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ANGST: Kurzgeschichtenband

Psychohorror

von Ben Kohler (Autor:in)
140 Seiten

Zusammenfassung

Ein Polaroid, das sich rückwärts entwickelt. Eine Autofahrt, die zum Alptraum wird. Ein kleines Mädchen verschwindet vor den Augen ihrer Mutter. Ein berauschender Abend mit einer schrecklichen Entdeckung. Die Veränderung eines Familienvaters mit fatalen Folgen. Fünf Kurzgeschichten, die mit unseren alltäglichen Ängsten spielen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

 

Polaroid 16

Sarah 43

Todesangst 72

Versteckt 99

Dämonen 127

 

Danke 167

Content Notes 172

 

Grußwort

Kurzgeschichten sind so eine Sache.

Auf der einen Seite zu kurz, um als eigenständiges Werk veröffentlicht zu werden, auf der anderen Seite thematisch oft zu weit voneinander entfernt, um in einem Buch zu erscheinen.

So sammelten sich im Laufe der letzten Jahre einige Geschichten an, die allesamt ganz unten in meiner digitalen Schublade lagen und auf ihren großen Tag gewartet haben. Dieser ist jetzt gekommen, ohne dass es Absicht oder gar geplant gewesen wäre.

Alle Erzählungen entwickelten im Laufe des Schreibprozesses eine Art Eigenleben (was mir, offen gestanden, bei allem passiert, was ich schreibe). Sie wuchsen, veränderten sich und erzählen am Ende ihre eigene Tragödie. Und wer bin ich, meinen Geschichten sagen zu können, wie sie entstehen, fortlaufen oder enden sollen? Also lasse ich den Dingen ihren Lauf, lasse mich von ihnen fesseln und in ihren Bann ziehen und bin jedes Mal selbst überrascht, wohin sie mich am Ende führen.

Corona hat vielen von uns, mich eingeschlossen, mehr Zeit verschafft als uns vielleicht lieb war (oder immer noch ist), und wie nutzt man diese Zeit als Autor am besten? In dem man schreibt? Auch, natürlich. Ich nutzte die gewonnene Zeit, alte Geschichten hervorzuziehen, in meiner digitalen Ablage Ordnung zu schaffen und auszusortieren. Dabei fiel mir auf, dass es offenbar doch ein paar dieser Kurzgeschichten geschafft hatten, sich einem Thema zu verschreiben.

So entstand die Idee zu diesem Kurzgeschichtenband. Jede Erzählung beschäftigt sich mit dem Grundthema Angst. Geboren sind sie aus meinen eigenen Ängsten heraus, sind also sehr präsent und, wenn man so will, alltäglich und allgegenwärtig.

Insgesamt haben es fünf Kurzgeschichten in diesen Band geschafft.

 

Die Erste, Polaroid, ist zugleich die älteste von ihnen. Die Idee dazu entstand 2017, als ich nachts in meinem dunklen Badezimmer stand und ein seltsames Tropfgeräusch hörte, dessen Ursprung ich nie ausmachen konnte.

Die Inspiration für Sarah lieferte meine Tochter, als wir von einem Familientreffen nachhause fuhren und sie unvermittelt anfing, unheimliche Grimassen zu schneiden.

Meine Tochter war es auch, die Todesangst beeinflusste, weil ich in dieser Geschichte die mir ständig gegenwärtige Angst ihres plötzlichen Verschwindens verarbeitet habe.

Versteckt schrieb ich im Zuge einer Ausschreibung für eine Anthologie. Sie wurde nicht aufgenommen und schlummerte beinahe ein Jahr lang auf meinem Rechner, bis ich begann, sie komplett zu überarbeiten und nun davon überzeugt bin, dass sie es verdient hat, veröffentlicht zu werden.

In der letzten Geschichte, Dämonen, verwandelt sich ein liebevoller und liebender Familienvater in die schlimmste Version seiner selbst.

 

Wir alle kämpfen mit den unterschiedlichsten Ängsten. Das Treibholz in unserer Seele aber, die auslösenden Faktoren, sind vermutlich bei allen Menschen gleich. Ich bin davon überzeugt, dass auch Du eigene Ängste in den Geschichten wiederentdecken wirst.

 

Begib Dich in die Abgründe Deiner ganz eigenen Angst. Ich wünsche Dir dabei viel Vergnügen.

 

Dein Ben Kohler

 

 

 

 

 

 

Polaroid

Immer diese Blase. Im Alter wird es schlimmer, sagt man. Aber Tom Leander hätte nicht gedacht, dass es so schnell gehen würde. Anfang vierzig, nicht gerade das, was man als Alter bezeichnen würde. Und doch muss Tom dem Badezimmer mindestens einmal pro Nacht einen Besuch abstatten.

Er sieht auf die Uhr, 4.14 Uhr. Verdammt. In weniger als zwei Stunden klingelt der Wecker. Diese Drecksblase! Hätte sie die zwei Stunden nicht noch aushalten können? Offensichtlich nicht. Tom spürt den Druck, die Spannung in seinem Unterleib. Wenn er sich jetzt mit dem Finger gegen die Bauchdecke schnippen würde, er könnte für nichts garantieren.

Es ist kalt – typisch für Januar. Er mag das so. Im Schlafzimmer heizt er nie. Die kalte Luft hilft Tom, zur Ruhe zu kommen, seine Gedanken zu sortieren. Er zieht die Decke zur Seite, spürt für einen kurzen Augenblick die sich bildende Gänsehaut, als die Kälte seine nackten Beine umschließt, und steht dann auf. Jetzt aber schnell, denkt er. Toms Schlafzimmer ist im Obergeschoss, unter dem Dach. Er mag die Schrägen, die vier großen Dachfenster, die ihm in klaren Nächten einen malerischen Blick auf den Himmel offenbaren. Eine alte Holztreppe führt nach unten in den Wohnbereich. Die drittletzte Stufe knarzt, es ist ihm egal. Er ist allein. Keine Frau, keine Kinder. Er ist gerne Single. Niemand, der ihm vorschreibt, wie er sein Leben zu leben hat.

Ohne Licht geht er bis ins Badezimmer. In seiner Wohnung kann er jeden Weg blind gehen. Er wohnt seit über zehn Jahren hier und hat seit seinem Einzug nichts verändert. Beständigkeit mag er, sie gibt ihm ein Gefühl von Sicherheit. Tom setzt sich auf die Toilette, das Licht lässt er ausgeschaltet. Der Mond wirft einen schwachen, bläulichen Schein durch das Fenster, das genügt vollkommen. Nur nicht zu wach werden, denkt er. Er schließt die Augen, entspannt sich und entleert seine Blase.

Plitsch. Plitsch. Plitsch.

Ein rhythmisches Tropfen. Es ist ihm vorher nicht aufgefallen. Mit geschlossenen Lidern und völliger Dunkelheit klingt es wie ein Donnern.

Plitsch. Plitsch. Plitsch.

Er öffnet die Augen, beugt sich, so weit er kann, nach vorne, um den Lichtschalter zu erreichen, schafft es und betrachtet sein hell erleuchtetes Badezimmer.

Plitsch. Plitsch. Plitsch.

Der Wasserhahn ist es nicht, kein Wassertropfen zu sehen, der sich an dem kleinen Sieb gebildet und ins Waschbecken hätte tropfen können. Er blickt nach links, zur Dusche. Die Glasscheibe sollte er mal wieder gründlich reinigen, denkt er und macht sich in Gedanken eine Notiz für den nächsten Tag. Tom beugt sich noch einmal nach vorne, um den Duschkopf sehen zu können. Nichts, kein Wasser, kein Tropfen.

Plitsch. Plitsch. Plitsch.

Er sieht sich um. Es gibt in seinem Badezimmer nichts, was dieses Geräusch hätte erklären können. Aber es klingt so nah, als wäre es – in seinem Kopf?

Plitsch. Plitsch. Plitsch.

Wird es lauter, oder bildet er sich das nur ein? Warum ist ihm das zuvor nie aufgefallen? Gibt es das nur in seiner Vorstellung? Ist er überhaupt wach? Sitzt er wirklich auf der Toilette, oder träumt er womöglich? Er zwickt sich in den Oberschenkel – autsch!

Er steht auf, zieht sich die Shorts nach oben und betätigt die Spülung. Um sicherzugehen, betrachtet er den Wasserhahn und den Duschkopf abermals aus der Nähe. Nichts. Er dreht das Wasser am Waschbecken auf und wäscht sich die Hände. Im Spiegel betrachtet er sein müdes Gesicht. Zu früh, definitiv zu früh. Er braucht dringend Schlaf. Die dunklen Ringe unter seinen grünen Augen leuchten wie zur Bestätigung in einem besonders düsteren Farbton.

Plitsch. Plitsch. Plitsch.

Da ist es wieder, der Hahn war noch aufgedreht. Er schließt ihn, geht zur Dusche und dreht dort ebenfalls das Wasser auf.

Plitsch. Plitsch. Plitsch.

Er stellt das Wasser wieder ab, schüttelt den Kopf, fasst sich an die Stirn und beschließt, wieder ins Bett zu gehen. Er wird sich das morgen in Ruhe ansehen, jetzt, mitten in der Nacht, kann er ohnehin nichts ausrichten.

Er liegt im Bett, die Decke bis ans Kinn hochgezogen und betrachtet den Nachthimmel durch das Dachfenster direkt über ihm. Was ist das? Er kann es sich nicht erklären, hat dieses Geräusch nie zuvor in seiner Wohnung gehört.

Plitsch. Plitsch. Plitsch.

Es hört nicht auf, scheint sogar mit jedem Mal lauter zu werden. Er dreht sich auf die andere Seite, schließt die Augen und presst ein Kissen auf das rechte Ohr. Die Uhr zeigt 4.36 Uhr – er muss schlafen! Ein arbeitsreicher Tag liegt vor ihm. Sein Job verlangt höchste Konzentration, ein Fehler könnte buchstäblich Menschenleben gefährden, auf jeden Fall sein eigenes. Er mag die Arbeit als Psychiater und die Betreuung von Straftätern ist für ihn die Königsdisziplin. Gewalttätige, psychisch kranke Menschen. Psychopathen, Soziopathen und alles dazwischen.

Plitsch. Plitsch. Plitsch.

Es macht ihn wahnsinnig. Er wirft sich auf die andere Seite, presst das Kissen jetzt gegen das linke Ohr und kneift die Augen ein paarmal so fest zusammen, dass sie schmerzen. Auf dem Inneren seiner Augenlider schimmern die Umrisse seines Schlafzimmers, wie Nebel über einem Feld im Herbst. Aber es hört nicht auf, wird lauter und lauter. Der Mond legt das Zimmer in dasselbe, bläuliche Licht wie sein Bad. Die Luft ist kalt, auf den Dachfenstern liegt eine dünne Schneeschicht, dicke Flocken fallen vom Himmel. Der Wind verwirbelt den frischen Schnee auf den Scheiben. Es hat etwas Anmutiges und sehr Beruhigendes. Er schließt die Augen, seine Lider sind schwer und er merkt, wie der Schlaf die Oberhand über seinen Körper zurückgewinnt.

Plitsch! Plitsch! Plitsch!

Er schreckt hoch. Auf dem Wecker steht in grünen, großen Ziffern 4.37 Uhr.

Plitsch! Plitsch! Plitsch!

Er schwingt die Beine aus dem Bett, schaltet das Licht ein, streift sich ein T-Shirt über, schlüpft in seine Jeans und geht die Treppe nach unten. Die drittletzte Stufe knarzt, Tom nimmt es kaum wahr.

 

***

 

Frank Delbenhorst ist knapp siebzig Jahre alt, hat volles, graues Haar und stahlblaue, tiefe Augen. Sein Blick ist durchdringend, beinahe einnehmend. Er ist hager, groß gewachsen und hat einen übertrieben aufrechten Gang, wie man ihn sonst nur bei Schwimmern oder Reitern zu sehen bekommt. Sicher ist er als junger Kerl ein Frauenheld gewesen. Nun aber sitzt er seit mehreren Jahren in der geschlossenen psychiatrischen Anstalt und wird diese erst nach seinem Tod wieder verlassen.

In jener Nacht schläft er nicht. Frank sitzt am Fenster und blickt in den Himmel. Es hat zu schneien begonnen. Die großen, trockenen Flocken tanzen im Wind und verwirbeln vor seinem Fenster zu Mini-Tornados. Diejenigen, die auf die Scheibe treffen, schmelzen sofort und hinterlassen kleine Bäche, die das Fenster nach unten laufen. Er betrachtet die winzigen Rinnsale und schließt mit sich selbst Wetten ab, welche zuerst am unteren Fensterrahmen ankommen wird.

Zwischen Zeige- und Ringfinger seiner rechten Hand klemmt eine Zigarette. Sie brennt nicht, rauchen ist innerhalb der Klinik untersagt, aber sie beruhigt Frank. Dass sie aus Holz ist, stört ihn nicht, es geht ihm nur um die orale Befriedigung und das Gefühl, sie zwischen den Fingern zu halten. So sitzt er da, die Minuten verstreichen, aber er hat keine Eile.

 

***

 

Tom streift durch die Wohnung wie ein aufgescheuchtes Tier. Er hatte alle Wasserhähne überprüft, was schnell erledigt war, viele gibt es davon schließlich nicht. Keiner tropft. Als Nächstes hat er die Heizkörper untersucht, aber auch die sind still. Kühlschrank, Spül- und Waschmaschine, Kaffeemaschine, alles ohne Befund.

Plitsch! Plitsch! Plitsch!

Es hört nicht auf, wird lauter und durchdringender. Irgendwo muss die Quelle von diesem verdammten Geräusch sein! Er bildet sich das nicht ein. Unmöglich. Eine halbe Stunde später hat er alle Schubladen aus ihren Schränken gerissen, der Inhalt liegt verstreut auf dem Boden. Töpfe, Tassen, Teller, Besteck, Putzzeug, Bücher und Zeitschriften, Kleidung und Lebensmittel. Alles, was sich in seiner Wohnung befindet, verteilt sich nun auf dem Fußboden.

Nichts. Kein Hinweis auf den Ursprung dieses nervtötenden Plitschens. Er presst die Hände gegen die Ohren und schreit, so laut er kann. Schweißperlen stehen auf seiner Stirn, sein T-Shirt ist vollkommen durchnässt.

Plitsch! Plitsch! Plitsch!

Er wird verrückt. Er könnte es medizinisch erklären, die Wellen, die durch seinen Körper jagen, seinen Verstand vernebeln. Aber er ist nicht mehr imstande, klar zu denken. Überhaupt zu denken. Er nimmt die Veränderung seines Bewusstseins wahr, hat das bei Patienten unzählige Male erlebt. Und er kann nichts dagegen tun. Sein Kopf funktioniert nicht mehr richtig, die Geräusche übertönen jeden Gedanken und jeden Augenblick der Ruhe.

Er denkt kurz darüber nach, sich mit einer Stecknadel die Trommelfelle durchzustechen. Die Aussicht auf Stille scheint ihm ein angemessener Preis für den Schmerz zu sein. In seinen Ohren rauscht es, als stünde er in einer Höhle direkt am Meer. Wellen schlagen unablässig gegen die hohen Wände und erzeugen ein sich ständig wiederholendes Echo.

Er schreit, kann sich aber selbst kaum hören. Sein Kopf droht jeden Moment zu platzen wie eine überreife Tomate bei dem Versuch, sie mit einem stumpfen Messer zu zerschneiden. Das Plitschen wird lauter und durchdringender, mit jedem neuen »Plitsch!« rast ein Tsunami aus Schmerzen durch seinen Körper.

Er schlägt den Kopf gegen die Wand. Ihm wird schwarz vor Augen, Sterne tanzen, ein Feuerwerk explodiert in seinem Gehirn. Blut rinnt ihm von der Stirn über den Nasenrücken bis zum Mund. Es schmeckt nach Eisen und ein wenig süß. Er taumelt, kann sich gerade noch an einem Stuhl festhalten, bevor er umzukippen droht. Schmerz jagt durch seinen Körper wie eine Gasexplosion durch einen schmalen Schacht.

Er sitzt vornübergebeugt auf dem Stuhl, Blut tropft auf den Boden. Die Augen geschlossen tastet er nach der Wunde an seiner Stirn. Es brennt höllisch, als er mit den Fingern vorsichtig über den offenen Schnitt streicht. Das muss auf jeden Fall genäht werden, denkt er, und schüttelt ganz langsam den Kopf. Was war nur mit ihm passiert? Wie konnte er so ausrasten? Er öffnet die Augen und betrachtet seine Wohnung. Es wird Stunden dauern, alles wieder in Ordnung zu bringen. Er sieht auf die Uhr, 5.49 Uhr. Tom zieht das Mobiltelefon aus seiner Hosentasche und tippt eine SMS an seine Schwester. Er hat Mühe, die kleinen Tasten zu treffen und es dauert eine Ewigkeit, bis er »Ich kann nicht mehr! Hilf mir!«, geschrieben hat.

Plitsch! Plitsch! Plitsch!

Da ist es wieder. Es war nie weg. Und es ist lauter als zuvor. Er lässt das Telefon zu Boden fallen, steht auf und geht ins Badezimmer. Licht an, stechender Schmerz direkt hinter den Augen, Spiegelbild. Ein entsetzlicher Anblick. Mit einem Handtuch wischt er sich halbherzig das Blut aus dem Gesicht. Eigentlich ist es ihm egal. Das Geräusch wird lauter, mit jedem Mal. Er muss die Wohnung verlassen, hier kann er unmöglich schlafen. In meine Praxis, denkt er. Tom geht aus dem Bad, lässt das Licht eingeschaltet, zieht sich Schuhe und Jacke an, greift nach dem Schlüsselbund und verlässt die Wohnung.

 

***

 

Magdalena ist Krankenschwester und hat noch gute zehn Minuten bis zum Ende einer weiteren, langweiligen Nachtschicht. In dem kleinen Krankenhaus außerhalb der Stadt passiert nicht viel, die meisten Patienten sind keine Notfälle, die Nächte sind häufig ruhig. Leicht verdientes Geld, aber auch eintönig.

Sie liegt auf einem der Nachtbetten für das Personal und spielt Fruit Ninja auf ihrem iPhone, als ein leises Piepen eine SMS von ihrem Bruder ankündigt. Magdalena liest sie, setzt sich angespannt auf die Bettkante, dann liest sie die SMS ein zweites und ein drittes Mal. Sie tippt auf den kleinen Hörer in der oberen Ecke des Displays und wartet nervös auf den Verbindungsaufbau. Es klingelt, aber Tom nimmt nicht ab.

Mit den Zähnen bearbeitet sie ihre Unterlippe, tippt ein weiteres Mal auf den Hörer, immer wieder, während sie ihre Straßenschuhe aus dem Spind holt und sich die Jacke anzieht. Der kleine Digitalwecker auf dem Nachttisch zeigt 5.58 Uhr, man wird ihr die zwei Minuten verzeihen. Ihre Kollegin ist bereits um halb sechs zum Schichtwechsel erschienen. Sie stürmt aus dem Zimmer, immer noch das Telefon am Ohr und rennt den Gang entlang Richtung Ausgang.

»Muss los!«, brüllt sie, als sie am Schwesternzimmer vorbeikommt. Ihre Kollegin ist zu verdutzt, um schnell genug zu reagieren. Zwei Minuten später sitzt Magdalena in ihrem Auto und drückt aufs Gas.

 

***

 

Draußen ist es kalt, aus dem leichten ist mittlerweile kräftiger Schneefall geworden. Die Straße ist glatt. Tom geht in die Tiefgarage, setzt sich in seinen Wagen, startet den Motor und macht sich auf Richtung Innenstadt. Seine Kopfschmerzen sind unerträglich, als wäre ihm eine Dampfwalze über den Schädel gefahren. Er ärgert sich über sich selbst. Darüber, dass er nicht viel früher auf die Idee gekommen ist, in seiner Praxis zu schlafen. Und darüber, dass er den Kopf gegen die Wand gedonnert hat. Was soll’s, jetzt ist er unterwegs. Raus aus der Wohnung, die ihn mit diesem –

Plitsch! Plitsch! Plitsch!

Das Geräusch ist mittlerweile so laut, dass er seine eigenen Gedanken nicht mehr greifen kann. Als würde eine große Bassbox mitten in seinem Schädel wummern. Oder ein überdimensional großer, tropfender Wasserhahn. Tom schüttelt den Kopf, was eine Explosion an Schmerzen lostritt! Das Gaspedal bis zum Anschlag durchgedrückt rast er die Bundesstraße entlang, in der Hoffnung, er könnte dem Geräusch entfliehen. Aber es wird lauter. Lauter. LAUTER! Es hämmert in seinem Kopf, durchdringt seinen ganzen Körper wie eine Flutwelle aus Schall und Schmerz. Tom schließt die Augen, presst die Lippen aufeinander, will schreien, bringt aber keinen Ton heraus. Fast hätte er die Hupe überhört.

Er reißt die Augen auf, sieht, dass er auf die Gegenfahrbahn geraten ist und sich auf direktem Kollisionskurs mit einem anderen Auto befindet. Die schneebedeckte Straße macht es unmöglich, scharf zu lenken, ohne die Kontrolle über den Wagen zu verlieren. Die Vorderräder rutschen, das Heck schleudert nach links und droht, ihn zu überholen. Er kurbelt wie verrückt, versucht gegenzulenken, der Wagen reagiert nur mit erheblicher Verzögerung. Alle Warnsymbole des Bordcomputers leuchten auf, blinken um die Wette und die Assistenzsysteme liefern sich einen erbitterten Kampf gegen Eis und Schnee. Irgendwie gelingt es ihm, die Kontrolle zurückzuerhalten.

 

***

 

Magdalena heizt die Bundesstraße entlang, so schnell es das Wetter zulässt. Sie kneift die Augen zusammen. Das Schneetreiben ist so dicht, dass das Licht der Scheinwerfer kaum fünfzig Meter weit leuchtet. Das Radio hat sie ausgeschaltet, die Heizung läuft auf Hochtouren. Seit sie das Krankenhaus verlassen hat, versucht sie unentwegt, ihren Bruder zu erreichen. Als sie erneut auf das Telefonsymbol tippen will, tauchen unvermittelt Scheinwerfer direkt vor ihr auf. Sie lässt das Telefon fallen und presst die Hand auf die Hupe. Der entgegenkommende Wagen schlittert über die Straße und Magdalena hält für einen kurzen Moment die Luft an, bereitet sich gedanklich auf den drohenden Aufprall vor. Es fehlen nur wenige Zentimeter. Ein paar Sekunden, nachdem sie die Lichter gesehen hat, ist alles vorbei. Magdalena fährt rechts ran, holt tief Luft und hält sich die Hände vor das Gesicht. Verdammter Idiot, denkt sie. Und dann: War das nicht das Auto meines Bruders?

Es ging alles so schnell, Magdalena ist sich nicht sicher. Im Rückspiegel ist nichts mehr zu erkennen, auch als sie sich umdreht, ist die Straße hinter ihr, das kurze Stück, dass sie sehen kann, leer und dunkel.

 

***

 

Tom atmet mit schnellen, kurzen Stößen, zittert am ganzen Körper und verringert die Geschwindigkeit so weit, dass er im Schritttempo weiterfährt. Ihm ist eiskalt und er schwitzt, glüht förmlich, beides zur selben Zeit. Er regelt die Heizung runter und die Sitzheizung hoch, in der Hoffnung, es könnte helfen.

Plitsch! Plitsch! Plitsch!

Sein Verstand beginnt, mehr und mehr auszusetzen. Er kann keinen klaren Gedanken fassen, vor seinen Augen verschwimmt die Straße im Schneegestöber zu einem weiß-grauen Brei. Noch fünf Kilometer, dann hat er seine Praxis erreicht. Dort wird er in seiner Medikamentenschublade nach passenden Tabletten suchen. Tom hofft, dass das grausame Plitschen verstummen wird oder er es zumindest betäuben kann. Es gibt immer die Möglichkeit, sich mit Medikamenten ruhig zu stellen. Er tritt aufs Gas, erhöht die Geschwindigkeit wieder auf ein normales Niveau und erreicht kurz darauf sein Ziel.

 

***

 

Magdalena klingelt. Wartet. Klingelt erneut und hat zur selben Zeit das Telefon am Ohr. Weder auf der einen noch auf der anderen Seite eine Reaktion. War das doch Tom in diesem Wagen? Aber wo könnte er um diese Uhrzeit hinwollen? Tom fängt nie vor acht Uhr an zu arbeiten. Sie sieht auf die Uhr, 6.14 Uhr. Dann beschließt sie, ihr Glück in seinem Büro zu versuchen.

 

***

 

Das Mondlicht taucht die Praxis in ein unheimliches blau-weißes Licht. Er will seinen Augen keine grelle Beleuchtung aussetzen und lässt die Deckenlampe ausgeschaltet.

Plitsch! Plitsch! Plitsch!

Er geht zu seinem Schreibtisch. Das Messingschild, das auf dem großen dunklen Eichentisch steht, Dr. Thomas Leander – Psychiater, funkelt im Mondlicht. Die Schubladen sind verschlossen, wie es das Gesetz verlangt. Er hat darin große Mengen an Psychopharmaka und anderen, in den falschen Händen nicht ungefährlichen Medikamenten. In seiner Hosentasche kramt er nach dem Schlüssel, seine Hände zittern so sehr, dass er mehrere Versuche braucht, um den Richtigen in die Finger zu bekommen. Zweimal fällt ihm der Bund auf den Boden, das nach unten Beugen quittiert sein Kopf mit stechenden Schmerzen.

 

***

 

Magdalena versucht weiter, ihren Bruder zu erreichen, auch wenn sie keine Hoffnung mehr hat, ihn ans Telefon zu bekommen. Was soll diese SMS bedeuten? Ist Tom in Schwierigkeiten? Und was meint er mit »Ich kann nicht mehr«? Sie drückt das Gaspedal ein wenig weiter nach unten, die Uhr zwischen Tacho und Drehzahlmesser zeigt 6.21 Uhr.

 

Tom zieht die oberste Schublade auf. Etwas sticht ihm ins Auge.

Seine Waffe.

Für den Fall der Fälle hat er eine registrierte P7. Schließlich kann man bei psychisch Kranken nie sicher sein, was einen erwartet.

Plitsch! Plitsch! Plitsch!

Er greift nach einer Dose Schlafmittel, entnimmt zwei Pillen und geht zu dem kleinen Waschbecken. Dort füllt er ein Glas mit Wasser, schiebt sich die Tabletten in den Mund und leert es in einem Zug. Gleich wird es besser werden.

Als er auf der alten Ledercouch liegt, spürt er, wie die Tabletten zu wirken beginnen. Seine Augenlider werden schwer, die Kopfschmerzen lassen nach und sein Köper entspannt. Kurz bevor er einschläft, hört er es erneut:

Plitsch! Plitsch! Plitsch!

Das Büro pulsiert, das trübe Licht des Mondes sticht wie ein Stroboskop in seine Augen, durch ihn hindurch. Sein Körper scheint sich aufzulösen, fühlt sich an wie Pergamentpapier, dünn und rissig. Er kann es nicht mehr ertragen. Er will es nicht mehr ertragen. Es ist 6.37 Uhr, seit mehr als zwei Stunden treibt ihn dieses Geräusch in den Wahnsinn.

Was ihm jetzt durch den Kopf geht, hielt er bis vor wenigen Stunden noch für unmöglich. Nun sitzt er an seinem Schreibtisch und steckt mit zitternden Fingern eine Patrone in das Magazin der Waffe. Tränen stehen in seinen Augen. Kurz überlegt Tom, einen Abschiedsbrief zu hinterlassen. Aber für wen? Sinnlos. Ohnehin ist er wohl kaum in der Lage, etwas Sinnvolles zu Papier zu bringen. Er schiebt das Magazin in den Griff der Pistole und zieht den Schlitten zurück, sodass sich die Kugel direkt im Lauf befindet. Dann legt er den kleinen Sicherungshebel um und starrt in die pulsierende Dunkelheit.

Plitsch! Plitsch! Plitsch!

 

***

 

Magdalena parkt das Auto vor der Praxis. Alles dunkel. Es war eine dumme Idee, hier herzukommen, denkt sie, entschließt sich dann aber doch, wenigstens einen Blick in Toms Büro zu werfen. Sie hat einen Ersatzschlüssel im Handschuhfach, »nur für alle Fälle«, hat Tom damals gesagt. Zwischen ein paar alten Taschentüchern, einer halben Tafel Schokolade, einigen Münzen und Haargummis findet sie ihn schließlich und geht das kurze Stück über den Parkplatz zu dem Backsteingebäude.

 

***

 

Es tut nicht weh, sagt er sich. Und es wird aufhören, direkt danach wird es aufhören. Es wird dunkel sein, für immer. Und still. Endlich still. Ruhe, nach mehr sehnt Tom sich nicht mehr. Alles andere ist bedeutungslos geworden.

 

***

 

Sie klopft gegen die Holztür, lauscht. Nichts zu hören. Magdalena zieht den Schlüssel aus ihrer Hosentasche und steckt ihn ins Schloss. Die Tür klemmt, sie rüttelt ein paarmal daran, dann dreht sich der Schlüssel und der Riegel schnappt zurück.

 

***

 

Er hebt die Waffe an seine Schläfe, presst den Lauf so kräftig gegen die Haut, dass ein kreisrunder Abdruck zurückgeblieben wäre, da, wo gleich ein Loch sein wird.

Magdalena öffnet die Tür und sieht ihren Bruder als dunklen Schatten im Mondlicht am Schreibtisch sitzen.

Dann durchbricht ein ohrenbetäubender Knall die Stille.

 

***

 

Frank Delbenhorst sitzt am Fenster, sieht hinaus in den Himmel und zieht an seiner Holzzigarette. Es ist beinahe sieben Uhr, in einer Stunde wird die Sonne aufgehen. Er liebt den Winter, die Kälte lässt ihn zur Ruhe kommen. Mit dem Zeigefinger seiner linken Hand schlägt er einen letzten Rhythmus auf das Fensterbrett:

Plitsch! Plitsch! Plitsch!

Dann ist alles still. Er dreht sich um, setzt sich auf sein Bett und nimmt ein Polaroid von seinem Nachtschrank. »Gute Nacht, Doktor Leander«, sagt er. »Genießen Sie die Ruhe.« Dann legt er sich hin, schließt die Augen und schläft ein. Das Bild von seinem Psychiater verblasst langsam, bis nichts mehr zu sehen ist. Zurück bleibt ein leeres, weißes Quadrat. Und ein Polaroid von Magdalena Leander.

Sarah

Der Regen trommelte in dicken Tropfen auf die Haube des alten Wagens. Wie kleine Wasserbälle sprangen sie ein kurzes Stück nach oben zurück, um sich dann aufzulösen und als unzählige Rinnsale das Metall entlang Richtung Scheibe zu laufen. Vor einer Stunde schien noch die Sonne und die Luft hatte den typischen Duft von Sommerregen angenommen.

Franziska kurbelte das Fenster eine Handbreit nach unten und drückte sich aus dem Sitz, um ihre Tochter Sarah im Rückspiegel sehen zu können. Sie wollte sich vergewissern, dass der Luftzug nicht zu sehr nach hinten auf die Rückbank strömte. Als sie vor etwas mehr als einer Stunde losgefahren waren, hatte sie gehofft, ihre Tochter würde bald einschlafen, wie sie es nach einem langen Tag an der frischen Luft beinahe immer tat. Heute schien sie daran kein rechtes Interesse zu haben. Sie saß in ihrem Kindersitz, die Beine übereinandergeschlagen und hatte ihre Puppe Lucy auf dem Schoß.

»Pssst, du musst jetzt schlafen, Lucy«, flüsterte die Kleine unentwegt und so leise, dass man es vorne im Wagen kaum hören konnte. Dabei strich sie der Puppe immer wieder über den Kopf. »Pssst, Mami sagt, du sollst schlafen«.

Franziska lächelte, löste die Spannung in ihrem Rücken und richtet den Blick wieder auf die Straße. Es war ein herrlicher Tag gewesen. Sie hatte sich lange mit ihrer Schwester unterhalten, in Ruhe, ohne ständig von Sarah unterbrochen worden zu sein. Die war mit ihren Cousinen beschäftigt gewesen und hatte sich nicht für ihre Mama interessiert (außer dreimal, als sie jeweils ein Eis haben wollte. Zweimal hatte Franziska »Ja« gesagt.) Sarah war vor ein paar Wochen vier geworden und die beiden waren seit zwei Jahren allein.

Ungefähr einmal im Monat, wenn sie es einrichten und das Geld für das Benzin auftreiben konnte, besuchten sie ihre Schwester und deren vier Kinder. Die Fahrt dorthin war nicht sonderlich beschwerlich, keine engen Landstraßen oder schmale Gassen. Die meiste Zeit konnte sie auf der Autobahn dahinrollen. Aber es war eine lange Fahrt. Beinahe drei Stunden für den einfachen Weg. Dennoch war sie immer froh darüber, wenn Besuchstag war.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752138191
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Juni)
Schlagworte
Horror Psychothriller Thriller Kurzgeschichten Horrorthriller Krimi Noir

Autor

  • Ben Kohler (Autor:in)

Ben Kohler, 1982 geboren, absolvierte ein Volontariat bei der Illertisser Zeitung und arbeitete dort einige Zeit als freier Redakteur. Er schreibt Kurzgeschichten, die er in Anthologien publiziert. Im August 2019 veröffentlichte er sein erstes Buch »The Agile Attitude«. 2021 erschien »ANGST«. Weitere Romane (Horror und Thriller) folgen. Er bietet Lektorate in den Genres (Psycho)-Thriller, Horror, Krimi, Gesellschaftsroman, Sach- oder Fachbuch und Biografien an und arbeitet als Herausgeber.
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Titel: ANGST: Kurzgeschichtenband