wählte seine Nummer. Es geschah nichts. Kein Ton erklang. Sie kontrollierte das Display. Der Balken für den Netzempfang war leer. Sie stellte sich ans Fenster und einen Moment später trafen fünf Textnachrichten und vier Infos über verpasste Anrufe ein. Sie seufzte, wählte erneut und es klingelte.

„Lucy!“ Er nahm sofort ab.

„Es tut mir leid!“ Was sollte sie sonst sagen? ‚Ich war überfordert damit, meinen Ex wiederzusehen und habe dich wohl einfach vergessen.‘? Wohl kaum.

„Ist alles okay?“ Er klang besorgt.

Sie ignorierte seine Frage. Sie wusste ja selbst nicht, warum sie ihn nicht sofort vom Flughafen aus angerufen hatte. „Ich werde wohl etwas länger hierbleiben müssen. Die Zeremonie wurde verschoben. Offenbar passt das Gewicht des Steins nicht zur Beschaffenheit des Bodens.“

„Das ist ärgerlich. Zu Pauls Hochzeit wirst du es aber schaffen?“ Die Hochzeit. Auch die war vollkommen aus ihrem Bewusstsein verschwunden. Aber das machte ihr deutlich weniger aus. Paul war Bens Bruder. Die beiden machten sich gerade ein paar schöne Tage in einem Golf-Hotel, etwa dreihundert Kilometer von Lucy entfernt. Am nächsten Wochenende würde er Clara heiraten. Lucy kannte Clara seit fast drei Jahren. Sie hatten sich auf einem Wirtschaftsseminar an einer Uni kennengelernt, zu dem Lucy gegangen war, um etwas Hintergrundwissen für einen Artikel zu bekommen und Clara, um Männer zu treffen, die sich mit Wirtschaft beschäftigten. Genau genommen hatten sie sich auf einer Party danach kennengelernt, zu der sie ein Bekannter mitgeschleppt hatte. Sie hatten Spaß gehabt und sich in der folgenden Zeit mehrmals im Monat, oft mehrmals in der Woche zum Tanzen getroffen. Clara war, wie Lucy, Journalistin. Aber eigentlich war sie weniger auf der Jagd nach guten Storys als nach einem passenden Ehemann.

Sie fand ihn. Beim Tanzen. Es war Ben. Clara hatte ihn und seinen Bruder kennengelernt, als sie allein unterwegs war. Und dann hatte sie es geschafft, Lucy zu einem Vierer-Date zu überreden. Lucy erinnerte sich noch gut an den exquisiten Italiener, die Kellner mit den Handservietten über dem Unterarm und die wunderschöne Aussicht durch die Panorama-Fenster auf den Fluss. Und an Ben. Wie er sie ansah. Es bestand kein Zweifel daran, dass sein Interesse nicht Clara galt. Auch er war nur mitgekommen, um seinem Bruder einen Gefallen zu tun. Denn Paul war es, der an der hübschen Südländerin interessiert gewesen war.

Lucy konnte spüren, dass Clara mit diesem Ausgang alles andere als zufrieden war. Ben war attraktiver als sein Bruder. Er war größer und trainierter. Paul war nicht unattraktiv, aber er passte nicht in Claras Beuteschema und erst recht nicht in die Vorstellung, die sie von ihrem Ehemann hatte. Sie wollte einen Mann, der sie schmückte, mit dem sie hübsche Kinder bekommen würde und um den sie andere Frauen beneideten. Paul konnte diese Ansprüche aus Claras Sicht vermutlich nicht halb so gut erfüllen wie sein Bruder. Aber er hatte etwas anderes, das Clara überzeugte. Er bezahlte die Rechnung mit seiner schwarzen Kreditkarte, fuhr sie in seinem weißen Porsche nach Hause und lud sie ein paar Wochen später auf seine fünfzehn Meter lange Jacht im Mittelmeer ein. Sie wurden ein Paar und würden nun, nach gut zwei Jahren, heiraten.

Wahrscheinlich hätte sie sich aber noch vor dem Altar gegen Paul entschieden, wenn sie sich die kleinste Hoffnung bei seinem Bruder gemacht hätte. Doch Ben zeigte vom ersten Moment an nur Interesse für Lucy. Dies belastete ihre Freundschaft zu Clara, auch wenn es eine Weile dauerte, bis Lucy klar wurde, warum Clara sich seit dem Essen mit den Brüdern nicht mehr meldete und kaum auf Nachrichten und Anrufe reagierte.

Es war keine tiefe Freundschaft gewesen, aber Lucy vermisste es, jemanden zu haben, mit dem sie am Wochenende um die Häuser ziehen konnte. Auch wenn sie nie mit Clara darüber gesprochen hatte, waren diese Nächte ein wichtiges Ventil geworden, um all die Gedanken und Emotionen rauszulassen und durch die Erschöpfung, die auf jede Nacht folgte, neue Kraft zu sammeln. Lucy war nicht tanzen gegangen, um Männer zu finden. Sie wollte sie vergessen.

Deshalb dauerte es auch Monate, ehe sie überhaupt in Erwägung zog, mit Ben auszugehen. Und über die gesamte Zeit blieb er hartnäckig und einfühlsam. Er fand die Balance zwischen zu viel und zu wenig Engagement, schickte ihr Blumen, wies sie auf Ausstellungen hin, die sie interessieren könnten und schlug ihr Bücher vor. Sie schwammen auf der gleichen Wellenlänge, daran zweifelte sie nicht. Er war nett, kultiviert und gebildet. Und er sah wirklich gut aus. Und als ihr klar wurde, dass sie Ablenkung brauchte, sagte sie schließlich nach drei Monaten, als er sie zum vermutlich hundertsten Mal fragte, ob sie mit ihm ausgehen würde, ‚Ja‘.

„Pauls Hochzeit? Ja, natürlich.“ So sicher, wie sie klang, war sie sich nicht. Es war sogar wahrscheinlich, dass die Zeremonie am gleichen Tag stattfinden würde. Als die Verlobte des Trauzeugen, damit zukünftige Schwägerin des Brautpaares und selbst Trauzeugin der Braut – wie hatte das nur passieren können? – konnte sie jedoch unmöglich bei der Hochzeit fehlen.

„Gut. Und wie ist es sonst? Wie geht es deinem Vater? Was hast du bisher gemacht?“ Ben war aufmerksam und interessiert wie immer. Lucy lächelte. Sie liebte ihn für diese Eigenschaften. In einem Gespräch mit Ben war nur sie wichtig. Es gab keine Ablenkungen für ihn. Er zeigte ehrliches Interesse an ihrer Arbeit, privaten Konflikten und es war ihm wichtig, ihre Meinung zu Kunst, Politik und anderen Themen zu kennen. Er zeigte ihr, dass er anerkannte, was sie tat und gab ihr täglich aufs Neue das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Also erzählte sie von ihrem Tag. Die emotionalen Schwankungen übersprang sie aber. Sie konnte sich selbst nicht erklären, warum sie so reagiert hatte. Außerdem fühlte sie sich durch den vertrauten Klang seiner Stimme wieder geerdet und bereit für die kommenden Tage. Die emotionalen Achterbahnfahrten hatten ein Ende, das konnte sie spüren.

4

Vor 15 Jahren. Das andere Haus am Meer, 22b

Es war fünf Uhr am Nachmittag. Seit Tagen regnete es ohne Unterbrechung. Simon, Lucy und Niklas saßen gemeinsam mit Anna, die Simons Freundin und Lucys beste Freundin war, in Niklas‘ Wohnzimmer und lernten. Das heißt, Lucy und Niklas lernten für einen Geschichtstest und Anna und Simon knutschten. Das Telefon klingelte. Lucy saß direkt daneben und nahm ab.

„Es ist Sam.“ Sie gab Niklas das Telefon und vertiefte sich wieder in Roosevelts ‚Vier Freiheiten‘-Rede.

Niklas ging in die Küche, um zu telefonieren. Nach ein paar Minuten kam er zurück.

„Was ist los?“, fragte Lucy, ohne von ihrem Buch aufzuschauen.

„Mit dem alten Auto kommen sie nur schleppend voran. Der Regen hat wohl einiges an Sand und Matsch auf die Straßen gespült. Einige Straßen wurden bereits komplett gesperrt.“

„Dann verbringen sie die Nacht in einem Hotel?“ Sie legte einen Zettel in das Buch und notierte sich etwas zur dritten Freiheit, der Freiheit von Not.

„Nein.“ Niklas setzte sich wieder neben sie auf den Teppich. „In der nächsten Stadt mieten sie ein anderes Auto. Sie wollen unbedingt heute noch nach Hause kommen.“

„Warum das denn?“ Simon löste sich von Annas Lippen.

„Irgendein Arzttermin morgen früh. Er sagt, er hat Erfahrung mit solchen Straßenverhältnissen.“

Das stimmte. Aber der Sturm war deutlich zu hören, und der Regen hatte in den vergangenen Stunden einen weiteren Höhepunkt erreicht.

„Das Wetter wird sich sicher bald beruhigen.“ Anna klang zuversichtlich.

„Ja, wir wollen es hoffen.“ Niklas schüttelte den Kopf und die Gedanken ab und nahm Lucys Zettel, um zu sehen, was sie notiert hatte. Sie konzentrierten sich wieder auf die Rolle Amerikas im Zweiten Weltkrieg.

Nach ein paar Stunden klingelte das Telefon erneut. Das Wetter hatte sich inzwischen tatsächlich etwas beruhigt. Der Wind hatte nachgelassen und der Regen war in ein stärkeres Nieseln übergegangen. Niklas‘ Großmutter berichtete, dass sie sich jetzt einen Geländewagen gemietet hätten. Ihr eigenes Auto würde ein Mitarbeiter des Autovermieters am nächsten Tag zu ihnen bringen und den Mietwagen direkt wieder mitnehmen. Sie würden für die restliche Strecke dennoch deutlich länger brauchen als unter normalen Wetterverhältnissen und in etwa einer Stunde zurück sein.

Anna sah auf die Uhr und sprang auf. „Oh nein, ich soll in fünf Minuten zuhause sein.“

„Ich bringe dich.“ Simon sprang ebenfalls auf und half ihr, ihre Sachen zusammenzupacken. Sie verabschiedeten sich, zogen ihre Gummistiefel an und die Kapuzen über den Kopf und verschwanden in der Dunkelheit. Es war nicht weit bis zu Annas Haus, sie konnten laufen.

Lucy warf ihren Stift auf die Bücher und ließ sich aus dem Sitzen nach hinten auf den Boden fallen. „Ich bin so durch. Lass uns aufhören.“

Niklas sah sie dankbar an. „Essen?“

„Oh ja!“ Sie gingen in die Küche, um das Essen aufzuwärmen, das Charlotte ihnen mitgegeben hatte. Niklas‘ Großeltern waren für eine Woche in die Berge gefahren, um wie jedes Jahr ihren Hochzeitstag zu feiern. Seit 45 Jahren fuhren sie an den Ort, an dem sie die Tage nach ihrer Hochzeit verbracht hatten. Das gemütliche Berghotel, in dem sie damals waren, gab es inzwischen nicht mehr, aber sie hatten eine kleine Pension gefunden, in der sie sich wohlfühlten.

Lucys Vater hatte in der Klinik zu tun und Charlotte gab Abendkurse an einer Universität. Sie bestand aber darauf, wenigstens fürs Essen zu sorgen. Mitten in der Prüfungszeit waren sie dafür sehr dankbar. Während der letzten Tage hatten sie fast jeden Nachmittag und Abend auf dieselbe Art verbracht. Nach der Schule lernten sie zu viert in Niklas‘ Wohnzimmer, Simon brachte Anna gegen sieben nach Hause und wurde dort zum Abendessen eingeladen. Niklas und Lucy aßen bei Niklas und lernten danach weiter. Irgendwann kam Simon zurück und gesellte sich zu ihnen. Alle waren müde und ausgezehrt.

Als Simon an diesem Abend kurz vor neun zurückkam, setzte er sich entnervt auf einen der smaragdgrünen Sessel, warf den Kopf nach hinten, schloss die Augen und stöhnte auf.

„Ich kann das nicht mehr. Mein Kopf ist eine einzige Matschgrube. Schlimmer als das, was da draußen abgeht.“

„Hab dich nicht so. Es sind nur noch ein paar Tage.“ Lucy hatte selbst keine Lust mehr, aber Simons Gejammer ging ihr auf die Nerven.

Er atmete tief ein und schnappte sich sein Mathebuch. „Ja, ja. Du hast ja recht.“ Er legte einen Block auf das Analysis-Buch und begann zu rechnen, aber nach der ersten Aufgabe hielt er inne, sah zu der großen Wanduhr und runzelte die Stirn. Lucy bemerkte seinen Blick und folgte ihm. Sie verstand das Stirnrunzeln und sah ihn an. Simon schaute unmerklich zu Niklas, der von all dem nichts mitzubekommen schien. Lucy schüttelte genauso unmerklich den Kopf und Simon nickte. Und dann ging alles sehr schnell. Die alte Wanduhr schlug neun Uhr. Nun sah auch Niklas zweifelnd zu ihr auf. Im selben Moment klingelte das dritte Mal an diesem Abend ein Telefon. Diesmal war es Lucys Handy. Es war ihr Vater.

„Hey, wir sind spät dran, oder? Bist du schon zurück? Wir …“

Oliver unterbrach sie. „Lu. Es ist etwas passiert. Ihr müsst sofort in die Klinik kommen.“ Er klang erschöpft. Die Wanduhr schlug das vierte Mal.

„Warum? Was ist los?“ Lucy wurde nervös. Die Jungs blickten forschend auf. Fünfter Schlag.

Oliver atmete hörbar ein. Er wollte nicht weitersprechen und tat es dennoch. „Es gab einen Unfall.“ Der sechste Schlag.

„Was? Was ist passiert? Wer hatte einen Unfall?“ Panik ergriff sie. Niklas und Simon waren aufgesprungen und standen nun direkt neben ihr. Lucy schaltete den Lautsprecher des Telefons ein.

„Niklas‘ Großeltern.“ Siebter Schlag. „Ich habe euch ein Taxi geschickt. Es müsste jeden Moment da sein. Ich muss auflegen. Wir sehen uns gleich.“ Neben ihr begann Niklas zu zittern. Sie ergriff seine Hand und zog ihn in Richtung Tür. Im gleichen Moment klingelte es und die Wanduhr schlug das achte Mal. Sie rannten zur Diele, zogen Schuhe und Jacken an und rannten weiter zum Taxi, als der neunte Schlag ertönte. Der Fahrer schien zu wissen, welches Ziel sie hatten und brachte sie in weniger als zehn Minuten zum Krankenhaus. Oliver stand wartend davor, bezahlte den Fahrer und ging schnellen Schrittes zur Notaufnahme. Sie folgten ihm.

„Was ist passiert?“ Niklas packte Oliver an der Schulter, riss ihn fast herum. Seine Stimme war unkontrolliert. Er hatte Tränen in den Augen. Und da sah Lucy es. Der Ausdruck in den Augen ihres Vaters war leer und traurig zugleich. Kraftlos und voller Mitgefühl. Sie sah, wie schwer es ihm fiel, zu sagen, was er jetzt sagen musste.

„Es war ein sehr schwerer Unfall, Nik. Ein anderes Auto ist von der Spur abgekommen und …“ Er blieb stehen und legte ihm die Hände auf die Schultern. „Wir konnten Vicky nicht mehr helfen.“

Niklas erstarrte. Seine Mimik zeigte keinerlei Regung mehr. Aber Oliver lief weiter. Er hatte es eilig. Zu eilig. In Lucys Bewusstsein war noch nicht angekommen, was er da gerade gesagt hatte, aber ihr Körper reagierte bereits: Ihr Magen zog sich zusammen, darüber klopfte ihr Herz heftig und in ihren Augen sammelten sich Tränen, ihr Blick verschwamm. Der viel zu fokussierte Blick ihres Vaters alarmierte sie. Er hatte nicht alles gesagt. Panik stieg in ihr auf. Oliver hetzte ihnen voraus durch die Eingangshalle, so, als hätten sie keine Zeit zu verlieren. Niklas schien es genauso zu gehen, denn er sagte nichts, bis sie einen Korridor betraten, in dem ein halbes Dutzend wartende Menschen saß. Das Licht war grell und von überall drangen Geräusche zu ihr, die Lucys Gehirn nicht einordnen konnte.

„Großvater?“ Mehr konnte Niklas nicht sagen. Er musste all seine Kraft aufbringen, um nicht zusammenzubrechen und mit Oliver Schritt zu halten. Lucy ergriff wieder seine Hand. Sie war eiskalt.

„Er ist hier, aber …“

„Wo?“

„Wir müssen uns beeilen. Er …“ Oliver atmete tief durch und schaffte es nicht länger, seine Tränen zurückzuhalten. „Er hat nicht mehr viel Zeit.“

„Wo ist er?“, schrie Niklas, aber seine Stimme brach bei den wenigen Worten. Das letzte Wort ging in einem Schluchzen unter, das Lucy tief im Innern traf, und sie spürte, wie etwas in ihr zerbrach. Oliver blieb stehen und blickte zur Seite. Dort war ein Krankenzimmer, aus dem das Piepsen eines Monitors zu hören war. Sie gingen gemeinsam hinein.

5

September. Freitag. Das Haus am Meer, 22a

Lucy? Bist du soweit?“ Niklas klopfte an ihre Tür. Er nannte sie Lucy und es klang fremd.

„Ja, Sekunde.“ Lucy warf einen letzten Blick in den Spiegel und zögerte. Sie sah gut aus. Aber vielleicht etwas zu gut für den kleinen Spanier. Früher waren sie oft direkt vom Strand in das gemütliche Restaurant mit der großen Terrasse gegangen. Dann saßen sie mit sandigen Füßen, nassen Haaren, von der Sonne geröteten Wangen und salziger Haut an ihrem Tisch und stritten sich um das Strandkorbrecht. Sie aßen Tapas und Paella, ließen den Tag Revue passieren und planten den nächsten. Sie hatten immer einen Plan. Auch wenn er oft nur darin bestand, den ganzen Tag im Wasser zu verbringen und endlich länger auf dem Brett zu stehen als am Tag zuvor.

„Lucy?“ Niklas klopfte noch mal.

„Ja, ich komme.“ Noch ein Blick in den Spiegel. Nein, es war zu viel. Sie tauschte die High Heels gegen Schlappen und die goldene Kette gegen eine aus Muscheln, die sie aus ihrem alten Schmuckkästchen fischte, ohne hinzusehen. Sie löste die Klemmen aus ihrer Frisur und wuschelte sich durch die Haare. Besser.

Niklas wartete in der Diele. Sie blickte sich um, als sie die Treppe hinunterstieg und suchte nach ihrem Vater.

Niklas folgte ihrem Blick. „Es gab einen Notfall und er musste in die Klinik. Er versucht, von dort aus zu José zu kommen, wusste aber nicht, wie lange es dauern würde.“

„Oh!“ Einatmen, ausatmen. Wo war die Ruhe aus dem Gespräch mit Ben geblieben? Sie lächelte. Oder versuchte es, öffnete entschlossen die Tür und sah ihn fragend an. „Gehen wir trotzdem?“

„Ja, sicher.“ Niklas lächelte ebenfalls. „Du siehst gut aus. Für einen Moment hatte ich Angst, du würdest in High Heels zu José laufen wollen.“

„Hmhm.“ Lucy lächelte gequält. „Klar, ich und High Heels.“

Er deutete mit dem Finger nach draußen. „Der Panzer in der Einfahrt würde gut dazu passen.“

„Den habe nicht ich gemietet. Und außerdem passen High Heels und Autos gar nicht zusammen. Zumindest nicht, wenn du selbst fährst.“

Er grinste. „Ich werde es mir merken. Und jetzt komm, wir sollten …“ Er stutzte und musterte sie mit erhobener Augenbraue.

„Was ist?“

„Nichts. Ich meine. Deine Kette. Ich wusste nicht, dass du sie noch hast.“ Sie sah an sich hinunter. Natürlich. In der Hektik des Moments hatte sie ausgerechnet die Kette gegriffen, die Niklas ihr zu ihrem dreizehnten Geburtstag geschenkt hatte. Wie hatte sie das nicht bemerken können? Jahrelang war es ihre Lieblingskette gewesen. Sie hatte sie fast täglich getragen, sie jeden Morgen fast schon automatisch umgelegt. Lucy schwieg und schlängelte sich an ihm vorbei durch die Haustür.

Sie brauchten zehn Minuten bis zum Restaurant. Noch nie war ihr dieser Weg so lang vorgekommen. Nachdem sie das Wetter und noch einmal das Dilemma um den Gedenkstein durchgesprochen hatten, schafften sie es nicht, ein Gespräch zu führen, das mehr als zwei Wortwechsel umfasste, obwohl beide immer wieder versuchten, die Stille zu durchbrechen. Endlich erreichten sie den kleinen Weg, der auf die Teakholz-Terrasse mit den roten Tischen führte und Lucy atmete erleichtert auf. Sie konnte sich nicht erinnern, das Restaurant jemals über den Haupteingang betreten zu haben. Von der Terrasse aus sah man das Meer und wenn man zur richtigen Uhrzeit dort war und das Wetter mitspielte, konnte man die Sonne dabei beobachten, wie sie im Meer versank und den Himmel goldfarben, orange, pink und schließlich lila erstrahlen ließ. In der Stadt konnte sie die Sonne nie so lange sehen. Immer standen Häuser im Weg und blockierten den Blick. Und auch wenn der Himmel sich dort an manchen Abenden in den schönsten Farben zeigte, kein einziges Mal hatte sie einen Sonnenuntergang gesehen, der etwas Ähnliches in ihr auslöste wie dieser hier. Heute waren sie zu spät und sahen nur einen leichten lilafarbenen Schimmer am Horizont.

„Lu! Nik!“ José lief ihnen strahlend entgegen. Lucy schmunzelte, als sie den kleinen, rundlichen Spanier mit seinen warmen und herzlichen Augen sah. Wie er ihre Namen rief, wie er das ‚i‘ in ‚Nik‘ in die Länge zog, klang so vertraut wie der Kies unter ihren Schritten in der Einfahrt vor dem Haus. Aber diese Vertrautheit löste keine Panik in ihr aus, sondern brachte sie zum Lächeln. Sie warf sich in seine geöffneten Arme und drückte ihn fest an sich. Er erwiderte ihre Umarmung, schob sie dann ein Stück von sich, um sie einen Moment zu betrachten und sie dann wieder fest an sich zu ziehen.

„Du siehst gut aus, Stadtmädchen. Aber ein bisschen blass!“

„Ich bin doch kein Stadtmädchen!“ Lucy war irritiert, fast empört. Aber warum störte es sie, dass er sie so nannte? Sie lebte gern in der Stadt. Sie liebte das Leben zwischen den hohen Häusern, den Galerien, Parks und den vielen Menschen. Natürlich war sie ein Stadtmädchen. Aber dieses Wort aus Josés Mund schaffte Distanz und das wollte sie nicht. Jetzt gerade wollte sie das braun gebrannte Mädchen sein, das barfuß auf der Terrasse Fleischbällchen aß, mit Simon über die Höhe der Wellen stritt und über einen von Niklas‘ Witzen lachte. Auch wenn sie genau genommen kein Mädchen mehr war und es schon ziemlich lange her war, dass sie Niklas einen Witz hatte erzählen hören.

„Nein?“, fragte er mit einem Zwinkern in den Augen.

„Nein“, antwortete Lucy laut und mit vor der Brust verschränkten Armen. Dann lachte sie. „Du wirst sehen. Morgen verzichte ich auf die Dusche und komme direkt aus dem Wasser zu dir.“

José lachte ebenfalls. Nachdem er auch Niklas umarmt hatte, führte er sie zu ihrem Tisch. Dem Tisch mit dem Strandkorb, den er vor Jahren über das Internet ersteigert hatte. Es war immer noch warm genug, um auf der Terrasse zu sitzen, und Lucy war dankbar dafür. Die frische Luft und die Weite, in die der Blick schweifen konnte, würden es leichter machen, die nächsten Stunden zu überstehen. Das Wiedersehen mit José hatte die Stimmung etwas aufgelockert und Lucy freute sich auf das gute Essen. Sie ließ sich in den Strandkorb fallen und beobachtete Niklas dabei, wie er sich auf den Stuhl setzte, der ihr am nächsten stand. Er schien ebenfalls aufzutauen, denn er schmunzelte. Unmerklich, aber sie kannte ihn zu gut, um den Schelm in seinen Augen nicht zu bemerken.

„Was ist?“

„Stadtmädchen.“ Er sagte es spöttisch, aber auch liebevoll und sein Schmunzeln wurde zu dem für ihn so typischen Grinsen. Sie wollte wegsehen, dem vertrauten Anblick entfliehen, aber er sah sie weiter offen an.

Schließlich hielt sie es nicht länger aus und kicherte. Und als sein Grinsen daraufhin breiter wurde, lachte sie. Obwohl es absurd war. Sie war ein Stadtmädchen. Aber sie lachte über diese Absurdität umso mehr. Sie lachte so sehr, dass Niklas sich davon anstecken ließ und ebenfalls einen Lachanfall bekam. Es dauerte mehrere Minuten, bis sie sich beruhigt hatten. Und als sich dann ihre Blicke trafen, übermannte sie ein neuer Anfall und es dauerte weitere Minuten, bevor sie es schafften, einander anzusehen, ohne wieder ins Lachen auszubrechen. Lucy ließ sich in den Strandkorb zurückfallen, atmete tief durch, wischte sich die Tränen von den Wangen, sah ihn an und lächelte. Das erste Mal an diesem Tag sah sie ihn wirklich an. Sie sah in seine tiefblauen Augen, um die leichte Lachfältchen spielten, und sie war, jetzt in diesem Moment, glücklich, dass sie hier saßen. Es war gut. Sie vermisste ihn, auch wenn sie dieses Gefühl sehr gut blockieren konnte, wenn er nicht da war. Und das erste Mal kam ganz leise der Gedanke auf, dass es vielleicht nach all der Zeit eine Chance für sie geben könnte, einfach nur Freunde zu sein. Wie schon einmal, vor vielen Jahren, hatten sie es durch ein gemeinsames Lachen geschafft, einander näher zu kommen.

José kam an ihren Tisch, um die Bestellung aufzunehmen. Aber statt ihnen Karten für die Auswahl zu geben, fragte er nur: „Wie immer?“

Und beide antworteten gemeinsam grinsend: „Wie immer!“ Nach zwanzig Minuten war der Tisch gefüllt mit Calamares, Fisch, Fleischbällchen, die so scharf waren, dass Lucy sie ohne Aioli nicht essen konnte, Papas arrugadas, Datteln und jeder Menge weiterer Tapas, Wein, Wasser und dem besten Brot der Welt. Da wohnte sie nun in einer Weltmetropole und sie hatte noch kein Restaurant gefunden, das es mit Josés frisch gebackenem Brot aufnehmen konnte.

Lucy ließ sich in die Vertrautheit der Atmosphäre fallen. In der Stadt fiel es ihr schwer, sich fallen zu lassen. Sie liebte das Leben dort. Die Vielfalt und das Treiben. Aber sie hatte vergessen, wie gut es tat, sich zurücklehnen und einfach entspannen zu können. Leute um sich zu haben, die sie kannten und wussten, wer sie war. Jetzt war es nicht mehr schwer, ein Gespräch mit Niklas zu führen. Der Ort, das Lachen und nicht zuletzt der Wein hatten einen Großteil der Spannung zwischen ihnen gelöst. Sie redeten über Kleinigkeiten wie die neuen Salzstreuer und Josés ergraute Haare und wie es früher war, hier zu sitzen.

„Ich hätte den Sonnenuntergang gern gesehen.“ Es gehörte einfach dazu, fand Lucy.

„Wir kommen morgen wieder. Früher.“ Niklas lächelte.

„Ja, mal sehen. Das wäre schön.“ Und dann sprachen sie über die Sonnenuntergänge der Welt. Die Art, wie die Kunstlichter der Stadt sich in Kontrast stellen zu den warmen und intensiven Farben des Himmels. Und über die Weite, über die sich ein Sonnenuntergang in der Wüste erstrecken kann. Sie erinnerten sich an gemeinsame Abende, als sie einfach nur Freunde gewesen waren und erzählten Geschichten aus Zeiten, in denen das anders war. Es tat gut, ihn über die letzten Jahre sprechen zu hören. Ihr Vater hatte nie etwas erzählt. Das hatte sie nicht gewollt. Dass sie hier beide so sitzen und ein Gespräch dieser Art führen konnten, hatte sie nicht erwartet. Umso mehr genoss sie jedes Wort, das sie wechselten und hin und wieder erschreckte es sie, wie leicht das war.

„Ich hätte nicht gedacht, dass es funktioniert.“ Hatte sie das laut gesagt?

„Was meinst du?“, fragte er.

„Ach …“ Diese Art von Gespräch wollte sie nicht führen. Das hätte dem Moment die Leichtigkeit wieder genommen. Außerdem war Lucy unsicher, ob sie ihre Gefühle mit ihm teilen wollte.

„Ach, ich meinte, hier zu sitzen. Wieder hier zu sein. Ich hatte geglaubt, es wäre schwer, anzukommen. Aber das ist es nicht. Alles ist so vertraut.“

„Ja.“ Er nickte. Und dann stand er auf und setzte sich neben sie in den Strandkorb. Lucy spürte etwas von der Spannung zurück in ihren Körper kehren. Aber anders als nach ihrem Ankommen, war sie nicht unangenehm.

Sie sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an. „Ich habe das Strandkorbrecht heute.“ Er grinste nur, trank einen Schluck Wein und blickte aufs Meer, das kaum noch zu erkennen war.

Es war ein schöner, frischer Spätsommerabend. José hatte ihnen Decken gebracht, als die Nacht hereinbrach. Das und der Wein, das scharfe Essen und nicht zuletzt das Sprechen und die körperliche Nähe wärmten sie ausreichend. Als José die zweite Flasche Wein brachte, waren sie vertieft in Gespräche über frühere Zeiten. Es war leicht über die Kindheit und die Zeit danach zu reden. Damals hätte sie nichts trennen können. Noch vor ein paar Stunden wäre die Nähe zu viel für Lucy gewesen. Aber jetzt genoss sie Niklas‘ Wärme und die zunehmende Vertrautheit. Fast hätte sie ihren Kopf auf seine Schulter fallen lassen. Sie unterdrückte ein Gähnen.

„Bist du müde?“

„Ja, ein bisschen.“ Sie drehte den Kopf zu ihm. „Ich hatte nicht so viel Schlaf letzte Nacht.“ Sie sah in seine Augen. Ihre Gesichter waren einander so nah, dass sie seinen Atem spüren konnte.

„Ich auch nicht.“

Sie fragte nicht, warum.

„Möchtest du nach Hause?“ Da lag etwas in seiner Stimme, und eine Gänsehaut überzog ihren Körper.

„Nein.“ Ihre Stimme wurde leiser.

Sie schwiegen und sahen einander in die Augen. Diese Augen. Wie oft hatte sie sich darin verloren. Der Wind blies eine Strähne in ihr Gesicht. Niklas schob sie sanft mit zwei Fingern hinter ihr Ohr. Ein Kribbeln zog sich von der Stelle, an der er ihre Haut berührte durch ihren Körper und sie erschauderte, unmerklich. Zumindest hoffte sie das. Aber er merkte es.

„Ist dir kalt?“ Er sprach ruhig, leise, gefühlvoll. Und so vertraut.

„Nein.“ Er hatte nur erahnen können, dass sie etwas sagte.

Sie wollte die Augen schließen und diesen Moment festhalten. Aber sie konnte sich nicht von seinem Blick lösen. Sie wollte es nicht. Ein zartes Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus und sie erwiderte es. Seine Finger lagen noch immer auf ihrem Haar und er strich über ihre Wange. Ihr Herz raste. Langsam legte er seine Stirn an ihre und als sich ihre Wimpern fast berührten, schloss er die Augen. Jede Faser in ihr reagierte auf die Berührung seiner Haut. Sie legte ihre Finger auf seine Hand und er streichelte mit dem Daumen über die Außenkante ihres kleinen Fingers. Sie konnte nicht mehr denken, wollte nicht mehr denken.

Und dann, wie aus dem Nichts, hörte sie die Stimme ihres Vaters. Er und José mussten direkt hinter ihnen auf den Strandkorb zu steuern. Sie sprachen Spanisch. Niklas hörte es auch, öffnete die Augen, löste die Stirn von der ihren und sah sie für einen Moment an. Enttäuschung lag in seinem Blick. Er lehnte sich im Strandkorb zurück, schlug die Arme hinter den Kopf und seufzte, bevor er sich wieder aufrappelte und eine unverfänglichere Position einnahm. Lucy stand auf, um Oliver zu begrüßen.

„Hey, wie ich sehe, habt ihr euch auch ohne mich amüsiert.“ Er sah müde aus, drückte Lucy kurz an sich, setzte sich auf einen freien Stuhl und griff nach ihrem Weinglas.

„Ist alles gut gegangen?“ Ihre Stimme klang fremd und schien von weit her zu kommen.

„Ja, das ist es. Ein Grund zum Feiern.“ Er trank einen großen Schluck, schwenkte das Glas in der Hand und erzählte. Ein kleiner Junge war vom Baum gefallen und als Kinderarzt der Familie hatte er vor allem Beistand geleistet. Er war mit ihnen die Ergebnisse der Untersuchungen durchgegangen und hatte dafür sorgen können, dass sie nicht allzu lange warten mussten. Letztendlich kamen Kind und Eltern mit einem riesigen Schrecken, einem gebrochenen Unterarm und einer leichten Gehirnerschütterung davon.

Sie saßen noch lange und erzählten. Lucy erfuhr viel über die vergangenen Jahre in Niklas‘ Leben. Er hatte einige Zeit in verschiedenen Aufbauprojekten in Schwellenländern oder von Krieg zerstörten Regionen verbracht, arbeitete momentan aber mit Kindern und Jugendlichen in einem Jugendclub in einem kleinen Ort, 200km von Lucys Stadt entfernt. Er wollte seine Erfahrungen mit den Kindern teilen und auch hier etwas gegen die Aussichtslosigkeit tun, der sich viele Familien ausgesetzt sahen. Nebenbei sollten die Kinder lernen, wie sie anderen helfen konnten und ein Gefühl der Dankbarkeit für ihr eigenes Leben entwickeln.

Auch Lucy erzählte. Von ihren Reportagereisen in Asien und der Zeit, die sie in der Stadt verbrachte, um zu schreiben. Nur von Ben erzählte sie nichts.

Noch auf dem Heimweg lachten sie viel, die Stimmung war gelöst. Jetzt verging die Zeit wie im Flug und als sie zuhause ankamen, fühlte es sich für Lucy das erste Mal seit Jahren auch genauso an.

6

Vor 15 Jahren. Das andere Haus am Meer, 22b

Es war Samstag. Sonnenlicht fiel durch das Fenster auf ihr Gesicht. Sie hatten die Vorhänge offengelassen. Lucy hielt die Augen geschlossen und versuchte, den Moment festzuhalten, in dem sie nur die Wärme der morgendlichen Sonnenstrahlen auf dem Gesicht spürte und die Träume der vergangenen Nacht die einzigen Bilder in ihrem Kopf malten. Er währte nur ein paar Sekunden. Und als die Gedanken, die sie so gern unterdrücken würde, erwachten, die Oberhand gewannen und jedes andere Bild verdrängten, öffnete sie die Augen, um ihnen zu entrinnen. Es gelang ihr nicht. Sie musste gegen das helle Sonnenlicht anblinzeln, um den Raum erkennen zu können. Auf dem Nachttisch stand ein Wecker, der aussah wie ein Basketball. Es war noch Zeit.

Die Jungs schliefen noch. Simon auf einer Matratze auf dem alten Dielenboden. Niklas lag neben ihr auf der Seite, ihr zugewandt. Sie drehte sich zu ihm und betrachtete sein Gesicht. Er sah friedlich aus und entspannt. Ein leichtes Lächeln lag auf seinen Lippen. Der Schlaf hatte die Traurigkeit der letzten Tage mit sich genommen. Sie in eine Ecke gestellt, in der sie darauf warten musste, bis der Tag ihm diese Macht wieder wegnahm. Sie streckte die Hand aus, um über seine Wange zu streicheln, aber bevor sie ihn berührte, zog sie sie schnell wieder zurück. Sie wollte ihm diesen Frieden nicht früher nehmen als notwendig. Aber Niklas musste die Bewegung gespürt haben. Er öffnete blinzelnd die Augen und sah sie direkt an. Lucy spürte, wie auch seine Gedanken einen Moment brauchten, um zu erwachen. Wie er einen Augenblick lang zwischen Traumwelt und Realität schwebte und wie diese einzigartige Unbeschwertheit des Aufwachens seine Gefühlswelt bestimmte. Für einen Moment sah er nur sie und war einen weiteren Moment davon entfernt, zu lächeln.

Doch dann kehrte der Schmerz zurück. Sein Blick verdunkelte sich. Er schloss die Augen, seine Gesichtszüge spannten sich an. Und Lucy sah, wie er kämpfte. Aber er konnte es nicht aufhalten. Tränen traten aus seinen Augen, liefen über seine Wangen und fielen auf das blau-grün gestreifte Kopfkissen, wo sie dunkle Flecken hinterließen. Lucy rutschte näher an ihn heran, nahm ihn in den Arm und gemeinsam weinten sie, so wie sie es seit dem Unfall jeden Morgen getan hatten. Sie wusste nicht, wie lange es dauerte, aber irgendwann schaffte Niklas es, sich zu beruhigen. Er löste sich aus ihrer Umarmung und sah sie an. „Danke.“ Mehr als mit den Lippen sprach er das Wort mit den Augen aus. Sie strich ihm die Tränen von der Wange und lächelte. Und auch wenn es ein schweres Lächeln war, lächelte er zurück. Er küsste sie auf die Wange, nahm sie noch einmal in den Arm und kletterte dann aus dem Bett. Lucy atmete tief durch und tat es ihm gleich.

In diesem Moment hörte Lucy, wie die Haustür aufgeschlossen und geöffnet wurde und wieder ins Schloss fiel. Das Geräusch weckte Simon. Gemeinsam gingen sie nach unten und trafen auf Charlotte, die drei Kleidersäcke an die Garderobe hängte. Zwei dunkle Anzüge und ein schwarzes Kleid. Sie umarmte jeden von ihnen und Lucy sah an ihren ungeschminkten, roten Augen, dass auch ihr Tag mit Tränen begonnen hatte.

„Eure Schuhe bringt Oliver später mit. Er ist noch in der Klinik. Habt ihr Hunger? Ich mache Frühstück. Wer möchte Eier?“ Sie redete, um die Stille zu füllen. Sie klang unsicher und nervös. Aber keiner der drei hatte Hunger. Das sah auch Charlotte, die bereits begonnen hatte, Pfannen und Zutaten aus den Schränken zu holen. Sie hielt inne und stellte die Eier zurück in den Kühlschrank.

„Kommt schon, ich muss was tun.“ Sie rang um Fassung.

„Kaffee.“ Simon kam ihr zu Hilfe. „Ich denke, wir könnten alle einen Kaffee vertragen. Nicht wahr?“ Lucy und Niklas nickten und holten selbst Tassen aus dem Schrank. Es war noch immer Zeit.

7

September. Samstag. Das Haus am Meer, 22a

Aufstehen, Schlafmütze.“ Niklas klopfte an Lucys Tür. Sie öffnete schwerfällig die Augen und sah blinzelnd auf die Uhr. Es war 06:15 Uhr.

„Geh weg!“ Es war spät geworden. Lucy hatte keine Ahnung, wann sie schließlich eingeschlafen war, aber mehr als drei Stunden konnte es nicht her sein. Sie hatte lange nicht abschalten können. Die letzten Tage hatten sie aufgewühlt. All die Emotionen und Erinnerungen und nicht zuletzt der Alkohol. Und dann dieser Moment im Strandkorb. Was wäre passiert, wenn ihr Vater fünf Minuten später aufgetaucht wäre? Nichts. Vermutlich. Oder doch? Um ein Uhr hatte sie sich schließlich dazu entschieden, den Gedanken etwas entgegenzusetzen und an einem Artikel weiterzuschreiben.

„Komm schon! Wie in alten Zeiten. Wenn du nicht sofort aufstehst, komme ich rein.“

Ein Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit. Keiner von ihnen hatte sich morgens abwimmeln lassen. Es gab keine Ausrede, die es gerechtfertigt hätte, den allmorgendlichen Ausflug zum Strand zu schwänzen. Selbst, wenn sie krank waren, hatten sie sich aufgerafft, um wenigstens für fünf Minuten die Seeluft einzuatmen.

„Okay, gib mir eine Minute.“

„Gut, ich warte unten. Aber in 70 Sekunden stehe ich wieder hier. Und du weißt, was das bedeutet.“ Er klang vergnügt und hellwach. Und Lucy wusste genau, was es bedeutete. Sie hatte sich ein einziges Mal dem morgendlichen Ritual entziehen wollen, weil sie die Nacht über mit Anna telefoniert und an einem Referat gearbeitet hatte. Aber Simon und Niklas hatten sie geschnappt und unter die eiskalte Dusche gestellt. Das hatte sie ihnen bis heute nicht verziehen. Seine erzieherische Wirkung hatte es aber nicht verfehlt. Seither war sie immer die erste gewesen, die aufstand.

„Mach Kaffee!“ Sie sprang aus dem Bett und ging ins Bad. Fünf Minuten später stand sie gähnend in der Küche und beobachtete Niklas dabei, wie er zwei Becher mit Kaffee füllte.

„Guten Morgen!“ Er sah sie prüfend an. „Schlecht geschlafen?“

„Es geht.“ Sie gähnte wieder und musste lachen.

„Das Wasser wird dich schon wach machen.“

„Das befürchte ich.“ Sie grinste.

Sie holten die Bretter und Neoprenanzüge aus der Garage und liefen zum Strand. Es dämmerte noch. Die Sonne würde sich erst in ein paar Minuten über den Horizont schieben. Lucy liebte diese Zeit am Morgen. Sie setzte sich auf ihr Brett und beobachtete die Wellen, während sie ihren Kaffee trank. Und sie beobachtete Niklas dabei, wie er seinen Anzug über die Badehose zog. Hatte er trainiert?

„Konntest du nicht schlafen?“ Sie erschrak beim Klang seiner Stimme. Etwas Kaffee tropfte über den Rand der Tasse und landete auf ihrem Brett und im Sand. Sie wischte mit der Hand über das Brett. Augenblicklich blieb eine Schicht Sand auf ihrer Haut kleben. Sie stellte die Tasse in den Sand, rieb die Hände gegeneinander und schaute wieder aufs Wasser.

„Ich weiß nicht. Ein Artikel, an dem ich schreibe, hat mich beschäftigt.“ Das stimmte ja, irgendwie.

„Worüber schreibst du?“

„Hm?“ Lucy sah wieder zu ihm auf. Sie war zu müde für ein Gespräch.

„Bist du wieder eingeschlafen?“ Er schmunzelte.

„Was? Nein!“

„Dann los!“ Er nahm ihre Hand und zog sie hoch. Diese Berührung jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Sie zog sie schnell wieder weg.

„Ist dir kalt?“ Wie konnte er das gemerkt haben?

„Ja, sicher ist mir kalt. Es sind 2 Grad.“

„Es sind 14 Grad.“

„Sag ich doch. Eiskalt.“ Sie sprang auf und wollte so schnell wie möglich ins Wasser. Obwohl sie sich dabei nicht wohl fühlte, zog sie Hose und Pulli aus und stieg in ihren Anzug. Dann griff sie ihr Brett, sprintete sie zum Meer und hörte, wie auch Niklas hinter ihr durch den Sand rannte. Sie sprangen in die Wellen und sofort fiel die Müdigkeit von ihr ab. Das Wasser war kalt. Die Wellen noch nicht besonders hoch, aber hoch genug. Lucy brauchte ihre gesamte Konzentration, um nicht vom Brett zu fallen. Und sie war dankbar dafür. Niklas war genauso hochkonzentriert und genoss es sichtlich, durch die Wellen zu reiten. Irgendwann lachte er und rief ihr etwas zu, was sie nicht verstand. Aber es lenkte sie ab und brachte sie aus dem Gleichgewicht. Sie fiel ins Wasser und als sie wieder auftauchte, funkelte sie ihn böse an, lachte dann aber. Sie war erleichtert. Offenbar stand der Moment im Strandkorb nicht zwischen ihnen.

Sie legte sich bäuchlings aufs Brett und sah zum Strand, um der Sonne beim Aufgehen zuzusehen. Niklas paddelte neben sie und gemeinsam beobachteten sie, wie der Himmel sich färbte und das Wasser um sie herum in goldenes Licht tauchte. Sie schwiegen und Lucy genoss den Moment bis sie am Strand zwei weiße Punkte hin und her hüpfen sah. Sie blinzelte und erkannte ihren Vater, der mit zwei Handtüchern wedelnd zum Wasser lief.

„In fünfzehn Minuten gibt es Frühstück. Wie kann es sein, dass ihr es immer noch nicht schafft, euch Handtücher mit zum Strand zu nehmen?“ Er klang vergnügt und lief ihnen entgegen, als sie ans Ufer paddelten.

„Wir verlassen uns einfach auf dich!“ Niklas klopfte ihm mit der nassen Hand auf die Schulter. Oliver sah ihn empört an. Dann lachte er.

„Ich muss nach den Eiern sehen.“ Er ging zurück, während Niklas und Lucy sich abtrockneten.

„Danke!“ Lucy wickelte sich in ihr Handtuch.

„Wofür?“

„Na, fürs Wecken.“

„Das liegt mir im Blut.“ Er lachte. „Also, worüber schreibst du denn nun?“

„Schreiben?“

„Na, dein Artikel!“ Er zog die Augenbrauen hoch. „Ich dachte, das Wasser hätte dich geweckt.“ Er stupste ihr mit der Faust gegen die Schulter.

„Oh, ach so.“ Sie lachte auch und schubste ihn sanft. Für einen Moment erstarrte sie, weil es plötzlich so leicht war, ihn auf diese Weise zu berühren, ihn überhaupt zu berühren. Dann sagte sie: „Lach nicht über mich. Das war völlig aus dem Zusammenhang gerissen.“ Sie liefen zurück zum Haus, als sie weiter sprach. „Also, vor ein paar Monaten habe ich auf einer Ausstellung ein Mädchen getroffen. Sie heißt Louise und ist dreizehn. Sie lebt in einem Kinderheim am Rand der Stadt und zeichnet unheimlich gut. Wirklich richtig gut! Und den ganzen Tag. Sie hat aber so gut wie keinen Zugang zu Kunst, obwohl sie dafür brennt, zu wissen und zu sehen, was andere Menschen mit ihrer Kreativität anfangen oder früher angefangen haben. Vor drei Jahren hatte sie jedes Kunstbuch aus der Heimbibliothek mehrfach gelesen. Manchmal schleicht sie sich davon, um Ausstellungen zu besuchen. Sie hat keinen eigenen Computer und im Computerraum ist nie genug Zeit, um lange zu surfen. Ich konnte mit der Heimleitung ausmachen, dass ich sie ab und zu abhole, um mit ihr Ausstellungen zu besuchen, sie anderen Künstlern vorzustellen und ihr die Möglichkeit zu geben, im Atelier von Sergej zu zeichnen.“

„Sergej? Wohnt er dort noch? Ich dachte, er wollte zurück nach Moskau?“

„Nein. Er hat vor zwei Jahren jemanden kennengelernt, Mika. Die zwei haben letzten Monat geheiratet.“

„Tatsächlich? Hat er sich endlich geoutet?“

„Ja, er musste.“ Sie lachte.

„Das wurde aber auch Zeit. Diese Alibi-Freundinnen waren unerträglich.“

„Oh ja, absolut.“

„Okay, erzähl weiter. Ich wollte dich nicht unterbrechen.“

„Ach ja, richtig. Lou.“

„Lou?“

„Ähm, ja. Das ist ihr Spitzname.“

„Ist das nicht furchtbar verwirrend?“

„Verwirrend? Wieso?“

„Wach auf, Lu. Ihr habt den gleichen Namen.“

„Nein haben wir nicht. Da ist ein ‚o‘ in ihrem Namen.“ Sie zog das ‚o‘ in die Länge und grinste ihn an. „Also, ich leihe Bücher für sie aus und bringe ihr die ausgedruckten Artikel ihrer Lieblingsblogs mit. Aus den Treffen ‚ab und zu‘ ist inzwischen ‚mindestens einmal in der Woche‘ geworden.“

Sie sah zur Seite. Niklas hörte ihr aufmerksam zu. Aber seinen Gesichtsausdruck konnte sie nicht deuten.

„Ich wollte von Anfang an über sie schreiben, aber ich hatte so viele andere Artikel anstehen und … na ja, du weißt schon. Vor ein paar Wochen wurde es ruhiger und ich habe sie und natürlich auch Angela – das ist die Heimleiterin – gefragt, ob das okay wäre. Ich möchte auch wissen, inwiefern solche Interessen in Kinderheimen gefördert werden können oder vielleicht sogar unterdrückt werden. Die Erzieher von Lou sind aufgeschlossen für ihr Interesse an der Kunst, können es aber kaum unterstützen. Wie immer fehlen Geld und Zeit, aber auch das Wissen.“

„Das klingt wirklich spannend.“ Sie wusste, dass er es so meinte, aber irgendetwas hielt er zurück.

„Ja, das ist es. Ich würde daraus gern eine Serie machen. Kinder finden, die starke Interessen und Talente haben, diese aber nicht ausleben können, weil sie einfach nicht die Möglichkeiten dazu haben.“

„Da gibt es bei uns auch jemanden.“

„Ja? Erzähl!“

„Ein Junge in unserem Club, Marc. Er ist fünfzehn und spielt Klavier, als hätte er seit seinem vierten Geburtstag mehrmals in der Woche Unterricht gehabt. Tatsächlich hat er nur ein altes Keyboard, das mal in so einer ‚zu verschenken‘-Kiste vor einem Haus stand, zuhause stehen. Es hat gerade mal 61 statt 88 Tasten. Sein Vater hat ihm erklärt, wie es geht. Er hatte selbst mal ein paar Jahre Unterricht bei seinem Großvater. Er hat mit ihm Fingerübungen gemacht, die Tonleitern geübt und ihm gezeigt, wie man Noten liest. Da war er 9. Nach kurzer Zeit hatte er ihm alles beigebracht, was er selbst konnte. Aber Marc reichte das nicht. Er hat wahrscheinlich jedes YouTube-Tutorial gesehen, was es gibt. Vor ein paar Jahren hat er sogar angefangen, eigene Stücke zu komponieren. Und wann immer er ein Klavier sieht, setzt er sich daran und spielt. In Restaurants, Einkaufszentren und so. Er ist so gut, dass ihn niemand davon abhält, zu spielen. Manchmal stecken ihm die Leute auch Geld dafür zu.“

„Wow.“ Lucy fehlten die Worte. Wie damals, als sie das erste Mal Louises Bilder gesehen hatte.

„Ja. Leider hat er niemanden, der ihn wirklich fördern könnte. Seine Eltern haben zwar viel Verständnis und würden es ihm gern ermöglichen, Unterricht zu nehmen, oder auf eine Musikschule zu gehen. Und ich bin sicher, seine Eltern würden irgendwie versuchen, das hinzubekommen. Aber Marc will so schnell wie möglich anfangen, die Familie finanziell zu unterstützen und direkt nach der Schule arbeiten. Seit zwei Jahren trägt er am Wochenende Zeitungen aus. Mehr lässt sein Vater ihn nicht machen. Er will, dass er sich auf die Schule konzentriert und einen guten Abschluss macht.“

„Warum haben sie denn so wenig Geld?“

„Sie waren noch sehr jung, als Marc auf die Welt kam. Beide erst 16. Marcs Vater, Patrick, noch ohne Schulabschluss. Seine Mutter, Lisa, hatte gerade eine Ausbildung zur Krankenschwester angefangen. Rick hatte die Schule geschmissen und lebte in den Tag hinein. Er war kurz davor, kriminell zu werden. Seine Mutter war alleinerziehend und Alkoholikerin. Bei Lisa sahen die Familienverhältnisse nicht viel besser aus. Von ihren Eltern konnten sie auf jeden Fall nicht viel erwarten. Weder Geld noch Unterstützung bei der Betreuung von Marc. Sie mussten sich ziemlich zusammenreißen, um es hinzubekommen. Sie hatten niemanden, der ihnen vorlebte, wie es funktionieren könnte. Aber durch das Baby hatten sie eine Motivation. Nach einem Jahr machte Lisa mit ihrer Ausbildung weiter, Marc konnte von einer Tagesmutter betreut werden. Rick hatte bereits ein paar Wochen nach dem positiven Schwangerschaftstest einen Job als Mechaniker gefunden. Er verdiente genug, um die Familie zu ernähren. Sie wollten ihn sogar ausbilden, aber das hätte einen deutlich geringeren Lohn bedeutet und war keine Option.“

„Wahnsinn, überleg dir das mal. Ein Kind mit 16.“ Und sie dachte: ‚Das hätten fast wir sein können.‘

„Ja …“ Er schwieg einen Moment, bevor er weitersprach, und sah sie dabei unverwandt an. Hatte er den gleichen Gedanken? „Nach ein paar Jahren wurde ihm klar, dass er sein Leben so nicht verbringen wollte. Lisa war das zweite Mal schwanger und er wollte seinen Kindern ein Vorbild sein. Etwas erreichen. Sich etwas aufbauen. Also begann er damit, seinen Schulabschluss nachzuholen. Langsam hat er sich durchgekämpft und studiert nun im Fernstudium.“

„Er macht was?“

„Er wird Ingenieur. Für die Familie bedeutet das allerdings mittelfristig weitere Einbußen. Er arbeitet weiterhin Vollzeit. Deshalb kommt nur ein Fernstudium infrage. Das kostet aber natürlich. Und er muss zu Präsenzveranstaltungen und Prüfungen. Er hat nicht viel Zeit nach der Arbeit, aber er versucht das Lernen auf die Zeit zu verschieben, in der die Kinder schlafen. Dafür steht er jeden Morgen um halb fünf auf. Für seine Kinder ist er ein Wahnsinnsvorbild.“

„Ja, das ist er.“ Lucy spürte, wie ein Kloß in ihrem Hals aufstieg und sie musste schlucken. Die Geschichte rührte sie.

„Wenn du möchtest, stelle ich dir die Familie vor und du kannst mit ihnen reden. Es wäre toll, wenn du über Marc schreibst. Ich denke, er würde dann erkennen, welches Potenzial er hat und dass es nicht in erster Linie darum gehen kann, mit irgendwas Geld zu verdienen.“

„Das wäre toll, danke.“ Im nächsten Moment war sie sich nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee war, Niklas nach dieser Woche weiterhin zu treffen. Aber andererseits würde es nicht um ihn gehen und vielleicht gab es wirklich noch eine Chance für ihre Freundschaft. Gerade fühlte es sich zumindest so an, als könnten sie es schaffen. Sie hatten das Haus schon vor einer Weile erreicht und davor gestanden, solange Niklas gesprochen hatte. „Wir sollten reingehen.“


Fünf Minuten später saßen sie mit nassen Haaren am Frühstückstisch auf der Terrasse und Oliver fragte: „Habt ihr schon Pläne für heute und die kommenden Tage?“

„Keine.“ Niklas und Lucy antworteten Oliver gleichzeitig und mussten lachen.

Lucy hatte darüber nachgedacht, zurückzufliegen und erst zur Gedenkfeier wiederzukommen, aber die Aussicht, etwas Zeit mit ihrem Vater zu verbringen, war schön und sie genoss die Ruhe immer mehr.

„Ich werde einfach nichts tun und den Tag auf mich zukommen lassen. Vielleicht schreibe ich ein bisschen.“

„Du bleibst?“ Niklas klang überrascht. Warum war er überrascht? Wäre es ihm lieber, wenn sie abflog?

„Ja, auf dieses hin und her habe ich keine Lust. Eine Auszeit tut mir ganz gut, denke ich.“

„Gut.“ Mehr sagte er nicht. Und es klang alles andere als gut. Aber dann schien er sich zu besinnen, lächelte und sagte noch einmal: „Gut.“ Diesmal meinte er es, das konnte sie hören.

„Dann haben wir etwas Zeit zusammen.“ Oliver war begeistert. Er überlegte einen Moment, sah sie dann beide nacheinander an und verkündete: „Wir könnten mit Josi rausfahren.“ Lucys Herz machte einen Sprung. Josi. Der alte Segler stammte noch von ihrem Großvater. Er hatte ihn nach Lucys Großmutter auf den Namen ‚Josephine‘ getauft, aber jeder nannte ihn nur ‚Josi‘.

„Oh, ja! Das ist eine tolle Idee. Die alte Lady fehlt mir.“ Lucy sprang auf und war bereits an der Terrassentür, als sie sich besann, umdrehte und wieder zum Tisch ging.

Oliver erkannte, was sie vorhatte und hob die Hände. „Schon okay. Geh schon.“ Er drehte sich zu Niklas. „Und du auch. Ich kümmere mich ums Aufräumen.“

Sie gingen nacheinander duschen und packten ein paar Sachen zusammen. Es war warm und Lucy zog über ihren weißen Häkelbikini nur eine Jeans-Shorts und ein rotes Top. Eine halbe Stunde nach dem Frühstück stiegen sie in Olivers alten Range Rover. Auch den hatte er seit mindestens 16 Jahren. Lucy strich über den Kratzer an der Beifahrertür, den Charlotte verursacht hatte, als sie die Tür zu schwungvoll geöffnet hatte, und diese leicht gegen einen Pfeiler geknallt war. Oliver hatte nur mit den Schultern gezuckt, sie geküsst und gesagt, jetzt würde er immer an sie denken, wenn er die Beifahrertür öffnete, was nicht so oft vorkäme und dass es besser gewesen wäre, sie hätte den Kratzer an der Fahrertür verursacht. Charlie hatte ihm daraufhin ein Bild von der Größe eines Passfotos gezeichnet, auf dem eine Autotür mit einem Kratzer zu sehen war. Es war eine Fahrertür, das erkannte man am dahinterliegenden Lenkrad. Die Zeichnung klebte seit diesem Tag hinter dem Lenkrad neben der Benzin-Anzeige. Inzwischen war sie vergilbt und die Ecken rollten sich nach oben, aber sie war noch immer dort, wo Charlie sie vor 14 Jahren hingeklebt hatte.

Sie fuhren zu dem kleinen Hafen im Nachbarort, in dem der Segler lag. Lucy schluckte beim Anblick des marineblauen Bootes mit der verchromten Reling und dem weißen Mast. Sie hatten viele Touren mit ihm gemacht und noch immer hatte er diesen unvergleichlichen Charme. Und er wirkte weder alt noch abgenutzt, denn Oliver verbrachte viel Zeit damit, ihn zu pflegen und zu reparieren.

„Schön, dich zu sehen, Josi.“ Sie sagte es leise, aber Oliver hatte es gehört. Er lächelte sie an und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie schmiegte sich an seine Schulter.

Es war ein schöner Tag. Die Sonne stand am wolkenlosen Himmel und ein warmer Wind wehte die Wellen auf. Sie segelten zu einer kleinen Insel, die sie oft als Kinder angesteuert hatten. Sie lag nicht weit entfernt, hatte eine kleine Anlegestelle und man traf dort selten andere Menschen. Auch heute waren sie die einzigen Besucher. Sie trugen Decken, Handtücher und ein paar Getränke an den Strand und richteten sich ein kleines Lager ein. Lucy setzte sich auf die Decke und vergrub ihre Füße im Sand. Er war weich und warm. Sie atmete tief die salzige Meeresluft ein, schloss die Augen und lauschte den Wellen. Das Meer war hier ruhig und das Wasser rollte langsam und gemächlich ans Ufer.

„Nicht einschlafen.“ Niklas stupste sie an. Sie öffnete blinzelnd die Augen und sah, dass er sich auszog. Wo kamen denn nur all die Muskeln her? Er hatte schon immer gut ausgesehen, aber …

„Kommst du mit?“ Er stand in Badehose vor ihr und sah sie auffordernd an.

„Hm. Es ist so schön warm hier.“ Sie versuchte, ihn nicht anzustarren, aber er hatte sich direkt vor ihr aufgebaut und alles, was sie sehen konnte, waren die Muskeln, die sich an seinem Bauch abzeichneten.

„Rasierst du dir den Oberkörper?“ Was für eine vollkommen unpassende Bemerkung. Offenbar hatte ein Kopf-Mund-Filter seine Arbeit eingestellt. Lucy bereute die Frage sofort.

„Was?“

„Ach nichts.“

Er zuckte mit den Schultern und rannte los. Lucy seufzte. Eine Abkühlung würde ihr guttun.

„Brauchst du Hilfe?“, rief sie Oliver zu, der noch ein paar letzte Sachen vom Boot an den Strand trug.

„Nein. Geh ruhig schwimmen.“

Sie seufzte wieder, zog sich dann aber ebenfalls aus und folgte Niklas ins kalte Wasser. Er war noch in Ufernähe und sah sie schelmisch grinsend an. Es war offensichtlich, was er plante, aber Lucy kam ihm zuvor, rannte ein paar Meter ins Wasser und sprang mit dem Kopf voran ins Meer. Als sie wieder auftauchte, war er verschwunden. Sie hatte keine Zeit sich umzublicken, um ihn zu suchen, denn sobald ihre Füße den Grund berührten, spürte sie noch etwas anderes an ihren Beinen. Niklas umfasste ihre Oberschenkel und hob sie nach oben, nur, um sie kurz danach wieder ins Wasser fallen zu lassen. Als sie prustend wieder auftauchte, sah sie in sein grinsendes Gesicht. Sie schlug mit der Hand aufs Wasser, um ihn nass zu spritzen. Obwohl er das natürlich längst war, duckte er sich und sie nutzte seine Unaufmerksamkeit, um sich ihm zu nähern und ihn an den Schultern unter das Wasser zu drücken. Dann schwamm sie lachend vor ihm weg. Er folgte ihr. Als er sie eingeholt hatte, verlangsamte sie das Tempo und sah ihn grinsend an. Er grinste zurück und für eine Weile schwammen sie schweigend nebeneinander her.

Das Wasser war frisch, aber die Sonnenstrahlen wärmten die Wasseroberfläche, sodass sie die Kälte nur dann spürte, wenn ihr Unterkörper tiefer ins Wasser sank. Lucy drehte sich auf den Rücken, blickte in den tiefblauen Himmel und ließ sich treiben. Eine Möwe flog über sie hinweg. Ihr Kreischen durchbrach für einen Moment die Stille. Lucy drehte sich wieder auf den Bauch, blickte ihr nach und sah, wie sie sich in einiger Entfernung auf dem Wasser niederließ, um sich von den Wellen treiben zu lassen.

„Hey Nik?“

„Ja?“

„Das ist schön.“

„Ja.“ Er lächelte sie an. „Ja, das ist es.“

„Ich meine nicht nur das Schwimmen.“

„Ich weiß. Ich hatte gehofft, dass wir es hinkriegen.“ Sein Blick wurde ernst. Sie schluckte. Also war er auch nervös gewesen.

„Ich auch.“ Sie lächelte ihn an und hätte ihn gern umarmt. Stattdessen spritzte sie ihm Wasser ins Gesicht. „Wer zuerst am Strand ist, übernimmt das Kommando auf der Rücktour.“

Er lachte, spritzte zurück und sie schwammen um die Wette. Niklas war ein guter Schwimmer, aber Lucy war seit der ersten Klasse im Schwimmteam gewesen. Und noch immer trainierte sie mindestens zweimal pro Woche im Stadtbad. Das heißt, sie hatte vor zwei Jahren wieder damit angefangen. Es war knapp, aber sie gewann mit einer Armlänge Vorsprung.

Außer Atem stiegen sie aus dem Wasser. Niklas sah sie empört an. „Das war unfair!“

„Warum?“ Sie lachte.

„Du hättest mir sagen müssen, dass du wieder trainierst.“

„Ja, das hätte ich tun können. Aber das hätte den ganzen Spaß verdorben. Und außerdem … du siehst auch nicht gerade aus, als würdest du deine Abende mit Chips auf der Couch verbringen.“ Sie schluckte. Schon wieder war der Filter ausgefallen. Niklas hob eine Augenbraue und grinste. Lucy versuchte, zurück zu grinsen, aber ihr gelang nur eine Grimasse.

„Was war der Preis?“ Oliver mischte sich in das Gespräch und rettete sie aus dieser peinlichen Situation.

„Das Kommando über Josi.“

Er hob die Augenbrauen. „Und das übernimmst jetzt du?“

„Was soll das denn heißen?“ Lucy blickte ihn grimmig an, lachte aber im nächsten Moment auf. Er neckte sie.

Der Rest des Tages verging wie im Flug. Sie erkundeten alte Geheimplätze, die teilweise so verwachsen waren, dass sie sie kaum erkannten. Sie aßen auf dem Boot und lagen danach am Strand in der Sonne, bis diese sich bereit machte, unterzugehen. Mit der Sonne verschwand auch die Wärme und der Wind frischte auf. Lucy zog einen Kapuzenpulli über, setzte sich auf die Decke und schlang die Arme um die Beine. Sie blickte aufs Wasser und dachte daran, wie sie als Kinder hier gespielt hatten und wie Charlotte jedes Mal mit einer Kanne Tee vom Boot kam und damit den Abschluss des Ausflugs einleitete.

„Wir sollten los!“ Oliver durchbrach ihre Gedanken und sie schreckte kurz auf. Er fing bereits an, die Sachen zusammenzupacken.

„Ja, gut.“ Lucy stand auf, um ihm zu helfen.

Die untergehende Sonne färbte den Himmel tieforange und gelb und rot, als sie Josephine in Richtung des kleinen Hafens zurück steuerten. Das Meer war unruhiger. Der Wind noch stärker. Sie kamen schneller voran. Niklas und Oliver waren mehr und mehr im Einklang mit Wind und Meer, eins mit der Dynamik der Natur, nur um sich dann doch wieder gegen sie zu stellen, um noch schneller zu segeln. Ein Spiel, das sie hunderte Male gespielt hatten. Vermutlich öfter.

Wann immer Lucy einen Blick auf eines der beiden Gesichter erhaschen konnte, fühlte sie sich wie auf einer Zeitreise. Plötzlich war alles wie früher. Sie war wieder 16. Alles lag vor ihr und für einen Moment spürte sie diese zuversichtliche Leichtigkeit, die sie in ihrer Kindheit und noch bis zum Tod von Niklas‘ Großeltern begleitet hatte. Für einen Augenblick spürte sie das große Vertrauen in die Welt, in sich und in ihre Familie. Die Sicherheit, die sie erst dann wahrgenommen hatte, als sie nicht mehr da war. Für einen Moment gab es nur das Jetzt. Ein Jetzt, das es so nicht mehr gab. Sie war glücklich. So wie schon lange nicht mehr. Und auch wenn der Wind sie immer wieder wegwehte, drangen Tränen aus ihren Augen. Tränen des Glücks und der Dankbarkeit für diesen Moment. Aber auch Tränen darüber, dass alles hätte anders kommen können.

Es war nicht leicht, in den Hafen zu steuern. Der Wind wurde stärker, das Meer peitschte die Wellen gegen das Boot und an Deck. Sie holten die Segel früher ein und schalteten auf Motorenantrieb um. Dennoch brauchte es ein hohes Maß an Konzentration, um Josephine sicher an ihre Anlegestelle zu bringen. Nass und erschöpft sicherten sie das Boot gegen den Sturm und fuhren schließlich zurück nach Hause.

8

Vor 15 Jahren. Das andere Haus am Meer, 22b

Lucy schloss die Haustür ab. Niklas saß auf dem Sofa, die obersten Knöpfe seines weißen Hemdes geöffnet, die schwarze Krawatte lag zusammengefaltet in seiner Hand. Er hatte die Arme zur Seite gestreckt, den Kopf nach hinten gelegt und die Augen geschlossen. Alle Kraft schien ihn verlassen zu haben. Sie waren allein. Auch diese Nacht würden sie im Haus von Niklas‘ Großeltern verbringen. Nur, dass es jetzt sein Haus war. Bei Lucys Eltern hatten sich für die Tage um die Beerdigung Bekannte von Niklas‚ Großeltern einquartiert und das Letzte, was er brauchte, waren weitere mitleidige Blicke und mitfühlende Worte. Das wussten auch Oliver und Charlie, weshalb sie etwas widerwillig zugestimmt hatten, ihn und Lucy in dieser Nacht allein zu lassen. Simon würde bei Anna schlafen.

„Wirst du dort die ganze Nacht stehen?“ Er sah sie nicht an. Sie seufzte, zog die Schuhe aus und hängte ihren Blazer an die Garderobe, an der noch immer Vickys guter Mantel hing. Sie strich über das weiche, cognacfarbene Wildleder und dachte daran, wie sie ihn gemeinsam in einer kleinen Boutique im Nachbarort entdeckt hatten. Sie setzte sich neben Niklas. Er legte einen Arm um ihre Schultern und sie lehnte sich an seine Brust. Er atmete ruhig, sein Herzschlag war gleichmäßig. Sie ließ sich in diesen Moment der Stille fallen. So viele Menschen hatten an der Beerdigung teilgenommen. Alle zeigten ihr Mitgefühl, boten Hilfe an und niemand konnte fassen, dass so etwas Schreckliches passiert war. Alle beide. Und Niklas war doch erst 17. Er hatte doch schon die Mutter verloren. Und den Vater nie kennengelernt.

Irgendwann hatten Oliver und Lucy es geschafft, Niklas gegen all die mitfühlenden Menschen abzuschirmen, die gar nicht zu merken schienen, dass er weder bereit noch in der Lage dazu war, all die Worte zu verarbeiten, die sie so nett meinten. Und nun saßen sie hier.

„Nik?“

„Hm?“ Er klang so müde. Und sie ärgerte sich, überhaupt etwas gesagt zu haben. Sie streichelte über den Stoff seines Hemdes und wartete einige Minuten, bevor sie weitersprach. „Was jetzt?“

Er richtete sich auf und sah sie an. Sie musste sich ebenfalls aufsetzen, um nicht von seiner Brust zu rutschen und ihn ansehen zu können. Er lächelte. Nein, er grinste. Warum grinste er? Und dann fing er an zu lachen. Warum lachte er? Sie konnte sich kaum einen schlechteren Zeitpunkt zum Lachen denken. Er warf sich wieder zurück an die smaragdgrüne Rückenlehne der Couch, legte beide Hände aufs Gesicht und lachte. Lauter.

Lucy sah ihn für einen Augenblick verständnislos an. Dann nahm er die Hände vom Gesicht und sah sie mit tränennassen Augen an. Und wieder lachte er und dann überkam es auch sie. Erst ein Lächeln, dann ein Grinsen und schließlich lachte sie mit ihm. Sie lachten, weil es das Einzige war, was, zumindest für diesen einen Moment, die Schlingen lockern konnte, die seit Tagen ihre Brust zuschnürten. Sie lachten gegen all den Schmerz, gegen all die Anspannung, die Unsicherheit und die Machtlosigkeit. Sie lachten bis ihnen Tränen über die Wangen liefen. Sie lachten, bis sie schließlich tatsächlich weinten.

Er sah besser aus danach. Er lächelte sogar ein bisschen.

„Danke, dass du da bist.“ Lucy ließ sich neben ihn gegen die Rückenlehne fallen und drehte ihm das Gesicht zu, lächelnd. Seine Wangen waren nass vom Weinen. Sie legte die Hand darauf, ohne die Tränen wegzuwischen. Er griff danach. Und für einen Moment sah er sie nur an. Dankbar und liebevoll. Und dann änderte sich sein Blick. Sie hätte nicht beschreiben oder erklären können, was es war, aber ein Kribbeln durchzog ihren Körper so plötzlich und unerwartet, dass sie für einen Moment vergaß, zu atmeten.

Er löste die Hand von der ihren und strich ihr eine Strähne hinters Ohr, ließ die Hand dann an ihrem Kopf ruhen und streichelte mit den Fingern über ihren Haaransatz. Strähnen lösten sich aus ihrer Frisur, die ohnehin längst nicht mehr aussah wie noch vor einigen Stunden. Sie schloss die Augen und nahm wahr, wie ihr Körper auf seine Berührung reagierte. Wie sich eine Gänsehaut auf ihrem Rücken bildete und ihr Kopf sich in seine Hand schmiegte. Als sie die Augen wieder öffnete, war sein Gesicht so nah, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten. Sein Blick war so zärtlich, wie sie es noch nie bei ihm gesehen hatte. Er wirkte überrascht, fast ungläubig. Und dann näherte sich sein Gesicht ihrem noch mehr und dann, dann küsste er sie. Ein zarter, unerwarteter, liebevoller Kuss auf den Mund. Er schien selbst erschrocken darüber, löste die Lippen aber nur wenige Millimeter von ihren, nur so weit, dass sie sich nicht mehr berührten. Sekundenlang sahen sie einander in die Augen. Lucys Herz raste. Und in Niklas‘ Blick mischte sich mehr und mehr etwas anderes. Verlangen. Und dann verstärkte er den Griff seiner Hand, zog sie dichter zu sich heran und küsste sie wieder.

9

September. Sonntag. Das Haus am Meer, 22a

Hey, aufwachen.“ Diesmal war es Lucy, die an Niklas‘ Tür klopfte. „Zieh deine …“

„… Laufsachen an?“ Er öffnete die Tür, bevor sie ihren Satz zu Ende sprechen konnte. Lucy erschrak und taumelte ein paar Schritte zurück. Auf eine so schnelle Reaktion war sie nicht gefasst gewesen. Er griff ihre Hand und verhinderte so, dass sie hinfiel. Und er grinste. Natürlich grinste er. „Hast du Angst vor großen Wellen?“ Er ließ sie wieder los.

Sie unterdrückte das Bedürfnis, selbst nach seiner Hand zu greifen. „Vor diesen da draußen? Ja.“ Sie streckte ihm die Zunge raus. Sie streckte ihm die Zunge raus? Schnell drehte sie sich zur Treppe. „Auf gehts!“

Der Wind hatte in der Nacht zugenommen. Er peitschte die Wellen hoch. Das Wasser war wild und unberechenbar. Und das würde erst der Anfang sein. Für den Nachmittag und Abend gab es eine Orkanwarnung. Sie verließen das Haus und sofort wehte der Wind Lucy die Haare ins Gesicht. Sie band sie zu einem unordentlichen Knoten und hoffte, dass sie das nicht alle paar hundert Meter würde wiederholen müssen.

„Lass uns zur Höhle laufen.“ Niklas musste fast schreien, damit Lucy ihn verstand. Sie nickte ihm grinsend zu. Die Höhle. Sie hatten sie als Kinder entdeckt. Sie lag exakt 5.672 Meter vom Haus entfernt. Niklas und Simon hatten die Strecke mehrfach vermessen, mit einem Schrittzähler, einem GPS-Gerät und einmal hatten sie sogar ein Maßband aus dem Nähtisch von Vicky genommen. Bei dieser Variante brauchten sie mehrere Tage, um die komplette Strecke abzugehen, und mussten sich Markierungen setzen, um am nächsten Tag noch zu wissen, wo sie am Vortag aufgehört hatten.

Genau genommen war die Höhle eine etwa drei Meter tiefe Einbuchtung in einen Felsen, die das Meer im Laufe der Zeit ausgespült hatte, als das Wasser noch höher stand. Sie lag einsam und konnte nur über den Strand oder nach einem zwanzig-minütigen Fußmarsch durch den Wald erreicht werden. Man konnte darin stehen und es gab einen Eingang, der etwas schmaler war, als die Höhle selbst. Früher hatten sie ihn mit einer aus Brettern zusammen gezimmerten Tür verschlossen, die sie mit einer Schubkarre zur Höhle geschleppt hatten. So bot sie Schutz vor Regen, Wind und den Blicken anderer, obwohl sich an diesen Teil des Strandes ohnehin selten jemand verirrte. Aber durch die Tür wurde sie zu einem Haus, das sie schützte und das verbarg, was niemand sonst sehen sollte.

Es war ihr Reich. Ein geheimer Ort. Ein Ort für Abenteuer und Geheimnisse. Sie versteckten nicht nur sich selbst hier, sondern alle möglichen Sachen, die sie vor den Erwachsenen verbergen zu müssen glaubten. Als sie älter wurden, verbrachten sie viele Sommernächte zwischen den Felswänden. Sie wussten bis heute nicht, dass sie dabei anfangs nicht allein oder auf sich gestellt waren. Oliver und Sam schlugen in den ersten Monaten ihr eigenes Lager in der Nähe der Kinder auf, um sie vor unerwarteten Gefahren zu schützen. Solange, bis Charlotte und Victoria sie endlich davon überzeugt hatten, dass die Kinder alt und verantwortungsbewusst genug waren, um es allein zu schaffen, und dass sie sich betrogen fühlen würden, sollten sie sie entdecken.

Sie hatte sich kaum verändert. Die alte Tür lehnte noch immer gegen die rechte Felswand, wirkte aber armseliger, als Lucy sie in Erinnerung hatte. Das Holz war morsch und grau. Ein paar rostige Nägel standen hervor und sie wagte nicht, sie von der Felswand wegzubewegen. Sie strich über die alten Bretter und verharrte dort, wo sie ihre Namen mit Simons Taschenmesser hinein geritzt hatten, als ihr Blick auf eine Stelle im Sand an der hinteren Felswand fiel. Sie durchquerte die Höhle mit zwei Schritten, grub die obersten Sandschichten weg und jauchzte. „Freddy. Du bist noch hier.“ Natürlich hatten sie einem Gegenstand, der all ihre Schätze aufbewahrte, den Namen eines berühmten Butlers gegeben. Berühmt zumindest in der Welt des Fernsehens. Die Wahl hatte gestanden zwischen Freddy Frinten und Geoffrey Butler. Letztendlich hatten sie sich für den tollpatschigen Briten entschieden, weil sie den Sketch selbst an jedem Silvesterabend nachspielten.

Niklas sprang zu ihr und hielt ihre Hand fest, als sie den Verschluss öffnen wollte. „Willst du das tatsächlich tun?“

„Was meinst du?“ Sie blickte gebannt auf seine Hand. Die Berührung jagte einen Schauder nach dem anderen durch ihren Körper.

„Lu, diese Kiste steht hier seit … Keine Ahnung, wann haben wir sie das letzte Mal geöffnet? Da ist doch Essen drin, oder?“

„Aber nichts Unverpacktes. Komm schon.“

Er zog seine Hand weg und hinterließ ein leeres Gefühl auf ihrer Haut. Gemeinsam öffneten sie die alte Metallkiste und Lucy packte Streichhölzer, Sturmkerzen, zwei Mikrofaser-Handtücher, einen dünnen Schlafsack, ein paar Power-Riegel, Tee, Kaffee, eine Flasche Wasser und diverse andere Dinge zur Seite. Sie stutzte. „Das liegt hier aber noch keine zehn Jahre.“

„Nein.“ Niklas runzelte die Stirn. „Und wo sind unsere Sachen?“ Die ganze Zeit war auch er nicht hier gewesen.

Eine Böe wehte am Eingang vorbei. Die Höhle lag am oberen Ende des Strandes und war geschützt vor Wind und den Flutwellen, die das Wasser schnell mehrere Meter den Strand hochspülten. Wenn man in der Nähe des Eingangs saß, konnte man dennoch das Meer sehen. Lucy sah nach draußen. „Ich weiß nicht, aber wir sollten zurück. Sieht aus, als würde es langsam ungemütlich werden.“ Sie packten die Sachen wieder in die Kiste, verdeckten sie mit Sand und rannten los. Das Wasser hatte bereits ein paar Meter Strand erobert und das Meer tobte zu ihrer Linken. Sie zogen die Schuhe aus und liefen im Wasser, weil der weiche Sand unter ihren Füßen sie bremste. Es begann zu regnen und sie erhöhten das Tempo, rannten um die Wette und kamen schließlich völlig außer Atem und durchnässt zuhause an.

Das Haus empfing sie mit dem Duft nach frischem Kaffee. Oliver stellte gerade eine Pfanne auf den Herd. „Geht duschen, ich mache Frühstück.“

„Oh je, ich fürchte, ich werde mich daran gewöhnen.“ Lucy nahm sich einen Becher Kaffee und küsste ihren Vater auf die Wange. Er wischte sich das Gesicht trocken und lachte.

„Und daran werde ich mich wohl gewöhnen müssen.“ Leise fügte er hinzu: „Vielleicht kommst du dann ja wieder öfter.“ Lucy sah die Hoffnung in seinen Augen. Es tat ihr leid, dass sie ihn so selten besuchte, aber bis zu diesem Wochenende hatte sie es nicht gekonnt.

„Das werde ich. Aber nicht wegen dem Service.“ Sie lächelte ihn an, gab ihm noch einen regennassen Kuss und ging nach oben.

Sie verbrachten den Vormittag im Haus. Niklas und Oliver reparierten ein Fenster, durch das der Wind hörbar pfiff und Lucy zog sich zurück, um an ihrem Artikel zu schreiben und mit Louise zu telefonieren. Normalerweise sahen sie sich sonntags und sie vermisste das Mädchen. Sie telefonierten fast eine Stunde. Louise erzählte von ihrer Woche und den Dingen, die sie gemalt hatte. Sie versuchte sich noch immer an einem Porträt von Lucy, wollte es ihr aber nicht zeigen, weil sie Angst davor hatte, sie zu enttäuschen. Lucy versicherte ihr immer wieder, wie großartig sie zeichnen konnte und, dass sie sie niemals enttäuschen würde können. Aber es half nichts. Der Perfektionismus des Mädchens war etwas, das sie immer wieder bremste und verunsicherte.

„Es soll so schön werden wie du. Aber das schafft nicht mal ein Foto.“ Louise klang traurig und Lucy war so gerührt, dass sie warten musste, bevor sie darauf etwas erwidern konnte. Doch Louise unterbrach das Schweigen zuerst. „Wie ist es zuhause?“

Zuhause. Ja, so fühlte es sich tatsächlich an. Lucy erzählte von den vergangenen Tagen. Vom Surfen, von ihrem Vater, von Niklas, der mit Jugendlichen arbeitete und von Marc. Sie erzählte von José, ihrer Höhle und dem Ausflug mit dem Boot.

„Das klingt unglaublich toll. Du hast so eine Auszeit wirklich verdient.“ Louise freute sich ehrlich für Lucy, das konnte sie hören.

„Vielleicht kommst du mal mit?“ Die Worte kamen einfach aus ihrem Mund. Sie hatte nicht darüber nachgedacht. Es wäre schön, mit Louise hier zu sein. Aber Lucy wusste nicht, ob es möglich sein würde. Im nächsten Moment bereute sie die Frage.

Aber Louise hatte den gleichen Gedanken. „Ich weiß gar nicht, ob das geht.“

„Lou, entschuldige. Ich habe nicht nachgedacht. Aber ich werde mit Angela sprechen. Vielleicht gibt es irgendeine Möglichkeit, damit es klappt.“ Lucy versuchte, optimistisch zu klingen, und überlegte bereits, wie sie die Heimleiterin überzeugen könnte.

Es klopfte an der Tür. Oliver steckte den Kopf ins Zimmer. „Niklas hat gekocht. Hast du Hunger?“

Sie nickte ihm zu. Zu Louise sagte sie:

„Lou, ich muss auflegen. Telefonieren wir in den nächsten Tagen noch mal?“

Sie hörte ein Lächeln in Louises Stimme: „Ja, klar. Guten Appetit.“

„Haha, danke. Wir telefonieren morgen.“

Sie legten auf und Lucy stieg die Treppe hinab ins Erdgeschoss. Es roch nach gebratenem Fisch und Knoblauch.

„Oh, das riecht aber gut hier.“ Sie aßen in der Küche, am Esstisch unter einem der großen Fenster. In der Mitte des Tisches standen zwei Edelstahl-Platten, eine gefüllt mit verschiedenen gebratenen Fischsorten, die andere mit Gemüse. Lucy half Oliver mit den Getränken und gemeinsam setzten sie sich zum Essen.

„Das ist unglaublich gut, Nik.“ Sie ließ sich gerade ein Stück Lachs im Mund zergehen.

Er sah sie lächelnd an. „Danke.“

Sie erwiderte sein Lächeln und dachte, wie einfach es war, hier zu sitzen. Wie früher. „Du warst schon immer ein guter Koch. Und du hast es immer geschafft, uns auch dann zu ernähren, wenn nichts im Kühlschrank war.“

Oliver hob die Augenbrauen. „Wann war das denn?“

„Im Studium. Im letzten Jahr, nachdem Simon und ich auf Lus Schule gewechselt hatten. Und zwar immer dann, wenn Lu oder Simon dran waren mit Einkaufen.“

„Das ist nicht fair. Wir waren immer damit dran. Wir wissen nicht, wie es gewesen wäre, wenn du hättest einkaufen müssen.“

„Dann hätte einer von euch kochen müssen.“ Er grinste. „Ich möchte tatsächlich nicht wissen, was dann gewesen wäre.“

Lucy lachte auf. „So ein Unsinn. Simon hätte uns jeden Abend einen Kuchen gebacken.“

Jetzt lachte auch Niklas. „Ja. Stimmt. Und wir hätten keine Zeit mehr zum Lernen gehabt, weil wir ständig um den Block gerannt wären, um nicht von der Abschlussfeier rollen zu müssen.“

Oliver blickte zwischen ihnen hin und her. „Davon habt ihr nie etwas erzählt.“

Niklas sah ihn prüfend an. „Hm … Könnte es sein, dass du uns auch etwas verschweigst?“

„Ich?“ Er machte ein unschuldiges Gesicht. „Was meinst du?“

„Wir sind zur Höhle gejoggt, heute Morgen.“

„Natürlich seid ihr das.“ Er verstand die Anspielung, das sah Lucy genau. Dennoch schwieg er.

„Wir hatten da immer eine Kiste. Kannst du mir erklären, warum die Sachen dadrin nicht längst vergammelt sind? Und was mit den Dingen passiert ist, die wir darin … ähm, versteckt hatten.“

„Welche Kiste? Und vor wem habt ihr denn Sachen versteckt?“ Lucys Vater blickte nicht von seinem Teller auf. Aber sie sah trotzdem, dass er grinste.

„Du weißt ganz genau, welche Kiste ich meine.“ Niklas sah ihn herausfordernd an.

„Hmmm, nein. Von Dingen, von denen ich nichts wissen darf, weiß ich natürlich auch nichts. Immerhin habt ihr sie ja offenbar vor mir versteckt.“ Er sah auf und sein Grinsen wurde breiter.

„Papa, du weißt genau, was er meint. Wir hatten dort eine Kiste vergraben, mit Trockenobst und Wasserflaschen, einer Taschenlampe und …“ Sie zögerte. „Und da war noch so ein Heft und noch andere Sachen.“

„Ah, diese Kiste.“ Er hob den Blick und grinste sie nun offen an. „Ich erneuere sie jedes Frühjahr.“

„Bitte was?“ Lucy wollte gerade eine mit Spinat gefüllte Gabel in den Mund schieben und hielt in der Bewegung inne.

„Ja, Simon hat sie uns vor ein paar Jahren gezeigt. Und damals war tatsächlich vieles vergammelt. Wir haben die Sachen ausgetauscht und das tue ich seither regelmäßig.“

„Warum?“ Lucy war wütend, dass ihr Bruder einen Erwachsenen in ihre Welt gelassen hatte, und vergaß, dass sie inzwischen selbst eine war.

„Ach, ich weiß nicht. Vielleicht braucht irgendjemand irgendwann mal ein Streichholz dort. Ich schätze, ich wollte die Vergangenheit festhalten.“

Lucy griff nach seinem Arm und drückte ihn sanft.

Niklas fragte: „Und wo sind die anderen Sachen?“

„Hm, ich weiß nicht. Ich denke, Simon hat sie mitgenommen.“

Es war bereits halb drei, als sie das Essen beendet und die Küche aufgeräumt hatten. Lucy stand im Türrahmen und beobachtete Oliver dabei, wie er die letzten Töpfe zurück in den Schrank stellte. Genau an die gleiche Stelle, an der sie auch vor dreißig Jahren gestanden hatten.

„Willst du hier nicht mal was verändern?“ Das letzte Wort zog sich in die Länge, weil sie plötzlich gähnen musste.

Oliver lachte. „Vielleicht legst du dich mal etwas hin.“ Wie geschickt er ihrer Frage auswich. Wobei es eigentlich nicht geschickt war, denn er hatte sie einfach ignoriert. Aber er hatte recht. Sie war wirklich müde.

„Okay, das ist eine gute Idee. Sind wir hier fertig?“

„Ja, sicher, geh nur.“ Er lächelte sie liebevoll an und Lucy fühlte sich so umsorgt, dass es ihr fast die Tränen in die Augen trieb. Sie schüttelte unmerklich den Kopf. Was war nur los mit ihr? So emotional kannte sie sich gar nicht. Oder zumindest nicht mehr. Auf dem Weg in ihr Zimmer schob sie die Gefühlsduselei auf die bevorstehende Gedenkfeier. Nicht nur das weckte zahlreiche Erinnerungen und offenbar schaffte es ihr Hormonsystem nicht, damit umzugehen, ohne ihr ständig feuchte Augen zu bescheren. Sie schlief über eine Stunde und hätte es sicher noch länger getan, wenn nicht das Klingeln ihres Telefons sie geweckt hätte. Es war Ben. Schon wieder hatte sie nicht daran gedacht, ihn anzurufen. Er erkundigte sich nach ihrem Tag. Nachdem sie ihm von ihrem Lauf und dem Telefonat mit Louise erzählt hatte, sprach er über den Vormittag mit seinem Bruder. Offenbar hatten sie am vergangenen Abend länger als geplant in einer Bar verbracht und Paul hatte am Ende eine Mischung aus zu vielen Tequilas und zu wenig Wasser in seinem Bauch und in seinem Blut. Dementsprechend ging es ihm am Vormittag und Ben war ohne seinen Bruder losgezogen, um die Gegend weiter zu erkunden.

Lucy hörte ihm interessiert zu und wie immer, wenn ihre Hände nichts zu tun hatten, glitt ihr linker Daumen über ihren linken Ringfinger, um mit dem Verlobungsring zu spielen, den … Aber er war nicht da. Sie erstarrte und verpasste eine Frage von Ben.

„Lucy? Alles okay?“

„Ja, ähm, ja, sicher.“ Sie begann bereits, das Bett nach dem Ring zu durchsuchen. „Mein Vater hat mich nur gerade gerufen.“ Sie kroch auf dem Boden herum und tastete mit den Fingern unter dem Bett. Nichts. „Wir sprechen später weiter, ja?“ Ohne sich zu verabschieden, legte sie auf und merkte erst danach, wie komisch ihm das vorgekommen sein musste. Aber im nächsten Moment erinnerte sie sich an den leeren Finger. Sie sprang auf und durchwühlte ihre Tasche, den Schreibtisch und das Badezimmer. Auch hier war nichts.

Sie rannte nach unten, wo Niklas und Oliver es sich mit einem Kaffee im Wintergarten gemütlich gemacht hatten. Sie warf sich auf den Boden und suchte in den Ecken, unter den Holzsofas. Sie stand wieder auf und scannte den Raum, ohne die verständnislosen Blicke der beiden zu beachten. Der Ring war nicht hier. Sie rannte in die Küche, suchte bei der Spüle, im Kühlschrank, zwischen den Tellern, im Geschirrspüler. Nichts. Und schließlich im Eingangsbereich, zwischen Schuhen und Jacken, in der Schlüsselschublade und sogar unter dem Teppich. Kein Ring. Panik stieg in ihr auf.

„Was ist los?“ Oliver stand hinter hier. „Ist alles okay?“

„Nein, nichts ist okay! Mein Ring. Er ist weg.“ Lucy war außer sich. Wie hatte sie Bens Ring verlieren können? Wo? Wann? Wie hatte sie nicht bemerken können, dass er weg war? Noch immer durchsuchte sie jede Ecke. Vielleicht war er hinter den Schrank gefallen.

„Ganz langsam.“ Oliver versuchte sie zu beruhigen. „Wo hast du ihn zuletzt gesehen?“

Lucy wollte nicht langsamer werden. Wie sollte sie Ben erklären, dass sie seinen Ring verloren hatte? „Na an meinem Finger.“ Die patzige Antwort tat ihr sofort leid. „Entschuldige. Aber wenn ich das wüsste, dann würde ich doch nicht hier …“ Und da fiel es ihr ein. Sie erstarrte und sah ihn an. „Oh Gott.“ Sie schnappte ihre Jacke und war bereits dabei, ihre Schuhe anzuziehen, als Oliver sie an der Schulter fasste. „Was hast du vor?“

„Na, ich hole meinen Ring.“

„Von wo?“ Niklas trat zu ihnen und im nächsten Moment wusste er es selbst.

„Lu, nein. Es gibt eine Sturmwarnung. Das hat Zeit bis morgen.“

„Nein, das hat es nicht. Außerdem, der Wind hat nachgelassen.“

„Nur für ein paar Stunden. Das heute Morgen war erst der Anfang.“

Lucy hörte ihn gar nicht. Was, wenn jemand anderes Schutz in der Höhle suchte? Was wenn die Wellen das Wasser dieses Mal höher spülten als sonst? Sie musste jetzt los. Und wenn das bedeutete, dass sie die Nacht am Strand verbringen würde, dann würde sie das eben tun. Sie stieg die Treppe hinunter in den Keller, griff sich eine Wasserflasche, eine Taschenlampe und einen von Olivers Seemannspullis, stopfte alles in einen Rucksack und rannte zurück nach oben. Und da stand Niklas, fertig angezogen und ebenfalls mit einem Rucksack.

„Ich komme mit“, sagte er unnötigerweise. Sie hatte keine Zeit, mit ihm zu diskutieren, und zog ihn stattdessen nach draußen. Sie entschieden sich gegen das Auto, um nicht im Sturm durch den Wald laufen zu müssen, und rannten los. Das Meer war ruhiger als am Morgen, aber die Wolken zogen düster und schnell über sie hinweg. Der Wind schien mit jedem ihrer Schritte stärker zu werden und als sie die Höhle erreichten, brauste er kräftig und auch das Wasser war wild.

Lucy durchsuchte den Sand über der Metallkiste und daneben. Der Ring war nicht da. Sie öffnete die Kiste, räumte jedes einzelne Teil aus. Kein Ring. Sie suchte weiter, während Niklas die Taschenlampe auf die Stellen richtete, an denen sie den Sand zur Seite schob. Sie konnten ihn nicht finden.

Nach einer halben Stunde sah sie ein, dass es sinnlos war, weiterzusuchen. Lucy schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter, strich neuen Sand über Freddy und stand auf. Wie sollte sie Ben erklären, dass sie seinen Ring verloren hatte? Und zwar als sie mit ihrem Ex-Freund in einer Höhle alte Erinnerungen ausgegraben hatte.

„Vielleicht hast du ihn ja doch woanders verloren.“ Niklas versuchte, ihr weiter Hoffnung zu machen. Es klappte nicht.

„Wir sollten los.“ Sie warf noch einen letzten Blick über den Sandboden und wandte sich dann zum Gehen. Gemeinsam traten sie nach draußen. Niklas Miene wurde ernst.

„Ich denke, wir sollten hierbleiben.“ Der Himmel war tiefschwarz, obwohl die Sonne hinter den Wolken erst in einer Stunde untergehen würde. Im nächsten Moment fing es an, zu regnen, und Niklas trat zurück unter den schützenden Felsen. Lucy stellte sich neben ihn. Sie beobachtete, wie der Sand in weniger als einer Minute durchweicht war und der Regen mit jeder Sekunde stärker wurde. Der Wind peitschte die Wellen wieder hoch auf und pfiff um die Höhle. Der Orkan hatte sie erreicht.

„Tut mir leid.“ Lucy sah Niklas entschuldigend an.

Ohne zu antworten, zog er sie an sich. So standen sie eine Weile und blickten auf das wilde Wasser, das durch den starken Regen und die Dunkelheit immer schlechter zu erkennen war. Lucy genoss die Umarmung und gab es irgendwann auf, die Tränen zurückzuhalten. Niklas zog sie enger an sich und streichelte ihr über den Rücken. Nach der Enttäuschung über den Verlust des Ringes brauchte sie das. Sie brauchte genau das. Sie legte ihren Kopf an seine Schulter, weinte und entspannte sich mehr und mehr. Es war nur ein Ring. Ben würde Verständnis haben.

„Wir sollten uns die Sachen ansehen, die wir hier haben.“ Seine Stimme war so leise, dass sie ihn kaum verstand. Er bewegte sich nicht.

„Ja.“ Lucys Antwort verschwand fast im Wind und auch sie bewegte sich nicht. Sie wollte ihn nicht loslassen. Noch nicht. Vielleicht ging es ihm genauso. Vielleicht brauchte auch er ihre Nähe. Keiner von ihnen beendete die Umarmung. Sie blickten aufs Wasser, dessen Wellen inzwischen mehrere Meter hoch sein mussten und lauschten dem Prasseln des Regens. Er streichelte sie so, als hätte er nie damit aufgehört. Sanft und kaum spürbar zog er sie immer näher an sich. Sie schloss die Augen. Ihre Tränen waren getrocknet und sie ließ sich fallen. In seine Wärme, seinen vertrauten Geruch, in diesen Moment, der ihr noch vor wenigen Tagen undenkbar erschienen war.

10

Vor 15 Jahren. Am Strand

Hey, wo willst du hin?“ Niklas’ Stimme erklang durch das Krachen der Wellen wie aus weiter Ferne. Dabei konnte er nur wenige Meter hinter ihr sein. Und richtig, im nächsten Moment ergriff seine Hand ihre Schulter und hinderte sie am Weiterlaufen. „Warte, Lucy.“ Lucy, er nannte sie Lucy.

„Was ist?“, schrie sie mehr aus Wut, als um die Natur zu übertönen.

Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, dass sie tatsächlich stehen bleiben würde, und brauchte einen Moment, bevor er antwortete. „Du … Du ignorierst mich.“

Sie schnaubte. War das wirklich sein Ernst? Sie ging weiter und beschleunigte ihren Schritt.

„Wo willst du hin?“ Wieder griff er nach ihrer Schulter, erwischte aber nur den linken Oberarm.

Sie schüttelte ihn ab. „Ich will nur ein bisschen laufen.“

„Jetzt?“

„Nein, morgen.“ Sie löste sich von ihm und rannte los.

„Lass uns reden.“ Er rannte ihr hinterher.

Es fiel ihm nicht schwer, mit ihr mitzuhalten. Aber sie würde nicht stehen bleiben. Sie wollte nicht reden. Nicht mehr. Das hatte sie zwei Monate lang versucht. Und sie war es leid, ihn mit Samthandschuhen anzufassen, ihn zu schonen und Rücksicht auf seine Gefühle zu nehmen.

Anstatt zu antworten, beschleunigte sie das Tempo. Sie wussten beide, dass sie diese Geschwindigkeit nicht lange durchhalten würde, aber zumindest brauchte sie nicht zu reden und auch nicht zu denken, denn ihr Herz pumpte das Blut so schnell in ihre Beine, dass im Kopf nicht mehr viel ankam. Und vielleicht würde er sie irgendwann einfach ziehen lassen, sie ihre Wut wegrennen lassen.

Er tat es nicht. Und nach zwanzig Minuten, in denen sie ihr Tempo immer weiter erhöhte, musste sie sich eingestehen, dass sie so nicht weiterlaufen konnte, ohne ihren Mageninhalt in sehr naher Zukunft ins Meer zu entleeren oder einfach umzukippen. Sie wurde langsamer und sah sich um. Sie waren bereits bei der Höhle. Auf keinen Fall wollte sie dort mit Niklas allein sein. Er lief an ihr vorbei und steuerte auf den Eingang zu, ohne sie zu beachten. Lucy machte sofort kehrt und hoffte, ihn endlich abhängen zu können. Aber nur Momente später lief er wieder neben ihr und reichte ihr eine Flasche Wasser. Obwohl ihr ganzer Körper danach schrie, ignorierte sie das Angebot und wurde wieder schneller.

„Komm schon.“ Wieder hielt er ihr die Flasche hin. Diesmal griff sie danach, riss sie ihm aus der Hand und warf sie mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, ins Meer.

„Ist da nicht schon genug Plastikmüll drin?“ Das war zu viel. Sie blieb stehen und schubste ihn hart. Der Stoß überraschte ihn und er konnte sich nicht auf den Beinen halten. Er fiel in den Sand und musste sich mit den Händen auffangen, um nicht auf dem Gesicht zu landen. Aber sein Gesichtsausdruck war nicht überrascht, sondern erleichtert. Er hatte sie provozieren wollen und er hatte es geschafft. Lucy ärgerte sich und rannte weiter. Er sprang auf und schloss wieder zu ihr auf.

„Lass mich in Ruhe. Verstehst du das nicht?“

„Nein, ich verstehe es nicht. Deswegen begleite ich dich ja bei deiner Olympiavorbereitung. Besonders witzig ist das aber nicht in Jeans und Jacke.“ Sie musterte ihn. Der Reißverschluss seines schwarzen Winterparkas war offen. Er hatte Schal und Mütze abgenommen und in die Kapuze gestopft. Seine Haare waren nass geschwitzt und sein Gesicht rot. Gut so.

„Du hättest deine Jacke ausziehen können.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739481838
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Meer WDWG Zweite Chance Alte Liebe

Autor

  • A.D. WilK (Autor:in)

Ich bin Andrea, wurde 1983 geboren, lebe in Berlin und schreibe Liebesromane, die bereits mehrere Zehntausend Leser begeistern konnten. Ich will meinen Figuren Leben einhauchen, ihre Welt in deinem Kopf neu entstehen lassen und dich hineinziehen in ihre Gefühle, Gedanken und Erlebnisse. Ich will dich berühren und auch immer wieder zum Schmunzeln und Nachdenken bringen. Kommst du mit mir?
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Titel: Wenn du wieder gehst