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Pfefferbüchse

von Lily Ashby (Autor:in)
250 Seiten

Zusammenfassung

Cole Parker will Rache, doch jahrelang bleibt sein verhasster Bruder unerreichbar für ihn. Dann werden Gerüchte laut, über einen Mann im Norden und eine Waffe, wie es nur eine unter Tausenden gibt. Die Reise ist lang und bald muss sich Cole eingestehen, dass der Westen hässlichere Gesichter trägt als das seines Bruders. »Es gab kein Entkommen. Jeden Ort, den er erreichte, und jeden Menschen, den er traf – immer war sein Bruder ihm voraus gewesen. Harry William Parker. Er warf einen Schatten auf das Leben seines kleinen Bruders, und dieser Schatten hatte die Weite einer endlosen Wüste. Wie viele Schritte Cole auch zu gehen vermochte, es gab keinen Weg hinaus.«

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


PFEFFERBÜCHSE

 

LILY ASHBY

 

Für Max und Markus

und für Marc

 

 

 

 

1. Auflage Juli 2017

 

Copyright @ 2017 by Lily Ashby

Lektorat: Michael Lohmann, www.worttaten.de

 

Covergestaltung: Traumstoff Buchdesign, www.traumstoff.at

Coverillustration: Natascha Berger

Inhalt

Titelseite

Die Autorin

Impressum

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

XXII

XXIII

XXIV

XXV

XXVI

XXVII

XXVIII

XXIX

Die Autorin

Lily Ashby wurde im Juli 1986 in Sachsen-Anhalt geboren. Nach dem Abitur verschlug es sie nicht nur beruflich in verschiedene Richtungen. Das Leben ist zu kurz, um nur an einem Ort zu verweilen.

Die schönen Künste haben es Ashby genauso angetan wie die rauen Seiten, die das Leben bereithält. Schon von klein auf war sie nicht nur fasziniert von Literatur und Theater, sondern auch vom Wilden Westen, der Seefahrt und den Dingen, die uns immer wieder straucheln lassen. »Pfefferbüchse« ist Lily Ashbys Debütroman und der erste von drei Western.

 

Ashby lebt mit Mann und Hund in Nordrhein-Westfalen.

 

 

 

 

Mehr zur Autorin auf

https://twitter.com/xLily_ashby

https://www.facebook.com/LilyAshby.info/

Impressum

 

Lily Ashby

c/o Autoren.Services

Zerrespfad 9

53332 Bornheim

 

lily_ashby@yahoo.de

 

 

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch in Auszügen, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. Personen und Handlungen sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Markennamen sowie Warenzeichen, die in diesem Buch verwendet werden, sind Eigentum ihrer rechtmäßigen Eigentümer.

I Brüder

Jedes Wort war gelogen.

Der alte Mann schwitzte, der Schweiß rann von seiner Stirn wie Blut aus einer Wunde. Doch Cole wusste, dass es nicht die Hitze war, die ihm zusetzte. Er war es. Cole Parker. Er war seinem Bruder so ähnlich geworden, dass eine Begegnung mit ihm selbst den härtesten Männern einen Schauer über den Rücken jagte.

Nervös fuhr der alte Mann mit der Zunge über seine Lippen. Noch mehr Lügen. Cole blieb ruhig, auch wenn er das wütende Dröhnen seines eigenen Herzschlages in den Ohren spürte. Cole wollte etwas von ihm. Etwas, das ihm nur Ken geben konnte. Ken Morrison. Der alte Mann war schon immer schwierig gewesen.

Cole blickte an ihm vorbei zum Tresen, hinter dem der Barkeeper mit zwei Männern sprach. Er kannte seinen Namen nicht. Seit ein Zechpreller den alten Barkeeper William Holt erschossen hatte, kam Cole nur noch selten in den Saloon. Er trank nicht – und er war in der Schankstube nicht gern gesehen. Die meisten Bewohner von Cattlebend gingen ihm aus dem Weg. Ihm und seiner Mutter. Doch er konnte die Verachtung sehen, die in ihren Augen brannte. Die Vorwürfe, die sie ihnen noch immer machten, und die Cole niemals die Schande vergessen ließ, die am Namen Parker klebte.

Sein Hals schnürte sich zu, und er merkte, wie er beide Hände geballt in den Schoß stemmte. Ken redete weiter. Von seinen Söhnen und von harten Zeiten; mit einem Seufzen wandte Cole seinen Blick von ihm ab und ließ ihn durch die Schankstube streifen. Es war Mittag und der Saloon nicht gut besucht. Außer den zwei Männern am Tresen saß nur noch ein weiterer Gast im hinteren Teil des Raumes. Cole hatte den Mann noch nie gesehen. Er schien auf jemanden zu warten, vielleicht auf eines der Mädchen, mit denen man sich im oberen Stockwerk vergnügen konnte.

Das Gerede des alten Morrison strapazierte seine Geduld.

»Ken, ich habe keine Zeit.« Coles Stimme klang heiser. »Ich brauche die Waffe.«

Ken verstummte. Er schob seinen Stuhl ein Stück zurück, als wolle er jeden Augenblick aufspringen. Cole sah ihn an; es schien, als wäre der Alte unter seinen bohrenden Blicken plötzlich wie gelähmt. Dabei war Cole Parker ein unauffälliger junger Mann. Nur ein Farmer, mit weichen Zügen auf dem sonnengegerbten Gesicht. Aber dieser Cole Parker war anders, und das wusste Ken.

Der Mann, der allein in einer Ecke des Saloons saß, zog ein Kartenspiel aus seiner Tasche. Cole beobachtete, wie er die Karten auf den Tisch legte. Eine nach der anderen. Seit der alte Morrison aufgehört hatte zu reden, war es still geworden im Saloon, der Platz am Klavier leer und die Männer am Tresen schweigsam. Cole glaubte, einen der Deputys von Marshall Evans zu erkennen. Der Linke von beiden, ein hagerer Mann mit schwarzen Haaren, trank Whiskey.

Die Anwesenheit der anderen Männer beunruhigte Cole. Auch wenn sich keiner von ihnen nach ihm umdrehte, wusste er, dass Augen und Ohren auf ihn gerichtet waren. In einem Ort wie Cattlebend wurde immer geredet. Vor allem, wenn es um einen der Parker-Jungs ging. Die Nachricht, dass er mit dem alten Morrison gesprochen hatte, würde sich wie ein Feuer ausbreiten. Cole ergriff das Glas vor ihm und trank. Das Bier war warm und schmeckte abgestanden, aber er nahm noch einen weiteren Schluck. Einer der Männer am Tresen winkte dem Barkeeper zu. Cole fühlte sich unwohl. Unwillkürlich blickte er immer wieder zur Saloontür. Niemand kam oder ging, und auch er schien an diesem Ort gefangen zu sein. Gefangen in den eigenen Gedanken. Gefangen zwischen all den Männern, die ihn mieden, und in Kens endlosem Schweigen. Das Glas war leer. Cole stellte es zurück und atmete tief ein. Er sah Ken an, er wartete auf eine Antwort.

Der Alte räusperte sich. »Ich kann dir die Waffe nicht geben, Junge. Selbst wenn ich noch eine hätte, könnte ich es nicht.«

Cole wirkte unbeeindruckt. »Du hast eine«, sagte er, »und du wirst sie mir geben.«

Ken schnaufte scharf. »Ich verkaufe nur noch Colts, niemand schießt mehr mit Pfefferbüchsen.« Er drehte den Kopf zur Seite und starrte in die Luft. »Ich weiß, was du vorhast, ich habe die Gerüchte auch gehört. Wir alle haben sie gehört. Und du wärst verrückt, wenn du glaubst, dass du eine Chance hast. Selbst wenn du Harry findest, du bist ein toter Mann.«

Ein toter Mann. Coles Gesicht verzog sich zu einem bitteren Lächeln. Er war längst ein toter Mann, innerlich verfallen und verwest. Jede Faser, jede Menschlichkeit aus seinem Kadaver herausgepickt durch den beißenden Spott der Einwohner von Cattlebend. Manchmal hatte er daran gedacht, sich eine Kugel durch den Kopf zu jagen, wie sein Vater. Seinem Körper die Ruhe zu gönnen, nach der er sich seit zehn Jahren sehnte. Der Schmach entgehen zu können, der Bruder jenes Mannes zu sein, über dem man nur mit Verachtung sprach. Aber nie hatte er die Kraft gehabt, den Abzug zu drücken. Sobald er die Kühle des Laufs am Gaumen spürte, dachte er jedes Mal daran, dass sein Tod der letzte Triumph des verhassten Bruders wäre. Und ein Mensch wie Harry Parker durfte nicht triumphieren.

So ein Mensch musste hängen.

»Du schuldest es mir, Ken.«

Seine Stimme war brüchig. Es dauerte einen Moment, bis Cole seine Gedanken klar gefasst hatte. Es schien ihm, als schmeckte er bei jedem Wort sein eigenes Blut im Mund. Ken sah ihn nicht an. Er gab dem Barkeeper ein Zeichen und bestellte ein Glas Gin. Der alte Morrison war ein Säufer. Cole hatte gehört, dass seine Söhne ihn jeden Abend betrunken aus dem Schweinestall hievten. Vielleicht war es nur den Morrison-Brüdern zu verdanken, dass es den Waffenladen überhaupt noch gab.

Ken trank den Gin in einem Zug. »Ich schulde dir gar nichts.«

Doch Cole kannte ihn gut. Er hatte damit gerechnet, dass der alte Mann ihm die Pfefferbüchse nicht ohne Probleme überlassen würde. Dabei ging es nicht um die Waffe und auch nicht um sein eigenes Leben, alles drehte sich um Stolz und Schuld. Um Rache. Und um die Frage, wer die Verantwortung dafür trug, wenn ein Junge aus der Gesellschaft ausbrach. Wenn er die Seiten wechselte und eine Waffe ergriff, um sie gegen einen Menschen aus der Gruppe zu richten, deren Teil er sein ganzes Leben gewesen war.

Harry William Parker, den sie Pepperbox-Harry nannten. Ein Mann, von dem man sagte, er habe Hunderte erschossen. Häuser niedergebrannt und Vieh gestohlen. Der mit einer Bande immer noch durchs Land zog und dessen Steckbrief jede Stadt zu schmücken schien. Der Schweiß brannte in Coles Augen, er wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und ließ dann die Arme sinken.

»Du warst es, Ken«, sagte Cole bestimmt und ohne Gnade. »Du hast meinem Bruder das Eisen in die Hand gelegt, durch das so viele Menschen starben.«

Ken zuckte die Schultern. »Harry war siebzehn und er hatte Geld. Ich bin nur ein einfacher Mann, der seine Frau und seine Kinder versorgen muss. Das ist mein Tageswerk, Cole. Auch wenn es dir nicht gefällt.«

Den Blick stur von ihm abgewandt, hielt der alte Morrison das leere Glas in der Hand und rührte sich nicht. Coles Körper bebte. Wut ließ seine Wangen glühen. Er wollte aufstehen, schreien und Ken am Kragen seines dreckigen Hemdes packen. Der alte Mann sprach von seinem Bruder, als wäre er nur ein Mann wie jeder andere gewesen. Der eines Tages in seinem Laden gestanden und eine Waffe gekauft hatte, um seine Familie zu schützen. Cole hatte vergeblich versucht, mit Ken darüber zu reden, was an jenem Nachmittag wirklich geschehen war. Der alte Mann blieb schweigsam. Vielleicht hatte er damals bereits geahnt, dass Harry andere Absichten mit der Waffe verfolgte. Und dennoch hatte er sie ihm verkauft.

Cole biss die Zähne zusammen. Sein Kiefer schmerzte, auch wenn er es kaum wahrnahm. Es musste einen Weg geben, den alten Hund zu knacken. Ihn so unter Druck zu setzen, dass der nachgab. Doch Cole lief die Zeit davon, er brauchte die Waffe. Jetzt. Jede Stunde, die er länger in Cattlebend blieb, konnte seinen Bruder noch unerreichbarer für ihn machen. Wenn die Gerüchte stimmten. Cole schloss die Augen und atmete tief ein. Sie mussten wahr sein, an etwas anderes konnte er nicht denken. Man hörte schließlich immer wieder von den Kopfgeldjägern, die zum Canyon aufbrachen und mit Leichen auf ihren Pferden zurückkehrten. Der Skull Canyon, einer der übelsten Orte, von dem man in jeder Schankstube des ganzen Westens sprach. Dass es seinen Bruder dorthin verschlagen haben sollte, überraschte Cole nicht. Er war ein gesuchter Mann und ein Mörder war unter Scheusalen besser verborgen als unter Menschen.

Cole richtete sich auf. Den Kopf zur Seite geneigt, blickte er Ken an. Dieser sture Bock musste ein Gewissen haben. Ken Morrison war kein ruchloser Mann. Er war jemand, über den man kaum ein schlechtes Wort verlieren konnte. Doch Cole wusste, dass die Frauen auf den Straßen über ihn tuschelten, wenn er ihnen den Rücken zuwandte. Der alte Morrison, der sich langsam zu Tode soff. Auch wenn er versuchte, den Schein aufrecht zu erhalten, war er ein gebrochener Mann. Ein Mann, der tief in sich etwas verbarg, über das er nicht sprechen konnte. Aber Cole konnte es.

»Machst du dir nie Vorwürfe, Ken?«

Seine Zunge war pelzig, nur mühsam gingen die Worte über seine Lippen. »Die Menschen in dieser Stadt geben dir genauso die Schuld wie mir und meiner Familie. Sieh dich doch an, versoffen und nur noch ein Schatten deiner selbst!«

Er musterte den alten Mann abschätzig in seinem speckigen, mit Brandflecken durchlöcherten Hemd.

»Die schweren Zeiten, von denen du gesprochen hast ... liegt das vielleicht daran, weil sich niemand mehr in deinen Laden verirrt? Habe ich recht, Ken? Die Männer meiden dich, weil sie nicht vergessen können, was du getan hast? Dass du derjenige warst, der meinem Bruder die Waffe verkauft hat? Der alte Ken Morrison, der einen Mann zum Mörder gemacht hat.«

Er schwieg, aber seine Augen verrieten Cole, dass die alten Wunden in ihm bluteten, und der Schmerz schien unerträglich. Die Blicke des alten Mannes suchten die des Barkeepers, schweigend bestellte er ein neues Glas Gin.

»Du kannst es wiedergutmachen«, fuhr Cole fort, »und ich habe dir gesagt, wie. Du gibst mir die Waffe und in ein paar Tagen werde ich zurückkehren, um euch allen zu erzählen, dass Harry William Parker tot ist. Dann ist unsere Schuld beglichen, Ken, und wir können in Ruhe leben.«

Der alte Mann sah ihn nicht an. Er umklammerte das Glas Gin, als wäre es das Einzige, das ihm noch Halt geben konnte. Die Männer am Tresen lachten laut auf und der Barkeeper ließ beinahe eines der Gläser fallen. Ken seufzte.

Diese elenden Parker!

II Morrison & Söhne

Ken trank noch ein drittes Glas Gin, bevor sie den Saloon verließen. Seit Coles Appell an sein Gewissen hatten sie geschwiegen. Es war nur ein Versuch gewesen, nicht mehr, und doch schienen die Worte den alten Waffenhändler getroffen zu haben. Ein schmerzhafter Stich in eine wunde Stelle, den er zwar gut verbergen, aber nicht gänzlich verstecken konnte.

Cole folgte dem alten Mann, dem man den Alkohol nicht anmerkte, in ein paar Schritten Abstand. Vielleicht hielten die Gedanken an Harry seinen Verstand genauso klar wie Coles. So schwierig der alte Morrison auch war, er war ein guter Mensch. Vielleicht sogar einer der wenigen verbliebenen Freunde der Parkers. Cole blinzelte, als sie aus den Schatten der Vordächer traten und die Sonne ihm ins Gesicht schien. Er dachte an seinen Bruder und daran, dass er sie alle zu Opfern gemacht hatte. Opfern, denen es niemals vergönnt gewesen war, Rache zu nehmen. Bis zu diesem Tag.

»Wann brichst du auf?« Es war Ken, der die Stille brach.

»Noch heute«, antwortete Cole und blickte hinunter zu seinen Stiefeln, »sobald du mir die Waffe gegeben hast. Mit Allan und Ann ist alles geklärt, sie werden sich um die Farm kümmern, solange ich weg bin. Aber es wird nicht lange dauern, das verspreche ich dir.«

Ken zog die Braue hoch und brummte leise. Er war skeptisch, und Cole wünschte, er könne dem alten Mann deutlich machen, dass er es ernst meinte. Aber dem jüngsten Spross der Parker-Familie hatte man nie viel zugetraut, er war immer der Junge gewesen, der im Schatten seines Bruders gestanden hatte. Er konnte Pferde versorgen und ein Feld bestellen, aber keiner der Männer im Saloon würde verängstigt die Arme heben, stünde er mit einer Waffe vor ihnen.

Die beiden ungleichen Männer gingen die breite Straße entlang, die durch Cattlebend führte. Es war ein heißer Frühsommertag. Warme Luft flimmerte über den Vordächern, die die hölzernen Fassaden der Häuser zierten. Drei Frauen standen vor einem Schustergeschäft und lachten, Cole sah sich nach ihnen um. Es waren hübsche Frauen mit hellen, langen Kleidern. Er war noch nie einer Frau nahe gewesen, und der Gedanke schmerzte, dass keines der Mädchen in Cattlebend ihm Beachtung schenkte. Dabei hatte er keineswegs ein hässliches Gesicht, auch wenn ein wenig mehr Bartwuchs am schmalen Kinn ihn noch männlicher wirken ließe. Es war sein Name, mit dem keine Frau in Cattlebend an seiner Seite würde leben können. Wenn er jemals heiraten wolle, müsse er fortgehen. Doch die Bürde auf seinen Schultern wog schwer, und er würde lieber einsam sterben, als mit anzusehen wie ein Mädchen, das er liebte, darunter zerbrach.

 

Schnaufend schleppten zwei Pferde eine Kutsche durch die Straße, den Mann auf dem Kutschbock grüßte Ken mit einem Nicken. Ein junger Arzt, der des Öfteren in die Stadt kam. Cole hatte ihn vor ein paar Monaten mit seiner Mutter aufgesucht, aber auch er hatte ihr nicht helfen können.

»Warum möchtest du einen Bündelrevolver, Junge?«, fragte der alte Morrison und riss Cole aus seinen Gedanken. »Pfefferbüchsen sind veraltet, ich kann dir einen besseren Revolver geben.« Er blieb kurz stehen und musterte Cole. »Aber wenn ich mich recht erinnere ... hat dir mein Sohn nicht letztes Jahr eine gute Waffe verkauft?«

Cole nickte. »Ja, einen Pocket Paterson.«

Er hatte den .28-kalibrigen Colt nur ein Mal abgefeuert, um ein Rudel Kojoten zu verjagen, die sich in die Nähe der Farm verirrt hatten. Seitdem lag der Revolver auf dem Nachtisch seiner Mutter, Cole hatte daran gedacht, ihn wieder zu verkaufen. Aber es war die einzige Waffe im Haus, die seine Mutter duldete, abgesehen von der alten Schrotflinte seines Vaters in der Scheune.

»Einen Pocket Paterson, richtig«, wiederholte der alte Mann und seine Augen leuchteten voller Stolz auf. Ken Morrison war vernarrt in Waffen, wie man es von einem Händler erwartete, und auch nach Jahren erinnerte er sich genau, wem in Cattlebend er welchen Revolver oder welches Gewehr verkauft hatte. »Eine gute Waffe, aber auch nicht das Richtige für dich. Vielleicht einen Karabiner von Sharps, Kaliber .52. Das müsste gehen, ich habe noch zwei Stück im Laden.«

Ihre Augen und Kehlen brannten durch den staubigen Wind, der zwischen den Häusern wehte. Sie gingen der Mittagssonne entgegen, Kens Körper warf einen breiten Schatten auf Coles Gesicht. Nun spürte auch er den Schweiß auf der Stirn und im Nacken, sein Hemdkragen klebte unangenehm. Er fühlte sich dreckig, bevor er aufbrach, würde er sich umziehen müssen.

»Wenn du deinen Bruder stellen willst, brauchst du eine anständige Waffe.« Die Pfefferbüchse beschäftigte den alten Morrison noch immer. »Eine, mit der du geradeaus und nicht nur auf eine Armlänge Distanz schießen kannst. Keinen Bündelrevolver, Junge, wirklich nicht. Wir werden im Laden etwas für dich finden.«

Cole lächelte. Die Stimme des alten Mannes erinnerte ihn an seinen Vater. Kühl, aber dennoch fürsorglich. Ken würde ihm geben, was er verlangte. Er hatte sich längst entschieden, auch wenn in seiner Stimme noch immer ein leichter Widerstand mitschwang. Doch er irrte sich, der Bündelrevolver war nicht nur eine anständige Waffe, sondern das einzige Schießeisen, das er gebrauchen konnte. Natürlich wusste Cole um die Schwächen der Waffe und auch darum, dass ein Colt viel besser geeignet wäre. Auch ein geübter Schütze konnte mit einer Pfefferbüchse nur auf zwei oder drei Meter schießen. Zielen war durch das Laufbündel mit fünf und mehr Läufen beinahe unmöglich. Und nicht wenige Männer hatten sich beim Laden der Waffe selbst in die Brust geschossen. Aber für Cole spielte das keine Rolle, er hatte es sich in den vergangenen zehn Jahren so oft ausgemalt. Ein Bündelrevolver: der Anfang und das Ende von Pepperbox-Harry. Nur er und sein Bruder, auf einem staubigen, stoppeligen Feld. Die Stiefel getränkt in Harrys Blut, der ohne letzte Worte auf den Lippen durch einen Kopfschuss aus nächster Nähe starb. Cole war nicht gewillt, ihm zuzuhören, denn es gab nichts, was sein Bruder ihm hätte sagen können. Keine Entschuldigung, nur den Tod.

»Es muss dieselbe Waffe sein, die du damals Harry verkauft hast«, erklärte Cole schließlich. »Wenn wir den Mistkerl nicht an den Galgen bekommen, soll er zumindest durch eine Kugel aus dem Lauf sterben, der ihn selbst zum Mörder gemacht hat.«

Es war pathetisch, das wusste er, aber er hatte die Rache bis auf das kleinste Detail geplant. Aufgezogen wie ein Theaterstück, auf einer Bühne von endloser Weite inmitten der Prärie. Der letzte Akt gehörte nur ihm, und auch wenn Ken verständnislos mit dem Kopf schüttelte, war es Cole, der die Feder führte. Niemand sonst.

 

Sie hatten den Waffenladen beinahe erreicht, Kens Familie lebte in einem der letzten Häuser am Rand der Stadt, dahinter erstreckten sich bereits die Farmen. Ein Meer aus Steinen und kleinen Büschen säumte den schmalen Weg, der hinter Kens Laden in die Steppe hinausführte. Abgelegen und von der Stadt aus kaum zu sehen, lag dort auch die Farm der Parkers.

Das Haus mit der verwaschenen dunklen Holzfassade und dem löchrigen Vordach gehörte dem alten Ken. Morrison & Söhne stand auf dem ehemals weißen Schild über der Veranda; im Schaufenster lagen einige Schrotflinten und ältere Gewehre. Die Männer stiegen die vier Holzstufen zur Veranda hinauf und blieben vor der Tür stehen. Cole konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal im Waffenladen gewesen war.

»Ich weiß, warum du das machen willst, aber du bist nicht er.« Ken griff in die Tasche seiner speckigen Hose und schien den Schlüssel zu suchen, bis ihm einfiel, dass die Tür des Ladens nicht verschlossen war. »Es heißt, dein Bruder könne einen Mann auf zwanzig Meter mit einem Bündelrevolver erschießen.« Wieder schüttelte er den Kopf. »Ich glaube zwar nicht, dass dieses Gerede wahr ist, aber wenn jemand mit einer Pfefferbüchse umgehen kann, dann Harry. Dein Bruder ist ein Teufel, Cole.«

»Ich werde ihn aus der Nähe erschießen, Ken.« Cole schlug sich den Staub von den Stiefeln. »Lass das meine Sorge sein. Ich weiß, du meinst es gut, aber ich brauche nur die Waffe von dir und keine guten Ratschläge.«

Harte Worte. Cole konnte es auf den Tod nicht ausstehen, wenn man versuchte, ihm ins Gewissen zu reden. Er wusste, was er tat. Er hatte zehn Jahre Zeit gehabt, über den Tag seiner Rache nachzudenken, und niemand kannte seinen Bruder so gut wie er selbst.

»Das ist Geschwätz, das weißt du doch.« Cole lehnte sich neben den Türrahmen. »Dummes Gerede von besoffenen Dreckskerlen, die nicht unterscheiden können, ob man auf zehn oder zwanzig Meter schießt.«

Ken drückte die Klinke und sah Cole unbeirrt an. »Der Canyon liegt neun oder zehn Tagesritte entfernt. Und glaubt man Marshall Evans, ist es eine gefährliche Route. Vielleicht schießen dich Plünderer vom Pferd und hängen dich auf, bevor du deinen Bruder überhaupt findest«, raunzte er bitter. »Wenn du auf die Pfefferbüchse bestehst, dann bitte, aber ich gebe dir noch einen Revolver oder besser eine Flinte mit.«

»Evans ist ein Idiot«, kommentierte Cole die Worte trocken. Er hasste den Marshall. »Ein arroganter Hurensohn, der keine Ahnung hat, wie man in einer Stadt für Ordnung sorgt. Ohne die Deputy Marshalls hätte man ihn doch schon längst einen Kopf kürzer gemacht.«

Cole spuckte auf die Dielen der Veranda. Noch hatte er die Hoffnung nicht aufgegeben, dass eines Tages eine Kugel Marshall Evans das selbstfällige Lächeln aus dem Gesicht wischen würde.

Der alte Mann schüttelte erneut den Kopf und betrat den Laden. Stickige Luft schwappte ihnen entgegen. Cole schob sich an Ken vorbei in den schmalen Verkaufsraum. Die Wände waren bis zur Decke mit Gewehren und Flinten behängt, einige Schaukästen mit Pistolen standen an den Seiten. Fast bedrohlich ragten die Läufe zweier Gewehre auf dem Tresen in die Mitte des Raumes. Ein Gefühl der Beklemmung breitete sich in Cole aus. Es schien, als wäre die Zeit an diesem Ort stehen geblieben, denn alle Erinnerungen, die er an Kens Waffenladen hatte, drehten sich um den unausweichbaren Blick in tiefschwarze Läufe. Und um Luft, in der man kaum atmen konnte.

Hinter der Theke, am anderen Ende des Verkaufsraumes, stand George Morrison, ein pausbäckiger junger Mann. Er war im selben Alter wie Cole. Gedankenversunken schob er eine Münze mit den Fingerspitzen über den Tresen und blickte erst auf, als sein Vater direkt vor ihm stand. Das Gesicht rot vor Hitze, strich er sich die fettigen Haare von der Stirn. Er stank nach Schweiß und Schwarzpulver.

»Bist ja früh wieder da«, rief er verwundert. »Mutter ist bei Evelyn, schon seit heute Morgen. Sie hat gesagt, du kommst später in den Laden.«

»Und die Jungs?« Ken beugte sich über einen Schaukasten neben dem Tresen. »Wo sind die Jungs, ich habe sie beim Frühstück nicht gesehen. Waren sie gestern Abend wieder im Saloon?«

George zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht, Vater, vielleicht sind sie im Stall.« Er lachte gehässig. »So fett wie die beiden sind, fallen sie unter den Schweinen doch nicht auf.«

»Rede nicht so über deine Brüder, George.« Ken fuhr seinen Sohn scharf an. »Und kümmere dich besser um den Laden, die Glasscheiben der Vitrinen sind völlig verdreckt. Niemand kauft einen Revolver, wenn er ihn vor Staub nicht erkennen kann.«

»Kauft doch sowieso keiner einen Revolver«, maulte George und steckte die Hände in die Hosentaschen. »Das ist wegen der Tür, Vater. Muss sie den halben Tag offen stehen lassen, da weht der ganze Dreck und Staub hinein. Aber anders hält man es hier nicht aus, Evelyn kommt gar nicht mehr hierher.«

»Eine schwangere Frau hat im Laden auch nichts verloren.« Der alte Mann hatte das Gerede seines Sohnes endgültig satt. »Wenn du uns nun alleinlassen könntest, ich habe Kundschaft.«

George verzog das Gesicht, als der alte Morrison auf Cole deutete. Er würdigte ihn keines Blickes, auch wenn er direkt neben seinem Vater stand. Cole kannte den ältesten Sohn der Morrisons kaum. Als Kinder hatten sie ein paar Mal zusammen auf den Koppeln gespielt. George war immer ein Raufbold gewesen, dumm, schweigsam, aber sofort mit der Faust im Gesicht eines anderen, wenn ihm irgendetwas nicht passte. George schob sich hinter der Theke hervor und schlenderte an den Vitrinen entlang zur Tür.

»Ich hätte nicht gedacht, dass mein Junge so eine gute Frau findet«, platzte es aus Ken heraus, als sein Sohn schließlich gegangen war. Er lächelte stolz. »Er mag manchmal ein Dummkopf sein, aber in Evelyn hat er wirklich sein Glück gefunden. Vielleicht solltest du dir auch ein Mädchen suchen, Cole. Was ist mit Ann?«

Aber Cole hatte ihm nicht zugehört. In einer Vitrine an der Seite des Tresens, abseits der anderen Waffen, lag in einem kleinen, mit rotem Stoff gefütterten, hölzernen Koffer ein sechsläufiger Revolver. Die Fächer für das Pulverfässchen und den Ladestab waren leer, als hätte jemand die Dinge mit Absicht herausgenommen, um die Waffe nutzlos zu machen. Cole erkannte den Revolver auf den ersten Blick, es war eine Pfefferbüchse von Allen & Thurber. Ihr markantes Aussehen und der dumpfe Knall, wenn man eine Kugel aus einem der Läufe abfeuerte, hatte sich in Coles Gedanken gebrannt. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er seinen Bruder stellen konnte.

III Pfefferbüchse

Es war im Frühling, Cole erinnerte sich nicht mehr an den Tag. Er wusste nicht, ob es morgens oder abends gewesen war oder ob sein Bruder und er zuvor gestritten hatten, aber er erinnerte sich noch an die Angst. Angst, die in jeden Muskel seines Körpers gekrochen war und ihn gelähmt hatte. Er war fünf Jahre alt gewesen und stand zitternd in der Unterhose vor seinem Bett, auf der Brust der kühle Hauch einer Waffe. Sein Bruder hatte das Gewehr des Vaters gestohlen. Ungeschickt hielt er es in den Händen, den Lauf auf Coles Herz gerichtet.

»Papa wird dich totschlagen«, hatte Cole gesagt, doch Harry hatte nur gelacht.

»Das merkt er gar nicht. Ich lege es nachher zurück. Bald kaufe ich mir auch eine Waffe, und weißt du, was ich dann mache? Dann gehe ich weg und reite überall hin, wo ich will. Und wenn Butterfly und ich etwas brauchen, dann nehmen wir es uns einfach.«

»Aber das ist böse«, hatte Cole erwidert und die Hände um den kalten Lauf geschlossen. »Papa sagt, böse Männer werden gehängt.«

Er war sich so clever vorgekommen, als könne er mit dieser Wahrheit jedes Übel des Westens auslöschen. Als Kind hatte Cole noch daran geglaubt, dass auf böse Taten der Tod folgte, doch sein Bruder hatte schon damals eine andere Auffassung von Gut und Böse gehabt.

»Da irrst du dich, kleiner Bruder.«, Harry hatte das Gewehr sinken lassen. »Man hängt die Männer nur, wenn man sie erwischt. Und ich lasse mich nicht erwischen, Butterfly auch nicht. Bevor man uns fassen kann, sind wir längst über alle Berge.«

 

Noch heute lief Cole ein Schaudern über den Rücken, wenn er an diesen Tag dachte. An das zahnlückige Lächeln seines Bruders und an die Waffe auf der eigenen Brust. Es war eine der frühsten Erinnerungen an Harry. Später hatte sein Bruder eine ordentliche Tracht Prügel bekommen. Als ihr Vater nach Hause kam, hatte er nämlich bemerkt, dass jemand das Gewehr im Schrank verschoben hatte. Nur einer seiner Söhne konnte es gewesen sein. Der Ältere, der Unberechenbare. Doch auch die Fäuste des Vaters konnten den damals zehnjährigen Jungen nicht die Vorstellung aus dem Kopf schlagen, die er Jahre später in die Tat umsetzen sollte: sich das zu nehmen, was er wollte.

Eine alte Geschichte, aber eine, an die Cole unweigerlich denken musste, als er die Pfefferbüchse vor sich sah. Diesmal würde er es sein, der die Waffe auf das Herz des Bruders richtete. Vielleicht wurden nicht alle bösen Männer gehängt, aber eines Tages würde die Gerechtigkeit sie einholen. Daran glaubte Cole noch immer.

 

»Es ist dir ernst.« Ken sprach es nicht als Frage aus.

Der alte Mann sah sich um, als wolle er sich vergewissern, dass sie wirklich allein waren. George war nicht mehr zu sehen und die Straße vor dem Laden leer gefegt wie der Vorplatz eines Galgens nach der Hinrichtung. Er schritt an Coles Seite, öffnete vorsichtig die Vitrine und reichte ihm den Bündelrevolver. Behutsam ergriff Cole die Pfefferbüchse, seine Wangen glühten vor Aufregung. Er drehte die Waffe in der Hand und musterte sie. Sechs Läufe, keine Trommel, Kaliber .31. Kein guter Schwerpunkt, das Laufbündel machte den Revolver zu schwer. ›Allen & Thurber Worcester Patented 1837 Cast Steel‹ stand auf den Laufschienen. Der Hammer hob sich, als Cole den Abzug drückte, nach jedem Schuss drehte sich das Laufbündel eine Öffnung weiter. Obwohl Colt-Revolver die Pfefferbüchsen abgelöst hatten, gab es keine Waffe im Westen, mit der man schneller schießen konnte. Klick. Klick. Der Revolver war nicht geladen, natürlich nicht. Cole fuhr mit den Fingerspitzen über die Rankengravur des Rahmens, jede Vertiefung sauber und gleichmäßig gearbeitet. Die Griffschalen aus dunklem Nussholz lagen gut in der Hand. Langsam verstand er die Faszination seines Bruders für diese Waffe. Pepperbox-Harry, so sagte man, habe nie mit etwas anderem geschossen.

 

Mit einem Räuspern entfernte sich Ken. Cole nahm im Augenwinkel wahr, wie der alte Mann in einer Tür neben dem Tresen verschwand. Er konnte hören, wie eine Schublade aufgerissen wurde, dann das Klirren von Metall, schließlich betrat Ken wieder seinen Laden. In der Hand hielt er ein kleines, dunkelbraunes Ledersäckchen.

»Zündhütchen«, erklärte er und kam auf Cole zu, »und Papierpatronen, ich habe sie selbst gemacht. Vorne das Kaliber und hinten das Schwarzpulver. Du musst sie nur noch im Lauf festdrücken, bevor du schießt. Und achte darauf, dass sie trocken bleiben, am besten verstaust du die Munition in einer Tasche.«

Er legte das Säckchen an die Seite der Vitrine. Cole hatte noch nie mit Papierpatronen geschossen, doch er wusste, dass es ihm das Laden der Waffe erleichtern würde. So konnte er Kugel und Treibladung direkt in den Lauf geben, anstatt beides einzeln einfüllen zu müssen. Er brauchte nur einen Ladestab, aber Cole erinnerte sich, einen in der Schublade des alten Schreibtischs in der Scheune gesehen zu haben. Vielleicht hätte er auch Ken danach fragen können, aber er wollte die Zeit des alten Mannes nicht länger strapazieren als notwendig. Einen Ladestab konnte er in jeder Stadt auftreiben. Cole steckte die Hand in die rechte Gesäßtasche seiner Hose und zog ein kleines Bündel zerknitterter Geldscheine hervor. Zehn Dollar. Vor wenigen Jahren hatten Bündelrevolver noch um die vierzig Dollar gekostet, aber die Waffe war stark veraltet und Cole hoffte, dass Ken ihm einen guten Preis machen würde. Als er dem Waffenhändler die Dollarnoten entgegenstreckte, winkte der abwehrend mit der Hand.

»Du musst mir nichts dafür geben«, erklärte der alte Mann mit brüchiger Stimme, als läge etwas Schweres auf seiner Brust, das ihm kaum Luft zum Atmen ließ. Er hatte sich von Cole entfernt und stand nun in der Mitte des Raumes.

»Hör zu, Junge.« Er sprach langsam, als dächte er bei jedem Wort nach. »Wir hatten kein gutes Verhältnis, seit dein Bruder die Stadt verlassen hat. Es war für uns alle eine schwierige Zeit. Das muss ich dir nicht erzählen, aber glaube mir, wenn ich dir sage, dass ich deine Familie immer sehr gemocht habe. Auch deinen Bruder Harry.«

Der alte Mann hielt inne, stumm ging er ein paar Schritte in seinem Laden auf und ab, bis er schließlich im fahlen Lichtschein des Schaufensters stehen blieb. Cole beugte sich über den Tresen und sah ihn an. Ken wirkte verloren, wie etwas Fremdes, das nicht hierher gehörte. Allein zwischen den Waffen, die von den Wänden auf sie herabblickten. Dominierend und kalt. Eisen und Holz, das über Leben und Tod entschied. Über Schicksale und Familien. Cole schluckte. Die Hand noch immer fest um den Griff der Pfefferbüchse geschlossen, spürte er, wie sein Körper langsam zu zittern begann.

Er war der Rache noch nie so nah gewesen. Noch nie so kurz davor, die gesamte Last zu verlieren, die er zu lange hatte tragen müssen. Ihm wurde bewusst, dass er nur hinausgehen und seinen Bruder stellen musste. Der Gedanke machte ihn rastlos wie einen Wildhund, der das frische Blut eines verletzten Tieres roch. Cole fuhr mit der Zungenspitze über seine rauen Lippen. Es war an der Zeit. Es gab nichts mehr, worüber er noch mit dem alten Morrison reden wollte. Es schien ihm, als wäre ein ganzer Tag vergangen, seit sie sich im Saloon getroffen hatten. Cole musste weiter, zu Ann und zu Allan. Es gab so viele Dinge, die er noch erledigen musste.

 

»Ken«, rief Cole und musterte den alten Mann, der gedankenversunken zwischen Schrotflinten und Revolvern stand. »Ich danke dir.«

Er nahm das Ledersäckchen mit den Zündhütchen und Papierpatronen, band es an die Schlaufe seines Hosenbundes, und hob dann erneut die Pfefferbüchse an, die er auf dem Tresen abgelegt hatte. Cole trug kein Holster bei sich. Er überlegte einen Augenblick und verstaute die Waffe in der Gesäßtasche der Hose, danach ging er um den Tresen herum. Sein Vater hatte ein Holster besessen, vielleicht lag es in der großen Truhe, die auf dem Flur neben der Treppe stand. Cole würde nachsehen, sobald er zuhause war. In Gedanken schon längst bei Ann und der Farm, bemerkte er nicht, dass der alte Mann auf ihn zu kam. Cole blieb so nah vor ihm stehen, dass er den fauligen Atem riechen konnte. Der alte Kerl versperrte ihm tatsächlich den Weg.

Cole schnappte harsch nach Luft, versuchte aber, ruhig zu bleiben. »Ich muss wirklich gehen«, knurrte er.

»Es tut mir leid, mein Junge, was du durchgemacht hast in den letzten Jahren«, flüsterte Ken weinerlich, als hätte er Coles Worte nicht gehört, und legte ihm die schweißnassen Hände auf die Schultern. »Aber denk noch einmal darüber nach, versprich es mir. Selbst wenn du deinen Bruder tötest, ändert das nichts, für keinen von uns. Denn die Menschen in dieser Stadt vergessen nie, ich denke, das weißt du.«

Er senkte den Kopf und seufzte. »Vielleicht hast du recht, Cole, vielleicht hätte ich deinem Bruder die Waffe nicht verkaufen sollen, aber ich trage keine Verantwortung dafür. Nicht für das, was er später getan hat. Und du auch nicht, du warst ein Kind. Das, was passiert ist, kann nicht mehr gut gemacht werden. Nicht in diesem Leben und in keinem anderen, auch nicht durch Harrys Tod.«

Grob stieß Cole den alten Mann von sich weg und löste sich aus seinem Griff. »Das ist Gerechtigkeit, Ken!« Er war wütend. »Mein Bruder muss sterben und das weißt du.«

»Es liegt nicht an dir, dich darum zu kümmern. Dafür gibt es den Sheriff und die Kopfgeldjäger, auch dein Bruder kann sich nicht für immer vor ihnen verstecken.«

Cole hatte genug gehört, er stapfte an dem alten Mann vorbei und blieb abrupt vor der Ladentür stehen. Ken irrte sich, sein Bruder konnte sich ewig vor seinen Häschern verstecken. Das Kopfgeld auf Harry William Parker war hoch, aber die Männer, die nach ihm suchten, kehrten mit leeren Händen zurück. Sein Bruder glich mehr einem Phantom als einem Menschen, wie etwas, das man nicht erreichen und fassen konnte.

»Harry sollte längst an einem Galgen verfaulen und sich das madige Fleisch durch Krähen und Kojoten von den Knochen reißen lassen, aber niemand kommt an diesen Scheißkerl heran«, schrie Cole bitter und ballte die Hände. »Ich bin der Einzige, der ihn töten kann, Ken. Mein Bruder macht keine Fehler, aber er hat mich schon immer unterschätzt. Und das wird sich niemals ändern.«

Der alte Mann hatte Cole den Rücken zugewandt und musterte eine Hawken Rifle, die schief in der Halterung an der Wand hing. »Du willst Rache«, sagte er, »aber du wirst die Gerechtigkeit nicht finden, die du suchst.«

»Was weißt du schon, du alter Wirrkopf«, schnaubte Cole und musste sich zügeln, Ken nicht noch schlimmere Beleidigungen an den Kopf zu werfen.

Er verschwendete nur seine Zeit. Der alte Mann hatte ihm gegeben, was er verlangte, und das, was Ken noch zu sagen hatte, wollte Cole nicht hören. Er war ein Sturkopf, genau wie sein Bruder. Nur mit Mühe konnte er dem Drang widerstehen, die Tür aufzureißen und hinter sich ins Schloss knallen zu lassen. Auch wenn die Wut ihn rasend machte, wusste er, dass der alte Mann es gut meinte. Cole atmete tief durch. Er dachte daran, was wäre, wenn er nicht zurückkehren würde. Er wollte nicht, dass der letzte Eindruck, den er Ken hinterließ, der eines undankbaren Jungen war.

Also drehte er sich um und lächelte, auch wenn das Lächeln auf seinen Lippen ein falsches war. Der alte Mann wirkte plötzlich ausgezehrt. Das grelle Tageslicht, das Kens Gesicht durch das Fensterglas streifte, zog tiefe Furchen um seine Augen. Ken war alt geworden, und Cole schien zum ersten Mal zu bemerken, dass die schweren Jahre nicht spurlos an ihm vorbeigegangen waren.

»Ich danke dir für den Bündelrevolver, und ich weiß deine Ehrlichkeit zu schätzen.« In Coles Stimme lag so viel Sanftheit, dass sie sich fremd anhörte. Nervös wippte er auf seinen Füßen hin und her, bevor er sich das Hemd zurechtrückte und noch einmal den Blick des alten Mannes suchte. »Alles Gute, Ken. Ich wünsche es dir und deiner Familie von Herzen.«

Der alte Mann nickte.

Kein Wort des Abschiedes. Der Junge wusste, dass der Alte ihm nachsah, als er die staubige Straße zu den Farmen nahm. Auch als Cole die letzten Häuser der Stadt längst hinter sich gelassen hatte, schien er noch immer Kens bohrenden Blick im Nacken zu spüren. Er glaubte, die Gedanken des alten Mannes in seinen eigenen lesen zu können – und sie ließen ihn erschaudern. Cole Parker, nicht mehr als ein weiterer Parker, der mit einer Waffe aus dem Hause Morrison hinauszog und vielleicht nie mehr zurückkehren würde.

IV Ann

Heiße Luft flimmerte am Horizont und ließ den Blick auf die Farm vor seinen Augen verschwimmen. Das Land der Parkers lag abseits von Cattlebend, nur selten ging Cole den steinigen Pfad zu Fuß. Meist nahm er eines der Pferde, um die Stadt aufzusuchen. Der Weg zu den Farmen war anstrengend, vor allem an Tagen wie diesem, wenn die Sonne erbarmungslos im Nacken brannte. Cole stieg einen Hügel hinauf, der von Gestrüpp umwuchert war. Das dunkelrot geschieferte Dach der Farm schimmerte durch die kargen Äste hindurch. Seit dem Tod seines Vaters kümmerte sich Cole um das Land, doch das Haus samt Scheune und den zwei Stallungen verfiel zusehends. Die Rinder hatte er verkauft, um Geld und Zeit zu sparen, nur vier Pferde waren ihm und seiner Mutter geblieben. Thunder, Pumpkin, Snowball und Butterfly. Kindische Namen, die er und sein Bruder sich vor Jahren ausgesucht hatten, bis auf den von Thunder. Den jungen schwarzen Wallach hatte er von einem benachbarten Hof übernommen. Seit die Rinder-Stallungen leer standen, warf die Farm kaum noch Geld ab. Cole hatte oft daran gedacht, das Land zu verkaufen und mit seiner Mutter in ein Haus in der Stadt zu ziehen. Aber die Vorstellung, die Weiden, Wiesen und Pferde nicht mehr um sich zu haben, brach ihm das Herz.

Von Weitem konnte Cole den Stall der Pferde sehen. Die Scheune war windschief. Regen und Sand hatten die Maserungen der Hölzer zerfressen, und es glich einem Wunder, dass das Dach noch dichthielt. Allan sagte, er müsse bald eine neue Scheune für die Pferde bauen, aber Cole hatte nicht viel dafür übrig. Er liebte die Pferde, dennoch fiel ihm die Arbeit jeden Tag schwerer. Wenn er die Tiere am Abend von den Weiden zurück in die Stallung führte, erschienen sie ihm wie eine weitere, viel zu schwere Last. Vielleicht sollte er zwei oder drei Pferde verkaufen.

Cole schritt am Weidenzaun entlang und blieb im Schatten eines Baumes stehen. Mit der Hand fuhr er an die Gesäßtasche seiner Hose, als wollten seine Finger sich vergewissern, dass die Waffe noch da war. War sie.

Cole kniff die Augen zusammen, um die Weide im gleißenden Sonnenlicht überblicken zu können. Die Hitze der vergangenen Tage hatte das Gras verdorren lassen. Es schien, als stünde die Farm nicht mehr am Rand der Steppe, sondern inmitten der Weite selbst. Zwei Pferde grasten im Schatten des Verschlages, den sein Vater vor vier Jahren gebaut hatte. Das dritte, Thunder, scharrte schnaubend neben dem Wassertrog in der trockenen Erde und hob auch dann den Kopf nicht, als Cole näher an den Zaun herantrat. Butterfly war nicht zu sehen. Allan musste die Stute in den Stall zurückgebracht haben. Cole musterte die Pferde, die Tiere waren aufgeweckt und in einem guten Zustand, dann setzte er den Weg entlang am Weidezaun fort.

Je näher er der Scheune kam, desto mehr glich der Anblick einem Gemälde. Ann mit ihrer blassen Haut und dem wehenden rötlichen Haar stand nachdenklich vor der grauen Holzfassade der Scheune. Ihr Blick schien in die Ferne zu schweifen, vielleicht sah auch sie nach den Pferden auf der Weide. Cole war sich nicht sicher, ob sie ihn bemerkt hatte, denn bei Ann wusste man nie, woran sie dachte.

Sie kannten einander so lange, dass sie ihm wie eine Schwester vorkam. Ihr zartes Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den dunklen, braunen Augen war ihm vertraut wie das eigene. Zwei kleine Narben zierten ihre Oberlippe, sie hatte ihm nie erzählt, woher sie stammten. Ann war zierlich und klein, auf dem ersten Blick konnte man sie leicht mit einem Kind verwechseln. Doch sie war eine Frau, und sie war wunderschön.

Er und Ann waren zusammen aufgewachsen, und sie teilten das gleiche Leid, auch wenn das Mädchen nur selten darüber sprach. Cole hielt inne und überlegte, was er ihr sagen sollte. Ann mochte keine Abschiede, aber es gab so viele Dinge, die ihm auf der Zunge brannten. Doch es war nicht die richtige Zeit dafür und der Gedanke daran, ihr nicht einmal in diesem Moment sagen zu können, was er empfand, stimmte ihn traurig. Er würde den Abschied kurz halten.

Ein schwacher Wind blies ihm kühl ins Gesicht, als er sich der Scheune näherte. Ann stand mit der Schulter an die Fassade gelehnt im Schatten. Sie trug ein blaues, langes Kleid. Eines der wenigen Kleider, das sie besaß. Cole mochte es, dass sie sich nicht herausputzte wie andere Frauen in der Stadt. Sie sah ihn nicht an, doch in ihren Augen funkelten Tränen, sie schien blasser als sonst zu sein.

»Du hast den Revolver also bekommen.« Sie sprach beiläufig, als redete sie über das Striegeln der Pferde. »Ich habe dir Proviant zusammengepackt. Es ist nicht viel, aber es sollte zwei, drei Tage reichen. Die Tasche liegt auf dem Tisch in der Scheune, vergiss sie nicht, und versprich mir, dass du genügend isst. Ich weiß, du denkst oft nicht daran.«

Cole lächelte. Die Art und Weise, wie sie sich um ihn sorgte, ließ ihn erröten. Ann hatte recht, an manchen Tagen vergaß er zu essen. Seit seine Mutter nur noch selten kochte und er sich morgens selbst versorgen musste, war der knurrende Magen ein ständiger Begleiter geworden.

»Danke.«

Cole lehnte sich neben Ann an die Wand. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als der süßliche Duft aus ihren Haaren in seine Nase zog. Doch er verdrängte die Gedanken an eine Liebe, die sie nicht erwiderte und die er nicht zulassen durfte. Ann war nicht sein Mädchen und sie würde niemals sein Mädchen sein. Ihr Herz gehörte einem anderen.

»Was soll ich meinem Bruder von dir sagen?« Auch wenn die Frage schmerzte, sprach er sie schließlich aus.

Ann seufzte und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Sag Harry, dass er nach Hause kommen soll. Und sag ihm, dass ich hier auf ihn gewartete habe und es noch immer tue.«

»Nein, das werde ich nicht.« Die Wahrheit schmeckte bitter, und obwohl Cole spürte, dass er sie damit verletzte, empfand er beinahe Genugtuung diese Worte auszusprechen. »Jeder Mann in Cattlebend würde auf meinen Bruder schießen, sobald er die Stadt betritt. Er ist ein toter Mann, Ann, das musst du endlich einsehen. Er wird nicht zurückkehren und ich werde ihn nicht am Leben lassen, wenn ich ihn finde.«

Sie liebte seinen Bruder, sie hatte nie aufgehört ihn zu lieben. Der Gedanke war wie ein Stich in sein Herz, und jedes Mal, wenn er in ihre traurigen Augen blickte, fragte Cole sich, woher die Liebe kam. Wie man ein Scheusal lieben konnte, das so vielen Menschen das Leben genommen hatte. Und warum sie nicht ihn liebte. Nicht damals, nachdem sein Bruder verschwunden war, und auch nicht in den zehn Jahren, in denen sie nichts anderes von ihm gehört hatten als die Gräueltaten, die ihm vorauseilten. Vielleicht war der Harry, den Ann in ihrem Herzen sah, ein anderer als der Mann, der aus ihm geworden war. Der Junge mit dem charmanten Lächeln, nicht das Scheusal mit der Waffe.

Ann antwortete nicht.

Sie hatten so oft über Harry gestritten, dass sie es leid war. Cole wusste, dass sie nicht über ihn reden wollte, nicht mit ihm. Sie presste ihre Lippen aufeinander und schien nachzudenken. Er hatte ihr am Morgen alles erzählt. Dass er bald aufbrechen und nach seinem Bruder suchen würde. Sie hatte ihm keine Vorwürfe gemacht, auch wenn Cole an ihrem Schweigen hatte ablesen können, dass es ihr schwergefallen war. So tief ihre Liebe saß, sie konnte verstehen, was in ihm vorging. Das hatte sie ihm immer wieder gesagt. Auch wenn Ann der Meinung war, dass es andere Wege gab, um Frieden mit der Vergangenheit zu schließen.

»Du glaubst wirklich, dass du deinen Bruder finden kannst?«, fragte sie schließlich und verschränkte die Arme vor der Brust. »Es ist nicht das erste Mal, dass solche Gerüchte in der Gegend kursieren. Weiß der Geier, was die Männer gesehen haben, es könnte jeder im Canyon gewesen sein. Du weißt doch, was für Menschen sich in dieser Gegend herumtreiben. Seit wann glaubst du überhaupt das, was irgendein dahergelaufener Fremder von sich gibt? Es ist nur dummes Gerede.«

Sie wollte es nicht wahrhaben, natürlich nicht, denn die Wahrheit bedeutete Harry William Parkers Tod. Doch nicht einmal Ann konnte mit ihren Worten und ihren Tränen das Geschehene ändern. Cole sah sie lange an, bevor er antwortete. Er musterte jede Sommersprosse auf ihrer Nase und die geschwungenen Lippen. Er wünschte, er könne ihr das Leid ersparen. Aber der Westen war ein grausamer Ort, vor allem, wenn man zu sehr liebte.

»Die Fremden haben gesagt, der Mann trug einen Bündelrevolver bei sich. Und er sah aus wie ich.« Cole fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als wolle er sich vergewissern, dass es noch immer dasselbe war. »Er hat Jagd auf ein paar Männer gemacht und wohl viele von ihnen erschossen. Du glaubst doch nicht, dass sie sich geirrt haben, oder? Jeder hat schließlich schon einmal einen Steckbrief von Pepperbox-Harry in den Händen gehalten.«

»Ich fand nie, dass ihr euch besonders ähnlich seht. Ihr wart euch immer ungleich, nicht nur äußerlich«, entgegnete Ann mit einer Klarheit in ihrer Stimme, als könne es nicht anders sein. Als wäre es nie anders gewesen.

Hast du mich deswegen nie geliebt?, wollte Cole sie fragen. Aber die Worte kamen nicht über seine Lippen, als wären sie ein Gift, das ihnen beiden das Leben rauben würde.

Er dachte an die Kutsche und den weißen Planwagen, die er gesehen hatte. Es kam ihm vor, als wäre eine Ewigkeit vergangen, seit die Fremden Rast in ihrer Stadt gemacht hatten. Fünf Männer und drei Frauen, auf der Suche nach einem neuen Leben. Einem Stück Land zum Siedeln. Etwas, das viele Menschen hinaus in die Prärie trieb, aber nichts, was Cattlebend ihnen hätte bieten können. Man hatte sie weitergeschickt, nach Westen.

 

Cole war auf Thunder ausgeritten, als er dem Planwagen und Pferden der Reisenden auf der Straße begegnet war. Der junge Wallach scheute oft. Er hatte ihn auch an diesem Nachmittag aus dem Sattel geworfen, als der Wagen scheppernd an ihm vorbeigefahren war. Der Mann, der vom Kutschbock gesprungen war, war mittleren Alters gewesen. Das Entsetzen in seinen Augen, als er ihm die Hand gereicht hatte, würde Cole niemals vergessen können. Auch nicht das Beben in der Stimme, als er ihm erzählte, dass sie den Skull Canyon nur knapp mit dem Leben entkommen waren. Sie hatten dort einen Mann gesehen, einen Mann, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten war. Eine Frau habe mit ansehen müssen, wie er einen jungen Mann hingerichtet hatte. Und das mit einer Pfefferbüchse in den Händen.

Einer der Deputys von Marshall Evans hatte das Gespräch mit angehört. Bald darauf wusste die ganze Stadt, dass Pepperbox-Harry zurückgekehrt war. Und obwohl die Männer auf den Straßen lamentieren, warum man mit Frauen und seinem Hab und Gut eine so gefährliche Route wählte, zweifelte niemand an dem, was die Fremden im Canyon gesehen hatten. Niemand außer Ann.

 

Die trockenen Gräser raschelten leise, als ein warmer Hauch über die Weide wehte. Es war das einzige Geräusch, das Cole wahrnahm, als tuschelten sich die Halme Geschichten zu.

Vielleicht sprachen sie über das, was Ann so oft zu ihm gesagt hatte. Dass er erwachsen geworden war und es gut war, dass er wusste, was er wollte. Aber er sei kein harter Mann, nicht wie sein Bruder. Er sei weich und verletzlich. So sehr sich Cole auch dagegen wehrte, wusste er, dass Ann recht hatte. Der Hass und die Verachtung schwächten ihn. Manchmal glaubte er, nicht Harry, sondern er selbst habe sich dessen beraubt, wonach er suchte. Und dass das, was er Gerechtigkeit nannte, ihm keinen Frieden bringen würde. Nicht den Vater zurück. Keine Frau, die er lieben konnte. Mehr denn je war er besessen von dem Gedanken, seinen Bruder zu töten, und er war nicht gewillt, das zu sehen, was er nicht wahrhaben wollte.

Ann drehte sich zu ihm – als könnte sie sehen, woran er dachte. Sie löste sich von der Wand und umarmte ihn. Es war eine lange, sanfte Umarmung. Er konnte ihren Atem am Hals spüren und die Wärme ihres Körpers. Er würde sie so sehr vermissen. Sie war eine wunderbare Frau, und wenn er jemals geheiratet hätte, dann Ann. Sie schenkte ihm noch einmal ein Lächeln, bevor sie an ihm vorbeischritt und zum Haus ging. Es war das Lächeln, in das er sich einst verliebt hatte, und das Lächeln, das er immer lieben würde.

 

Das Scheunentor schwang auf und Cole sah, wie Allan ins Freie trat. Er war Anns älterer Bruder, sommersprossig und groß. Ihre Familie hatte ein kleines Gehöft am anderen Ende der Stadt. Er kam fast jeden Tag auf die Farm, um nach den Pferden zu sehen, nachdem Cole ihm gesagt hatte, dass die Arbeit der Tiere ihm immer mehr zur Last fiel. Allan blinzelte und hielt sich die Hand über die Augen, um sie vor dem grellen Sonnenlicht zu schützen.

»Ich muss mit dir reden«, rief er aufgeregt, »es geht um Butterfly.«

V Allan

Butterfly.

Eine unregelmäßig weiß gescheckte Stute, eine Tigerschecke, nur an der Mähne und am Schweif verlief das Kastanienbraun ihres Fells in einem tiefen Schwarz. Die Kruppe der Stute war von einem großen weißen Fleck bedeckt, der sich hinunter zu den Oberschenkeln zog. Sie hatte ein Stockmaß von anderthalb Metern.

Harry hatte sie als Fohlen auf einer Farm in der Nähe von Lowport ausgesucht. Aus dem kleinen, scheuen Tier war ein muskulöses Pferd geworden, mit hartem Rumpf und kurzer, abfallender Kruppe. Die Stute war ein sensibles, ruhiges Tier, aber arbeitswillig und gutmütig.

Butterfly war das Pferd seines Bruders gewesen, und seit er fortgegangen war, mied es Cole, auf der Stute auszureiten. Zu viele Erinnerungen wurden in ihm wach, wenn er den Sattel auf ihren Rücken schnallte. Seine Mutter hatte ihm immer gesagt, dass Harry eines Nachts kommen und das Pferd abholen würde, aber sie hatten vergeblich darauf gewartet. Sein Bruder hatte Butterfly genauso zurückgelassen wie alles andere in seinem Leben, als hätte die Stute niemals eine Bedeutung für ihn gehabt.

Butterfly drehte die Ohren und hob aufgeweckt den Kopf, als Cole und Allan die Scheune betraten. Allan hatte sie in die hinterste Pferdebox gesperrt. Die Scheune besaß vier von ihnen, die alle so groß waren, dass im Notfall sogar zwei Tiere in einer Box untergebracht werden konnten. Um alles, was die Pferde betraf, kümmerte sich Allan. Cole hatte ihn nie um Hilfe bitten müssen, Allan war einfach da. Mistete die Stallungen aus, striegelte die Tiere, brachte sie auf die Weide und ritt mit ihnen aus. Für Allan zählte nur das Wohl der Pferde – und nicht, wie viel Arbeit sie machten.

Allan ging zu Butterfly und streichelte ihre Stirn, die Stute schnaubte leise. »Gutes Mädchen«, flüsterte er und lächelte, doch etwas in seiner Stimme kam Cole merkwürdig vor.

Er zog das Tor hinter sich zu und lehnte sich an den kleinen Holztisch, der in einer Ecke der Scheune stand. Dort hatte Ann den Proviant und eine Wasserflasche für ihn hinterlassen, er warf einen flüchtigen Blick in die Ledertasche. Geräuchertes Schweinefleisch. Brot. Äpfel. Genug, um ein paar Tage damit auszukommen.

Die Luft in der Scheune war unerträglich. Eine staubige Hitze, es roch nach frischem Pferdemist und Stroh. Coles Gaumen begann zu jucken und er hustete. An warmen Tagen hielt er es nie lange in den Ställen aus. Schon als Kind war ihm jedes Mal die Luft weggeblieben, wenn sein Bruder und er auf dem Heuboden der Scheune gespielt hatten. Cole knöpfte die oberen drei Knöpfe seines Hemdes auf und legte den Kopf in den Nacken, um freier atmen zu können.

»Du solltest mit dem Wallach reiten. Thunder«, sagte Allan leise und noch immer Butterfly zugewandt. »Er ist kräftig und schnell, das weißt du, unser bestes Pferd. Es wäre dumm von dir, das alte Mädchen hier zu nehmen, wenn du einen richtigen Teufel im Stall hast.«

Cole schüttelte den Kopf. »Thunder ist ungestüm«, entgegnete er heiser, jedes Wort kratzte schmerzhaft in seinem Hals. Er räusperte sich ein paar Mal, aber das kratzige Gefühl am Gaumen wurde nur noch schlimmer.

»Es ist deutlich besser geworden mit Thunder«, versicherte ihm Allan. »Ich bin die letzten Wochen jeden Tag mit ihm ausgeritten, du musst dem Wallach nur klare Signale geben. Ein paar Tagesritte würde ihm guttun, ich glaube nämlich, er ist nicht richtig ausgelastet.«

Cole verdrehte genervt die Augen, ständig lag Allan ihm damit in den Ohren, dass er die Tiere öfter ausreiten müsse. Es mochte ja sein, dass er recht hatte, aber Cole konnte sich im Augenblick nicht darum kümmern.

Allan war ein Einzelgänger, ruhig und zurückhaltend. Ein schüchterner rotblonder Mann, den man kaum in der Stadt und nie im Saloon antraf. Er war schweigsam, nur wenn er über Pferde sprach, wurde er redselig und konnte stundenlang erzählen. Cole unterhielt sich gern mit ihm. Es war so einfach mit einem Menschen auszukommen, der nur über die Dinge sprach, die er liebte. Und der Stallknecht liebte jedes Pferd auf Coles Hof. An manchen Tagen blieb er bis zum Sonnenuntergang bei ihnen auf der Weide, wenn er sie morgens hinausgeführt hatte.

»Du hast freie Hand, was die Pferde betrifft, Allan. Und wenn ich zurück bin, werden wir darüber nachdenken, wie und wann wir die Pferde mehr ausreiten«, schlug Cole vor, um das Gespräch für den Moment nicht weiter vertiefen zu müssen. »Aber ich kann nicht auf Thunder reiten, das geht nicht, und das habe ich dir schon erklärt. Es muss Butterfly sein. Ich möchte, dass mein Bruder sie sieht, wenn ich vor ihm stehe. Vielleicht bricht es ihm das Herz, die alte Stute wiederzusehen, die er genauso im Stich gelassen hat wie seine Familie.«

Allan seufzte.

Verlegen fuhr sich der Stallknecht mit der rechten Hand über den stoppeligen roten Bart. Es schien Cole, als wüsste er nicht, was er sagen sollte. Den Blick noch immer auf Butterfly gerichtet, öffnete er schließlich das Tor der Box und führte die Stute hinaus.

 

Butterfly lahmte. Nur schwach und kaum merklich, aber Cole sah, dass etwas mit ihrem linken Vorderhuf nicht stimmte. Allan trat an die Seite des Pferdes und hob Butterflys Bein an, er deutete auf den Huf.

»Das Horn ist gerissen«, erklärte der Stallknecht besorgt. »Ich bin mir nicht sicher, aber vielleicht hat der Huf schon länger einen Riss. Es ist sehr schmerzhaft für das Tier und wenn sie den Huf weiterhin belastet, kann der Riss größer werden oder sich sogar entzünden.« Allan blickte abwechselnd Cole und Butterfly an. »Wir müssen sie behandeln, es geht nicht anders. Aber du brauchst dir keine Sorgen machen, wir hatten auf unserem Hof auch schon mal ein Pferd, einen Wallach, mit einer ähnlichen Verletzung. Butterfly muss sich ein paar Wochen schonen, aber ich werde mich gut um sie kümmern.« Allan lächelte und klopfte der Stute sanft gegen die Schulter. »Nicht wahr, Mädchen? Wir bekommen dich wieder auf die Beine.«

Cole musterte den Huf. Es war ein feiner, weißer Riss in der Hufwand. Er strich vorsichtig mit der Fingerspitze über den Spalt, die Verletzung schien nur oberflächlich zu sein, aber Cole wusste, dass der Eindruck täuschen konnte. Er kannte sich nicht gut genug mit Pferden aus, um beurteilen zu können, ob der Riss die Stute beeinträchtige oder nicht. Aber auf ihn wirkte die Verletzung harmlos, Allan machte wie immer viel zu viel Wind um jede Kleinigkeit, die die Pferde betraf.

Allan stellte Butterflys Huf ab und liebkoste sie, bevor er die Stute zurück in die Box führte. Es war eine Leidenschaft, die sein Leben bestimmte, aber Cole konnte darauf keine Rücksicht nehmen. Es stand zu viel auf dem Spiel für ihn und er hatte die Rache seit Jahren bis in das kleinste Detail durchdacht. Er würde seine Pläne nicht ändern, nur weil Allan Gespenster sah. Der Stallknecht nahm den hellbraunen Ledersattel, den er über eine Holzlatte neben der Pferdebox gehängt hatte, und wandte sich Cole zu.

Er strich mit der Hand über das Sattelblatt und murmelte nachdenklich: »Ich sattel dir Thunder, es dauert nur ein paar Minuten.«

»Nein.«

In Coles Stimme lag eine Härte, die ihn selbst erschreckte.

»Ich habe es dir doch gesagt, ich reite auf Butterfly. Und darüber diskutiere ich nicht, Allan, hast du mich verstanden?«

Die Worte klangen fremd, als wäre es nicht er selbst, der sprach. Der Stallknecht blickte ihn verwundert an und erwiderte etwas, das Cole nicht verstehen konnte, dann schüttelte er den Kopf und ging zum Scheunentor.

Es überkam Cole wie ein Blitzschlag, seine Wangen brannten und er griff nach dem Sattel in Allans Hand. Er hatte ihm doch deutlich gesagt, was er wollte. Er konnte kein anderes Pferd nehmen. Niemand würde sich ihm in den Weg stellen, nicht einmal Allan. Der Stallknecht stieß einen leisen Fluch aus und wandte sich zur Seite, sodass Cole den Sattel in seinen Händen nicht erreichen konnte.

»Beruhig dich!«

Aber Cole hörte Allan nicht zu. Er hatte die Zähne so fest zusammengebissen, dass er nur noch ein dumpfes Pochen in den Ohren wahrnahm. Cole sprang nach vorne, versuchte erneut, dem Stallknecht den Sattel mit Gewalt zu entreißen, doch Cole hatte keine Kraft in den Armen. Etwas in ihm sträubte sich gegen das, was er tat, und sein Körper fühlte sich seltsam taub an. Er stolperte ein paar Schritte zurück, bis er schließlich erschöpft die Hände in die Seiten stemmte und nach Luft schnappte. Dieses verfluchte Heu und die gottverdammte Hitze. Regungslos stand Allan in der Mitte der Scheune und musterte ihn. Innerlich schien er um Fassung zu ringen.

»Hör mir gut zu, Cole Parker, du nimmst ein anderes Pferd«, rief er mit gedämpfter Stimme. Vielleicht wollte er Butterfly durch den Streit nicht beunruhigen. »Ob du nun auf Thunder reitest oder Pumpkin, spielt doch keine Rolle. Und was immer du dir in deinem Kopf für Blödsinn zusammengereimt hast, du kannst auf keinem Pferd reiten, das lahmt. Das ist zu gefährlich, nicht nur für dich, sondern auch für das Tier.«

Allan verstand einfach nicht, worum es ging. Coles Körper bebte vor Anspannung. Er hatte keine Geduld mehr, mit niemanden. Nicht mit Allan, nicht mit Ken, und auch nicht mit diesem verfluchten Pferd. Butterfly war ein zähes Biest, ein kleiner Riss in ihrem Huf bedeutete gar nichts.

»Das Pferd ist krank.«

Der Stallknecht erklärte es ihm wieder und wieder. Dass der Huf sich verschlimmern würde, dass Butterfly große Schmerzen erleiden könnte und dass er die Verantwortung für dieses Pferd trug.

»Sieh es ein«, bat er ihn. »Das geht so nicht, du musst ein anderes Pferd nehmen.«

»Allan, halt endlich die Klappe und gib mir den Sattel!« Cole hatte genug gehört, seine Stimme überschlug sich vor Wut. »Butterfly ist mein Pferd, hast du gehört? Mein Pferd! Und ich kann mit meinem Pferd ausreiten, wann immer ich will. Du kannst mich nicht davon abhalten.«

Nun schien auch der Stallknecht endgültig die Geduld verloren zu haben. Er kniff die Augen zusammen und fixierte Coles Blick.

»Du wirst die Stute nicht anrühren.« Eine Ader zuckte bedrohlich an seinem Hals. »Meine Schwester hat völlig recht, du bist besessen! Und es ist mir egal, ob du dich dort draußen umbringst, aber Butterfly ist ein Tier. Sie hat mit deiner Rache nichts zu tun. Ich werde ein Pferd nicht den Preis dafür zahlen lassen, dass du den Verstand verloren hast.« Er warf den Sattel zu Boden und spuckte vor Coles Füße. »Du und dein Bruder, ihr seid euch wirklich ähnlich. Doch weißt du was? Harry hätte seiner Stute niemals etwas zuleide getan, denn er war nicht so ein elender Pferdeschänder wie du.«

Allans Stimme erstarb, als Cole plötzlich die Waffe auf ihn richtete. Es war so schnell gegangen, dass Cole selbst erschrak, als er den Bündelrevolver in der rechten Hand hielt. Das Ziehen der Waffe war ein Impuls gewesen, losgelöst durch die brennende Wut, die er in jeder Faser des Körpers spürte. Seine Muskeln waren angespannt wie die eines Raubtieres, kurz vor dem erlösenden Sprung. Bereit zu kämpfen. Bereit, sich allen Widrigkeiten zu stellen. Die Pfefferbüchse war nicht geladen, aber Cole hatte den Lauf auf die Brust seines Freundes gerichtet. So wie Harry damals, als sie noch Kinder gewesen waren.

»Du verschwindest sofort aus meiner Scheune«, brüllte Cole. Er ging auf Allan zu und umfasste den Griff so fest mit der Hand, dass seine Finger anfingen zu schmerzen. »Und dann rufst du deine Schwester zu dir und ihr verzieht euch von meinem Land. Ich muss mich vor dir nicht rechtfertigen, Allan! Das ist meine Farm, und das sind meine Pferde! Und wenn ich jedes einzelne Tier erschießen möchte, dann tue ich es. Ich habe mein ganzes verfluchtes Leben auf diesen einen Tag gewartet, und du wirst dich mir nicht in den Weg stellen. Es geht nicht um Butterfly, es geht um Harry und mich. Das ist alles, was zählt!«

Allans Faust traf ihn direkt auf die Wange.

Cole stürzte rückwärts zu Boden und schlug sich hastig die Hände vor das schmerzende Gesicht. Blut quoll aus seinen Mundwinkeln hervor. Er hatte sich vor Schreck so stark auf die Zunge gebissen, dass es sich anfühlte, als würde ein großes Stück davon fehlen. Er wälzte sich zur Seite und keuchte, sein Mund war ein einziger stechender Schmerz. Dass der Stallknecht sich zur Wehr setzen könnte … damit hatte Cole nicht gerechnet. Allan beugte sich über ihn, die linke Hand noch immer drohend geballt, als wollte er jeden Augenblick weiter auf ihn einschlagen. Doch sein Blick streifte den Bündelrevolver, der neben Cole ins Stroh gefallen war. Er hob die Waffe auf und musterte sie vorsichtig, als wäre es das erste Mal, dass er einen Revolver in den Händen hielt. Er murmelte ein paar Worte, die Cole nicht verstand.

Die Faust des Stallknechts hatte ihn eiskalt erwischt, langsam richtete er sich auf und stöhnte. Er spuckte heißes Blut. Der widerlich klebrige Geschmack von Eisen auf den Lippen benebelte seine Sinne. Cole rang nach Worten, aber er konnte nicht sprechen, die Zunge war vor Schmerzen wie gelähmt. Speichel und Blut tropften von seinem Kinn zu Boden und auf die staubigen Holzdielen, schließlich brachte Cole doch noch ein Wort über die Lippen.

»Scheiße.«

VI Aufbruch

Es war mehr eine Geste von wahrer Größe als Freundschaft, als der Stallknecht Cole die Hand reichte, um ihm aufzuhelfen. Zögerlich nahm Cole sie an und zog sich an ihr nach oben. Ihm war schlecht, als er wieder auf den Beinen stand. Er stützte sich an einem der Scheunenbalken ab und knöpfte das blutverschmierte Hemd auf. Die Schmerzen machten die Hitze in der Scheune beinahe noch unerträglicher. Wankend ging Cole auf den Wassereimer zu, der vor Butterflys Pferdebox stand. Er streifte das Hemd ab und tunkte es hinein, dann nahm er ein paar Schlucke des abgestandenen Wassers und spuckte sie wieder aus. Cole wischte sich das Blut von der Brust und klatsche sich das nasse Hemd ins Gesicht. Die Kühle war wohltuend und sie half etwas gegen die Schwellung, die sich auf Coles Wange bildete.

Sein Bruder war der Letzte gewesen, der ihn geschlagen hatte. Cole erinnerte sich nicht mehr genau daran, es war wohl nur ein kleiner Streit unter Brüdern gewesen. Aber er wusste noch, dass seine Lippe nach dem Schlag aufgeplatzt war und einer der Milchzähne begonnen hatte zu wackeln. Weinend war er in die Wohnstube zu seinen Eltern gelaufen, aber ihr Vater hatte nur mit den Schultern gezuckt. Jungs müssen raufen, das war nun einmal so.

Cole und Allan waren aus diesem Alter längst raus, der Stallknecht war um die dreißig und hatte sich nie an Schlägereien beteiligt. Über das, was zwischen ihnen passiert war, schien er ebenso geschockt zu sein wie Cole. Er betrachtete die eigene Faust, als sähe er ein seltenes Tier zum ersten Mal. Allan fuhr sich mit der Hand über den Mund und legte die Pfefferbüchse auf den Tisch in der Ecke. Er murmelte eine Entschuldigung, die mehr an sich selbst, als an Cole gerichtet war.

Cole kauerte neben dem Wassereimer. Er hatte ein paar Mal versucht zu sprechen, aber außer einem Schwall zäher Spucke war nichts über seine Lippen gekommen. Er ekelte sich vor dem Blut an den Händen und in seinem Gesicht. Der Stallknecht kam auf ihn zu, doch sein Blick galt Butterfly, die nervös in der Pferdebox von einem Bein auf das andere trabte. Allan streichelte über ihre Nüstern und redete beruhigend auf sie ein.

»Du bist ein richtiger Scheißidiot, Cole, das ist dir hoffentlich klar«, raunte der Stallknecht, »und den Schlag ins Gesicht hattest du dir mehr als verdient. Aber Butterfly ist dein Pferd, nicht meins, da hast du recht. Ich kann sie nicht von dir fernhalten, andernfalls müsste man mich wegen Diebstahl hängen. Doch du musst mir versprechen, dass du auf sie achtgibst. Sollte sich ihr Huf verschlimmern, musst du dir ein anderes Pferd nehmen. Du kannst Butterfly in irgendeinem Stall unterbringen, wir holen sie dann gemeinsam ab, wenn du zurückkommst.«

Erwartungsvoll schaute der Stallknecht Cole an, er nickte. Nicht, weil es ein Versprechen war, denn das konnte er ihm nicht geben. Aber er spürte, wie schwer Allan die Trennung von der Stute fiel. Er küsste sie sanft auf die dunkle Stirn, worauf das Tier leise schnaubte. Die Gedanken des Stallknechts schienen allein dem Pferd zu gelten und nicht dem verräterischen Freund, der gedroht hatte, ihn zu erschießen. Cole war dankbar darüber. Er schämte sich für das, was er getan hatte. Er war über das Ziel hinausgeschossen, und das wurde ihm noch deutlicher durch den kalten Blick bewusst, den Allan ihm zuwarf, als er zum Scheunentor ging. Der Stallknecht öffnete es, ohne hinauszugehen. Ein Luftzug wehte durch die Scheune und wirbelte feinen Staub und Spelzen vom Boden auf. Allan stand einfach nur da, und es kam Cole vor, als wäre das Bild vor seinen Augen eingefroren. Als würde der Stallknecht von nun an immer in dem geöffneten Scheunentor stehen.

»Mach es gut, mein Mädchen«, hauchte er schließlich und ging hinaus.

Cole rieb sich die brennenden Augen, wieder plagte ihn der verdammte Staub. Bevor er aufstand, wischte er sich noch einmal mit dem nassen Hemd über das Gesicht, aber es half nicht gegen die juckende Nase. Das Scheunentor fiel quietschend und scheppernd in die Angeln, Cole war allein. Nur er und Butterfly. Als er sich aufrichtete, bemerkte er, wie stark sein Kiefer schmerzte. Es würde wohl ein paar Tage dauern, bis er wieder richtig sprechen konnte. Dieser verfluchte Allan!

Aber Cole verfluchte sich auch selbst, die Geduld verloren zu haben. Der Stallknecht war harmlos und sie waren seit Kindertagen Freunde gewesen. Aber Cole konnte nur an seinen Bruder denken. Da war kein Platz mehr für unnötige Gefühle, für Allan oder für Butterfly. Dieses eine Mal musste er an sich denken. Es gab nur eine Chance. Wenn er jetzt nicht aufbrach, würde er vielleicht nie mehr die Gelegenheit bekommen, seinen Bruder zur Strecke zu bringen.

Allan und Ann hatten Cole versprochen, sich um die Farm zu kümmern und nach seiner Mutter zu sehen, bis er zurückkehrte. Wenn er nun daran dachte, fühlte er sich schuldig. Er hätte sich bei ihnen noch einmal dafür bedanken sollen, doch es war zu spät. Allan konnte er nicht mehr unter die Augen treten und auch Ann würde erfahren, was zwischen ihm und ihrem Bruder vorgefallen war.

Cole wrang das Hemd aus und zog es an. Ihm blieb keine Zeit mehr, zurück ins Haus zu gehen und sich ein neues Hemd zu holen. Es klebte an seiner Haut, aber der nasse Stoff war wohltuend gegen die Dürre in der Luft. Er atmete tief ein und entspannte sich, es war das letzte Durchatmen vor dem Aufbruch. Er schmeckte noch immer das Blut auf den Lippen und spürte den pochenden Schmerz in seinem Gesicht. Butterfly schnaufte leise und leckte sich das Maul. Cole nahm die Eindrücke in der Scheune in sich auf, wie ein Bild, das man zum Abschied als Erinnerung behielt. Er seufzte leise, es war nicht das schönste Bild, das er hätte haben können, aber es war eines nur für ihn. Ein Bild, das ihm niemand nehmen konnte und an das er denken würde, sollte das Heimweh an ihm in einer einsamen Nacht mit schmerzenden Fingern zerren.

Cole nahm das Zaumzeug von einem Nagel neben den Pferdeboxen, und hob den Sattel vom Boden auf. Beides war aus hell gebeiztem Leder gefertigt, schmucklos und einfach.

Butterfly scharrte mit den Hufen, als Cole die Tür ihrer Box öffnete, und trabte langsam hinaus. Cole fuhr mit der Hand durch ihre Mähne und streichelte sie. Er legte ihr den Sattel auf, dann das Zaumzeug, Butterfly ließ es über sich ergehen, auch wenn sie abwehrend mit dem Kopf schüttelte. Die Stute mochte es nicht, mit Zügeln zu reiten. Sein Bruder hatte immer gesagt, sie wolle frei sein und sich nicht einzwängen lassen, manchmal war er sogar ohne Sattel mit ihr ausgeritten.

Cole hob den linken Vorderhuf der Stute an. Bevor er aufbrach, wollte er sich den Spalt im Horn noch einmal genauer ansehen: eine hauchdünne weiße Linie, die man kaum erkennen konnte, wenn man den Huf mit etwas Abstand betrachtete. Vorsichtig setzte er den Fuß der Stute zurück auf den Scheunenboden. Er sah keinen Grund, sich zu sorgen. Es war nur ein kleiner Riss, wie ein Schnitt im Zeigefinger, der zwar bluten, aber nicht gefährlich werden konnte.

Cole band das Ledersäckchen, das Ken ihm gegeben hatte, vom Bund seiner Hose los. Als er mit der Hand hinein fasste, lächelte er erleichtert auf. Die Zündhütchen und Patronen waren trocken, Cole hatte befürchtet, Wasser wäre hingelaufen, als er sich das Gesicht am Eimer gewaschen hatte. Er verstaute das Säckchen in der Tasche, die Ann auf dem Tisch zurückgelassen hatte.

Cole nahm den Bündelrevolver vom Tisch und streckte den rechten Arm aus. Er richtete den Lauf auf den Balken in der Mitte der Scheune aus. Mit einer Pfefferbüchse konnte man nur auf kurzen Distanzen von zwei bis drei Meter schießen, auch das Zielen war beinahe unmöglich. Cole wunderte sich, wie sein Bruder all die Jahre mit dieser Waffe zurechtgekommen war. Wie hatte Harry es bloß geschafft, zum Kopf einer der gefährlichsten Banden des Westens zu werden? Pepperbox-Harry. Sein Bruder.

Er steckte den Bündelrevolver in die Tasche, dann band er sie an einer Schlaufe des Sattels fest. Beim Reiten konnte er die Waffe nicht in der Hosentasche behalten, das wusste er, er musste sich ein Holster besorgen. Solange er den Canyon noch nicht erreicht hatte, würde es auch ohne gehen.

Die Wasserflasche vom Tisch füllte er an Butterflys Trinkeimer auf, sie glich mehr einem Beutel als einer Flasche. Sie war aus hellem groben Leder gefertigt, halb geschwungen, mit einer Kordel und einem Korken. Sie fasste nur wenig Wasser, Cole würde oft haltmachen und sie auffüllen müssen. Nachdenklich schloss er für einen Moment die Augen und sammelte sich, er hatte an alles gedacht. Proviant und Wasser, den Bündelrevolver, Patronen und Zündhütchen. Am Zaunpfosten der Weide hing noch seine Jacke, die er am Morgen dort zugelassen hatte.

 

Es waren neun Tagesritte bis zum Canyon, er musste der Straße bis nach Lowport folgen und von dort aus in Richtung der Berge reiten. Unterwegs gab es verstreut einige Siedlungen und kleinere Städte, in denen er Proviant und Wasser auffüllen konnte. Der Stallknecht hatte ihm davon erzählt, Cole selbst war noch nie so weit im Norden gewesen.

Cole führte die Stute ins Freie und zog sorgsam das Scheunentor hinter sich zu. Auf der Weide sah er Pumpkin und Snowball friedlich grasen, Thunder konnte er nicht entdecken. Der Wallach hielt sich in der Mittagshitze oft im Schatten des kleinen Verschlages auf.

Cole stieg in den Sattel. Die Stute stand ruhig da und schnaubte, obwohl er merkte, dass sie aufgeregt war. Das war sie immer vor Ausritten und Allan hatte ihm es so erklärt, dass ein Pferd ja nie wisse, wohin die Reise ging. Cole fragte sich, ob die Stute seinen Bruder wiedererkennen würde, ob sie sich daran erinnern konnte, wer er war und wie viel Zeit sie miteinander verbracht hatten.

Er gab Butterfly ein Zeichen, daraufhin trabte die Stute los. Sie folgten dem schmalen Pfad nach Cattlebend, dann der Straße durch die Stadt, am Saloon und den Läden vorbei, bis zu dem großen Holzschild, das am Eingang der Stadt stand. Cole sah sich nicht nach den Menschen um, die ihm auf seinem Weg begegneten, erkannte keines ihrer Gesichter. Er blickte nur auf den verschwommenen Horizont, hinter dem sich, irgendwo in der Ferne, sein Bruder verbarg. So war es schon immer gewesen, doch diesmal wusste Cole, wo er suchen musste.

VII Henry John Parker

Man nannte ihn den Skull Canyon; Cole hatte schon viele Geschichten über die zerklüftete Gegend gehört. Von Banditen und Mördern, die sich dort in den Höhlen versteckt hielten, von steinigen Pfaden, die mit Leichen gesäumt waren, und Aasfressern, die hinter jedem Felsen auf frische Beute lauerten. Manchmal, hatte Marshall Evans eines Abends im Saloon erzählt, rissen sie voller Ungeduld jeden vom Pferd, der es wagte, ihren Canyon zu durchkreuzen.

Cole hielt das für Unsinn, er hatte nicht viel übrig für solche Geschichten. Jeder Landstrich hatte seine eigenen Anekdoten, jede Stadt, jeder Canyon, und immer schien es etwas Bedrohliches zu sein, das sich dahinter verbarg. Händler und Reisende trugen die Geschichten weiter, bis niemand mehr sagen konnte, was Wahrheit und was Lüge entsprungen war. Es waren Geschichten, die von Saloon zu Saloon zogen. Mit jedem Glas, über das hinweg man sie erzählte, wurde die Zahl der Toten größer, die Gesetzesbrecher skrupelloser, die Flüsse reißender, die Wildhunde blutrünstiger und das Gold unendlicher.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739392318
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Juli)
Schlagworte
cowboy wilder westen rache pfefferbüchse

Autor

  • Lily Ashby (Autor:in)

Lily Ashby wurde 1986 in Sachsen-Anhalt geboren. Nach dem Abitur verschlug es sie nicht nur beruflich in verschiedene Richtungen. Das Leben ist zu kurz, um nur an einem Ort zu verweilen. Die schönen Künste haben es Ashby genauso angetan wie die rauen Seiten, die das Leben bereithält. Schon von klein auf war sie nicht nur fasziniert von Literatur und Theater, sondern auch vom Wilden Westen, der Seefahrt und den Dingen, die uns immer wieder straucheln lassen. Ashby lebt in Nordrhein-Westfalen.
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Titel: Pfefferbüchse