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Der Pfad des Lao Chen

von Lily Ashby (Autor:in)
250 Seiten

Zusammenfassung

Nach dem Tod seines Vaters in einer Schlacht macht sich der 14-jährige Lao Chen zu ihm auf ins Reich der Toten. Doch in der Zeit des Krieges lauert das Grauen überall, Lao Chen scheitert. Erst das ungewöhnliche Mädchen Kleine Sonne gibt ihm die Kraft, sich allen Prüfungen zu stellen. Nur gemeinsam können sie den Pfad beschreiten, auf dem alles Leben endet. »Das ist der Weg.« Die Worte des Richters hatten etwas Endgültiges in sich, als würde er Lao eine Schlinge um den Hals legen. Der nickte. »Ich weiß.«

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


DER PFAD DES LAO CHEN

 

LILY ASHBY

 


Für meinen Papa

 

 

 

 

1. Auflage März 2019

 

Copyright @ 2019 by Lily Ashby

Lektorat: Michael Lohmann, www.worttaten.de

 

Covergestaltung: Traumstoff Buchdesign, www.traumstoff.at

Coverillustration: Natascha Berger

Inhalt

Titelseite

Die Autorin

Impressum

China

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

XXII

XXIII

XXIV

XXV

XXVI

XXVII

XXVIII

XXIX

XXX

XXXI

Die Autorin

Lily Ashby wurde im Juli 1986 in Sachsen-Anhalt geboren. Nach dem Abitur verschlug es sie nicht nur beruflich in verschiedene Richtungen. Das Leben ist zu kurz, um nur an einem Ort zu verweilen. Die schönen Künste haben es Ashby genauso angetan wie die rauen Seiten, die das Leben bereithält. Schon von klein auf war sie nicht nur fasziniert von Literatur und Theater, sondern auch vom Wilden Westen, der Seefahrt und den Dingen, die uns immer wieder straucheln lassen.

 

Ashby lebt mit Mann und Hund in Nordrhein-Westfalen.

 

 

 

 

Mehr zur Autorin auf

https://twitter.com/xLily_ashby

https://www.facebook.com/LilyAshby.info/

Impressum

Lily Ashby

c/o Autoren.Services

Zerrespfad 9

53332 Bornheim

 

lily_ashby@yahoo.de

 

 

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch in Auszügen, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

 

 

China

während der östlichen Han-Dynastie

219 n. Chr.

I Lao Chen

Das Reich lag im Sterben.

Lao Chen stolzierte durch die steinernen Hallen des Fan-Schlosses und dachte an seine Mutter. Es war ihr nicht recht gewesen, dass er gegangen war, aber er war kein Kind mehr.

Lao beschleunigte seine Schritte. Der Gang führte unterhalb der Mauern entlang und verband den Süd-Turm mit dem West-Turm. Am Ende des Ganges befand sich eine lange Wendeltreppe, die hinauf in den Turm führte.

Er war kein gewöhnlicher Junge.

Er war der Sohn von Mi Chen, eines Offiziers hohen Ranges. Der Junge verehrte ihn, er war dem Vater mit so viel Leidenschaft in den Krieg gefolgt, dass er sich manchmal selbst vor der Treue in seiner Brust fürchtete. Ein Krieger brauchte ein starkes Herz, die Hand allein konnte ein Schwert nicht zum Sieg führen. Es waren Wille und Demut, gleichsam mit Ehre, Verantwortung und dem Gefühl, den eigenen Platz im Streit der zerrütteten Reiche zu kennen.

Das sagte sein Vater immer wieder. Und was der Vater sagte, galt. Gerade für den Sohn.

Lao kannte diesen Platz. Er würde eines Tages ein Offizier sein, und er würde die Männer mit derselben Stärke und demselben Feingefühl in den Schlachten führen, wie sein Vater es tat. Doch noch stand er in Vaters Dienste. Für diesen Krieg und für die Jahre, die kommen würden, bis er alt genug war, selbst über die Schlachten bestimmen zu können.

Lao hörte die klare Stimme von General Pang De, als er sich dem oberen Teil der Treppen näherte. In jedem seiner Worte lag so ein lautes Dröhnen, dass der Junge manchmal glaubte, die Wände würden unter seiner Stimme erzittern. Der General war ein ernster Mann mit spitzem Bart und eng stehenden Augen, über denen ein Wulst aus schwarzen Brauen wie eine dunkle Krone thronte. Er trug blaue Gewänder, die die blasse Haut in seinem Gesicht wie die eines Toten wirken ließ.

Lao verschnaufte auf der letzten Stufe. Fackellicht färbte das Mauerwerk in ein warmes, einladendes Gelb. Eine trügerische Stimmung, denn hinter der Tür, die den Aufgang vom Turmzimmer trennte, wurde über den Krieg entschieden. Der Junge stieß ein Seufzen aus.

Ein Krieg, der viele Leben gefordert hatte. Viele Männer. Und der sie jeden Tag aufs Neue einforderte.

 

Es war eine Zeit des Umbruchs.

Der Kaiser war tot und der Palast lag in Schutt und Asche. Das Reich zerfiel, seit Beginn der Revolte formten sich drei Mächte unter den aufsteigenden: Wei im Norden, Wu im Süden und Shu Han im Westen. Laos Familie lebte in einem Dorf in der Nähe von Luoyang, der Hauptstadt des Reiches. Sie gehörten dem Staat Wei an.

Hunderttausend Männer waren im Namen Cao Caos nach Fancheng gezogen. Er war der Kriegsherr des Wei-Reiches, dem auch Lao und sein Vater unterstanden. Man sagte, Cao Cao sei nicht nur ein überlegener Stratege, sondern auch ein feinsinniger Dichter. Lao hatte seinen Herren nie gesehen, er stellte ihn sich als großgewachsenen Mann mit bohrendem Blick und langem schwarzen Bart vor. Eine Stirn breit wie die eines Bullen, ein Mann, der am Tag Schlachten schlug und des Nachts in roten Gewändern Verse schrieb.

Wei führte Krieg gegen Shu Han, das Reich des Kriegsherren Liu Bei. Cao Cao hatte seine Truppen im Süden des Flusses Huai positioniert, um eine Invasion durch Guan Yu abzuwehren. Doch Guan Yu, ein führender General unter Liu Bei, hatte seine Männer nach Norden geführt, um die Festungen der Provinz Fancheng einzunehmen.

Seit Juli hatten sie Stellung im Fan-Schloss bezogen, aber nur ein Teil der Männer befand sich im Inneren. Es war eine Festung aus dunklem Stein mit sechs Zinnen und einem breiten Wall. Die Truppen kämpften auf den flachen Ebenen im Umland. Die Festung lag in einer Niederung des Han Jiang, eines Flusses, der im großen Jangtsekiang mündete. Vor vierhundert Jahren hat der Kaiser seine Dynastie nach diesem Fluss benannt; der Han Jiang würde bleiben, doch die Han-Dynastie würde bald nicht mehr sein als ein Fetzen vergangener Zeit.

 

General Pang De hatte den Angriff des feindlichen Shu Han-Reiches zurückgeschlagen, doch die Lage war angespannt. Lao blieb vor der Tür stehen, er konnte neben Pang De auch seinen Vater und einen weiteren Offizier sprechen hören. Der Junge sah sich um, obwohl er wusste, dass ihm niemand die Treppen hinauf gefolgt war. Auch als Sohn eines hohen Offiziers gab es Geheimnisse, die ebenso wenig an seine Ohren drangen wie an die der Soldaten. Doch Lao war ein neugieriger junger Mann, für den eine geschlossene Tür kein Hindernis war. Er legte die Hand auf die Klinke und drückte sie vorsichtig nach unten. Der Junge hatte die Gespräche des Generals schon viele Male belauscht, er öffnete die Tür einen Spalt breit.

»Sie kontrollieren den Fluss«, hörte er Pang De sagen und ein Raunen kam aus der Reihe der Umstehenden. Seit Wochen hatte das Shu-Reich, wie man Shu Han kurz nannte, die Ufer des Han Jiang besetzt. »Sie schleppen Holz und Seile zu den Stellungen, unsere Männer kommen nicht nah genug an sie heran, um zu sehen, was Guan Yu im Schilde führt.«

›Ich werde Guan Yu töten‹, hatte Lao den General sagen hören, als sie nach Fancheng aufgebrochen waren, ›ich werde ihn mit meinen eigenen Händen zu Fall bringen. Denn wenn ich ihn nicht töte, so wird er mich töten.‹

Pang De war ein grausamer Krieger, die Soldaten erzählten viele Geschichten über ihren General. Er habe einem Mann den Kopf abgeschlagen und ihn vor die Füße seines Sohnes geworfen. Auf dem Schlachtfeld gab es keinen Platz für Tränen. Und keine Gnade. Dem Jungen war nicht wohl bei dem Gedanken, ein Feind könnte seinen Vater töten und ihn zwingen, den leblosen Körper anzuschauen. Aber er wusste, dass Angst keine Schwäche war, wenn man den Mut besaß, sich ihr zu stellen. Angst hatte den Jungen gelehrt, härter zu trainieren, um eines Tages der Mann zu sein, der dem Mörder seines Vaters zuvorkam, bevor der zur tödlichen Klinge greifen konnte.

»Es ist still auf den Ebenen geworden.« Laos Vater erhob das Wort. »Die Shu-Truppen haben sich zurückgezogen und unseren Männern macht der Regen zu schaffen. Das Gelände ist aufgeweicht, sie bleiben im Schlamm und Sumpfland stecken. Wir kommen nicht gut voran.«

»Wir müssen die Festung halten«, unterbrach Pang De den Offizier, »und die Kontrolle über den Fluss zurückerlangen.«

Dann wurde es still im Turmzimmer. Schweigen umhüllte die Männer und verbarg ihre Gedanken wie eine Wolke aus nebligem Dunst. Lao hielt die Hand vor den Mund, als fürchtete er, einer der Offiziere könnte seinen Atem hören. Schritte auf der anderen Seite der Tür, hastig drehte Lao sich beiseite. Nicht doch, er dürfte gar nicht hier sein. Das Herz hämmerte in seiner Brust, als er sich mit dem Rücken gegen das Mauerwerk drückte. Doch niemand öffnete die Tür. Erleichtert ließ der Junge die Schultern sinken. Glück gehabt! Ein hölzernes Schaben erklang, als würden die Klötzchen auf dem Tisch in der Mitte des Raumes hin und her geschoben werden. Es war eine Karte des Umlands.

»Deserteure.«

Ein Wort, das Lao aufblicken ließ. Sein Vater hatte es ausgesprochen und er hatte dem Sohn bereits als kleinen Jungen beigebracht, was es bedeutete. Deserteure waren Männer von Schande. Feiglinge. Es waren Soldaten, die die Farben ihres Reiches auf den Gewändern nicht verdienten. Nicht das Rot, nicht das Schwarz. Nicht einmal die Klinge in der Hand, die sie achtlos davonwarfen und die Männer im Stich ließen, an deren Seite sie so viele Tage und Nächte verbracht hatten. Aber sie waren auch ein mächtiges Werkzeug.

Der General murmelte. »Zeig mir, was du vorhast.« Mi Chen war ein guter Stratege, aber auch ein vorsichtiger Mann, der die Defensive nicht selten der Offensive vorzog.

Lao näherte sich der Tür und schob den Spalt eine Handbreite auf, um hineinsehen zu können. Er wollte einen Blick auf den Tisch erhaschen, bevor der General die Figuren beim Verlassen des Raumes in eine falsche Anordnung brachte. Man könne schließlich nie wissen, wer sich in die eigenen Linien schlich.

Der General stand in der Mitte der Männer, die sich um den Kartentisch versammelt hatten. Laos Vater stand neben ihm und schob die Klötzchen in den Norden der Festung. Es hielt sich noch ein dritter Offizier im Turmzimmer auf, der bisher geschwiegen hatte. Seine Stirn lag in Falten, besorgt musterte er die Stellungen, die der Vater des Jungen entstehen ließ. Lao konnte die Anspannung der Männer am eigenen Körper spüren, sie zog in seine Fingerspitzen und Zehen, und zerrte an ihnen wie ein gefräßiges Tier. Seine Wangen glühten, der Junge konnte kaum erwarten, eines Tages an derselben Stelle zu stehen wie sein Vater.

Der General schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht, was du damit bezwecken willst, Chen. Ein weiteres Lager außerhalb der Festung wird von uns kaum von Nutzen sein.«

Während die Offiziere nur die rot-schwarzen Unterkleider aus dicken Leinen trugen, war Pang De in voller Rüstung im Turm erschienen. Der schwarze Schuppenhelm mit den Fasanenfedern an der Spitze ruhte am Rand des Kartentisches.

»Wir müssen herausfinden, was Guan Yu vorhat. Wenn wir Shu besiegen wollen, müssen wir sie von innen heraus angreifen.« Laos Vater deutete auf eines der Klötzchen, die Männer beugten sich über den Kartentisch. »Ich werde mit einem Trupp zum Han Jiang ziehen und die Männer dort in ein Gefecht verwickeln«, erklärte der Offizier. »Wir werden Männer als Deserteure tarnen und sie nach zwei oder drei Tagen zum Feind überlaufen lassen. Wir haben gute Spione in unseren Reihen, General, wir sollten Gebrauch von ihnen machen, solange wir noch können.«

Pang De ließ sich nicht anmerken, was er dachte. Er fuhr mit der Hand über seinen Schnurrbart und zwirbelte die Härchen an der Spitze zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Das könnte Verdacht erregen.« Die Stimme des Generals klang so tief wie das Brummen eines Bären.

Er drängte Laos Vater beiseite und nahm drei Holzklötzchen von der Karte. Zwei helle, die für das Shu-Reich standen, und ein dunkles für ihre eigenen Truppen. Er schob den Fasanenfederhelm ans andere Ende, der zuvor einen Teil der Karte verdeckt hatte. Der Junge presste die Lippen aufeinander und unterdrückte ein Fluchen, das ihm beinahe über die Zunge gerollt wäre. Der Helm verdeckte seine Sicht auf den Kartentisch, doch wenn er sich noch weiter über den Rahmen beugte, könnte er vielleicht trotzdem einen Blick auf die Aufstellung des Generals erhaschen. Lao legte die Hände an den Rahmen und schob seinen Oberkörper nach vorne, wie Pfeilspitzen trafen die Augen des Vaters die seinen. Chens Gesicht verfinsterte sich und Lao konnte die Worte auf seinen Lippen lesen, als er würde er sie laut aussprechen.

Verschwinde, Junge!

So leise er konnte, zog er die Tür ins Schloss und eilte die Stufen hinunter. Die Neugier hatte ihn zu weit getrieben, auch wenn er es nicht bereute, die Männer belauscht zu haben. Lao hatte nie verstanden, warum man die Soldaten in den eigenen Reihen so oft im Unklaren ließ. Es waren nicht die Strategen, die die Kriege gewannen, es waren die Waffen des Fußvolks auf dem Schlachtfeld. Lao blieb an der Treppe vor dem Turm stehen. Den Rücken gegen die Wand gelehnt, legte er den Kopf in den Nacken und schloss seine Augen.

Seine rechte Hand tastete nach dem Knauf des Schwertes, das er nicht bei sich trug. Sein Vater würde ihn rügen, er hatte Lao oft ermahnt, seine Klinge nicht abzulegen, wenn sie von Feinden umzingelt waren. Nicht einmal, wenn er sich schlafen legte, aber der Junge fühlte sich nicht wohl. Die Soldaten beneideten ihn, und er fürchtete, einer könnte ihm das Schwert entreißen, wenn sein Vater nicht in der Nähe war. Ihn niederschlagen und ihm alles nehmen, was sich ein einfacher Mann niemals leisten konnte. Der Junge hatte die Gier in ihren Blicken gesehen, manchmal verfolgten sie ihn bis in die Träume. Es war nicht nur eine Ehre, der Sohn eines Offiziers zu sein, es war auch eine Last, eine Verantwortung, von der er glaubte, sie niemals ausfüllen zu können. Lao seufzte. Der Schatten des Vaters schien größer als das Reich zu sein.

Sein Herz schlug schneller, als Schritte von den Wänden des verwinkelten Turmes bis nach unten drangen. Lao ging zu einer Öffnung und starrte in den Hof. Eine Hand legte sich auf seine Schulter, und als der Junge den Kopf drehte, blickte er in die Augen des Generals. Die Iris in ihnen war so dunkel, dass sie beinahe schwarz wie die Pupillen wirkte.

»Dein Vater will mit dir sprechen, Junge. Du solltest ihn nicht warten lassen.« Pang De sprach vertraut mit ihm, als wäre Lao einer seiner eigenen Söhne.

»Das werde ich. Danke, General.« Lao blickte Pang De hinterher, als der sich von ihm entfernte. Die Lamellenrüstung schepperte wie ferne Donnerschläge, die roten Bänder, die die Eisenplättchen zusammenhielten, funkelten bedrohlich, als wären sie aus Blut gewoben. Eine beeindruckende Erscheinung, die den Jungen träumen ließ. Vielleicht würde aus ihm auch einmal ein General werden. Der Junge stolzierte lächelnd durch den Gang, bis eine Schulter seinen Rücken berührte.

»Pass doch auf, Junge.« Die anderen beiden Offiziere aus dem Turmzimmer stolperten an ihm vorbei. Lao entschuldige sich und eilte dann zur Treppe. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um in Gedanken zu versinken.

Offizier Chen stand in der Tür, als sein Sohn die Fußspitze auf die obersten Stufen der steinernen Treppe setzte. »Du bist spät.« Ehe Lao etwas erwidern konnte, wandte sein Vater sich um und ging hinein, der Junge folgte ihm.

»Verzeih, Vater.« Er schloss die Tür.

Die Luft war stickig, als hätten Pang De und seine Offiziere sich viele Stunden in dem hohen Zimmer beraten. Auf dem Tisch brannte eine Kerze.

»Du enttäuschst mich.« Sein Vater stellte sich neben den Kartentisch. »Kauerst an der Tür wie ein Dieb. Wie ein Shu, nicht wie ein Junge des Reiches. Ich habe dir mehr als einmal gesagt, dass du dich von den Besprechungen fernhalten solltest, Lao.«

Der Junge sah ihn nicht an. Er spürte, dass sein Vater verärgert war. Aber welches Geheimnis gab es, von dem sein Sohn nichts erfahren durfte? Lao hatte nicht das Gefühl, etwas Falsches getan zu haben. Er musterte den Kartentisch, die Figuren standen durcheinander. Natürlich, der General. Der Junge schüttelte den Kopf.

Als sein Vater bemerkte, worauf seine Augen ruhten, warf er ihm einen bitteren Blick zu. »Du sollst dich um die Dinge kümmern, die ich dir auftrage.« Lao erschrak über die Kälte in den Gesichtszügen seines Vaters. »Zeig mehr Respekt, du überschätzt dich.«

Der Junge hob den Kopf und blickte ihn an. »Es tut mir leid.« Auch wenn die Reue in der Stimme eine falsche war, erkannte er, den Vater enttäuscht zu haben.

»Bedauern ist keine Entschuldigung für ein unangebrachtes Verhalten, Junge.«

Mi Chen liebte seinen Sohn, und er hatte nicht vergessen, dass er selbst einmal ein Junge gewesen war. Doch am Zorn in seiner Stimme erkannte Lao, das es ihm ernst war. Er war zu weit gegangen. Ein unangenehmes Gefühl.

Lao spannte die Schultern, als wollte er seinem Vater damit beweisen, dass er kein Kind mehr war. »Du hast recht, es war unangemessen. Ich werde meine Neugier zügeln.«

Lügen, Lao, Lügen! Ein Versprechen, das du nicht halten kannst. Vielleicht konnte der Junge es tatsächlich nicht, aber er würde umsichtiger sein. Noch einmal würde Lao sich von seinem Vater nicht ertappen lassen.

Der Offizier war ein Mann von großem Wuchs, der sogar den General überragte. Er trug einen schwarzen Vollbart, der an den Wangen gestutzt war und am Kinn zu einem Ziegenbart zusammenlief. Seine Augen waren wach und halbmondförmig, in ihnen lag ein Schimmer von Grün, wenn das Licht hineinfiel, das Haar kurz, Zöpfe waren Mi Chen immer lästig gewesen. Er hatte auch Lao nahegelegt, sich das Haar zu stutzen. ›Ein Soldat ist hilflos wie eine Frau, wenn man ihm den Helm entreißt und das Band in seinen Haaren durchschneidet‹ waren seine Worte gewesen. Doch der Junge hatte nicht gehört, er mochte sein langes, schwarzes Haar. Er war lieber hilflos als nackt.

Mi Chen schritt durch das Zimmer und blieb vor der Fensterfront an der Ostseite des Turmes stehen. »Hast du mit den Armbrustschützen gesprochen?«

Der Junge nickte. Er hatte ihm aufgetragen, sich nach dem Zustand der Waffen zu erkundigen. In den letzten Tagen hatte es Probleme mit den Armbrüsten gegeben, da die Feuchtigkeit in das Holz gekrochen war.

»Die Männer sind angewiesen worden, ihre Waffen in die Türme zu bringen. Wenn der Regen anhält, werden wir mehr Bögen brauchen.« Lao hielt inne. »Und ich finde, der Bogen ist der Armbrust vorzuziehen. Er ist verlässlicher.« Er beneidete die Männer, die Pfeil und Bogen beherrschten, als wäre die Sehne ein Teil ihrer Hand.

»Das kann man nicht vergleichen, Lao«, widersprach der Vater und deutete mit einer Geste an, dass er zu ihm kommen sollte. »Ich möchte dir etwas zeigen.«

Sie stellten sich an eines der sechs schmalen Turmfenster und blickten über die Ebene vor dem Fan-Schloss. Das Gras ertrank in wässrigem, hellbraunen Schlamm und den Spuren Tausender Füße, die die Wiesen zu Schlachtfeldern gemacht hatten. Ein Tross Männer kämpfte sich durch das sumpfige Gelände zurück zur Festung.

Es regnete. Manchmal fragte Lao sich, ob es die Sonne hinter den Wolken überhaupt noch gab. Oder ob sie die Wei-Soldaten genauso verlassen hatte, wie das Glück, das sie in der Senke des Han Jiang festzuhalten schien.

»Siehst du die Männer, Lao? Das sind gute Soldaten, aber sie brauchen gute Waffen, um den Kampf zu gewinnen.« Er seufzte. »Ich kann sie ihnen nicht geben. Niemand kann das. Es ist ein schwieriger Krieg, und manchmal bin ich mir nicht sicher, ob wir ihn gewinnen können.«

Er sah seinen Vater selten zweifeln, und er wunderte sich, ob die Lage tatsächlich so ernst war, wie sie schien. Wenn sie es war, würde jeder Soldat gebraucht werden. Jedes Schwert.

»Ich möchte mehr tun, Vater.« Lao wandte den Blick von den tiefschwarzen Wolken ab. »Die Männer sehen mich nicht als einen von ihnen an. Als wäre ich nur ein Junge, der ... «

»Weil du das nicht bist.« Mi Chen fuhr dem Sohn schroff ins Wort. »Du bist ein Kind, Lao, es wird noch ein paar Jahre dauern, bis aus dir ein Krieger wird. Und du tust einen wertvollen Dienst in diesen Mauern.«

Lao blies die Backen auf. »Rüstungen polieren und Kleidung nähen?« Er wollte dem Vater nicht widersprechen, aber er war es leid, den Offizieren dienen zu müssen. »Wie soll ich schlafen können, wenn Soldaten da draußen ihr Leben lassen, während ich mich um solche Dinge kümmere?«

Mi Chen schüttelte den Kopf. »Manchmal frage ich mich, ob du jemals so weit sein wirst, Lao. Ein Krieger? Bist du dir überhaupt bewusst, was das bedeutet?« Der Offizier musterte die Soldaten auf der Ebene. »Ein Junge, der nicht einmal sein Schwert bei sich trägt, wird auch kein guter Soldat. Und niemals ein Offizier.«

Die Worte des Vaters schmerzten, auch wenn Lao wusste, dass er ihn nicht verletzten wollte. Er sollte einmal ein anständiger Mann werden, ein guter Krieger. Ein Mann, auf den die Familie stolz sein konnte.

Er senkte den Kopf. Aus der Stimme des Offiziers sprach viel Weisheit, aber auch viel Schmerz. Schmerz konnte blind machen. »Ich möchte lernen, Vater. General Pang De ist ein großartiger Stratege.«

»Das ist er.« Mi Chen nickte. »Aber darum geht es nicht, worauf willst du hinaus, Junge?«

»Es ist ein Geschenk, dein Sohn zu sein und den Männern so nah zu stehen, die die Schlachten für das Reich schlagen.« Lao warf einen Blick über die Schulter auf den Kartentisch. Es würde dem Vater nicht gefallen, was Lao zu sagen hatte, aber er konnte die Worte nicht länger auf der Zunge behalten.

»Ich bin dein Sohn. Ich möchte wissen, was vor sich geht. Ich lausche nur an Türen, weil du mir so vieles verschweigst. Ich werde ein großer Mann sein, und für jeden großen Mann ist es vonnöten, dass er lernt.«

»Wenn du ein Mann sein willst, hör auf, wie ein Kind zu widersprechen. Männer folgen Befehlen.« Wieder die Kälte in der Stimme, als spräche er mit einem Feind, und nicht mit seinem Sohn.

Offizier Chen ging in die Mitte des Raumes und musterte die Klötzchen, die nicht an Ort und Stelle standen. Der Junge biss sich auf die Unterlippe, der Vater verstand einfach nicht, dass ein Mann niemals etwas lernen konnte, wenn er unsinnigen Befehlen folgte. Vielleicht war es kindlich, die Dinge in Frage zu stellen, vielleicht war es ein Zeichen von Schwäche, seine Neugier nicht zügeln zu können – doch es hatte nicht wenige Männer gegeben, die nur deswegen den Sieg erringen konnten, weil sie entschieden hatten, nicht auf das zu hören, was ein anderer sagte. Lao würde nicht nachgeben.

»Wir werden also aufbrechen.« Der Junge sprach es nicht als Frage aus, als er sich dem Kartentisch näherte. »Du musst es mir nicht verschweigen, Vater, ich weiß, dass ihr ein Lager im Norden errichten wollt.«

Vorsicht, Junge, schien der mahnende Blick seines Vaters ihm sagen zu wollen, doch dann seufzte er. »Das werden wir. Morgen bei Sonnenaufgang.«

Chen nahm eines der hellen Holzklötzchen vom Tisch und drehte es zwischen den Fingern der rechten Hand.

»Das wird nicht unbemerkt bleiben.« Lao legte den Kopf schief und schritt an die Seite seines Vaters. »Der Norden ist von Feinden besetzt. Das hat der General gesagt.« Er beugte sich tief über den Kartentisch und sah eine schöne, säuberlich ausgearbeitete Abbildung der Festung und des Umlands. Über die Jahre war die Farbe verblasst und rissig geworden, das Blau des Han Jiang schimmerte gräulich wie dreckiger Schnee. Jemand hatte schwarze Linien mit Kohle zu den Hügeln gezogen, die die Ebenen der Festung säumten. Der Junge fragte sich, warum man das Fan-Schloss in der Senke des Flusses errichtet hatte. Es gab ringsum Wälle, die die alten Mauern vor steigendem Wasserspiegel schützten.

Er starrte auf die Holzklötzchen am Rand, die nicht mehr waren als grob geschnitzte Würfel. Er musste sich eingestehen, dass sie im Nachteil waren. Der Feind hatte Stellung entlang des Flusses und auf den Hügeln bezogen, es würde nicht leicht werden, die Festung noch weitere Wochen zu halten.

»Wir werden Männer in die feindlichen Linien schleusen. Wir müssen wissen, was am Fluss vor sich geht.« Wenn sein Vater über den Krieg sprach, glich die Stimme der des Generals. Seine Worte waren scharf wie Pfeilspitzen, als könne er den Feind mit ihnen durchbohren.

»Da sind viele Soldaten.« Lao wurde schwer zu Mute und er war beinahe froh, dass er nicht derjenige war, der den Soldaten die Befehle erteilte. »Wenn wir wirklich Deserteure in ihre Reihe schleusen wollen, wird das kein einfaches Unterfangen werden. Der Feind ist skeptisch.«

Wir. Er sprach nicht von ihnen, es war immer nur ein ›wir‹. Er und sein Vater. Er und die Männer, zu denen Lao gehören wollte. Auch er war Teil dieses Krieges.

»Man kann sich nicht sicher sein, Junge.« Sein Vater verschränkte die Arme vor der Brust. »So ist es nun einmal im Krieg, aber wer sich nicht in Gefahr bringt, wird auch nicht den Sieg davontragen.«

Der Junge pfiff durch die Zähne. Er hatte eine Idee. »Was wäre, wenn nur ein Mann geht? Das ist doch besser, oder?«

Wer sich nicht in Gefahr bringt ... sein Vater hatte es eben gesagt, man musste etwas wagen, um den Krieg zu gewinnen. Nur ein Mann. Ein Mann, der alles entscheiden würde. Sein Herz schlug schneller. Lao konnte bereits die Nachtluft auf den Lippen schmecken, wenn er daran dachte, sich in der Dunkelheit davonzuschleichen.

Ja, warum nicht? Warum nicht er?

»Sie werden jeden Mann mit Pfeilen spicken, der es wagt, sich ihnen zu nähern.« Mi Chen fuhr mit der Hand durch den Bart an seinem Kinn. »Man muss sehr vorsichtig vorgehen.«

»Nicht aber, wenn man ein Kind ist, Vater.« Lao lächelte. »Der Krieg hat so viele Opfer gefordert, dass es kein seltener Anblick mehr ist, wenn sich ein Waise zwischen die Linien verirrt.« Er fühlte sich berauscht von dem Gedanken, dass er das Rätsel lösen könnte. »Warum nicht?« Die Worte drangen so leicht über Laos Lippen, als hätte seine Zunge sie jahrelang zurückgehalten. Er hatte keine Angst vor dem, was auf der anderen Seite lauerte.

Und wenn er zurückkehrte, würde er der Junge sein, über den alle sprachen. Lao Chen. Der, der herausgefunden hatte, was der Feind im Schilde führte. »Wir brauchen keine Deserteure. Keine Spione.« Er war aufgeregt und verhaspelte sich beim Sprechen. »Lass mich gehen, Vater. Ich kenne die Soldaten, ob es die unseren oder die am Fluss sind. Sie werden das Kind in mir sehen, nicht den Mann.«

Das Kind, nicht den Mann.

Naive Worte, doch der Junge hatte sich nie etwas daraus gemacht, seine Gedanken auszusprechen. Lao trug das Herz so deutlich auf der Zunge wie ihre Bogenschützen Pfeile im Köcher.

Mi Chen blickte auf ihn herab. Er presste die Lippen aufeinander und wog den Kopf zu einem Schütteln. Dummkopf, schienen seine Augen sagen wollen, doch er schwieg. Er öffnete den Knoten, der den Gürtel seiner Robe zusammenhielt. Die Roben der Offiziere waren schwarz, nur die Bänder an den schrägen Rändern leuchteten feuerrot. Das Gewand war einfach, ohne Knöpfe oder Verzierungen. Der Offizier streifte sich das Gewand von den Schultern und reichte es Lao, verwundert streckte der Junge die Hände danach aus.

Was soll das, fragte Lao sich. Seine Fingerspitzen griffen nach dem dicken Leinenstoff der Robe. »Soll ich die Kleider waschen, Vater?«

Es war ein merkwürdiger Zeitpunkt, ihm die Kleidung zu überreichen, vielleicht wollte sein Vater Lao daran erinnern, was seine Pflichten hinter den Mauern waren.

Mi Chen raffte die weiße Unterkleidung über die nackte, aufgeschuppte Haut. »Zieh die Robe an, mein Sohn.«

Lao stutzte. »Ich soll?«

»Du hast mich verstanden.«

Und der Junge gehorchte. Sein Vater beobachte, wie er das Gewand über die Kleider stülpte. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

Lao versank darin, die Robe reichte bis zum Boden. Seine Hände kamen erst zum Vorschein, als er die Arme nach oben riss. »Sie passt nicht.« Der Junge blickte an sich herab.

Das Gewand glich einem Reissack. Wie sehr er sich doch von seinem Vater unterschied! Die Wangen des Jungen glühten rot, wie die Zierbänder, die die Robe säumten. Lao verstand und er schämte sich.

»Sieh dich an, Lao, du bist ein Kind, das die Kleider eines Mannes trägt.« Mi Chen sagte es ohne Bitterkeit. »Du kannst sie nicht ausfüllen. Du musst wachsen und reifen, lernen und mit Demut deinen Aufgaben nachkommen. Dann, Sohn, nur dann wirst du auch eines Tages in die Kleider passen, für die du dich entschieden hast.« Er lachte. »Aber nicht heute.«

Lao schluckte schwer. Sein Vater hatte viel Leid gesehen, er hatte Männer getötet und Verräter aus den eigenen Reihen hingerichtet. Mi Chen sprach nicht darüber, doch seitdem der Junge ihn begleitete, kannte er die Bilder. Hässlich, als würde das Schlechteste im Manne selbst die Feder führen.

Man sagte den meisten Offizieren nach, dass sie grausam waren, aber Mi Chen war ein besonnener Mann. Er schätzte den Wert eines Lebens.

Lao kam sich albern vor. »Es war ein Gedanke, Vater.«

War es das, Lao? Oder hattest du dir nicht tatsächlich die Hoffnungen gemacht, du könntest etwas erreichen, das den anderen Soldaten verwehrt ist?

Er zog die Robe aus und blickte auf den Kartentisch. Vielleicht hatte sein Vater recht, vielleicht war es noch nicht an der Zeit für ihn, eines der Klötzchen zu werden, das man auf einer Karte herumschob. Es war ein befremdlicher Gedanke, dass ein Stück Holz über Leben und Tod Tausender Soldaten entschied.

Mi Chen nahm die Robe und zog sie über. »Gehen wir.«

II Demut

Sie stiegen die Stufen hinab. Schweigend folgte Lao seinem Vater, sein Blick haftete auf der Offiziersrobe. Eine schmerzhafte Lektion, die noch lange in ihm brennen würde, aber der Junge spürte, der Tag würde kommen, an dem er dem Vater beweisen konnte, dass er bereit war, die Kleider auszufüllen. Auch wenn dieser Tag nicht heute war.

Sie erreichten das Quartier. Die Tür knarzte, als Mi Chen sie aufschob. Es war ein karger Raum mit einer Matratze am Boden, die Offiziere genossen nur wenige Annehmlichkeiten in den alten Mauern.

Er reichte seinem Sohn einen Stapel schmutziger Wäsche und wies ihn an, seine Rüstung zu säubern und zu ölen, bevor er am nächsten Tag das Schloss verlassen würde. Der Dienst für die Offiziere war das oberste Gebot des Jungen, doch es war eine Knochenarbeit, die Rüstungsteile mit Melkfett oder Ölen einzureiben, um sie vor Rost zu schützen. Nicht nur Regen verursachte Rost, auch Schweiß und die Feuchtigkeit in der Luft. Manchmal sehnte Lao sich nach den Schlachtfeldern, obwohl er wusste, dass er großes Glück hatte, nicht in den Tod geschickt zu werden.

Er nickte seinem Vater zum Abschied zu und verließ mit einem Seufzen die Kammer. Arbeit, Lao, es ist deine Pflicht. Und es ist wichtig, dass du sie verrichtest, so wie dein Vater es gesagt hat. Doch er war es leid, der Junge zu sein, der Wäsche wusch und stundenlang in den Kellerräumen hockte, um Rüstungen zu polieren.

Der Junge drängte sich an einer Gruppe Soldaten vorbei, die die Risse an ihrer Unterkleidung flickten. Ihre Gesichter waren ernst und gezeichnet von den Kriegen zwischen den streitenden Reichen. Ihre Blicke leer, einer der Männer hatte ein vernarbtes Gesicht, ein anderer saß am Boden und kaute auf seiner blutigen Lippe. Sie stanken nach Schweiß und faulen Eiern, ihre Haare trieften von der Nässe, die seit Tagen in der Luft lag.

Ein Mann mit kahlem Kinn legte sein Hemd beiseite und versperrte dem Jungen den Weg. »Sag dem Offizier, wir hungern. Hast du mich verstanden?« Er warf Lao einen Blick zu, doch der sah ihn nicht an.

Die Panzerung der Soldaten war nicht so prunkvoll wie die seines Vaters. Die Männer trugen Lamellenrüstungen aus schmalen Eisenplatten, die Brustkorb und Rücken bedeckten. Einfache, kurze Rüstungen, doch jeder Mann konnte dankbar sein, wenn er eine sein eigen nennen konnte. Seit dem Zerfall des Reiches waren so viele Schlachten ausgetragen worden, dass die meisten Männer nicht mehr als einen Speer oder ein Schwert besaßen.

Die Rüstungsteile wurden an den Schultern zusammengebunden, die Stoffe darunter schimmerten rot und weiß. Rost überzog das Eisen, jeder Regentropfen hinterließ eine braune Stelle, und Regengüsse gab es auf dem Schlachtfeld so zahlreich wie Tote.

Der Soldat spuckte auf den Boden. »Hey, bist du zu fein, um mit uns zu reden, was? Kleiner Scheißkerl.«

Lao seufzte. Ohne ihn zu beachten, schritt er an ihm vorüber. Der Mann streckte die Hand nach ihm aus, als wolle er ihn zurückhalten, doch einer der anderen Männer räusperte sich.

»Lass ihn.« Der Mann war barfuß.

Die meisten Soldaten trugen Sandalen mit dünnen Sohlen. Ein Wulst aus Leinen schützte die Füße bei Kälte und langen Märschen. Doch die Nässe war in die Fasern gekrochen, sie hatte die Stoffe nachgiebig und rissig gemacht – ebenso wie den Willen der Soldaten.

»Aufgeblasener Wicht«, knurrte der Mann mit dem kahlen Kinn, als der andere Soldat ihn zu seinen Kameraden führte.

Der Junge verschloss die Ohren davor, auch wenn es ihm nicht leichtfiel. Spott war sein täglicher Begleiter hinter den Mauern.

Lao spürte die Blicke der Soldaten im Nacken, als er sich von ihnen entfernte. Seine Schritte hallten von den Wänden des finsteren Ganges. In der Innenseite waren Öffnungen ins Mauerwerk eingelassen, um in den Hof blicken zu können. Lao blieb vor einem der Fenster stehen, im Inneren der Festung standen sieben kleine Gebäude, die Männer hatten zwischen ihnen Baracken und Zelte errichtet. Schwere Pferdeleiber rieben sich in einem Verschlag aneinander, die Wei-Truppen verfügten nur über eine Handvoll berittener Soldaten. Kavallerie wurde als Stoßtrupp in die feindlichen Linien getrieben, seit ein paar Jahren zog man den Tieren sogar eine Rüstung aus Eisen über, dennoch überlebten nur wenige Pferde die Angriffe. Es brach Lao das Herz, wenn er daran dachte, wie Pfeile die Tiere durchbohrten. Wie ihre Spitzen Ross und Reiter zum Fallen brachten. Wuchtige, blutige Pferdekörper, die nicht selten die unter sich begruben, die soeben noch auf ihren Rücken gesessen hatten.

Es schüttelte ihn. Er spürte den Wind auf seinen Wangen, der durch das Fenster wehte. Wind, der Geschichten in sich trug. Von Tränen und Trauer. Von Leben und Tod. Lao hörte ein Flüstern über den Zinnen, als wäre es erfüllt mit den Stimmen der Toten. Er schloss die Augen, da waren nicht nur Tränen, da war mehr. Lachen. Hoffnung. Denn der Staat Wei würde die Reiche einen, und dann würde Frieden herrschen. Erkauft mit dem Blut Hunderttausender, doch wann hatte man Frieden je geschenkt bekommen?

Der Wind fuhr in sein schwarzes Haar, das er zu einem Zopf zusammengebunden trug; es reichte bis an die Mitte seines Rückens. Lao war ein schmächtiger junger Mann von vierzehn Jahren, er besaß ein schönes Gesicht mit schmalem Kinn und hohen Wangenknochen. Runde, eng anliegende Ohren und eine hohe Stirn. Seine Brauen waren buschig, trotz der feinen Züge ließen sie den Jungen ernst wirken. Dunkelbraune Mandelaugen rundeten sein Gesicht wie eine Zierde ab; er würde einmal viele Herzen brechen, hatte seine Mutter gesagt. Er schmunzelte, wenn er an ihre Worte dachte. Sein Herz schlug für das Reich. Für den Vater. Und für Cao Cao, auch wenn die Soldaten munkelten, dass der Kriegsherr ein grausamer Mann sei.

Lao war kein Soldat – eine schmerzhafte Wahrheit – auch wenn er es verstand, mit dem Schwert umzugehen, dem Jian. Sein Vater hatte eine edle Klinge für ihn anfertigen lassen, sie war sein wertvollster Besitz: ein Eisenschwert von siebzig Zentimetern Länge. Nur wohlhabenden Männer und Offiziere konnten sich solch eine Klinge leisten. Das Schwertblatt der einfachen Soldaten blieb oberhalb des Heftes stumpf, nur das Drittel an der Klingenspitze war scharf und tödlich. Laos Schwert war anders.

Er hatte sich immer gefragt, warum der Teil oberhalb des Heftes stumpf war, denn keine der Techniken, die er gelernt hatte, sah das Blocken mit der Klinge vor. Sein Vater hatte ihn ermahnt, die Traditionen nicht infrage zu stellen, dennoch hatte er seinem einzigen Sohn eine besondere Klinge schmieden lassen, die in der Länge des Blattes gänzlich scharf war, eine schwere Waffe, deren Handhabung Lao auch nach Monaten nicht zufriedenstellend beherrschte.

Sein Vater hatte recht.

Wie soll ein Offizier aus ihm werden, wenn er nicht einmal seine Klinge bei sich trug? Aus Angst, man könnte ihn bestehlen. Lao wusste, dass er den anderen Männern nicht gewachsen war.

Das Kind, nicht den Mann.

Ein Segen und ein Fluch zugleich.

Als Lao durch den Gang zur Waschkammer ging, hörte er die Häme einiger Soldaten hinter dem Rücken.

Die Männer lachten gehässig. »Na, Lao, nimmst du meine vollgeschissenen Hosen mit?«

»Wasch deine Hosen selbst!« Dummköpfe. Trottel.

Er ballte die Faust.

Genug! Wie lange wisst du dir das noch gefallen lassen? Wehr dich, Lao. Zeig ihnen, dass sie sich irren in dem, was sie in dir sehen. Zeig ihnen, dass du mehr bist.

Der Tag war jung, sobald er die Aufgaben des Vaters erledigt hatte, würde er mit dem Schwert üben. Und eines Tages würde Lao die Kleider ausfüllen, dann würde niemand mehr über ihn lachen.

Er eilte durch die düsteren Gänge, die sich in das Innere des Fan-Schlosses fraßen. Fackeln erhellten seinen Weg. Die Schritte verfingen sich dumpf zwischen den hohen Mauern, doch da war noch ein anderes Geräusch. Er blieb stehen. Er konnte hören, wie der Regen gegen das Mauerwerk prasselte, jeder Tropfen laut wie ein Faustschlag. Rauschen. Dröhnen. Als würde die Festung am Rand eines Wasserfalles stehen.

Lao seufzte. Der Regen ängstigte ihn mehr als die Klingen der fremden Soldaten.

 

III Das Erbstück

Die Gesichter der Männer waren starr wie die der Steinskulpturen, die vor dem kaiserlichen Palast gestanden hatten. Teile von Luoyang lagen noch immer in Trümmern, auch wenn es dreißig Jahre her war, seit die Stadt zerstört worden war. Lao hatte Zeichnungen der Krieger gesehen, meterhoch sollen sie gewesen sein, gearbeitet aus weißem Kalkstein. Auch hatten die Bildhauer sie mit Rüstungen und Schwertern ausgestattet, doch am Ende war es Aberglaube gewesen, dass sie lebendig werden würden, wenn der Kaiser in Gefahr war.

General Pang De und Offizier Chen gingen voraus, als sie in der Dämmerung mit einem Tross von einhundert Männern die Festung verließen. Vierhundert weitere würden aufschließen, sobald sie die Ebene nach Norden verlassen hatten.

Lao blieb zurück.

Er hatte vergeblich versucht, seinen Vater davon zu überzeugen, ihn mitzunehmen. Nun stand er auf den Mauern und blickte den Soldaten nach, die sich im dichten Regen von der Festung entfernten. Steinskulpturen. Auch wenn die Männer gehen und sprechen konnten, schienen sie nichts anderes, als das zu sein. Blasse Gesichter. Tote Augen. Nicht nur die Offiziere hatten zu viel Leid in diesem Krieg gesehen.

»Von denen möchte ich keiner sein.«

Ein Bogenschütze kam auf Lao zu. Der Regen trommelte auf seinen Eisenhelm. Die Feder, die die Spitze des Hauptes zierte, war nur noch ein breiter Strich, als hätte jemand sie in ein Tintenfass getaucht.

Lao wendete den Blick von ihm ab und suchte den Vater auf der Ebene. Die Regentropfen verschwammen zu einem Schleier, nur mühsam konnte er mit den Augen dem Tross folgen. Sein Vater war nicht mehr zu sehen.

»Ich wäre gern mit ihnen gegangen.« Lao ließ die Schultern sinken. Der Regen hatte seine Kleidung durchweicht, er spürte die Nässe mit jeder Pore seiner Haut.

Der Bogenschütze schüttelte den Kopf. »Du hast es wohl eilig zu sterben, was?« Sie schwiegen eine Weile. »Wenn du mein Junge wärst, wärst du bei der Mutter, bis du das richtige Alter hättest, um ein Schwert zu führen.«

»Es ist eine große Ehre«, entgegne Lao.

»Nein.« Der Bogenschütze drehte sich um. »Es ist keine große Ehre, sein Leben so früh zu verlieren.«

 

Es lag eine seltsame Stimmung in der Luft, als Lao am Mittag zum Quartier seines Vaters ging. Obwohl nur wenige Männer die Festung verlassen hatten, schien sie leer wie an jenem Tag zu sein, als sie aus Luoyang angekommen waren.

Es war der Tag gewesen, an dem Lao bemerkt hatte, dass das Amulett um seinen Hals fehlte. Ein Erbstück. Man gab es allen Männern der Familie, die hinauszogen, um sich auf den Schlachtfeldern zu messen. Eine Münze aus Kupfer bildete den Anhänger, eingeschmolzen und gegossen mit Erde aus den Feldern nahe des Dorfes. Heimische Erde.

Man sagte, dass die Geister derer, die fielen und nicht in der Heimat beerdigt werden konnten, niemals Ruhe fanden. Ein irrender Geist sei blind für die Ahnen, er war verdammt, die Ewigkeit allein zu verbringen. Die Münze schützte davor. Sie war Heimat, die man bei sich trug wie ein Spielzeug aus Kindertagen.

Es hatte Lao die Tränen in die Augen getrieben, als er sein Amulett nicht mehr hatte finden können. Es war ein fürchterlicher Gedanke, die Ewigkeit ohne den Klang einer vertrauten Stimme verbringen zu müssen. Lao fürchtete die Einsamkeit mehr als den Tod.

Der Junge saß auf dem Schlafplatz des Vaters und ließ das Amulett zwischen den Fingern tanzen. Das Metall schmiegte sich warm an die Kuppen seines Daumens und des Zeigefingers. Es war nicht jenes Amulett, das ihm die Mutter gegeben hatte. Lao hatte es nicht mehr finden können. Eines Morgens war er zu seinem Vater gegangen. Er hatte sich elend gefühlt, als hätte er einen Teil von sich selbst verloren.

Du kannst meines haben, hatte sein Vater gesagt, es wird dich genauso beschützen wie dein eigenes.

Lao würde niemals das Lächeln vergessen, mit dem sein Vater ihm das Amulett gereicht hatte. Dem Jungen war nicht wohl gewesen, es anzunehmen. Der Tod lauerte auf dem Schlachtfeld, doch sein Vater hatte ihn beruhigt. Er hatte Lao versprochen, dass sie nach Hause zurückkehren würden.

›Ich werde nicht sterben, mein Sohn.‹

Lao wünschte, er könnte den Worten seines Vaters Glauben schenken. Er wünschte, sie würden ihm die Gewissheit geben, nach der er sich sehnte.

Trübes Licht fiel durch das Fenster und ließ das Quartier wie eine Zelle wirken. Lao schluchzte. Es war nicht richtig, dass er das Amulett bei sich trug.

Lao schämte sich für die Sorge, der Offizier war ein guter Soldat. Er würde nicht sterben. Doch es stimmte Lao traurig, seinen Vater in der Ferne zu wissen. Ohne ihn fühlte er sich verloren in den kalten Mauern.

Er war einsam. Lao stand auf und ging zum Fenster. Er dachte an die Worte, die er im Turm zu seinem Vater gesagt hatte. Er hätte gehen können. Er hätte sich in die feindlichen Linien schleichen können. Ein bitteres Lächeln legte sich auf seine Lippen. Gedanken so haltlos wie der Wind, der über die Dächer der Festung fegte.

 

Lao fand keine Ruhe in der ersten Nacht, die er ohne Vater im Fan-Schloss verbrachte. Seine Schlafstätte lag in den Kellerräumen, er teilte sich das Zimmer mit vier anderen Männern, die nicht zum Kämpfen in die Festung gekommen waren. Ein Schmied, zwei Handwerker und ein Knecht.

Seit dem Abend ließen Schreie das alte Mauerwerk erzittern, wie Wehklagen von verirrten Geistern kroch das Stöhnen und Röcheln bis in die verstecktesten Winkel. Es waren Schreie der Verwundeten, die man in den Schutz der Festung gebracht hatte. Lao vergrub das Gesicht unter seinem dünnen Kissen, doch es gab kein Entkommen vor den letzten Atemzügen der Sterbenden.

»Hab gehört, das sind die aus dem neuen Lager«, flüsterte Yun dem Jungen zu.

Yun war Stallknecht und vier Jahre älter als Lao. Stets mit einem Lächeln auf den Lippen schien es manchmal, als wäre der junge Mann blind für das Elend, das sich auf den Ebenen von Fancheng abspielte. Yun war glatzköpfig. Der kahle Schädel sah wenig schmeichelhaft für einen Jungen seines Alters aus, doch er hatte einmal erzählt, dass es kein besseres Mittel gab, um sich vor Flöhen zu schützen. Yun kümmerte sich um die Schweine und Pferde in der Festung.

Sie waren Freunde geworden. Die kalten Nächte machten gesprächig, sie wanderten gemeinsam durch die Gänge oder blickten von den Türmen in die Sterne, wenn die harten Matratzen sie nicht schlafen ließen.

»Woher willst du das wissen?« Lao richtete sich auf. »Die Männer sind erst am Morgen aufgebrochen, ich glaube kaum, dass es bereits einen Kampf gegeben hat.«

Durch den Spalt der offenen Tür drang ein Streifen helles Fackellicht in die Kammer. Der Junge wünschte, er hätte den Vater in die Ebene begleiten können. Pang De hatte Lao den anderen Offizieren zugewiesen, doch die waren schweigsam.

»Darauf würde ich nicht mein Schwert setzen.« Wenn der Stallknecht sprach, klang es, als würde Spott jedes der Worte zieren. Manchmal glaubte Lao, es sei seine Art, um nicht vom Schrecken vor den Mauern berührt zu werden.

Lao griff nach dem Knauf seiner Klinge, die in der Lederscheide neben dem Schlafplatz lag. Die Schwertscheide war mit Eisenteilen verstärkt. Er hatte die Klinge eingeölt, damit sie leicht herauszuziehen war. »Mein Vater ist dort draußen. Ich wäre gern mit ihm gegangen.«

Auch wenn der Tod im Norden lauerte, war der Junge enttäuscht, dass der Vater nicht erwogen hatte, ihn mit den anderen Männern mitziehen lassen. Als Lao mit dem Schwert vor ihm gestanden hatte, hatte Offizier Mi Chen seinem Sohn die Hand auf den Kopf gelegt.

Heute ist nicht der Tag, hatte er gesagt, und Lao hatte verstanden. Noch eine schmerzhafte Lektion.

Yun rümpfte die Nase. »Also ich bin froh, dass ich hier im Trockenen sitze. Würde nicht mit den armen Schluckern auf der Ebene tauschen wollen. Ich meine, Lao, uns geht es doch gut hier in der Festung. Was zu essen. Was zu tun. Nur keine Mädchen.« Ein schelmisches Grinsen umspielte seine hohen Wangen. »So ein hübsches Mädchen, das wäre ein willkommener Anblick in diesem trostlosen Steingefängnis.«

Lao stimmte lächelnd zu. Er musste an das schöne Mädchen mit den roten Kleidern und dem lockigen Haar denken, das am anderen Ende seines Dorfes wohnte. Er hatte sich nie getraut, sie anzusprechen, sobald sich ihre Blicke trafen, vergaß seine Zunge, wie man Worte formte.

Der Stallknecht prahlte gern mit gebrochenen Herzen. »In meinem Dorf hat einmal ein Mädchen gelebt, Lao, das sage ich dir, die war die Schönste von allen.«

»Hast du sie auch geküsst?« Lao hatte noch nie ein Mädchen geküsst.

Yun lachte auf. »Klar. Und nicht nur einmal.«

»Seid ihr bald mal ruhig, Jungs?«

Der alte Schmied mit dem fleischigen, roten Gesicht fuhr sie scharf an. »Als ob es nicht schon genug ist, dass die sich da oben die Seele aus dem Hals schreien. Müsst ihr uns noch mit eurem Gerede wach halten.«

»Es geht um Mädchen, du Griesgram. Falls du überhaupt eine Frau hast.« Der Stallknecht gluckste, er machte sich nie etwas aus dem, was die anderen Männer sagten. »Woran sollte man in einem Krieg denken, wenn nicht an das Schönste?«

IV Väter und Söhne

Der Norden blieb still. Keine Kunde drang vom Lager aus in die Festung, als wären die Männer nicht in die Ebene, sondern in ein fernes Land gezogen. Lao verbrachte viele Stunden auf den Mauern, den Blick zum Ufer des Han Jiang gerichtet. Doch die Bäume verbargen Freund wie Feind hinter ihren bittergrünen Kronen.

Seit sein Vater und General Pang De die Festung verlassen hatten, trug der Junge die Klinge stets bei sich. Lao hatte die Worte des Vaters nicht vergessen, er würde ein guter Soldat werden. Das Schwert gab ihm Sicherheit. Es war Krieg, wie würde es ihm ergehen, wenn der Feind die Festung stürmen würde? Der Junge hatte sich so geborgen in der Nähe seines Vaters gefühlt, dass er an solche Dinge nie gedacht hatte. Nun war Lao auf sich selbst gestellt.

Das Leben auf der Festung war schwierig ohne die schützende Hand des Vaters. Die Offiziere ließen ihn härter arbeiten als in den Wochen zuvor. Keine Rüstung blieb stumpf, er polierte und ölte Schwerter und Helme ein. Seine Schultern schmerzten, Lao verbrachte die Tage in den dunklen Kellerräumen. Wenn die Arbeit getan war, gesellte er sich zu den Bogenschützen und starrte in die Weite, die so schweigsam war wie die Männer, denen er diente.

Er verließ die Mauern und stieg die Treppen hinunter, bis er den Hof erreichte. Als der Junge den Schweinestall betrat, senkte der Knecht den Kopf und verbeugte sich vor ihm.

»Ich grüße euch, Lao Chen. Sohn des Mi Chen, Offizier unter General Pang De. Kämpfer für die Freiheit und für das Reich. Schlächter der Shu-Soldaten. Befreier von Frauen und Kindern. Mörder des grausamen Liu Bei.« Er blickte auf. »Zumindest wird man das in ein paar Jahren sagen, hoffe ich.«

Der Junge schüttelte den Kopf. »Was ist denn mit dir los, Yun?«

Der Stallknecht war ein Spinner, aber Lao mochte es, wie er ihn ständig zum Lachen brachte. Yun hatte eine Leichtigkeit an sich, um die Lao ihn beneidete. Ein fröhliches, heiteres Wesen war in Zeiten großer Kriege kein weniger wertvolles Geschenk als eine Schwerthand.

»Ich dachte, ich begrüße dich angemessen, mein Freund. Hab gehört, die Offiziere machen es dir nicht leicht.«

Der Knecht nahm einen Besen zur Hand und begann, das Wasser aus dem Stall zu kehren. Seit dem Aufbruch in den Norden hielt der Regen an.

»Der alte Köter kann mich nicht leiden.« Mit dem Oberkörper an den Verschlag der Schweine lehnend, blickte Lao den Stallknecht an. »Hat gesagt, ich sei ein Emporkömmling eines mächtigen Namens.«

Der alte Köter war ein Offizier namens Li Zhang. Er war grauhaarig und so bissig mit seinen Worten, dass die Männer ihm den Spitznamen ›Köter‹ verpasst hatten. Der Alte hatte die besten Jahre hinter sich, er war bereits fünfzig und sollte er diesen Krieg überleben, würde er nicht noch einmal als Offizier in die Schlacht ziehen.

Yun zuckte mit den Schultern. »Aber das bist du doch. Ein Emporkömmling eines großen Namens.«

Lao schnappte nach Luft. Er presste die Lippen aufeinander und funkelte den Knecht böse aus dem Augenwinkel an. Das hatte der nicht gesagt, oder?

»Nun sei nicht so.« Yun brach in Gelächter aus, als er den verstimmten Ausdruck auf Laos Gesicht bemerkte. »Was ist schon dabei? Ohne deinen Vater wärst du nicht hier, aber wir sind alle nur hier, weil wir Söhne von irgendwelchen Namen sind.«

Lao war mehr als ein Sohn. Der Gedanke, die Soldaten in der Feste würden nichts anderes in ihm sehen, verletzte ihn.

Yun wischte sich den Schweiß von der Stirn. Lao schwieg und musterte den Stall. Es war eng und stickig, die Luft roch nach Mist und gammeligem Brot. Die Schweine schienen sich daran nicht zu stören, grunzend wühlten sie im Stroh und quiekten, als Lao die Hand nach ihnen ausstreckte. Eine feuchte Schnauze stieß dagegen und schnüffelte begierig an seinem Finger.

»Ich tauge nicht zum Kämpfen.« Der Knecht kehrte einen Schwall Wasser nach draußen, der durch eine Ritze im Dach des Stalls auf den Boden getropfte war. »Doch Vater wollte, dass ich in den Krieg ziehe. Ruhm und Ehre und der ganze Blödsinn. Unser Dorf beliefert die Soldaten seit Jahren mit Reis und Fleisch. Ich habe Glück, dass der General meinen Namen kennt. Man hätte mir wohl sonst ein Schwert in die Hand gedrückt und mich auf das Schlachtfeld geschickt.«

Der Stallknecht hatte nicht viel über seine Familie erzählt. Er stammte aus einem Dorf an der Grenze zwischen Shu Han und Wei.

»Ich kann nicht lesen oder schreiben. Ich habe auch keine Klinge wie du und würde sie mir wahrscheinlich selbst in die Brust rammen.« Yun stellte den Besen beiseite und hob einen Holzeimer mit Essensresten an. Er kippte ihn zu den Schweinen.

»Ich könnte dir zeigen, wie man liest.«

Yun lachte. »Wozu? Wenn der Krieg vorbei ist, gehe ich nach Hause. Ich suche mir eine hübsche Frau und ziehe drei Söhne groß.« Er lehnte sich neben Lao. »In ein paar Jahren sehen wir uns wieder, mein Freund, du als Offizier und ich als Kämpfer. Jeder hat seinen Platz.«

»Mir fehlt mein Vater.« Lao war über seine Worte genauso überrascht wie Yun, der die Braue nach oben zog.

»Sag das niemanden. Oder willst du, dass die Männer sich über dich lustig machen?«

Das tun sie schon, wollte Lao sagen, aber er schluckte die Wahrheit hinunter wie eine bittere Medizin. Jeder hat seinen Platz. Der Junge hatte geglaubt, dass seiner an der Seite des Vaters wäre. Als Lao noch ein Kind gewesen war und sehnsüchtig auf die Rückkehr des Vaters aus dem Krieg gewartet hatte, hatte er sich geschworen, gemeinsam mit ihm in die Schlachten zu ziehen, sobald er erwachsen war. Er war es. Dennoch hatte der Vater ihn zurückgelassen, so wie in den vierzehn Jahren zuvor.

Yun sprang auf und schlug Lao das Ende des Besenstiels ins Gesicht. Das Holz prallte gegen seinen Wangenknochen, der Junge verlor den Halt und fiel in das stinkende Stroh. Die Schweine im Verschlag grunzten fröhlich und drängten sich aneinander, als wollten sie einen Blick auf Lao werfen. Angewidert drückte der sich mit den Armen hoch und wischte seine dreckigen Hände an der Kleidung ab.

»Lao Chen, Sohn des Offiziers Mi Chen, ich fordere dich zu einem Duell. Klinge gegen Holz.« Yun reckte ihm den Besen entgegen.

Der Knecht war wirklich ein merkwürdiger Junge.

»Hast du den Verstand verloren?« Doch Lao zog lächelnd das Schwert und tänzelte über den nassen Boden.

»Gut so, Chen. Zeig, was du draufhast!«

Lao ließ sich nicht bitten. »Auf Leben und Tod.«

Schweine schrien auf, als die Jungen plötzlich ihre Klingen kreuzten. Dumpf schlug Holz auf kaltes Metall. Yun ließ seinen Besen fallen. Er war ein schlechter Kämpfer, auch mit einer Klinge aus Eisen würde es Lao nicht schwerfallen, den Freund zu entwaffnen. Der Stallknecht ging in die Knie und griff nach dem Besen, doch Lao hielt die Spitze seiner Klinge an Yuns Wange.

Der Knecht riss die Arme hoch. »Ich ergebe mich, du hast gewonnen, Sohn des Mi Chen.«

Doch das Lachen in Laos Gesicht erstarb, als hinter dem Rücken des Stallknechts die pechschwarzen Augen des alten Köters auftauchten. Das Gesicht ausgezehrt, die Wangenknochen scharf wie Schwertklingen. Regen schlängelte sich in kleinen Strömen von seinem Helm.

»Ihr seid eine Schande für eure Väter!« Er stieß Yun beiseite und zerrte Lao aus dem Schweinestall. Die Wangen des Offiziers glühten vor Wut. »Zurück zu den Latrinen. Da, wo ein Taugenichts wie du hingehört.«

 

Lao verfluchte den alten Köter.

Mit verzogenem Gesicht warf er den stinkenden Lappen in den Wassereimer und wünschte sich, er könnte den Fetzen in das arrogante Lächeln des Offiziers stopfen. Es stank so penetrant nach Urin, dass Lao sich bei jedem Atemzug beinahe übergeben musste. Manchmal schien es ihm, als wären die Wände schlimmer besudelt als die Bretter, auf denen die Soldaten ihre Notdurft verrichteten.

Nicht einmal Yun war in den vergangenen Wochen zum Latrinendienst verdonnert worden. Die einfachen Soldaten verrichteten ihre Notdurft gegenüber den Stallungen auf hölzernen Latrinen. Die halbhohen Steinwände schützten nicht vor neugierigen Blicken. Jeder konnte sehen, wie der Sohn eines hohen Offiziers erniedrigt wurde. Eine Gruppe junger Männer zeigte mit dem Finger auf Lao und lachte.

Es lag nur ein kurzer Weg zwischen den Schweinen und den Latrinen, Lao konnte sehen, wie Yun eilig den Stall verließ und in der Festung verschwand. Der Köter trieb sich im Hof herum, wie ein aufgescheuchter Gockel stakste er durch den Regen und fuhr jeden Soldaten scharf an, der es wagte, ihm vor die Füße zu treten. Die Tropfen prasselten auf seine Rüstung wie die Schlägel einer Trommel.

Lao hatte es satt. Er griff nach dem Schwert, das er über einen Stein an der Latrinenwand gehängt hatte, und band sich die Scheide um die Hüfte. Als der alte Köter hinter einer der Hütten verschwunden war, glitt Lao aus den Schatten hinaus und rannte zu den Treppen an den Mauern. Lao spuckte auf den Boden. Sollte sich der alte Hund doch selbst den Rücken krumm machen und die Latrinen putzen.

Lao hatte die Tür zum Quartier seines Vaters hinter sich abgeschlossen und blickte aus dem Fenster in die nahende Dunkelheit. Der Köter hatte nicht nach ihm gesucht. Taugenichts. Emporkömmling. Es schmeckte so bitter in seinen Gedanken, dass der Junge sich zwang, nicht an die Worte zu denken. Er war mehr als das. Mit einem Seufzen starrte Lao in die Dämmerung, die sich wie ein Leichentuch über die Ebene legte. Mi Chen hatte seinen Sohn gelehrt, besonnen zu sein, doch Lao spürte nur Zorn. Seine Beine zitterten.

Das Kind, nicht den Mann.

Waren das nicht deine Worte gewesen, Lao? Sein Gesicht verfinsterte sich. Das waren sie, aber er war auch ein Krieger. Kein Junge, den man drangsalieren konnte. Wenn es doch nur einen Weg gebe.

Er blickte auf. Den gab es. »Ich muss gehen.«

Er würde sich beweisen. Er musste. Lao griff in sein Haar und zog das Band hinaus, Strähnen fielen über seine Wangen. Er hatte sich entschieden. Es war an der Zeit, aus dem Schatten seines Vaters zu treten. Er war es leid, seine gekränkte Seele vor dem Köter und dem Spott der Soldaten zu verbergen. Sie würden sehen, dass er mehr war. Mehr als ein Name. Wütend schlug er mit der Handfläche gegen die Wand.

»Vater, wieso bist du ohne mich gegangen?«, hauchte er und schnaufte. Doch Lao würde nicht warten, er hatte sein Leben lang auf den Vater gewartet.

Sein Gesicht war ernst, als er die Schnürschuhe von den Füßen streifte und das Gewand auf dem Bett ablegte. Wahrheit oder Lüge. Lao hatte viele Geschichten auf den Lippen, aber jede war bloß so wahr wie das, was man sehen konnte. Der Regen flüsterte und strich über die Mauern wie Fingerspitzen, Lao blickte an seinem nackten Oberkörper hinunter. Schmächtig, zierlich wie ein Kind.

Das Kind, nicht den Mann.

Er lächelte, vielleicht gab es doch einen Vorteil, den er daraus schlagen konnte. Lao glitt in das Dunkel des Ganges.

V Soldaten

Yun hätte ihn beinahe nicht erkannt, als Lao das rußgeschwärzte Gesicht in die Kammer steckte. Seine Füße waren taub von den kalten Steinen, Lao trug eine Stoffhose und ein dünnes Hemd aus Leinen. Die Kleidung passte nicht und war zerrissen, er hatte sie aus einem Stapel alter, schmutziger Gewänder aus dem Keller gestohlen.

Der Knecht schlich auf den Gang und zog leise die Tür ins Schloss. »Lao? Warum die Verkleidung?«

Doch ohne eine Antwort auf den Lippen reichte der Junge Yun das Schwert. »Du musst für mich darauf aufpassen. Ich kann es nicht mitnehmen.«

»Mitnehmen wohin?« Zögerlich streckte der Knecht die Hände nach der Klinge aus, als wäre das Leder der Schwertscheide eine lebendige Schlange.

»Das kann ich dir nicht sagen, aber du wirst davon hören. In ein paar Tagen werden alle Männer in der Festung darüber sprechen.«

Über mich sprechen, wollte Lao sagen, doch der verwunderte Blick in den Augen seines Freundes weckte Zweifel in seiner Brust. Würden die Soldaten des Shu-Reiches ihn passieren lassen? Was würde geschehen, wenn die Männer auf der anderen Seite kein Herz besaßen?

»Komm, leg dich schlafen.« Yun ging einen Schritt auf ihn zu. »Ich habe ja mitbekommen, wie der alte Köter dich angefahren hat. Mach dir nichts daraus.«

Lao schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Zeit mehr, Yun. Versprich mir, dass du auf mein Schwert achtgibst. Es gibt im ganzen Reich keine zweite Klinge wie diese.«

Lao drückte seinem Freund das Schwert in die Hand und wandte sich hastig um, ehe der etwas erwidern konnte. Mach es gut! Stumme Worte, nur in seinen Gedanken. Lao rannte durch die Kellergänge zu den Treppen, die hinauf zum Hof führten.

Der alte Plan. Ich kann gehen, Vater. Er hatte beschlossen, dass er der Mann sein würde, der sich in die Linien des Feindes schlich. Keine Spione, keine Deserteure. Nur ein mutiger Junge. Um große Kleider zu tragen, musste man wachsen. Im Schatten einer Festung gedieh nur Unkraut, keine Krieger.

Die Kammer stand offen, der Junge hielt eine der Fackeln von den Wänden in den Händen und leuchtete hinein. Es war ein breiter Raum, in dem Eimer, Werkzeuge, Lanzen, Bögen und Pfeile gelagert wurden.

Lao atmete durch, es war ein kurzer Weg von den Kellern bis in das erste Stockwerk gewesen, doch die Gänge des Fan-Schlosses waren gespickt mit Wachen. Und Männern, denen das Grauen den Schlaf raubte, aber Lao hatte sich unbemerkt an den Wänden entlang getastet.

Das Herz in seiner Brust schlug so laut, dass Lao glaubte, es würde wie Glockenschläge von den Wänden hallen. Vorsichtig stieg der Junge über einen zerbrochenen Besen. Pfeilspitzen übersäten den Boden, am Ende der Kammer blieb er vor einem Stoß aus Leitern stehen. Es waren Strickleitern mit Holzsprossen, aufgerollt zu Bündeln, die so breit wie Wagenräder waren.

Yun und er waren oft über die Mauern spaziert und hatten darüber nachgedacht, wie sie der Festung entfliehen konnten, wenn einmal der Feind durch die Tore drang. Der Weg hinaus führte über die Zinnen. Über die Mauern, bis hinunter auf den Boden. Lao musterte die Bündel. Die Tore waren verschlossen, und die Männer würden ihn an den Haaren zurück in den Keller schleifen, wenn er versuchen würde, sie zu öffnen und das Fan-Schloss zu verlassen. Es gab nur diesen Weg.

Das Fackellicht warf tanzende Schatten an die Wände, als Lao die Fackel in der Halterung verstaute. Sein Magen rebellierte. Es war ein großer Schritt, sich seinem Vater zu widersetzen und aus dem Schloss zu schleichen. Ein starkes Herz, Lao, sagte er sich. Du musst tun, was notwendig ist.

Er reckte die Arme nach oben und zog an einem Bündel, es knallte unter Scheppern vor seine Zehen. Lao sprang erschrocken zurück und stieß dabei einen Stapel Holzeimer um. Er presste die Lippen zusammen, um ein Fluchen zu unterdrücken. Er war laut wie ein betrunkener, pöbelnder Soldat. Er konnte nur hoffen, dass sich niemand auf den Gängen in die Nähe der Kammer verirrt hatte. Er ging in die Knie und hob das Bündel an. Es war schwer, nur mit Mühe konnte Lao es bis zur Tür bugsieren.

Er lauschte. Nur die Nacht und das Säuseln des Windes. Es waren keine Schritte zu hören, dennoch verharrte er eine Weile hinter der Tür, bevor er sich hinauswagte. Es war so finster, dass er kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Er rollte das Bündel bis zu den Stufen, die zum Nordturm führten. Flüstern und Knistern im Mauerwerk, Lao sah sich um. Manchmal glaubte er, Geister in den alten Gängen zu sehen. Schatten, die nicht hierhergehörten. Vielleicht waren es die Seelen derer, die auf der Ebene gefallen waren. Lao schauderte bei dem Gedanken. Verirrte Seelen. Ohne sich umzusehen, eilte er zum Turm hinauf.

Wind und Regen peitschten in sein Gesicht, als der Junge durch die große Holztür nach draußen trat. Er war durch den Nordturm gegangen, dessen Türen nur dann verschlossenen waren, wenn General Pang De sich in dem Zimmer zurückzog. Große Männer brauchten Raum, um wichtige Entscheidungen zu treffen, hatte sein Vater gesagt. Die Kammer im Nordturm schien größer als die der anderen Türme zu sein. Große Männer, große Räume.

Fackeln erhellten die Nacht, obwohl der Regen unbändig gegen die Flammen peitschte, waren sie nicht erloschen. Lao sah sich um.

Sie mussten hier sein, irgendwo.

Er lächelte. Die Steine unterhalb der Zinnen standen faustbreit hervor, es war Yun in der ersten Nacht so deutlich aufgefallen, dass es Lao nicht gewundert hätte, einen Dieb zum Freund zu haben.

Lautlos glitt die Leiter in die Dunkelheit, als der Junge sie über die Mauer warf. Er schluckte. Die Mauer war leer, niemand würde sehen, wie er aus der Festung verschwand. Niemand würde ihn zurückhalten. Nur das Ungewisse. Lao warf einen Blick über die Mauer, der Abgrund klaffte wie ein finsterer, zugiger Schlund vor ihm.

»Es gibt nichts, vor dem du dich fürchten musst«, flüsterte er sich zu. »Ein starkes Herz.«

Vielleicht würde er es mit dem Leben bezahlen, aber Lao würde lieber am Boden vor der Festung zerschellen, als noch einen Tag den herablassenden Blick des Köters zu sehen. Die oberste Sprosse unter den Steinen verankert, wagte der Junge den Schritt in die Nacht.

Yun würde es nicht glauben, wenn er ihm davon erzählte. Lao hatte keine Angst vor der Höhe, doch der Regen machte die Sprossen rutschig. Mit einem flauen Gefühl setzte er den nackten Fuß auf die erste Sprosse. Sie waren schmal, waren sie das schon immer gewesen? Lao konnte den Boden nicht sehen. Noch waren die Mauern neben ihm, noch konnte der Junge zurückgehen. Er schüttelte den Kopf. »Nein. Es gibt keinen Weg zurück.«

Nasse Haarsträhnen hingen wie ein Schleier aus Spinnenweben vor seinem Gesicht. Lao stieg drei Stufen nach unten. Vier. Fünf. Er hob den Blick nicht, er starrte auf seine Hände, die begierig nach den Sprossen griffen. Die Leiter schwankte, als wären es nicht Regentropfen, sondern die Sturmböen, die an den Seilen zerrten. Plötzlich glaubte er, Stimmen zu hören. Lao hielt inne und sah auf, sein Herz klopfte hörbar. Das schwache Licht der Fackeln spiegelte sich auf den nassen Steinen, aber Lao konnte nicht erkennen, ob sich Soldaten auf den Mauern aufhielten.

Es spielt keine Rolle. Weiter, Lao, nur weiter.

Er stieg schneller die Leiter hinab. Seine dünne Kleidung verbarg ihn nicht vor den eisigen Fingern der Nacht. Kälte kroch in seinen Körper, wie Gift lähmten sie seine Fingerspitzen. Je tiefer er kletterte, desto schwerer fiel ihm der Griff an das Seil und die Sprossen. Das garstige Wetter machte ihm zu schaffen, er musste sich eingestehen, dass er die Flucht unterschätzt hatte. Lao löste eine Hand und hauchte dagegen, doch er nahm die Wärme seines Atems kaum wahr.

Er dachte an seine Mutter. Zu Hause war es warm, wenn er mit ihr vor dem Ofen gesessen hatte. Sobald die Männer den Fluss zurückerobert hatten, würden er und sein Vater zurück zu ihr gehen. Und sie würde stolz auf ihn sein.

Plötzlich verlor er den Halt. Sein rechter Fuß glitt von der rutschigen Sprosse. Lao klammerte sich mit der Hand am Seil fest, doch es war zu spät. Seine Finger waren so taub, dass sie ihn kaum halten konnten. Wie tief würde er fallen? Schemenhaft glaubte Lao, wehende Wipfel unter sich in der Finsternis erkennen zu können. Aber die Nacht war ein Verräter.

Halt dich fest, Lao, halt dich fest!

Jeder Muskel in seinem Körper war angespannt. Er konnte nicht schreien, seine Stimme schien genauso verstummt wie der Herzschlag in seiner Brust. Er zitterte beim Versuch, die Füße zurück auf die Sprossen zu setzen, doch er hatte keine Kraft mehr.

Er fiel.

 

Er sah die Wiese vor dem Haus seiner Eltern.

Der Horizont war so klar, dass Lao sogar die roten Dächer der Hauptstadt sehen konnte. Er war nicht allein. Unter einem Baum saß ein kahlköpfiger Junge, er kannte ihn und dennoch schien er ihm so fremd, dass Lao nicht einmal sein Name einfiel. Yang. Zhang. Yun. Der Stallknecht. Doch er war jünger, als Lao ihn in Erinnerung hatte.

Eine Herde Schweine rannte hinter dem Baum hervor und stieß Lao zu Boden, eine Klaue bohrte sich in seine Schulter und ließ ihn aufschreien. Der Schmerz raubte ihm den Atem, der Junge rang nach Luft und wand sich am Boden. Nasses Gras, er konnte es auf den Lippen schmecken. Dann hörte er das Rauschen von Regen.

 

Am Leben.

Es war der einzige Gedanke, den Lao fassen konnte, als er die Augen öffnete. Die Wiese und die Schweine waren verschwunden. Es hatte sie nie gegeben, so wie Lao nie die roten Dächer der Hauptstadt in der Ferne hatte sehen können. Nur ein Traum, der seinen Sturz gelindert hatte. Er konnte sich an die Dunkelheit erinnern, die ihn verschluckt hatte, nicht aber an das Fallen. Die Kälte in den Händen ließ ihn jedoch nicht vergessen, was ihn von der Leiter gestoßen hatte.

Lao lag auf dem Bauch, sein linker Arm schmerzte, doch er schien nicht tief gefallen zu sein. Er hob den Kopf und spürte etwas Warmes am Kinn. Mit einem Stöhnen drehte Lao sich auf die Seite und fuhr mit der Hand an den Mund. Blut. Der Junge hatte sich das Kinn aufgeschlagen.

Er lag unterhalb eines Hügels, ein paar Schritte von der Mauer entfernt. Mühsam hievte er seinen Oberkörper nach oben. Jeder Muskel schmerzte, Lao biss sich auf die Unterlippe. Sein Kopf dröhnte.

»Elender Mist«, stöhnte er. Es war kein guter Anfang für eine Nacht, die alles ändern sollte. Eine Nacht, die Lao auserkoren hatte, die eine zu sein, die aus ihm einen Soldaten machen sollte.

Der Junge erschrak. Er glaubte, den Klang von Schritten auf nassem Gras zu hören. Aber hier war niemand, oder? Er sah sich um und entdeckte Fackellicht am Fuß der Mauer.

Er fluchte.

Natürlich, es hielten immer Männer in der Nähe der Tore Wache. Lao sprang so schnell auf die Beine, dass seine Knochen unter der Last des Körpers ächzten. Er konnte sich nur schwer aufrecht halten, der Sturz saß beißend in seinen Gliedern, doch es gelang ihm, den Hügel entlang zu einer Böschung zu eilen. Keine Zeit. Wenn die Soldaten ihn fanden, würden sie ihn zurück in die Festung bringen. Ehe die Lichter sich den Büschen unterhalb des Hügels näherten, war Lao in die Nacht entschwunden.

Nur schwach drang der Mond durch die Wolkendecke. Er war nicht allein, im diffusen, silbrigen Licht sah er vereinzelt Gestalten auf der Ebene. Doch niemand beachte ihn, niemand wandte sich um – alles so, als wäre er nicht hier.

Lao hielt inne und griff nach dem Amulett. Es war warm. Der Junge spürte den Herzschlag in seiner Brust, er war am Leben. Noch immer am Leben. Für einen Moment hatte Lao geglaubt, gestorben zu sein. Sich das Gefühl des Regens auf der Haut und den Schlamm, der zwischen seinen Zehnen aufquoll, nur einzubilden. Ein verirrter Geist, der niemals den Weg zu den Ahnen fand.

Er ballte die Hände. Nein. Der Schmerz in seinem Körper war echt. Lao ließ die Münze am Hals los und stampfte über das niedrige Gras. Erst jetzt sah er die Toten, die wie umgestürzte Statuen am Boden lagen. Rüstungen und Helme fehlten, sie waren so zahlreich, dass er nicht den Blick von ihnen wenden konnte. Leere Augen. Graue Haut. Aufgeschnittene Gesichter. In der Luft hing der Gestank von Verwesung und Urin.

Er stieg über die leblosen Körper. Der Krieg hatte Lao den Anblick toter Leiber beinahe vertraut gemacht wie sein eigenes Gesicht. Er schien dem Tod in dieser Nacht näher zu sein als in den vielen Stunden im Kellergewölbe der Festung.

»Aber er kriegt mich nicht.« Ein Schwur. »Ein Krieger braucht ein starkes Herz.«

Er sah die Soldaten an. Der Schrecken des Krieges machte Männer namenlos, es war nicht zu erkennen, für welche Seite die Toten gekämpft hatten. Aufgequollene Gesichter, die von Schmerz erzählten. Der Junge fragte sich, ob es jemals Frieden geben würde. Er glaubte daran, dass es das Richtige war, was der Kriegsherr von ihnen verlangte. Es könne nur Frieden geben, wenn Wei die Schlacht gewann.

»Ein blutiger Frieden«, säuselte Lao den tauben Ohren der Toten zu. Es war ein fürchterlicher Anblick.

Lao legte den Kopf in den Nacken, um die Soldaten nicht länger ansehen zu müssen. Ein Leben war kostbar. Vielleicht würde es ohne Bedeutung sein, wenn er herausfand, was am Fluss geschehen war. Vielleicht würde der Köter ihn schlimmer drangsalieren als zuvor. Doch auf einmal spielte es keine Rolle. Wenn er die Toten auf der Ebene sah, wünschte er sich nur eines: an die Hand des Vaters.

Jeder Schritt schmerzte, er spürte noch immer den Sturz in der Schulter und den Beinen. Nur unter Kraft und Mühe kam er auf dem sumpfigen Gelände voran.

Seine Knöchel versanken im Schlamm. »Elender Mist.«

Lao hatte sich weit von der Festung entfernt. Er kämpfte sich voran. Die Nacht ließ ihn frösteln, in der Ferne sah Lao Lichter. Es war der Schein von Feuer. Fackeln. Sie trotzten dem Regen. Eine Kochstelle in einem Lager vielleicht. Ein Ort, an dem die Männer sich wärmten. Es brannte zu nah an den Linien des Feindes, um von den eigenen Soldaten zu sein. Ein Lächeln legte sich auf sein Gesicht.

Er blieb neben einem Baum stehen und atmete die kühle Nachtluft. Es roch modrig und süßlich in dem Waldstück. Die Ebene war nur an einigen Stellen dichter bewachsen. Der Regen verfing sich raschelnd in den Kronen. In der Ferne dämmerte es, hinter den Lichtern konnte der Junge die Umrisse von Hügeln erkennen, die wie Geschwüre aus dem Boden wucherten. Dort hatte das feindliche Reich seine Lager errichtet.

Er streckte den Arm aus und strich mit den Fingerkuppen über die nasse Rinde, während er durch den Wald ging. Wind wehte durch die Büsche und ließ die Kleidung des Jungen so kalt erscheinen, als wären sie aus Eis gemacht. Seltsam einladend loderten die Feuer des Shu Han-Reiches am Rand des Waldes, er dachte daran, sich zu den fremden Soldaten zu gesellen. Sich heimlich an das Feuer zu stehlen und Brot oder Reis zu essen. Ein dummer Gedanke, sie würden eine Klinge in seinen Leib rammen, bevor er die Hand zum Gruß gehoben hatte.

Plötzlich näherten sich Schritte.

»Bleib stehen!« Eine barsche Stimme von jenseits der Bäume. Lao rannte, doch jemand griff seine Schulter und riss ihn zu Boden. Eine Säbelspitze bohrte sich in seine Brust.

»Das ist ein Kind.« Ein zweiter Mann tauchte hinter den Bäumen auf. Die Soldaten trugen kurze Lamellenrüstungen und blaue Gewänder. Shu.

»Hast du gehört, das ist ein Kind«, wiederholte der Mann. »Lass ihn los.«

Der Mann mit dem Säbel starrte Lao an. Die schwarzen Brauen dicht und struppig, das Kinn kahl und das Haar kurz geschoren. Er war kräftig und jung, vielleicht um die zwanzig. In seinen Augen steckte so viel Boshaftigkeit wie Nässe in seinen Kleidern. Der zweite Soldat schien älter zu sein.

»Wenn schon, der hat hier nichts zu suchen.« Der Jüngere fuhr mit dem Säbel nach oben und drückte Lao die Schneide an den Hals. »Wer bist du?«

Der Junge hatte so viel Angst, dass er sich beinahe in die Hose machte. Er spürte den Atem des Soldaten im Gesicht, noch nie war er dem feindlichen Reich näher gewesen als in diesem Augenblick. Lao stotterte, kein Wort wollte deutlich über seine Lippen rollen, als hätte er das Sprechen verlernt.

Der Jüngere grunzte. »Stechen wir ihn ab, der Junge stirbt sowieso heute Nacht.«

Der zweite Mann drängte sich zwischen Lao und dem Soldaten, er fuhr seinen Gefährten scharf an. »Das ist ein Junge, keines der Wei-Schweine. Sieh ihn dir doch an, halb verhungert und erfroren.« Er lächelte Lao an. »Hast du dich verirrt, Junge? Du solltest nicht hier sein. Es ist ein Schlachtfeld. Du kannst froh sein, dass du noch am Leben bist.«

Der freundliche Soldat erinnerte ihn an seinen Vater. Als Lao in das warme Lächeln des Mannes blickte, spürte er die Tränen auf den Wangen.

Jetzt, Lao! Nun gilt es.

»Ich bin allein.« Es war ihm nie leichtgefallen, eine Lüge zu erzählen, doch der Gedanke an den Vater lockerte die Zunge des Jungen wie Wein. »Meine Eltern sind tot. Wir hatten ein Haus in der Nähe der Festung. In einem Dorf. Dann sind die Männer gekommen.« Der Junge stellte sich vor, wie es wäre, wenn Fremde in sein Dorf eindringen würden. Der Gedanke war schmerzlich, er weinte. »Sie haben alles niedergebrannt. Jedes Haus, jede Scheune. Da waren so viele Schreie ... «

»Elende Wei-Schweine!« Der jüngere Soldat stieß wütend mit dem Fuß auf. »Das sind Tiere, keine Menschen. Wir sollten sie abschlachten.«

Laos Magen verkrampfte sich. Es waren Feinde, sie hassten sein Reich. Sie würden ihn töten, wenn sie herausfänden, wer er war. Lao wollte davonlaufen, doch er konnte sich nicht rühren. Die Angst lähmte ihn. Es war zu spät, wenn er jetzt ging, würde das Lügengeflecht zerreißen, das ihm den Weg zum Fluss ebenen sollte.

»Du wolltest den Jungen vor einem Herzschlag noch aufspießen, also nimm dich zurück.« Der ältere Mann legte Lao sanft die Hände auf die Schulter. »Du kommst mit uns, es ist gefährlich. Wir sind vielleicht die Letzten hier draußen.«

Die Letzten wovon? Doch Lao fragte nicht.

Der Regen wurde stärker, er schlug so heftig in die Wipfel der Bäume ein, dass Lao die Worte des freundlichen Soldaten nur schwer verstehen konnte. Der Mann war von gedrungener Gestalt. Er hatte schmale, braune Augen und eine hohe Stirn. Ein spitzbübisches Lächeln umspielte seine Mundwinkel. An den Wangen trug er einen dichten Bart, der am Kinn gestutzt war.

»Mir ist kalt«, sagte Lao. »Und ich bin hungrig.«

Der Jüngere blickte Lao missmutig an, wieder zückte er seine Klinge. »Der redet wie ein Wei.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739445526
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (März)
Schlagworte
Helden wuxia reiche fantasy china liebe abenteuer Historisch Fantasy

Autor

  • Lily Ashby (Autor:in)

Lily Ashby wurde 1986 in Sachsen-Anhalt geboren. Nach dem Abitur verschlug es sie nicht nur beruflich in verschiedene Richtungen. Das Leben ist zu kurz, um nur an einem Ort zu verweilen. Die schönen Künste haben es Ashby genauso angetan wie die rauen Seiten, die das Leben bereithält. Schon von klein auf war sie nicht nur fasziniert von Literatur und Theater, sondern auch vom Wilden Westen, der Seefahrt und den Dingen, die uns immer wieder straucheln lassen. Ashby lebt in Nordrhein-Westfalen.
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Titel: Der Pfad des Lao Chen