Lade Inhalt...

Die Symbiosane

Wo kommst du her? Wo willst du hin?

von Dirk Richter (Autor:in)
420 Seiten

Zusammenfassung

Auf Terralt, der Parallelwelt zu unserer Erde, funktioniert vieles nicht wie auf unserer Welt. Was hier Technik ist, ist dort Magie. Neben den Menschen dieser Welt und Gästen gibt es unter anderen noch eine uralte Gruppe, die anders ist, auch wenn man es nicht sieht: Die Symbiosane. Wer sind sie? - Sie sind die Nachfahren der Überlebenden eines mutwillig zerstörten magischen Planeten. - Sie könnten dazu benutzt werden, die Welt Terralt zu unterjochen. - Sie sind als feige verschrien. - Sie haben Götter, die keine sind. - Sie schwimmen durch Materie, als ob es Wasser wäre.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

Dieses Buch spielt auf der uns am nächsten gelegenen Parallelwelt: Terralt, von der wir nur sehr wenig wissen.

Der Grund: die Portale, durch die man diese Welt betritt (zumeist ohne es zu bemerken), funktionieren nur in der Richtung von Terra nach Terralt ... und nicht wieder zurück.

Hier geht um die Symbiosane, eine kleine Volksgruppe, die es schon so lange auf Terralt gibt, das sie selber nicht mehr genau wissen, wo ihre Wurzeln liegen.

Sie besitzen eine besondere Magie, die eine große Nähe zur Natur benötigt. Wenn die gestört wird, gibt es nur noch eine Möglichkeit: Sie machen sich auf die Suche ...

Manchmal findet man dann mehr als man je geahnt hat.

Noch ein kleines Vorwort

Dies hier ist das vierte Buch aus und über Terralt. Nein! Es ist nicht der vierte Band der Terralt - Trilogie, auch wenn es so einige Autoren gibt, die genau das mit einem Augenzwinkern gemacht haben (Auch die Trilogie mit dem ersten Band ‚Per Anhalter durch die Galaxis‘ besteht schließlich aus 5 Bänden). Sie spielt in derselben Welt und zu einer Zeit kurz nach der der Trilogie und so ist es auch durchaus natürlich, dass Personen, die in ihr aufgetaucht sind, jetzt auch auftauchen können. Trotzdem geht es um einen völlig anderen Aspekt dieser magischen Welt. Ich bin auch gespannt darauf, zu erfahren, wer diese Symbiosane sind und mitzuerleben, wo die Reise hingeht. Kommt einfach mit.

Wie bei so vielen Büchern dieses Genres gilt auch hier, dass jede wie auch immer geartete Ähnlichkeit der auftauchenden Personen zu lebenden oder toten Personen rein zufällig ist. Aber nun kommt herein und folgt mir in das ungewöhnliche Leben von ungewöhnlichen Menschen.

00 - Einleitung

Heute ist bewiesen, dass zur Erde auch Parallelwelten existieren, auch wenn nicht bekannt ist, wie viele es sind, oder wie sie beschaffen sind ... und vor allem: Wie man dort hinkommt! Was die Parallelwelt Terralt anbelangt lautet die Antwort: Durch Zufall und ohne Rückfahrschein.

In diesem Buch geht es jedoch nicht um die Menschen, die hier, ohne Spuren zu hinterlassen, verschwinden, sondern um eine Gruppe von Menschen auf dieser Parallelwelt.

Lernt die Gruppe der Symbiosane kennen, deren Wurzeln so weit in die Zeit zurückreichen, dass sich fast nur noch der Planet selbst an die Anfänge erinnert.

Lernt die Sucher kennen, besondere Terraltlerinnen und Terraltler, die neugierig auf die verschiedenen Spielarten des Lebens auf Terralt und so offen gegenüber anderen Kulturen und Arten zu leben sind, dass sie einen kleinen Teil ihres Lebens damit verbringen, nach neuen Erfahrungen und Eindrücken auf die Suche zu gehen.

01 - Salao und Yssaahn - 2 Sucher

"Können wir vielleicht mal Pause machen?" Die junge Frau mit den langen schwarzen Zöpfen, die ihr ausdrucksstarkes blasses Gesicht mit den fröhlichen und aufmerksamen Augen umrahmten, sah fast scheu zu ihrem hoch gewachsenen Begleiter hinaus, der im Moment neben ihr ging und eine große Ruhe ausstrahlte. Ansatzweise hatte sie diese Ruhe die beiden eigentlich schon immer erfüllt. Sie war in den letzten beiden Jahren aber sicherlich noch tiefer geworden.

Der junge schlanke, fast schon hagere Mann mit den kurzen wirren dunklen Haaren sah sie erstaunt an und nickte dann, seinen Blick auch weiterhin vorsichtig um sie herum wandern lassend. Seine linke schmale Hand deutete vor ihnen leicht nach rechts in den nicht ganz so dichten Wald, der den breiten Weg zu beiden Seiten säumte. Eine sanfte Kühle umspielte sie, während über dem Wald zum ersten Mal in diesem Jahr sommerliche Hitze auf den Baumkronen lastete. "Da liegt ein umgestürzter Baum ", stelle er ruhig fest und lächelte sie an.

Sie erwiderte das Lächeln und nickte.

Das war einer der Gründe, warum sie nun schon seit etwas über zwei Jahren zusammen unterwegs waren. Viel junge Männer hätten jetzt vielleicht eher darauf hingewiesen, dass sie noch keine Stunde unterwegs waren, seit sie das kleine Erlöserstadt verlassen hatten, oder auch gefordert, das sie doch vielleicht erst noch ein Stück weiterwandern sollten, damit sie auch rechtzeitig an ihrem Ziel ankommen würden. Aber eigentlich wussten sie gar nicht so genau, wo dieses Ziel lag, da beide nur den starken Drang verspürt hatten, aufzubrechen. Doch er sagte einfach: "Da liegt ein umgestürzter Baum ..." Damit überraschte Saláo sie immer noch, obwohl sie doch nun auch schon fast 8 Jahre mehr oder weniger zusammen waren, seid er mit seiner Familie in ihr Dorf Dunkelmoor in der Nähe von Nord-Fischreich oder, wie es auch genannt wurde ‚Friesenhafen‘ gezogen war und sie sich das erste Mal auf der Dorfstraße gesehen hatten.

Er, der zweite von drei Söhnen eines gelehrten Schreibers und weit gereisten Diplomaten, der lange in den östlichen Landen gelebt hatte und sie, Yssaáhn, die zweite von drei Töchtern aus der Familie, in der es schon seit Jahrhunderten viele Generationen von Lehrern unterschiedlichster Art gab, die an Universitäten, öffentlichen Schulen und auch in den Häusern von einflussreichen Menschen deren Kinder unterrichtet hatten. Als sie ihn gesehen hatte, fühlte sie sich sofort zu ihm hingezogen und war sich gleichzeitig nur zu bewusst, wie wenig hübsch sie war und nur aus ungelenken Knochen zu bestehen schien. Sie musste lächeln, als sie an diese Zeit zurückdachte.

Saláo benutzte seinen langen Eichenstab, der ihn um ein gutes Stück überragte und dieselbe polierte Oberfläche wie ihr Erlenstab aufwies, die im Verlauf ihrer Reisen nun auch schon lange nicht mehr so glänzte und sich dafür sehr vertraut anfühlte. Beide Stäbe waren hervorragend dazu geeignet, um auch jetzt vorwitzig hochgewachsene Brennnesseln so auf Seite zu drücken, dass sie ohne Probleme an ihnen vorbei ins Halbdunkel eintauchen konnte und er seiner Partnerin wortlos folgte.

Aber auch wenn sich ihr Stab mittlerweile wirklich vertraut anfühlte, konnte sie es eigentlich immer noch nicht glauben, dass sie wirklich und wahrhaftig 'Sucher' waren, also Menschen, die auf Terralt eine Sonderstellung einnahmen.

Es fing damit an, dass sich in ihrer Jugend ihr magisches Talent nie gezeigt hatte, sie auch beide eigentlich nie wirklich danach suchten, wie ihre Altersgenossen es schon früh taten. Natürlich waren die Traditionen in ihren beiden Familien bei aller Freiheit der Gedanken sehr stark gewesen und hätten ihnen gerne ihr jeweiliges Leben vorherbestimmt, doch beide hatten es geschafft, sich nicht einzäunen zu lassen. Sie hatten sich stattdessen, unabhängig voneinander, für alles und jeden interessiert und hatten schon, solange sie denken konnten, jede Gelegenheit genutzt, Menschen anderer Kultur und anderen Glaubens kennenzulernen. Als dann der örtliche Priester der Christen zusammen mit der Weisen des Alten Glaubens mit den beiden Stäben bei ihren Eltern auftauchten, während beide Familien gerade zusammen aßen, waren ihre Verwandten von erstaunt bis hin zu glattweg entsetzt gewesen. Ihre Verwandten, wohl bemerkt, aber nicht sie selbst. Sie hatten sich nur mit einem Gefühl des Verstehens und Akzeptierens angesehen und die Frage ohne Worte besprochen, bis sie schließlich ganz leicht genickt hatte, wobei ein erleichtertes Lächeln über das Gesicht von Salao huschte und auch er nickte. Dann hatten sie sich stumm an die beiden geistlichen Führer gewandt, die gerade im Kreuzfeuer ihrer beider Elternpaare standen. Sie sprachen nicht, doch beide Vertreter der verschiedenen Religionen blickten den zu ihnen gehörigen Schützling kurz an, während sie sonst andächtig den Argumenten der Erwachsenen lauschten und an den richtigen Stellen ernst nickten.

Irgendwie schien niemand zu bemerken, wie sie so neben die beiden Geistlichen getreten waren. Erst als sie fast synchron eine Hand um einen der Stäbe legten, verstummten ihre Eltern fast schlagartig und starrten sie entgeistert an, während sich die besondere Magie der Wanderstäbe von Suchern manifestierte.

Seit sehr langer Zeit war es das Vorrecht eines Stammes mit mittlerweile gar nicht mehr feststellbaren Wurzeln in tiefster Vergangenheit, diese Stäbe herzustellen und an zumeist überraschte Vertreter der unterschiedlichsten Religionen und religiösen Gemeinschaften auszuliefern. Die Mitglieder dieser Gemeinschaft verehrten auf ihre Art wohl die große Erdmutter so, wie es zum Beispiel auch die Karane taten, doch zusätzlich auch noch eine Art minderer Gottheiten, die sich besonders um bestimmte Aspekte des Seins auf Terralt kümmerten. Was ihr Name 'Symbiosane' nun eigentlich bedeutete, verlor sich, zumindest für alle anderen Terraltler, mittlerweile in den verschlungenen Falten der Zeit. Es war jedenfalls unbestritten eine ihrer Aufgaben, jeden neuen Sucher mit einem passenden Wanderstab auszurüsten. Jeder bezeichnete so einen Stab als Wanderstab, aber das war wahrscheinlich der falscheste Name, auch wenn so ein Wanderstab für lange Wanderungen natürlich durchaus praktisch war.

Die beiden setzten sich auf den Stamm nebeneinander und umfassten beide ihre Stäbe, ohne sich anzuschauen.

Yssaahn holte tief Luft.

„Die Menschen aus Erlöserstadt waren eigentlich auch nicht viel seltsamer oder ungewöhnlicher als so manch andere, denen wir bisher schon begegnet sind“, erklärte Salao und seine leise warme Stimme blieb dabei weit unter den vielfältigen Tönen und Geräuschen um sie herum, die den Wald erfüllten und sie genauso umgaben, wie die leicht feuchte Kühle des Waldes mit den würzigen Gerüchen eines Mischwaldes. Yssaahn sah kurz zu ihm hinüber und nickte dann.

„Da stimmt natürlich“, stimmte sie ihm zögernd zu und dachte an die letzten fast drei Wochen zurück, die sie zuerst bei den Kadanen und ihrer ungewöhnlichen Kirche begonnen hatten, ehe sie dann als Gäste des Heilers in der kleinen Stadt Erlöserstadt gelebt hatten.

„Besonders in Erlöserstadt war aber überall dieser Graben zwischen dem neuen christlichen Glauben und den alten Strukturen immer und überall zu spüren“, gab sie zu bedenken. „Sogar der Heiler war immer sehr freundlich und zuvorkommend, aber eigentlich hat er immer nur das gemacht, was er letztlich machen wollte.“

Salao nickte und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Trotz allem ist er aber immer noch zu zuerst ein hervorragender Heiler und wir haben, glaube ich, beide bei ihm viel gelernt.“

Sein Stab fing mit einem Mal ganz leicht an zu glühen und ein tiefer Ton schien ganz leise von ihm auszugehen. Yssaahn kannte dieses Phänomen eigentlich mittlerweile, doch jedes Mal, wenn es geschah, konnte sie nur verwundert feststellen, wie dieser Ton ihr Innerstes erreichte und irgendwie die Verkrampfung löste. Sie schloss ihre Augen und ließ den Ton auf sich wirken, bis sie die leichte Vibration in ihrem Stab spürte und schließlich auch von dort ein etwas hellerer Ton ausging. Sie atmete tief ein und aus.

„Die Führerin des Dorfes macht ihre Sache schon super und sie ist schon empfindsam genug, dass sie auch mitbekommt, wenn Teile des Dorfes in alte und dumme Verhaltensweisen abzugleiten drohen.“

„Was ist eigentlich so toll daran, wenn man sein Gehirn ausschaltet und das Denken einem machthungrigen und skrupellosen Menschen überlässt?!“, wunderte sich Yssaahn.

„Man kann sich einreden, dass man für nichts von dem, was geschieht, verantwortlich ist“, versuchte Salao eine Erklärung und Yssaahn schüttelte verständnislos den Kopf. „Auch wenn das gewiss nicht unser Denken ist, haben wir das doch immer erlebt, wenn uns unser Weg zu fanatischen Anhängern gebracht hat, an wen oder was die dann auch immer glaubten“, erinnerte er seine Partnerin.

„Dumm!“

„Aber so verlockend einfach.“

Sowohl das Glühen beider Stäbe als auch die beiden zarten Töne waren inzwischen verschwunden.

„Sollen wir jetzt wieder weiterziehen, wohin auch immer uns die Stäbe als Nächstes bringen werden?“ Er sah seine Gefährtin lächelnd von der Seite an und Yssaahn nickte nachdenklich.

„Ist wahrscheinlich besser“, gab sie zu, während sich Salao mithilfe seines Stabes elegant erhob und ihr seine Hand hinstreckte. „Das Gefühl war ja schon absolut eindeutig.“

„Stimmt. So klar ist es selten“, stimmte er zu und bog wieder die Brennnesseln zur Seite, damit sie unbeschadet auf den Weg hinaustreten konnten. Irgendwie freute es ihn, Yssaahn wieder in ihrer gewohnten Kombination aus der leichten und strapazierfähigen langen Hose und dem langen grünen Seidenüberwurf zu sehen, auf dem vorne zwei exotische Vögel ein Nest zu bewachen schienen, das sich etwa auf der Höhe ihres Herzens befand. Der Überwurf war ein Geschenk aus dem Innern des Kontinents der Menschen mit mandelförmigen Augen, das sie ohne die neuen alten Steinkreise wahrscheinlich nie erreicht hätten. Es bewies ganz nebenbei, dass einige der Menschen, die jetzt auf ihrem Kontinent lebten, wie beispielsweise die Karane, ursprünglich einmal ganz weit aus dem Osten kamen. Sie hatten verwitterte Steine gesehen, die eigentlich gar nicht mehr als Teile eines Steinkreises zu erkennen gewesen waren. Seit den Ereignissen rund um die Kinder der Pyramidenprophezeiung vor mehr als zwei Jahren schien sich Terralt immer mehr auf seine eigenen Stärken zu konzentrieren und vieles, was vor lautem Vergessen schon ganz kraftlos geworden war, wurde plötzlich wiederentdeckt und erlangte zumindest einen kleinen Teil seiner alten Größe zurück. Dabei waren es nicht nur die Steinkreise, die sich als Möglichkeit herausgestellt hatten, viel schneller als mit anderen Verkehrsmitteln große Entfernungen zu überbrücken. Es bildeten sich sogar neue Knotenpunkte, die es vorher so noch nie auf Terralt gegeben hatte.

Gerade diese absonderlichen alten magischen Transportmöglichkeiten sorgten jetzt dafür, dass die vielen verschiedenen Kulturen auf Terralt voneinander erfuhren und miteinander Kontakt aufnahmen. Das war gut, auch wenn es nicht immer ohne Reibereien abging. Salao holte eine kleine Holzflöte aus einer Innentasche seines leichten Wollumhanges und fing an, eine kleine Melodie anzustimmen, die er von einer jungen Frau gelernt hatte, die sie oberhalb des Meeres getroffen hatten, dass in Anlehnung an den Namen auf Terra das Schwarze Meer genannt wurde und Yssaahn errötete ein wenig, als sie jetzt wieder daran denken musste, wie eifersüchtig sie auf diese Frau gewesen war, die ihr schließlich nach einem Schlangenbiss auch noch das Leben rettete und sie dann gleichzeitig wegen ihrer Unachtsamkeit heftig ausschimpfte. Yssaahn wäre fast über eine hochstehende Wurzel gestolpert, so intensiv war die Erinnerung und sie lächelte, als sie sich noch auffing. Sie hatten sich gegenseitig angebrüllt und waren schließlich doch, oder gerade deswegen, als tiefe innige Freundinnen auseinandergegangen. Salao hatte dem Austausch nur verständnislos beigewohnt und beide Frauen mussten ihm schließlich sogar noch erklären, dass er selbst letzten Endes der Anlass für die Auseinandersetzung gewesen war.

„Frauen!“, hatte er schließlich nur kopfschüttelnd gemeint.

„Männer!“, hatte Yssaahn entgegnet und Massajahn stirnrunzelnd angesehen, bis beide in lautes Gelächter ausgebrochen waren.

Die Zeit im Winterlager der Tataren war schon etwas ganz besonderes gewesen!

Es dauerte nur wenige Schritte, bis sie wieder in den gemeinsamen Schrittrhythmus fielen, der sich schon nach wenigen Tagen ihrer Wanderschaft zwischen ihnen beiden entwickelt hatte. Aus dies hier war wieder ein Weg, den vor vielen Hundert Jahren die Römer angelegt hatten. Es war schon beeindruckend, wie wenig Aufwand auch heute noch nötig war, um die alten Wege auch nach so langer Zeit noch gut benutzbar zu halten.

Um die Mittagszeit machten sie an einem Bach Halt, der durchaus derselbe sein konnte, dem sie schon vom Dorf der Karane aus bis nach Erlöserstadt gefolgt waren. Yssaahn musste nur ihre Hand flach über das träge dahinfließende Wasser halten, um den immer noch ungewöhnlich hohen Anteil von Blei zu spüren, dem Metall, das für Terraltler um so vieles gefährlicher war als beispielsweise für Terraner.

„Ob wir die Sechs treffen?“, hoffte Yssaahn laut und nahm einen Schluck Wasser von der Seite des glitzernden fließenden Lebenselixiers, wo der Bleianteil fast verschwunden war.

„Was sagt dein Gefühl?“, entgegnete ihr Partner mit einer eigenen Frage und lächelte.

Yssaahn seufzte. „Spielverderber. Du weißt genau, dass die Antwort ungewöhnlich verworren ist.“

„Das heißt dann wohl, dass wir es abwarten müssen“, neckte er weiter.

„Du bist manchmal so was von doof“, stellte Yssaahn nur entrüstet fest, bückte sich bis zum Bach hinunter und spritzte ein Handvoll Wasser in Salaos Richtung.

„Na warte.“ Damit hüpfte der auf die andere Seite des Baches, ließ seinen Wanderstab sicher ins Gras der Böschung fallen und tauchte gleich beide Hände ebenfalls in das klare kalte Wasser. In Sekunden war die herrlichste Wasserschlacht im Gange und weithin scholl das Geschrei der beiden in den Wald hinein. Ein alter Bauer, der fast ein Kilometer entfernt verschlafen auf seinem Kutschbock hing, hob kurz seinen Kopf, schüttelte ihn und seufzte dann, an die Zeit zurückdenkend, als er selbst noch jung und voll überschäumender Kraft war. Leider war diese Zeit nun doch schon länger vorbei und die Geschwindigkeit seines Lebens hatte sich schon sehr verringert und passte nun zu dem starken und langsamen Ochsen, der seinen Wagen zog. Wenigstens blieb ihm ja noch die Erinnerung.

Er tätschelte das Hinterteil des großen braunen Tieres, das kurz innehielt und ihm einen verwunderten Blick zuwarf, ehe es wieder in seinen gemächlichen Tritt verfiel, der beide in einigen Stunden nach Hause bringen würde, während die ohnehin nicht sehr lauten Rufe immer leiser wurden.

Salaos musste mittlerweile so lachen, dass er fast den Halt verlor und doch noch ins eiskalte Wasser gerutscht wäre, wenn er sich nicht im letzten Moment an den Zweigen einer Weide festgehalten hätte, die sich unter seinem Gewicht gefährlich zu Boden senkten, ohne jedoch nachzugeben.

„Du Scheusal!“, empörte sich Yssaahn und benutzte nun auch beide Hände, um Salao nass zu spritzen. „Unbescholtene Mädchen so hinterrücks nass zu spritzen!“

„Komm, lass das Yssa“, bat er. „Wir sind nun beide schon nass genug und wir müssen endlich weiter.“

Er richtete sich dabei lachend wieder auf und warf kurz einen Blick hoch zur Weide, um sicher zu stellen, dass er nicht aus Versehen einige der elastisch herunterhängenden Äste beschädigt hatte. Wie zufällig strich seine linke Hand über die Blätter.

Yssaahn erhob sich grummelnd und wäre dabei ihrerseits fast auf einem nassen moosbewachsenen Stein abgerutscht und ins Wasser gefallen, wenn Salao ihr nicht noch geistesgegenwärtig zu Hilfe gesprungen wäre. Sie sah ihn dankbar an und ihre Augen funkelten dabei immer noch angriffslustig.

„Danke“, meinte sie dann aber und küsste ihn rasch auf den Mund.

„Wenn mein Fuß jetzt nicht so nass und kalt wäre, hätte ich jetzt 'gern geschehen' gesagt“, entgegnete Salao trocken und senkte seinen Blick zu seinem linken Fuß hinunter, der seit der Rettungsaktion seiner Partnerin mitten im eiskalten Wasser des Baches stand und mit seinem plötzlichen Auftauchen besonders einen kleinen Fisch sehr verwirrte.

Yssaahn lachte schallend auf und hielt ihm ihre Hand hin, doch Salao winkte kopfschüttelnd ab und deutete auf seinen Wanderstab, der gar nicht mehr im Gras der Böschung lag, sondern gerade im Begriff war, sich aus eigener Kraft in die Luft zu erheben. Sie verstummte und beide hörten den vertrauten Ton seines Wanderstabes und einen zweiten, nicht minder vertrauten von hinter Yssaahn. Sie fuhr herum und sah, wie sich auch ihr Stab gerade erhob und nun senkrecht aus dem Gras zu wachsen schien. Beide verstummten besorgt und ergriffen ihr jeweiliges Symbol ihrer Sucherschaft. Salao umfasste seinen Stab, der stark vibrierte und sprang leichtfüßig über den Bach zurück zu ihren Bündeln während Yssaahn zu ihrem ging und ihre rechte Hand um das vertraute Holz schloss. Sobald beide Stäbe wieder in den Händen ihrer 'Verbundenen' waren, übten sie einen eindeutigen Zug in eine bestimmte Richtung aus. Beide waren sie nun schon lange genug mit ihren Stäben verbunden, um mehrere Sachen gelernt zu haben. Es fing damit an, dass sowohl Salao und Yssaahn längst begriffen hatten, dass sie ihre magischen Wanderstäbe nicht besaßen. Darüber hinaus hatten sie gelernt, auf die Signale der Stäbe zu achten, die sie schon mehrmals vor Gefahren gewarnt und auch schon häufiger die Richtung und die Geschwindigkeit bestimmt hatten, in denen sie ihnen folgen sollten.

„Wir sollen wohl weiter“, stellte Salao beunruhigt fest und Yssaahn nickte nachdenklich.

„Ja, aber es ist noch nicht so drängend“, stellte sie fest. „Du solltest aber rasch deine Schuhe wechseln, damit du dich nicht erkältest.“

Salao sah sie nachdenklich an und schloss kurz die Augen, seinen Stab horizontal haltend, ehe er nickte und ihn vorsichtig neben seiner Tasche auf den Boden legte und sein zweites Paar Schuhe hervorkramte. Es war schon eigenartig, dass die beiden Stäbe, bis auf die unterschiedliche Größe und das unterschiedliche Holz aus dem sie bestanden, doch schon sehr ähnlich aussahen und beide aus einem fast unbehandelten und nur geschälten Stück Holz zu bestehen schienen. Ihre innere Magie war aber vollständig unterschiedlich. Wenn die beiden Sucher mittels ihrer Magie mit ihnen Kontakt aufnahmen, schwebte Salaos Stab immer horizontal über dem Boden während der von Yssaahn den Boden berührte und sich aufrecht hinstellte. Salao verschnürte die Schuhe und hängte den nassen Schuh von außen an einer Schlaufe an seine Tasche, während der andere wieder in ihr verschwand. Als er sich nach seinem Stab bückte, schüttelte er irritiert den Kopf, während ihn ein Gefühl der Knurrigkeit überrollte, das klar von eben diesem Stab stammte.

„Wir sollten uns beeilen“, bestätigte Yssaahn seine Vermutung und er nickte.

„Wir sollen in Kürze an einem ganz bestimmten Ort sein ...“

„... den unsere Stäbe kennen“, schloss Yssaahn und sie gingen wieder zu dem Weg zurück, den sie vor ihrer kleinen Wasserschlacht verlassen hatten.

Schon nach Kurzem hatten sie wieder ihren Rhythmus gefunden und gingen nebeneinander her, beide einer der beiden Spurrillen folgend, die die Wagen im Laufe der Zeit in den Boden gefräst hatten.

Versuchen wir nun, uns vorsichtig einer Gruppe von Menschen, offensichtlich Jägern, zu nähern, die sich in ihrer augenscheinlich exotischen Kleidung und mit ihren ebenso ungewöhnlichen Waffen wie Schatten durch den Wald bewegen, als wären sie Geister. In diesem Waldgebiet gleich hinter dem Einschnitt in die Hügelkette, die auf Terra von der einen Seite das Vorgebirge und von der anderen Venusberg genannt wird und in die Voreifel übergeht, wirken sie definitiv vollkommen fehl am Platz. Sie sind kleiner als Yssaahn und Salao, haben eine viel dunklere Hautfarbe und nur wenig Kleidung an. Dafür sind besonders ihre Gesichter und leuchtenden Farben gemalt und lassen sie wie Monster mit riesigen Augen und noch riesigeren aufgerissenen Mäulern erscheinen. Bunte Federn von Vögeln, die auch ganz sicher nicht aus diesem Teil der Welt stammen, schmücken sie. Dabei stoßen sie seltsame Laute aus, die wohl an Vögel erinnern, auch wenn es wiederum bestimmt keine Vögel sind, wie sie in diesem Wald üblich sind.

Die Vogellaute werden ein wenig hektischer und zeigen damit, dass sie sich langsam dem Ziel ihrer Jagd nähern: einem riesigen braunen Bären, wie sie noch nie einen erblickt haben und dessen magische Lebenskraft im Sterben ihnen gehören würde, wenn sie sich sein Fell holen, dass ihnen ja als den rechtmäßigen, edlen Jäger einer solch mächtigen Kreatur ohne Zweifel auch zusteht.

Endlich konnten sie sich hier frei bewegen, nachdem sie so lange in den komischen Häusern dieser blassen Menschen verbringen mussten, die sie so lange nicht verstanden hatten, trotz der vereinigenden Sprachmagie, wie sie auf Terralt ja überall herrschte. Ihre Denkweise war so unnormal, dass die richtigen Worte alleine nicht ausreichen konnten. Jantzehl, ihr Anführer, war nun aber trotzdem froh, dass sie auf den Rat ihres Medizinmannes gefolgt waren, und sich mithilfe des Reiseraumes in ihrer heiligen Pyramide auf den Weg gemacht hatten, um die neuen Orte, die sie damit seit Kurzem erreichen konnten, zu erforschen.

Solange man sie nicht mit den wahren Mächtigen der Pyramidenprophezeiung bekannt machte und aufhörte zu behauptete, dass es sich dabei um diese lächerlichen Kinder handelte, waren sie auch nicht gezwungen, sich den unsinnigen Wünschen dieser Menschen unterzuordnen. Dort wo sie herkamen, würden sie noch nicht einmal etwas als Opfer an die Götter taugen! Dafür waren sie viel zu jung und zu wenig Krieger! Die Mädchen könnte man zumindest noch an richtige Krieger verheiraten, damit sie wenigstens ein paar anständige Kinder bekamen.

Groß gewachsen waren sie ja zumindest.

Besonders die Jungen waren aber eindeutig hoffnungslos verweichlicht. Noch schlimmer als der Junge, den sie zusammen mit dem Mädchen aus dem Volk der Tolktehken als Gastgeschenk mitgebracht hatten.

Aber zuerst sollten sie sich jetzt auf das Ziel ihrer Jagd konzentrieren: den gewaltigen Bären, den ihr bester Späher vor Tagen ganz in der Nähe des Kreises von Portbach entdeckt hatte. Seine magischen Kräfte waren bestimmt riesig und würden ihm dem Anführer noch für lange Zeit seine Position als Führer ihres Stammes sichern, wenn er erst einmal das Herz und das Hirn genommen hatte. Jantzehl lauschte kurz auf die Signale seiner edlen Gefährten, löste das kurze Blasrohr aus der Halterung auf seinem Rücken und öffnete vorsichtig einen der Lederbeutel an seinem Gürtel. Mit den darin in ein Leder sicher eingepackten winzigen Pfeilen musste man sehr vorsichtig sein. Das Gift, mit dem die Spitze getränkt war, war nicht nur für ein großes Raubtier schon nach kurzer Zeit absolut tödlich. Auch erfahrene Jäger wie er mussten sich vor seiner Wirkung in acht nehmen. Ein ziemlich schriller Vogellaut drang durch den Wald und ein siegessicherer Ausdruck erschien auf seiner angemalten Fratze. Seine Jäger hatten den Bär gesichtet und ihm einen Pfeil verpasst, der ihn nur etwas benommen machen sollte. Die Ehre des finalen Pfeiles würde natürlich für ihn bleiben. Schließlich war er ihr Anführer!

Er schob den gefiederten Pfeil in das Rohr und folgte dann wieder vorsichtig den vertrauten Vogellauten seiner Kameraden.

Yssaahn und Salao schritten nebeneinander her, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Gerade ihre gemeinsame Zeit als Sucher hatte sie vertrauter miteinander werden lassen, als so manches lange miteinander verheiratete Ehepaar. Gerade mit der wiederentdeckten Möglichkeit, mithilfe der Steinkreise weite Strecken auf Terralt in wenigen Augenblicken zurückzulegen, hatte sie Völker kennenlernen lassen, für die sie sonst viele Jahre benötigt hätten. Ihr Weg hatte sie dabei zu gewaltigen Steppen gebracht, in dichte Waldgebiete, in denen es so heiß und feucht war, dass auch die Natur jeden Tag zu schwitzen schien und sie mit Wasserfluten überschüttete, die nicht das geringste bisschen Abkühlung brachten, bis hin zu gewaltigen Bergen, in denen das Atmen schwerfiel und ein eisiger Wind jedes Kleidungsstück durchdrang. Wohin sie aber auch gelangten, wurden sie immer von Menschen empfangen, die sie sofort als Sucher erkannten und ihnen die Dinge reichten, die sie in der neuen Umgebung zu überleben brauchten.

Es war eine Nebenwirkung der unbeschreiblichen Entwicklungen, die durch die Erfüllung der Pyramidenprophezeiung durch die sechs Kinder in Gang gesetzt worden war und die dazu führte, dass sich nun auch andere heilige Orte an verschiedenen Stellen von Terralt mit einen Mal als Stationen für die Reisen nutzen ließen. Yssaahns Eltern hatten die Gebiete bereist, die auf Terra der Mittlere Osten und das Schwarze Meer hießen, wobei es die Eltern von Salao eher in die Länder rund um das Mittelmeer gezogen hatte, auch in die Gebiete hinter dem magischen Schutzvorhang, der ihren Kontinent von dem trennte, auf dem die Menschen eine viel oder auch sehr viel dunklere Hautfarbe haben.

Sie hatten jedenfalls viel gesehen und erlebt, was den tieferen Sinn von Suchern ausmachte. Sie hatten sehr unterschiedliche Menschen, Kulturen, Nahrungsmittel und auch Glaubensvorstellungen kennengelernt. Nicht alles hatten ihre Mägen vertragen ... auch nicht der von Salao.

Sie kamen rasch voran und nahmen um sich herum eigentlich keinen Hinweis wahr, der ihnen hätte erklären können, warum die Magie ihrer Stöcke sie jetzt eigentlich in diese bestimmte Richtung trieb.

Um sie herum war der Wald erfüllt von all den Gerüchen und Geräuschen, die für diese Gegend typisch waren. Das alleine war aber schon eine Wohltat nach den vielen Monaten, die sie in Gegenden verbracht hatte, wo beides so vollständig fremd gewesen war.

Yssaahn war sehr froh gewesen, als sie der letzte Sprung, der in einem edlen Zelt nördlich des Schwarzen Meeres zwischen fünf sehr alten Steinfiguren gestartet war, dann überraschenderweise zu einem Steinkreis gebracht hatte, wo sie von einem jungen Mädchen mit einer unheimlichen Energie und einem ebensolchen Humor und einer Kreispersönlichkeit empfangen wurden, die wie eine Kriegerin aus grauer Vorzeit mit einer unsagbar schlechten Laune aussah. Sie waren überrascht und sehr erfreut gewesen, als sich herausstellte, dass sie damit unweit der ersten Stadt der Kadane gelandet waren, von der sie bisher nur gerüchtweise gehört hatten. Es war schon beeindruckend gewesen, das Volk der Kadane zum ersten Mal nicht als Bittsteller, sondern als Herren eines Dorfes zu erleben, das sich schon jetzt zu einer kleinen Stadt zu mausern begann.

Yssaahn war so in ihre Gedanken vertieft, dass sie beinahe über eine Wurzel gestolpert wäre, wenn Salao sie nicht noch im letzten Moment am Arm ergriffen hätte.

Sie lächelte ihn kurz dankbar an und er nickte nur, ehe sie ihren Weg wieder aufnahmen. Er wusste ziemlich genau, was in Yssaahn vorging. Auch er war erfüllt mit den verschiedensten Eindrücken und Erfahrungen ... und dem unbestimmten Gefühl, dass sie sich nun langsam dem Ziel ihrer langen Reise näherten.

Wie das aussah und wo es sie hinbringen würde, war ihm aber auch völlig unklar. Sie waren bisher der Route Gottes gefolgt und er hatte ihre Sicht der Welt bereits in grandioser Art verändert und erweitert. Sie würden ihm auch weiterhin folgen und die Stäbe, die sie als Sucher charakterisierten, waren mit ihm genauso eng verbunden wie mit Terralt, der Welt, die sie umgab und in die sie gehörten. Er hatte seinen Stab aber noch nie so drängend erlebt und das begann ihm Sorgen zu machen.

Sie hasteten weiter und machten nur gelegentlich Pause, um etwas zu trinken. Wenn es wenigstens irgendeinen Hinweis gegeben hätte, was nun eigentlich das Ziel ihrer Hetze war.

So ungeduldig hatten die beiden Sucher ihre Sucherstäbe noch nie erlebt. Sogar ihre Pause am Mittag fiel ziemlich kurz aus. Die Kraft der Stäbe hielt sich auch nicht damit auf, sie der uralten und immer noch gut genutzten Straße zu folgen, sondern, als sie einen wenig vertrauensvoll dahinfließenden kleinen schwarzen Wasserlauf passierten, war es eindeutig, dass sie nicht über die ungewöhnlich aussehende Brücke geführt wurden, sondern dem dunklen Wasser folgen sollten. Sie hatten die Brücke schon hinter sich gelassen, als Salao endlich klar wurde, was an der Brücke seltsam gewesen war. Sie sah nicht gemauert aus, sondern schien aus zwei gewaltigen Steinblöcken zu bestehen, die perfekt geformt waren, ohne dass man irgendwelche Bearbeitungsspuren feststellen konnte.

Aber es gab im Moment sowieso keine Möglichkeit, sich darüber Gedanken zu machen. Der Weg war hier noch weitaus unwegsamer. Überall wuchs irgendetwas und streckte ihnen Wurzeln und armdicke Äste in den Weg. Schlimmer waren jedoch die Stellen, an denen kaum etwas zu wachsen schien. Das deutete dann gerne auf unschuldig aussehende Schlammlöcher hin, wie sie die beiden aber noch aus ihrer Heimat kannten. Sie waren am Rande eines großen Moores aufgewachsen und ließen sich nicht so leicht irreführen.

„Hör mal“, meinte Yssa mit einem Mal und Salao blieb einen Moment stehen.

„Kinder“, bestätigte er Yssaahns Beobachtung. Auf ihre mit gerunzelter Stirn gestellte Frage konnte er aber auch nur mit den Schultern zucken.

Wenigstens drängten sie ihre Stäbe jetzt nicht mehr direkt entlang des Baches, sondern gestatteten ihnen, sich durch das dichte Unterholz rechts des trägen dunklen Wassers voranzukämpfen. Die Sinne beider waren zum Zerreißen gespannt, denn die Erfahrungen ihrer langen Wanderschaft zeigte ihnen, dass sie jetzt ganz kurz davor waren, den Grund ihres Hierseins zu erfahren. Eines war sicher. Ihnen würde nicht die Rolle eines Zuschauers zuteilwerden.

Sogar wenn man sich jetzt der Hilfe des Falken hätte bedienen können, der gar nicht so weit entfernt hoch am Himmel kreiste, hätten auch seine schon sehr scharfen Augen nicht ausgereicht, um jede Einzelheit der Geschehnisse wahrzunehmen, die sich nun unaufhaltsam zusammenbraute. Einzig die Gruppe von Kindern, die am Rande des schwarzen Gewässers laut und fröhlich etwas spielte, was von oben wie eine Variante des ewigen Spiels aussah, was man Verstecken nannte und was es wohl in so ziemlich jeder Kultur gab, war klar erkennbar. Man konnte aber sicher sein, ob ihre Eltern mit dem ausgesuchten Platz für ihr Spiel einverstanden wären, wenn sie zufällig vorbeigekommen würden, was aber auch nicht geschah. Vielleicht hätte das noch etwas geändert, aber sicher war das nicht.

Der Falke hätte den gewaltigen Bären, der alles andere als zielstrebig auf die still daliegende Wasserfläche zustrebte, allenfalls indirekt gesehen, weil er wie betrunken durch das dichte Unterholz pflügte und ganz untypisch viel Krach machte. Wir werden es uns sparen, in sein mächtiges und verwirrtes Bewusstsein einzudringen, dass immer mehr mit grausamen Schmerzen und grellen Illusionen überflutet wurde, die eine unbeschreibliche Angst schürten, die jeden Bezug zur Realität längst hinter sich gelassen hatte. Er erinnerte sich auch nicht mehr daran, dass die Bärin ursprünglich losgesprintet war, um die Jäger von ihren beiden Jungbären des letzten Winters wegzulocken, die erst vor wenigen Wochen das erste Mal aus ihrer Höhle gekommen waren. Es war nicht das erste Mal, dass sie diese seltsamen Menschen bemerkte, die sich sehr von denen unterschieden, die aus Portbach stammten.

Auch ihr Gedanke an die Hüterin der Tiere, die sich ihr erst dann nähern würde, wenn sie das Zeichen gab, dass sie durch ihren Mutterinstinkt keine Gefahr mehr war, war schon längst im Nichts verschwunden.

Und dann hatte sie den leichten Stich an ihrem rechten Hinterlauf gespürt und ihre Welt geriet aus den Fugen. Während ihr das Denken immer schwerer fiel, blieb nur noch ein Drang: Sich möglichst weit von ihrer Höhle und damit ihren beiden neuen Lieblingen zu entfernen, damit diese nicht in die Hände dieser seltsam riechenden und noch seltsamer aussehenden Menschen geriet, die ihr nicht länger lächerlich erschienen, sondern in ihrer Bemalung immer bedrohlicher wirkten.

Und dieser Schmerz, der sich anfühlte, als würden alle ihre Gliedmaßen lichterloh brennen.

Es war den Verfolgern aus den mittelamerikanischen Gefilden ein Leichtes, dem gewaltigen Tier zu folgen. Es war nichts Heroisches daran, als ihr Anführer letzten Endes seinen tödlichen Pfeil auf den Bären schoss, der am Hals sein immer noch sehr dichtes Fell durchdrang und sich nur kurz festhakte, ehe er von der stürmischen Bewegung der riesigen Kreatur wieder losgeschüttelt wurde.

Es war jedoch schon zu spät. Die vergiftete Spitze hatte ihr Ziel erreicht.

Als Yssaahn und Salao im Schutz einer Ansammlung großer Kiefern den Ursprung des schmalen schwarzen Baches erreichten, der diesem so trügerisch still daliegenden Teich entsprang, waren sie total überrascht, dass ihre Stäbe sie nicht hinaus in Freie stolpern ließen, sondern innehielten und regungslos in der Luft standen. Der von Yssaahn berührte dabei den Boden genau so selbstverständlich, wie der von Salao in der Luft schwebte.

Sie sahen sich beide an. Die Anspannung hatte sich in keiner Weise verändert. Sie waren wohl nicht wegen der Kinder da, die auf der anderen Seite, vielleicht 20 oder 30 Meter von ihnen entfernt spielten.

Jedenfalls nicht direkt.

Nur was der Grund war, war noch nicht klar.

In diesem Moment erklang erschreckend nah ein fürchterliches Gebrüll reinster Agonie, und zerberstende Äste wurden zu ihrer Linken immer lauter.

„Oh mächtiger Gott“, entfuhr es Salao halblaut und er zerrte an seinem Stab. Was sich da auch immer näherte, durchpflügte gerade den Wald auf der anderen Seite des schwarzen Baches und kam immer näher.

Die Kinder hielten in ihrem Spiel erschrocken inne und blickten in dieselbe Richtung wie die beiden Sucher.

„Jetzt lasst uns endlich etwas tun“, bettelte Yssaahn mit zusammengebissenen Zähnen und zerrte an ihrem Stab. Sie strauchelte, als der sich plötzlich löste. Sie und Salao zögerten nicht lange und machten sich gar nicht erst die Mühe, erst vorsichtig zu klären, ob die Entfernung zur anderen Seite des Baches vielleicht zu breit war, oder ob die andere Seite überhaupt genügend Halt bieten würde. Beide waren mit wenigen Sätzen an einer sanften Uferböschung und sprangen gleichzeitig los.

Beide hörten einen leisen Schrei eines Adlers, der aber noch ziemlich weit weg zu sein schien, und kamen nebeneinander auf der anderen Seite auf, mitten in einem riesigen Busch Brennnessel. Salao strauchelte, aber Yssaahn umpackte seinen Arm und verhinderte einen Fall, ehe sie ihren Stab wie eine Machete vor sich her schwang und sich damit einen Eingang in das Dickicht vor ihnen verschaffte, in dem das Brüllen erneut zu hören war.

Salao folgte seiner Gefährtin durch das Loch, weder auf den Kontakt mit den Brennnesseln, noch den genauso schmerzhaften mit den Brombeerranken achtend, die sich mit seiner Kleidung verhakten und schmerzhafte Striemen auf ihren Armen und Beinen hinterließen. Als er endlich unter den Riesenbäumen ankam, geriet er ins Straucheln, als sein Gehirn eine Welle unfassbaren Schmerzes überrollte, dass von einem gewaltigen Bären ausging, der gut ein Dutzend Meter von ihm entfernt in Richtung auf den See zu torkelte. Er fasste sich aufstöhnend an seinen Kopf, während Yssaahn ihn nun an seinem rechten Arm kurz unter seiner rechten Schulter fasste und mit sich riss, ihren Stab zu Stabilisierung in den Waldboden rammend.

Zu ihrer Rechten schrien jetzt auch die Kinder auf und stoben auseinander. Ein schmerzhafter Schrei erklang, doch die beiden Sucher konnten sich im Moment nicht darum kümmern und versuchten, dem gewaltigen torkelnden Tier zu Weg abzuschneiden.

Trotz seiner gewaltigen Schmerzen war der Bär aber noch immer schneller als die beiden, zumal ihn auch der Ast, der sich in seine linke Seite gebohrt hatte, ehe er abbrach, nicht weiter bremsen konnte. Das Tier walzte laut brüllend an ihnen vorbei und sie konnten nichts weiter machen, als ihm zu folgen.

„Barmherzige Mutter“, entfuhr es Yssaahn, als ihr Blick nach rechts fiel und sie den Grund des Schreies begriff, den sie nur nebenbei wahrgenommen hatte. Ein junges Mädchen war gestolpert und hatte sich ihren rechten Fuß verletzt. Mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund starrte sie auf das riesige Tier, das genau auf sie zu stolperte. Ein anderes blondes Mädchen war bei ihr und versuchte hektisch, den verhakten Fuß freizubekommen.

Plötzlich fiel ein dunkler Schatten auf die beiden Mädchen und die Blonde blickte kurz nach oben, um dann noch hektischer an dem Bein des anderen Mädchens zu zerren, was nur zu noch größeren Schmerzen führte, ohne dass sie ihn frei bekam.

Der Schatten aus der Luft wurde rasch größer, zusammen mit einem markerschütternden Schrei des Raubvogels, der verdächtig nach „NEIN!“ klang und ein riesiger Adler landete einige Meter neben den Mädchen grellgelb leuchtend im Gras und stolperte der Länge nach hin.

Der riesige Bär hielt kurz verwirrt inne, was Yssaahn und Salao die Chance eröffnete, sich zwischen ihn und die beiden Mädchen zu platzieren. Warum beide die noch immer leuchtende Gestalt ignorierten, als wäre sie keine Bedrohung, konnten sie später nicht mehr sagen, aber beide reagierten, ohne groß nachzudenken. Salao stellte sich so hin, dass er das gewaltige Tier direkt ansah, während Yssaahn zu den beiden Mädchen sprang. Salao schrie.

„Lass die Kinder in Ruhe!“

Dabei rammte er seinen Stab, der bereits silbern glitzerte, in den Boden. Das Glitzern breite sich blitzschnell auf ihn aus und mit einem Mal stand nicht nur ein Mensch vor dem Bären, sondern eine ganze Reihe identisch aussehender Salaos, die jeder einen leuchtenden Stab hielten. Dabei waren die Abbilder mindestens zweieinhalb Meter hoch und versperrten dem verwirrten Tier die Sicht auf das schwarze Gewässer und die Menschen. Das Tier brüllte auf, weil sich das Glitzern dieses ‚Zauns‘ wie spitze Messer in seine Augen bohrte. Der Bär erhob sich auf die Hinterbeine, brüllte erneut auf und tapste auf den silbernen Wall zu. So verwirrt und rasend vor Schmerzen er auch war, schreckte er dann doch vor dem Hindernis zurück. Er schwang nur eine der gewaltigen Pranken mit deutlich sichtbar ausgefahrenen Krallen und schwang sie von oben nach unten an der Mauer entlang. Er ritzte dabei vier Finger von Salaos Hand, der vor Schmerz die Luft einsog, den Griff aber nicht lockerte. Benommen schüttelte sich die so aufgerichtet gut zwei Meter hohe Gestalt des Bären, wandte sich ab und fiel wieder auf alle Viere zurück, um dann ganz zu Boden zu sinken und einen gequälten Laut auszustoßen, der den Kindern und den Suchern direkt ins Herz stach. Es folgte ein stoßhafter Atem, ehe das Tier regungslos liegen blieb und sich nicht mehr rührte. Im gleichen Moment ertönte von allen Seiten aus dem Wald ein triumphales Geheul und erschreckend aussehende menschliche Gestalten brachen hervor, allen voran ein bunt bemaltes Etwas mit bunten Federn auf seinem Kopf und leuchtenden Augen, in denen im Moment nur wenig Menschliches zu sehen war.

Das grellgelbe Leuchten flammte erneut auf und ein fürchterliches Brüllen ertönte, während eine gewaltige Gestalt mit pink-schwarzen Streifen mit Leichtigkeit über die Phalanx der silbernen Stäbe sprang und zwischen Salao und dem Bären den Boden berührte und erneut gelb aufleuchtete. Dieses Mal war das „NEIN!“ deutlich zu hören und eine Welle der Macht ging von der Gestalt aus und ließ Salao vor Schmerz und Überraschung kurz wanken, ehe er sich dann aber wieder fing. Warum er sich die ganze Zeit sicher war, dass der Bär nicht an ihm vorbeigekommen wäre, konnte Salao nicht sagen, aber er war auf geheimnisvolle Art und Weise mit dem Boden tief verwurzelt und seine Abbilder reichten auf beiden Seiten bis zu je einer riesigen alten Eiche. Zusammen mit ihm und seinem Stab bildeten sie eine Barriere.

Yssaahn war bei den Mädchen angelangt und hatte den Fuß der Gefallenen mit den dunkelblonden Streifen in ihren mittelbraunen Haaren gelöst, indem sie mit ihrem Stab die Wurzel berührte, die plötzlich wegzuschmelzen schien und den unnatürlich verdrehten Fuß freigab.

Von ihnen aus gesehen hinter der silbernen Barriere erlosch das gelbe Leuchten und der riesige Säbelzahntiger, der die Barriere so mühelos überwunden hatte, verwandelte sich in ein Mädchen von vielleicht 14 oder 15 Jahren in einem von Wut und Schmerz verzerrtem Gesicht, auf dem die Tränen herunterliefen. Sie hatte ihre Hände erhoben. Beide leuchteten gelb auf und sie klatschte sie über dem Kopf zusammen. Eine gewaltige Druckwelle breitete sich von ihr aus und schleuderte die bunten Gestalten nach hinten, wobei alle Waffen, welcher Art auch immer, zerbarsten und dabei auch die eine oder andere Verletzung anrichteten.

„Ich seid wirklich das Hinterletzte!“ schrie sie voller Verachtung in den Wald, ehe sie sich heulend auf das Bärenmonster warf, das reglos auf dem Boden lag. Sofort umgab beide ein helles metallisch gelbes Leuchten, das aber leider zu spät kommen würde. Salao seufzte und starrte in den Wald vor sich, in dem diese seltsamen Menschen, die anders aussahen, als alle, die er je gesehen hatte, sich langsam wieder aufrappelten und sich um den besonders bunten zu sammeln schienen.

„NEIN! WARUM SIE?!“

Der Schrei des Mädchens war so gewaltig, dass sich auch Salao mit beiden Händen an den Kopf fasste und dabei die Verbindung mit den beiden Bäumen verlor. Dabei erloschen sowohl die Reihe der silbernen Stäbe als auch die der silbernen Salaos und es gab nur noch einen Salao, der sich seinen Sucherstab unter den Arm klemmte und seine blutenden Finger untersuchte. Der Schrei war dabei bei Weitem nicht nur durch seine Ohren gebrochen. Er schien gleichermaßen in seinem Gehirn zu explodieren. Während er noch darüber nachdachte, wie weit er wohl zu 'hören' gewesen war, erschienen gleichzeitig um das schrecklich heulende Mädchen herum fünf weitere Personen, die alle in Kampfhaltung mit gezückten Waffen, irgendwelchen langen Stäben, nach außen blickten. Hätte er noch einen weiteren Hinweis benötigt, wären es die verschiedenen Farben gewesen, die jede der Personen einen Moment lang umgab, ehe sie erloschen. Damit war auch klar, wer das Mädchen war, das heulend sein Gesicht in dem zerzausten Fell des Bären verbarg. Das war genauso sicher die Hüterin der Tiere mit ihrer gelben Magie, wie die beiden anderen jungen Frauen ihre Schwestern und die drei jungen Männer die Meister der Elemente waren. Salao schluckte. Es war schon etwas anderes, einer Legende zu begegnen, als von ihr nur zu hören. Die Älteste der drei, die bei ihrer Ankunft zufällig in seine Richtung und damit in die des verletzten Mädchens geblickt hatte, verschwand und hockte plötzlich neben Yssaahn, die sich gewaltig erschrak.

„Kommst du hier klar?“ erkundigte sich die junge Frau und ein Frösteln lief Yssaahn über ihre zerkratzten Arme, als sie die magische Kraft fast körperlich spürte. Und dann hieß es auch noch, die 6 Kinder hätten einen Großteil der Macht, die sie für die Entscheidung über Terralt benötigten, danach verloren!

Sie beugte sich jetzt vor, lächelte das Mädchen mit dem gebrochenen Fußgelenk an und hielt ihre Hand über das entsprechende Gelenk. „Hallo Mel. Das ist ja wohl ein eindeutiger Fall von 'zur falschen Zeit am falschen Ort ‘“, plauderte sie los und ihre Hand und das Gelenk des Mädchens leuchteten sanftrot auf. Yssaahn sah, wie sich der Fuß wieder in die richtige Stellung brachte und der Splitterbruch, der sich unter der Haut deutlich abgezeichnet hatte, verschwand. Sie blickte kurz zu Yssaahn hoch. „Entschuldige, aber im Moment bin ich da wohl doch schneller.“

Yssaahn sollte sich irgendwann wieder an diesen Satz erinnern, ohne ihn in diesem Moment auch nur ansatzweise zu verstehen.

Die junge Frau hob plötzlich ihren Kopf und schien zu lauschen, ehe sie sich in einer fließenden Bewegung erhob.

„Entschuldigt“, meinte sie im Weggehen und nickte ihnen noch einmal kurz zu. „Ich glaube, wir müssen jetzt Recht sprechen.“ Damit verschwand sie mitten im Schritt und kniete dann plötzlich neben ihrer haltlos weinen Schwester.

Ganz nebenbei war über ihren Köpfen ein Wasserstrahl aus dem See genau auf die Gruppe der erfolgreichen Jäger zugeschossen und hatte sich als plötzlich undurchdringliche riesige Kugel um sie gelegt. Beide der neu angekommenen Mädchen versuchten das jüngste Mädchen zu trösten, was aber nicht richtig gelang.

„WARUM? Warum haben sie sie getötet? Sie hat ihnen doch gar nichts getan!“

„Ich weiß es auch nicht genau“, versuchte die Älteste zu erklären. „Wenn ich 'unser Geschenk' Sardu richtig verstanden habe, töten sie starke wilde Tiere gerne, um so an ihre Lebenskraft zu kommen, wie immer das auch gehen soll!“

„Aber sie ist doch eine Mutter! Sie hat doch zwei Kinder!“

„Ich glaube, dass ihnen das egal ist“, meinte jetzt die dritte schlanke junge Frau mit den langen dunklen Haaren.

Dabei schienen die, um die es ging, in ihrer Wasserblase lautstark zu wüten, ohne dass man etwas hörte und ohne dass die Mädchen und die drei Jungen sie auch nur eines Blickes würdigten.

„Sie sollen verschwinden“, bestimmte die Hüterin der Tiere und warf ihnen einen hasserfüllten Blick hinüber. „Sie sollen wieder dahin zurückgehen, wo sie hergekommen sind.“

„Taraz meint, wir müssten sie nur zu ihr schicken und sie würde sie dann gleich in ihre Pyramide in den mittelamerikanischen Urwald senden, wo sie hergekommen sind.“

„Und sie kommen dann sicher nie wieder?“, schniefte das Mädchen und streichelte noch immer den Kopf der Bärin. Sie wirkte mit einem Mal sehr jung und verletzlich.

„Dafür werden die Persönlichkeiten der Steinkreise schon sorgen“, meinte der junge, sehr schlanke Mann und ließ die Wasserkugel etwas schrumpfen, damit die darin Gefangenen nicht mehr so herumtobten. „Sie können ab jetzt noch zwischen den verschiedenen Pyramiden in dem Teil, den ihr auf Terra wohl Mittelamerika nennt, hin und herspringen, aber das wird es dann auch gewesen sein.“

Das Mädchen mit den dunklen Haaren in dem dunkelgelben Umhang nickte und umarmte die Bärin noch einmal. „Ich werde mich um deine Kinder kümmern. Ich habe noch Verbindung zu deinen anderen Kindern und da gibt es eine, die in diesem Winter keine Kinder bekommen hat.“

„Kannst du die so halten?“, erkundigte sich der rothaariger junger Mann bei dem grinsenden schlanken Mann, der der Meister des Wasser sein musste.

„Kein Problem, wieso?“

„Dann hebe sie etwas an. Das macht den Transport einfacher.“

Der schlanke Mann nickte und die heroischen Jäger aus einem der größten Königreiche in Mittelamerika stiegen etwas an und kugelten dann im Innern der Sphäre herum, während sie immer noch wild gestikulierten, was aber niemanden groß zu interessieren schien.

Als sie in einem Meter Höhe schwebten, meinte der dritte dunkelhaarige Junge nur: „Jetzt.“

Damit war die Wasserkugel plötzlich leer und löste sich in einen heftigen Schwall Wasser auf, der sich über den Waldboden ergoss.

Die Jungen blickten noch kurz zu den beiden Suchern und beiden Mädchen hinüber und nickten ihnen zu, während von der anderen Seite des Sees her viele Stimmen erklangen. Die anderen Kinder hatten offensichtlich Erwachsene geholt.

„Entschuldigt, aber es wird da garantiert in Kürze noch ein paar dieser blöden Sitzungen geben und eure Eltern sind ja auch schon da“, stellte der rothaarige Junge lächelnd fest. Dann sah er kurz Salao und dann Yssaahn an. „Es wäre schön, wenn wir uns beim nächsten Mal unter angenehmeren Verhältnissen treffen.“

Damit nickte er ihnen zu und zwei der drei Jungen verschwanden, gefolgt von den beiden Mädchen. Nur die Hüterin der Tiere und der rothaarige Junge blieben zurück. Der rechte Arm beider glühte auf und sie sahen sich wortlos an, bis der Rothaarige schließlich nickte. Dann glühte die Hüterin der Tiere erneut gelb und verwandelte sich in eine pinke Bärin, schrie ihren Schmerz in den Himmel hinauf und der Leichnam der Bärin verschwand unter einem goldenen Leuchten, während der Boden merklich vibrierte. Sie verwandelte sich wieder zurück in einen sehr traurigen Menschen und wartete ab. Es dauerte einige Minuten, ehe die Vibration nicht mehr zu spüren war und sich der goldene Schimmer verzog. Die Hüterin starrte auf die Gestalt am Boden und Tränen liefen über ihre Wangen. Der rothaarige junge Mann trat zu ihr und umarmte sie.

„Es tut mir leid, Vanessa. Besser bekomme ich es nicht hin.“

„Das ist schon gut so, Ian. Ich wollte nur nicht, dass sie einfach hier liegen bleibt, auch wenn ich ja schon einige der Aasfresser kenne“, meinte die Hüterin und wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. „Und ich finde, dass sie aussieht, als würde sie nur Schlafen.“

Sie strich vorsichtig über die Oberfläche der Gestalt und nickte, ehe sie sich erhob und fast verschämt zu den Mädchen und den beiden Suchern herüberblickte.

„Es tut mir Leid, dass ihr das mit ansehen musstet“, meinte sie leise und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Diese Bärin war eine der wertvollsten Geschöpfe, die ich bisher kennengelernt habe und es ist wirklich eine Schande, dass sie so enden musste.“

Sie seufzte.

„Jetzt ist sie eine Figur aus Stein und wird für immer hier bleiben und schlafen.“

„Wir sollten jetzt zurück zum Kreis“, meinte der Rothaarige sanft und legte seinen Arm um ihre Schultern. „Der Gildemeister der Magie will genau wissen, was passiert ist.“

Vanessa nickte gedankenverloren, lächelte die 4 noch einmal an und beide waren mit einem Mal verschwunden.

„Was haben denn die Hüterin der Tiere und der Meister der Erde da gemacht?“, erkundigte sich plötzlich eine sanfte Stimme hinter ihnen und Yssaahn und Salao blickten erstaunt in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.

Eine Frau von Mitte 40 mit einem dunkelgrauen Wuschelkopf sah sie freundlich an und trat nun aus der Gruppe von 6 Erwachsenen und mindestens genauso vielen Kindern hervor und kam auf sie zu. Zum Erstaunen der beiden Sucher umarmte sie erst Salao und dann Yssaahn herzlich.

„Ich danke euch von Herzen“, meinte sie dabei. „als wir ankamen, waren wir auf der falschen Seite des Sees. So konnten wir wohl alles mit ansehen, aber leider nichts tun.“ Als sie die Umarmung beendet hatte, trat sie einen Schritt zurück und verbeugte sich.

„Ihr habt euch, ohne zu zögern, dem Bären in den Weg gestellt und dafür danke nicht nur ich euch von Herzen“, meinte die Frau und lächelte sie an, während die beiden immer noch ziemlich verstörten Mädchen auf zwei Erwachsene zugingen und dort mit offenen Armen empfangen wurde. Zumindest traf dies auf eines der beiden Mädchen zu, während die Blonde etwas unsicher dastand, bis die Frau, die die Sucher umarmt hatte, ihr die Hand auf ihre Schulter legte und zu sich zog.

„Außerdem war es eine Freude, endlich einmal mit eigenen Augen sehen zu können, wozu die Sucherstäbe, die wir schon seit vielen vielen Jahrhunderten formen, in der Lage sind.“ Sie nickte den Beiden zu. „Bitte kommt mit in unser Dorf. Es ist schon lange her, dass Sucher ihren Weg zu uns Symbiosane gefunden haben.“

Ihr Lächeln verstärkte sich, als sie die erstaunten Gesichtsausdrücke von Yssaahn und Salao sah und nickte bestätigend.

„Wir sind Symbiosane und es ist sehr wahrscheinlich, dass eure Stäbe beide aus unserem Dorf kamen“, erklärte sie und wandte sich dann zum Gehen. „Aber das wird sich klären, wenn wir in Bleibe ankommen. So nennen wir unser kleines Dorf.“

Yssaahn und Salao sahen sich verwundert an und Salao zuckte schließlich nur mit den Schultern und deutete in Richtung der kleinen bunt gemischen Gruppe, wo sie besonders von den Kindern neugierig gemustert wurden.

Yssaahn warf noch einen letzten Blick auf die reglose Gestalt und schüttelte den Kopf. Die Figur sah wirklich aus, als wäre sie aus Stein oder aus einer Art Metall. Der Meister der Erde. Er hatte die tote Bärin wirklich in etwas verwandelt, was für niemanden eine Trophäe sein konnte und was, schon wegen seines wahrscheinlich ziemlich gewaltigen Gewichts noch für lange Zeit genau an dieser Stelle liegen bleiben würde.

Sie spürte, wie Salaos Hand sie berührte und sah ihn an, ehe ihr Blick sich der Gruppe von Menschen zuwandte, denen sie jetzt folgen würden, zumal sowohl sie als auch ihr Partner den ganz leichten Zug in ihrem Sucherstab spürte, der sie bat, diesen Menschen zu folgen.

Einer Gruppe der geheimnisvollen, fast unbekannten und verlachten Symbiosane, die es auf Terralt schon sehr sehr lange gab. Fast genauso alt waren die Gerüchte und die spöttischen Bemerkungen, die in dem Spruch „Feige wie ein Symbiosane“ gipfelten.

Warum hatten ihre Stäbe sie gerade hier hingeführt? Sie würden es noch erfahren. Bisher hatten sie ihnen viele Erfahrungen und Freunde beschert, die ihr Leben auf jede nur mögliche Art erweitert und bereichert hatten. Warum sollte es jetzt anders sein?!

Sie nahm die Hand von Salao, die er ihr hinhielt, an und Salao konnte einen Schmerzlaut nicht verbergen. Sofort sah sich Yssaahn seine Finger an und rief der Gruppe, die schon zwischen den Bäumen zu verschwinden drohten, zu, dass sie sich noch um ihren Partner kümmern müsste. Die Frau mit den sanften sprechenden Augen kam sofort zurück und half Yssaahn dabei, Salaos Wunden zu säubern, ehe sie aus ihrer Umhängetasche einen kleinen Tiegel mit einer Salbe und ein Stück Stoff entnahm und die Wunden verband. Gemeinsam folgten sie der seltsamen Gruppe tiefer in den Wald hinein, weg von dem schwarzen See und der steinernen Figur einer Bärin, die hier auf ewig schlafen würde.

01.5 – Für alle, die Terralt noch nicht kennen

Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um noch ein kleines Kapitel einzuflechten, ehe einige Nebenfiguren auftauchen, die einmal Hauptfiguren waren, und zwar in der Trilogie der drei Hüterinnen von Terralt und der Pyramidenprophezeiung, die vor drei Jahren mit dem ungewollten Übertritt dieser drei Mädchen und ihrer Mutter von Terra nach Terralt begann und schließlich in einem Kampf gegen das Böse und noch viel mehr gipfelte. Mit der Begleitung ihrer Geschichte hat die Arbeit des Chronisten von Portbach auf Terralt angefangen und für die unter euch, die sie bisher noch nicht gelesen haben, ist zumindest eine grobe Einordnung dieser Figuren an dieser Stelle notwendig.

Eigentlich ist dieses Buch über die entscheidenden Vorkommnisse und Entwicklungen der Symbiosane in sich abgeschlossen und unabhängig von den zeitlich vorher liegenden spannenden Entwicklungen auf unserer Schwesterwelt Terralt.

Man muss auch nicht wissen, dass unsere Welt, also Terra, Teil einer Gruppe von vormals 6 und heute noch 5 Welten ist, die durch Tore (also Portale) miteinander verbunden ist. Dabei sind die Portale von Terra und Terralt die ungewöhnlichsten, da sie nur von Terra nach Terralt zu durchqueren sind. Auf der Erde kennt man die Menschen, die sie durchschreiten nur als die, die ohne eine Spur verschwunden sind.

Trotzdem ist es ein Fakt, dass gerade der Ort und die Zeit auf Terralt erst den Anlass liefern, der zu der Suche eines neuen Lebensraumes führt und damit auch eine Folge der Entwicklungen darstellt, wie sie die drei Mädchen und deren Mutter von Terra ausgelöst haben, zu denen dann noch drei Jungen von Terralt stießen.

Die ersten, die die Hüterinnen genannt werden und die letzten, die zu den Meistern wurden sind alle 6 fest und tief in den magischen Energien von Terralt verwurzelt, haben zusammen die Pyramidenprophezeiung erfüllt und den Weg in die Zukunft des Planeten bestimmt, indem sie den Weg geebnet haben, auf dem die jungen Menschen des Planeten die Richtung in die Zukunft bestimmt haben.

Auch nach dieser Entscheidung gehören die Mädchen und Jungen noch zu den mächtigsten Menschen des Planeten und haben auch weiterhin die Möglichkeit und Pflicht, mit diesen Fähigkeiten zu helfen, sei es den Bewohnern des Planeten (Mensch, Tier und Pflanze), als auch dem Kräften der Natur.

Ihr Lebensmittelpunkt bleibt in Portbach, was auf Terralt ziemlich genau an derselben Stelle zu finden ist, wie auf Terra die Stadt Bonn mit seinen Stadtvierteln.

Dieser neue Ort der Macht verändert aber auch die Umgebung um Portbach und rückt damit die kleine Gruppe der Symbiosane in den Fokus des Chronisten.

Esther (die Hüterin der Menschen), Janessa (die Hüterin der Pflanzen und Bäume), sowie Vanessa (die Hüterin der Tiere) tauchen auch jetzt noch genauso auf wie die Meister der Erde, des Wassers und der Luft (Ian, Pascal und Ipharim) , die auch jetzt noch wichtige Aufgaben zu erfüllen haben und ihre Wege kreuzen sich mit denen der Symbiosane.

Eigentlich scheinen diese Symbiosane dabei nur eine Randnotiz am Lebensblock der Geschichte der Welt von Terralt zu sein ... eigentlich

02 – Ein Dorf namens Bleibe

Yssa und besonders Salao waren froh, dass sich die kleine Gruppe schon wegen der kleineren Kinder recht langsam durch den Wald bewegte. Neben der Verletzung von Salao waren beide auch ziemlich kaputt. Schließlich waren beide das letzte Stück durch sehr unwegsames Gelände gerannt und das Wirken von Magie forderte von dem, der sie vollbrachte, auch immer ihren Tribut. Auch das traf wieder in besonderem Maße Salao. Yssa reichte ihm mehrmals die Wasserflasche.

„Ich komme mir fast vor wie ein alter Opa“, meinte er schließlich ein wenig gereizt und nickte in Richtung seines Sucherstabes. „Wenigstens gut, dass wir die Stäbe überhaupt haben.“ Er sah auf seinen und runzelte etwas die Stirn. „Auch wenn mich das Vibrieren jetzt ein wenig irritiert.“

Yssa sah ihn mit großen Augen an und hielt ihren Stab einfach nur fest. Es stimmte. Auch ihrer war ganz leicht am Vibrieren. So leicht, dass es bestimmt keine Nachricht an sie beiden war.

„Gibt es ein Problem?“, fragte die dunkelhaarige Frau mit den sanften Gesichtszügen und der genauso sanften Stimme und wandte sich an der Stelle, wo ein wohl schon häufiger befahrener Weg ihren Trampelpfad vom Sumpfsee querte, mit sorgenvoll gerunzelter Stirn an sie.

Yssa lächelte sie an und schüttelte den Kopf. Von dieser Frau ging eine ungewöhnliche und sehr starke sanfte Kraft aus und sie wurde ihr immer sympathischer, je länger sie in ihrer Nähe waren.

„Nein es geht schon. Irgendwie benehmen sich unsere Stäbe auf einmal ein wenig seltsam.“

Sie war sich schon im Klaren darüber, dass das ein wenig seltsam klang, aber sie hatte einfach das Gefühl, das sie der Frau die Wahrheit sagen konnte und sollte. Als diese jetzt kurz auflachte, überraschte sie diese Reaktion aber doch schon.

„Das kann durchaus sein“, erklärte sie grinsend und sah zu den Stöcken ohne sie zu berühren. „Wenn ich ihre Aura richtig deute, erkennen sie, dass sie sich dem Platz nähern, an dem sie entstanden sind. Da braucht ihr euch aber bestimmt keine Sorgen zu machen.“ Damit wandte sie sich einem etwa fünfjährigen Mädchen zu, was ihr aufgeregt etwas zuflüsterte. Es schien eine Schwester des Mädchens zu sein, das Yssa vor dem wahnsinnigen Bären gerettet hatte und dass mit einem anderen etwa gleichaltrigen Mädchen um die Gruppe herum durch den Wald lief, als wäre ihr Knöchel nie gebrochen gewesen. Jetzt wo sie die 6 einmal erlebt hatten, wurde ihr erst bewusst, wie gewaltig die Magie war, über die diese Jugendlichen verfügten. Und wie nebenbei die Hüterin der Menschen das Mädchen geheilt hatte!

Yssaahns Nackenhaare schienen sich aufzustellen und sie blickte in das Unterholz zu ihrer Rechten. Sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden, und ihr Blick kreuzte sich mit dem einer Frau von Anfang bis Mitte 20 in einem sehr altertümlich wirkenden Gewand aus Leder und einem Bogen auf ihrem Rücken. Sie stand so gut verborgen und regungslos im Unterholz, dass es schon alleine deswegen eigentlich gar nicht verständlich war, dass Yssa sie überhaupt wahrgenommen hatte. Sogar auf die Entfernung schienen die Augen sie abschätzend zu durchbohren. Gleichzeitig strahlte die schmale Gestalt eine fast greifbare Traurigkeit aus. Sie fasste blind nach Salao, der zu ihr hinübersah.

„Was ist Yssa?“

„Da im Unterholz ...“

„Wo?“ Salao folgte ihrem Blick. „Ich kann nichts sehen.“

Yssa sah ihn kurz ungläubig an. Als sie ihren Blick wieder dem dichten Geflecht aus frühlingshaft frischen Büschen zuwandte, waren sowohl die Gestalt als auch das Gefühl, das von der Frau ausgegangen war, verschwunden.

„Ach nichts. Wahrscheinlich habe ich mich getäuscht.“

Sie sah noch einmal suchend hinüber, schüttelte dann aber den Kopf und beeilte sich, weiter an Salaos Seite zu bleiben. Dabei war sie sich ganz sicher, diese seltsame Gestalt gesehen zu haben, die sie mit einer seltsamen Mischung aus Neugierde und taxierendem Interesse angesehen hatte und dabei gleichzeitig unglaublich machtvoll und so unheimlich passend gewirkt hatte. Ihr fiel einfach keine bessere Beschreibung ein. Yssa atmete noch einmal tief ein und wandte sich dann dem Mädchen zu, dass sie beschützt hatte und dass plötzlich neben ihr auftauchte und gleichzeitig schüchtern und selbstsicher zu ihr hoch blickte.

„Ich bin Melynnah“, stellte sich das Mädchen mit den ungewöhnlich klaren Augen, die mit ihrem äußeren dunklen Kranz um diese helle Iris fast etwas Katzenhaftes hatten und der Stupsnase vor, und schaute kurz zu ihr hoch. „Bist du eine Sucherin?“

„Ja. Mein Gefährte und ich sind Sucher und mein Name ist Yssaahn, aber du kannst mich ruhig Yssa nennen.“

„Yssaahn“, wiederholte Melynnah und schien den Namen neugierig zu schmecken. Sie tat dies mit einer fast andächtigen Ernsthaftigkeit, während sie neben Yssa weiter dem Fahrweg folgte. „Habt ihr viel erlebt?“

Yssa sah ein wenig erstaunt zu dem Mädchen mit den schulterlangen braunen gewellten Haaren neben sich hinunter. Dass Kinder ihnen neugierig Fragen stellten, wenn sie sie als Sucher erkannten, war ja nichts Neues, aber dann ging es zumeist um die Fähigkeiten der Sucherstäbe und warum sie eigentlich zu Suchern geworden waren.

„Das kann man nun wirklich sagen“, gab sie schließlich zu. „Besonders seit nicht nur die Steinkreise das Reisen wieder vereinfachen, sondern auch noch heilige Haine, Tempelbezirke und andere magische Orte, weiß man häufig gar nicht, wo man sich befindet, wenn man den Sucherstäben gefolgt ist.“ Ihr Stab begann sanft zu vibrieren. Es war nicht das erste Mal, dass sie das Gefühl hatte, er würde sie verstehen. Sie spürte etwas wie Stolz. „Wir waren am Schwarzen Meer und dann noch weiter in einer kargen Gegend mit riesigen Bergen bis hin zum Land der aufgehenden Sonne.“

„Ich möchte auch einmal reisen, wenn ich groß bin“, gab Melynnah zu und seufzte sehnsüchtig und traurig zugleich.

„Wenn du das möchtest, wird es auch geschehen“, stellte Yssa fest.

„Symbiosane reisen nicht“, erwiderte Melynnah mit einer Bitterkeit die Yssa überraschte. „Sie halten sich im Hintergrund und machen sich ganz klein, damit man sie nicht sieht und am Leben lässt!“ Die Kraft, mit der sie das leise erklärte, erschreckte Yssa fast und sie blieb stehen und fasste das Mädchen vorsichtig an die Schulter.

„Ist es wirklich so schlimm eine Symbiosane zu sein?“

Melynnah presste die Lippen zusammen, als würde sie es bereuen, so offenherzig geredet zu haben, und sie sah scheu zu der Sucherin hinauf, ehe sie ganz leicht nickte.

„Wir sind nicht normal und rennen immer weg, wenn es eine Gefahr gibt“, stellte sie bitter fest.

„Gibt es denn gar nichts Besonderes was Symbiosane machen, was die anderen Menschen nicht können?“, fragte Yssa und entfernte ein Blatt aus Melynnahs Haaren.

„Doch schon“, gab diese zu. „Wir sind schließlich die Einzigen, denen die Bäume solche Stäbe geben.“ Sie überlegte. „Dann hat auch niemand so großes Gemüse wie Opa Tock und seine Frau. Und dann gibt es auch noch die Symbiosase, die in der Erde nach Edelsteinen und Metallen suchen und wunderschöne Sachen daraus machen können.“ In ihren Augen blitzte kurz Stolz auf und verschwand gleich wieder. „Aber unsere Häuser sehen komisch aus, wir haben keine Amulette wie normale Terraltler und werden in der Schule immer nur gehänselt.“

Yssa tat die Traurigkeit leid, die in Wellen von ihr ausging. Sie wurde aber abgelenkt, als ein anderes schlankes Mädchen mit glatten mittelbraunen Haaren und sehr sanften zarten Gesichtszügen plötzlich neben ihnen auftauchte, scheu zu Yssa blickte und dann kurz mit Melynnah flüsterte.

Yssaahn musste sich gar nicht umdrehen. Sie spürte auch so die Nähe von Salao.

„Das ist alles ziemlich intensiv und sehr sehr seltsam“, stellte er leise fest und Yssa nickte. „Hast du vielleicht eine Ahnung, wo das jetzt alles hinführt?“

Yssa sah ihn kurz an und schüttelte dann ihren Kopf. „Nein. Am besten schwimmen wir einfach mit dem Fluss und schauen, wo er uns hinbringt.“

Währenddessen waren sie weiter dem Weg gefolgt, bis sie an eine Kreuzung kamen, wo ein deutlich schmalerer und weniger befahrener Weg von dem, dem sie fast einen Kilometer gefolgt waren, nach rechts abging und zwischen dichtem Unterholz verschwand.

Am Abzweig wartete die Frau mittleren Altern mit den dunklen Locken auf sie. Von den anderen Erwachsenen und Kindern war nichts zu sehen. Nicht weit entfernt hörte man jedoch Kinderlachen aus dem Wald. Auch Melynnah und das andere Mädchen schlossen nun auf und erreichten die Kreuzung zur selben Zeit wie die Sucher.

„Hier geht es ab zu unserem Dorf“, erklärte die Frau mit der sanften Stimme und ihre dunklen Augen funkelten. „Es ist wohl bescheiden, aber es ist schon seit mehreren Jahrzehnten unser ganzer Stolz und wir würden euch gerne einladen, wenn euch eure Suche nicht woanders hinschicken sollte.“

Yssaahn sah Salao kurz an und drückte seine Hand, die sie, ohne es zu merken ergriffen hatte. „Wir, die Sucher Salao und Yssaahn nehmen dein Angebot gerne an.“ Sie deutete eine Verbeugung an. „Bei wem dürfen wir ein Nachtlager zum Schutz vor den Unwägbarkeiten der Natur aufschlagen?“

Die Frau lachte kurz auf und nickte lächelnd.

„Geschieht mir Recht“, erklärte sie und sah kurz zu den beiden Mädchen hinüber, die den Austausch erstaunt verfolgt hatten. „Yssaahn hat mir gerade auf eine perfekte Art der Sucher um die Ohren gehauen, dass ich das Dorf und mich noch gar nicht vorgestellt habe.“

Sie trat einen Meter vor Yssaahn und Salao, sodass sie vor beiden stand und verbeugte sich tief. „Gestattet mir, dass ich uns und mich vorstelle, verehrte Sucher. Das Dorf, dass euch Schutz für die Nacht, Speise und Trank und seine tiefe Dankbarkeit für euer Eingreifen anbietet, ist Bleibe und eine der wenigen Behausungen der Symbiosane, die es auf Terralt gibt. Ich, Illionah, eine der Weisen Frauen des Dorfes spreche die Einladung im Namen seiner Einwohner, unserer Schutzgötter und von der einzigartigen Schöpferin aus, ohne die Terralt nur ein erkalteter Stein in den Weiten des Kosmos wäre.“

„Wir nehmen die Einladung gerne an und bieten euch im Gegenzug an, unser Wissen und unsere Fähigkeiten dem Dorf zugutekommen zu lassen“, erwiderte Salao und verbeugte sich ebenfalls, was bei seiner schlanken, groß gewachsenen Gestalt sehr ernst und beeindruckend aussah. Als er sich wieder aufrichtete, umspielte ein Grinsen seine Mundwinkel. „Außerdem ist es schön, einmal die komplette Antwort zu hören, die zu unserer Frage als Sucher gehört.“

„Die Stäbe der Sucher werden seit unendlich langer Zeit von den Symbiosanen gezüchtet“, erklärte Illionah. „Es wäre kaum nachvollziehbar, wenn wir die Regeln nicht besser beherrschen würden, die zum Kult der Sucher gehören.“

„Ich wusste gar nicht, dass das eigentlich ein Kult ist“, stellte Yssaahn ehrlich erstaunt fest. Inzwischen waren die beiden Mädchen immer unruhiger geworden und besonders das sanfte, fast dürre Mädchen mit den langen glatten Haaren schien von einem Fuß auf den anderen zu treten.

„Ja, Schonnah?“

„Weise, können wir den Suchern vielleicht das Haus von Opa Tock zeigen?“

„Du darfst mich ruhig Illi nennen“, erklärte die Weise Frau verschmitzt und legte den Kopf ein wenig schief. „Wenn die Sucher daran interessiert sind, zu erfahren, wie zumindest ein Teil der Symbiosane wohnt, könnt ihr das gerne machen.“ Sie überlegte kurz. „Das würde den anderen Dorfbewohnern und mir noch etwas mehr Zeit lassen, die Unterkunft für Yssaahn und Salao vorzubereiten.“

Das Schonnah genannte Mädchen blickte die Sucher schüchtern und fragend an.

„Gerade das hat uns auf unserer langen Reise immer am meisten interessiert“, gab Salao ernst zu und seine nächste Bemerkung zeigte, dass er Melynnahs Aussagen weitestgehend mitbekommen hatte. „Wenn du fremde Menschen kennenlernen willst, musst du erleben, wie sie wohnen und leben. Dabei ist das, was für den einen das Normale ist für einen anderen Menschen mehr als exotisch.“ Ohne mit der Wimper zu zucken sah er zu, wie Melynnah diese Aussage aufnahm und verarbeitete.

„Dann folgt mir bitte“, erklärte Illionah und wandte sich wieder zum Gehen. „Es sind nur noch wenige Meter.“

Die Mädchen und die Sucher folgten ihr. Weder Yssaahn noch Salao konnten irgendein Anzeichen von einer Behausung sehen als sie schon nach wenigen Metern an eine Lichtung kamen, in deren Mitte einige mächtige Bäume um einen Hügel herum standen, die wiederum von einem breiten Ring einer Wiese mit saftigem Gras umgeben wurde. Auf ihr grasten friedlich mehrere Rinder, eine Gruppe Pferde und auch ein paar Schafe. Nur auf der rechten Seite sahen sie etwas, was wie eine große Holzhütte aussah. Illionah ging aber gar nicht auf diese zu, sondern wandte sich zielstrebig der großen Baumgruppe zu.

„Genau das meine ich“, brummelte Melynnah ein wenig unwirsch. „Jetzt stehen sie schon fast vor dem größten Haus des Dorfes und erkennen es noch nicht einmal. Ich sage ja, dass wir Symbiosane nicht normal sind.“

„Vielleicht ist es ja eher nicht normal, sich Häuser zu bauen, die sich nicht in die Landschaft einbetten, sondern von ihr verlangen, um sie herum zu wachsen“, warf Illionah über ihre Schulter zu ihnen zurück ein, ohne sich umzuwenden. „Bis gleich, werte Sucher.“ Salao lief rot an, als ihn sein Magen lautstark daran erinnerte, dass sich doch schon länger nichts mehr gegessen hatten und die Weise Frau bekam es mit und lachte kurz auf. „Genau. Etwas zu Essen und zu Trinken wird es dann natürlich auch geben.“

Die Mädchen führten die Sucher bis zum Beginn eines Hügels, der mitten aus der Wiese zu wachsen schien und etwa 3 oder 4 Meter hoch war. Er unterschied sich durch nichts vom Rest der Wiese und auch die beiden Schafe, die zufällig auf seiner Spitze grasten, unterschieden sich in nichts von den anderen am Fuße. Als sie stehen blieben und sich grinsend zu ihnen umwandten, begriffen weder Yssaahn noch Salao, warum sie nun eigentlich stehen blieben.

„Deswegen behaupten alle, wir hätte teilweise Häuser, die wirklich nicht normal wären“, stellte Melynnah fest und auf ihren Wangen erschienen kleine Grübchen.

„Ich verstehe nicht, was du meinst“, gab Yssaahn zu.

„Wir stehen hier genau vor dem Haus, indem Opa Tock, Torinah seine Frau, Gisslah und seit wenigen Wochen auch ihr Freund Dedock wohnen“, zählte sie auf. „Wenn ihr Sohn Tocksen, seine Frau Schezlah und Hannah einmal hier sind, wohnen sie da natürlich auch.“

Die Sucher sahen sich immer noch verwirrt an. Der Hügel erstreckte sich zu seiner Rechten bis dicht an die Baumgruppe heran und genau auf diese Baumgruppe steuerten die beiden Mädchen jetzt zu. Die vier hatten sie fast erreicht, als Salao einen leisen Pfiff ausstieß.

„Also das meint ihr damit“, stellte er fest und schüttelte den Kopf. „Das ist wirklich ungewöhnlich!“

Sie hatten die Bäume fast erreicht und konnten nun, als sie sich umdrehten, mehrere Dinge sehen. Der Hügel reichte wirklich bis fast an die Bäume heran und fiel dort steil fast 3 Meter ab. Sie konnten jetzt sehen, dass ein zweiteiliges Tor offen stand und auf dieser Seite auch noch ein paar kleine runde Fenster in das Innere des Hügels führten.

„Der ganze Hügel ist das Haus“, begriff Yssaahn verwundert. „Aber wieso ...“ Ihr gingen die Worte aus.

„Die Tocks sind entweder Symbiosale oder Symbiosabe“, erklärte Melynnah und erntete nur Unverständnis. „Symbiosale sind sehr eng mit dem Land verbunden und Symbiosabe mit den Bäumen.“ Die Sucher begannen ein wenig zu verstehen, hielten sich aber mit ihren Fragen zurück. „Illi kann das viel besser erklären“, stellte Melynnah fest und ging dann zum offenen Tor hinüber. „Oma Tori. Opa Tock. Seid ihr da?“

„Wo sollen wir denn sonst sein“, antwortete eine ruhige männliche Stimme und ein älterer Mann erschien an dem einen Flügel des Tors und sah zu ihnen hinüber. „Oh, Gäste! Willkommen in Bleibe. Wenn nicht die beiden Elfen bei ihnen wären, könnte man meinen, dass sie sich nur verlaufen haben!“

Dabei erschienen um seine klaren Augen unzählige Lachfalten und er kam auf sie zu und streckte ihnen seine Rechte entgegen. „Wie hat es sie denn hier hin verschlagen? Wir bekommen wirklich selten ...“

Er hielt inne, als sein Blick auf ihre Sucherstäbe fiel. „Sucher! Und das sogar gleich zwei und was noch ungewöhnlicher ist, mit zwei Sucherstäben, die mir sehr bekannt vorkommen. Wenn die nicht von unserer Tochter Doressnah geborgen wurden.“ Er musterte sie, ohne sie zu berühren. „Das die Stäbe ihren Entstehungsplatz besuchen, passiert auch nur sehr selten.“

Hinter ihm ertönte die Stimme einer älteren Frau, ehe man sie sah. „Das ist mal wieder typisch, Mann. Biete den Gästen doch erst einmal einen Sitzplatz an und vielleicht möchten sie ja auch ein wenig Brot und selbst gemachten Käse.“ eine Frau, die auch an die 70 zu sein schien, erschien hinter ihrem Mann und zwinkerte ihnen zu. „Haben sie vielleicht etwas mit der Unruhe zu tun, die vor Kurzem durch die Bäume gegangen ist?“

„Sie waren plötzlich da, als ein riesiger wütender Bär am schwarzen See auftauchte und auf uns zustürmte“, erzählte Melynnah und Schonnah nickte eifrig und mit hochrotem Kopf.

„Ein riesiger wütender Bär?“, echote die Frau ein wenig ungläubig und beide Mädchen nickten heftig.

„Und ihr flunkert auch nicht?“, vergewisserte sich Opa Tock immer noch ein wenig ungläubig.

„Die Mädchen haben Recht, Herr ... Tock“ bestätigte Yssaahn und zögerte bei dem Namen ein wenig, doch der so Angesprochene nickte kurz. „Die Mädchen haben uns eben so mit Namen überhäuft, dass ich mir im Moment gar nicht mehr sicher war. Sie haben aber wirklich recht. Wenn ich die Hüterin der Tiere richtig verstanden habe, haben sehr seltsame aussehende Menschen den Bären irgendwie vergiftet und deswegen war der so außer sich.“

„... und wenn die Sucher nicht gekommen wären und uns beschützt hätten, hätte uns der Bär angegriffen oder in den schwarzen See gejagt!“ Wieder beschränkte sich Schonnah darauf, zu der Erklärung von Melynnah zu nicken.

Opa Tock seufzte. „Jetzt könnte ich natürlich mal wieder davon anfangen, dass der schwarze See ja viel zu gefährlich ist, als das ihr da spielen solltet, aber das hat schon unsere eigenen Kinder nie wirklich interessiert.“

„Holt bitte die Schemel aus der Küche“, ordnete seine Frau an und die beiden Mädchen verschwanden hinter ihr im Dunkel des Hauses, das eigentlich ein ausgehöhlter Hügel war. Yssaahn fiel dabei nur auf, dass sie direkt hinter dem Tor einige Stufen hinunter gingen. Es gab wohl weitaus mehr Raum in diesem Haus, als man im ersten Moment dachte. Es dauerte einige Momente, ehe die Mädchen nicht nur mit zwei weiteren Schemeln mit Rückenlehne auftauchten, sondern auch noch einen Korb trugen, aus dem ein Brot und der Griff eines Messers herausragten.

„Danke, ihr seid ein paar Engel“, lobte die Frau und Melynnah stellte die beiden Schemel zu den beiden anderen, die schon vor dem Haus an einem einfachen Holztisch standen. Torinah deutete den Suchern an, sich zu setzen und die beiden Mädchen nahmen auf dem Stück Baumstamm Platz, das ebenfalls an einer Seite des Tischs stand.

Opa Tock hielt inne, als ein Pfeifen ertönte, das zu keinem Tier gehörte und auch keine erkennbare Melodie bildete. Er nickte und spitzte selbst die Lippen. Die Töne die er erzeugte, bildeten auch keine Melodie und waren mit Sicherheit anders als die, auf die er damit zu reagieren schien. Er grinste zu den Suchern, die sich wieder einmal verdutzt ansahen.

„Damit ist klar, dass ihr die Kinder wirklich gerettet habt“, stellte er fest und setzte sich auf einen Schemel, auf dem auch ein Schaffell lag. „Illi würde nie bei Fremden die Stimme der Vögel benutzen, wenn ihr nicht etwas Besonderes wäret.“ Er sah sie noch neugieriger an. „Und was so etwas anbelangt, hat sie sich noch nie geirrt!“ Er machte eine Pause. „Dafür ist sie einfach viel zu stark.“

Er lachte leise, als er die verdutzten Gesichter der Sucher sah. „Die Symbiosane waren lange genug die Prügelknaben der Völker Terralts“, erklärte er geheimnisvoll. „Auch wenn wir leider immer noch weit davon weg sind, die Größe längst vergangener Tage zu erreichen, weil uns ein ganzer Teil fehlt, ist es nicht bestreitbar, dass die magischen Kräfte der Symbiosane in den letzten Jahrzehnten immer mehr zugenommen haben, auch wenn sie so ganz anders sind, als die Kräfte herkömmlicher Terraltler.“

Dabei sah er nachdenklich zu den beiden Mädchen hinüber.

„Es wird etwas geschehen, auch wenn ich keine Ahnung habe was.“ Er machte eine Pause, in der seine Frau den Kopf schüttelte, während sie Stücke Brot abschnitt und dann einen runden Käse aus dem Korb nahm und auch ihn mit dem Messer bearbeitete. „Illa und die anderen brauchen jedenfalls noch etwas, bis alles vorbereitet ist. Daher lasst euch den Käse und das Brot schmecken. Ich hoffe, ihr mögt Schafskäse.“

Dabei lächelte er Yssaahn an, die ein wenig skeptisch auf den Käse herabsah, dann an ihm roch und vorsichtig hineinbiss. Erstaunen breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

„Er schmeckt toll!“, stellte sie fest und schien dabei selbst am überraschtesten zu sein.

Salao grinste und folgte ihrem Beispiel, ehe auch eher nickte. „Er ist wirklich sehr gut. Viel besser als der, den es immer am Schwarzen Meer gab.“

„Ihr seid in den fast zwei Jahren viel herumgekommen“, stellte Torinah fest. „Wie kommt es eigentlich, dass ihr zusammen losgezogen seid?“

Damit erzählten die Sucher, wie sie zu Suchern geworden waren und genossen es, sich Ausruhen zu können, während besonders die beiden Mädchen ihnen gebannt lauschten, nachdem sie noch ein paar Becher und einen Krug Wasser aus dem ungewöhnlichen Haus geholt hatten. Es dämmerte und wurde auch langsam immer kühler, ehe Kinderstimmen zu hören waren und die kleine Schwester von Melynnah zusammen mit einem blonden Mädchen auf die Sitzgruppe zukam.

„Hallo Hannah – Schatz“, wurde sie von Opa Tock begrüßt auf den sie auch sofort zusteuerte und ihn umarmte. „Ihr seid also auch wieder da.“

„Ja Opa. Pa hat die Kuh in Portbach gut verkauft. Die Hüterinnen waren auch kurz da und haben erzählt, was hier heute passiert ist. Das muss ja echt spannend gewesen sein.“ Man sah, dass sie ein bisschen neidisch auf die beiden anderen Mädchen war, die beide nickten und grinsten. „Und Sie sind die beiden Sucher.“

Sie hatte das leicht rundliche Gesicht, wie es wohl für die Tocks typisch war und lange blonde Locken, die im Moment als zwei dicke blonde Haarzöpfe fast senkrecht zu beiden Seiten des Kopfes abstanden. Sie verbeugte sich vor Yssaahn und Salao.

„Ich grüße euch, verehrte Sucher und soll euch sagen, dass sowohl das bescheidene warme Abendmahl als auch eure bescheidene Bleibe im Zentrum von Bleibe vorbereitet sind und auf euch warten.“

Dafür gab es von ihrem Opa den lobend erhobenen Daumen und ein Nicken. Die Enkelin umarmte ihren Großvater und dann auch ihre Großmutter und lief dann zu den anderen beiden Mädchen, die sofort in Richtung der Bäume aufbrachen und sich leise und aufgeregt miteinander unterhielten.

„Dann sollten wir auch langsam aufbrechen“, erklärte Opa Tock und erhob sich ein wenig schwerfällig, während Yssaahn und Salao den Käse und das Messer wieder in den Korb packten. Torinah murmelte wohl etwas unverständlich Abwehrendes, war aber offensichtlich schon dankbar, als Salao den Korb ergriff und wartete, bis sie sich erhoben hatte und vor ihr das Innere des Hauses betrat.

„Danke, wie war bitte noch mal der Name?“

„Salao, Gereifte“, erklärte Salao und erzeugte damit ein Lächeln auf ihrem Gesicht, dass wie bei ihrem Mann mit vielen Lachfältchen durchzogen wurde.

„Diese Ehrenbezeichnung habe ich lange nicht mehr gehört“, gab sie zu und kletterte etwas schwerfällig die fünf Stufen voran ins Innere des Hauses, das den Eintretenden schon mit einem beeindruckend geräumigen Flur empfing, von dem aus mehrere mit schweren Stoffen verhängte Türöffnungen abgingen. Ein leichter Windhauch bewies, dass das Höhlensystem gut durchlüftet wurde. Salao fiel auf, dass der Raum besser erhellt war, als man es von den winzigen Fenstern und der offenen Doppeltür erwartet hätte, konnte jedoch keine Lichtquellen erkennen. Die ältere Frau hatte seinen suchenden Blick bemerkt und grinste. „Mein Mann redet wohl manchmal viel dummes Zeug“, meinte sie leichthin und schien sich vor dem Eintreten in einen der verhängten Räume an der glatten Wand aus festgestampfter Erde festzuhalten, während sie mit der anderen Hand den Stoff auf Seite schob. Salao traute seinen Augen nicht, als er sah, wie von ihrer Hand, die die Wand berührte, ein kaum zu erkennendes Glitzern ausging und in der Wand verschwand. Im selben Moment wurde der Lichtschein um sie herum zunehmend heller. „So junger Sucher. Du sollst ja nicht womöglich stolpern und dir etwas brechen.“ Sie gluckste in sich hinein.

„Also wie gesagt. Mein Mann redet wohl manchmal viel dummes Zeug, aber was unsere ganz eigenen Kräfte anbelangt, hat er schon recht. Früher ist mir das viel schwerer gefallen und das, obwohl ich ja auch nicht mehr die Jüngste bin.“

Als geborenem Terraltler war es für Salao schon eine Art Reflex, magische Kräfte auf eine ganz besondere Art und Weise wahrzunehmen und er stellte erstaunt fest, dass diese sich sehr ungewohnt anfühlte und der Kraft ähnelte, wie sie auch ihre Sucherstäbe besaßen.

Er spürte und überlegte noch, als Torinah grinsend auf ihn zu trat und ihm den Korb aus der Hand nahm.

„Ich danke dir junger Sucher“, meinte sie und stellte den Korb in dem Raum hinter dem Vorhang ab. Dann berührte sie erneut die Wand und die Helligkeit nahm wieder ab.

Als er ihr hinaus in den kühlen Abend folgte, dachte er über die wenigen Dinge nach, die er bisher über dieses zahlenmäßig kleine Volk wusste und kam schnell zu dem Ergebnis, dass es zum einen sehr wenig war und zum anderen nur wenig mit der Wirklichkeit zu tun hatte. Es passierte ihnen nicht zum ersten Mal, das sich das, was sie von zu Hause oder aus der Schule über andere Kulturen gelernt hatten, nicht ganz richtig war, doch er hatte den Eindruck, dass er das meiste, was die Symbiosane anbelangte, getrost vergessen konnte.

03 - Der Geist des Sees

Ihr Name ist Rinah. Sie ist 12, fast 13, schlank, hat mittelbraune schulterlange Haare, blaue Augen und hat noch nie dazugehört.

Irgendwie war sie schon immer anders, genau wie ihre ganze Familie. Alle anderen Menschen in ihrem kleinen Dorf waren normal, bearbeiteten ihre Felder, pflegten ihre Obstbäume, versorgten ihr Vieh, trugen die Amulette, wie es ein normaler Terraltler halt tat, hofften darauf, dass sich bei ihnen irgendwann wenigstens ein kleines magisches Talent zeigte, das den leeren Platz in der Mitte des Amuletts zwischen dem stilisierten Weinkrug und dem stilisierten Laib Brot als Christen füllte, stritten sich, versöhnten sich, heirateten zumeist recht früh, bekamen Kinder und hofften darauf, bloß nicht krank zu werden, weil der nächste Heiler fast eine halbe Tagesreise entfernt lebte ... Sie waren halt normal.

Sie war nicht normal. Ihre ganze Familie hatte noch nicht einmal Amulette und gehörte irgendwie nicht dazu. Sie waren schon angesehen. Schließlich gab es keine andere Familie, die so hervorragende Gebrauchsgegenstände aus Holz herstellen konnte. Eine Holzschüssel, die ihr Großvater gefertigt hatte, hielt fast Generationen und auch Löffel und Schöpflöffel, die ihre Familie gefertigt hatte, zerbrachen praktisch nie und fingen auch nicht an zu faulen, egal wie nachlässig man mit ihnen umging. Zusammen mit ihrem großen Garten, für den hauptsächlich ihre Großmutter zuständig war, mussten sie nie Hunger leiden. Wenn in dem Ort, in dem der Heiler lebte, zweimal im Jahr eins der beiden großen Feste stattfand, die auch immer einen großen Markt boten, fanden die Dinge, die ihre Familie an den langen Wintertagen hergestellt hatten, reißenden Absatz, ohne dass jemand auch nur auf die Idee gekommen wäre, groß um einen billigen Preis zu feilschen. Hätten sie doppelt so viele Dinge hergestellt, hätte ihr Großvater diese immer noch mühelos verkaufen können. Aber das tat er nicht. Dinge, die für ihn nicht perfekt waren, wurden nicht verkauft, sondern verheizt, was aber selten passierte.

Als ihre Freundin das mitbekam, konnte sie es überhaupt nicht verstehen. Ihrem Vater gehörte neben einem der größten Höfe auch die kleine Bäckerei, in der es auch viele andere Dinge zu kaufen gab und sie erklärte, dass er nie auf die Idee gekommen wäre, Dinge nicht zu verkaufen, nur weil sie nicht perfekt seien.

Rinah seufzte, während sie, tief in Gedanken versunken, neben ihrem Großvater auf dem klapprigen Holzwagen auf dem Kutschbock saß, der von ihrem gemütlich dahinzockelnden Bruz gezogen, in Richtung auf den Teil des Waldes zustrebte, der ihrer Familie gehörte und wo die größten und geheimnisvollsten Bäume der ganzen Gegend standen. Der Kaltblüter, der sie um einen halben Kopf überragte, wenn sie neben ihm stand, prustete leise.

„Warum so traurig?“, erkundigte sich ihr Großvater mit seinem immer mehr ergrauenden Haar und blickte kurz prüfend zu ihr hinüber. „Wir fahren doch in unseren Wald und damit auch zu deinem See.“

'Ihr See'! Unwillkürlich huschte ein Lächeln über ihr Gesicht und sie warf einen kurzen Blick über ihre Schulter zu der noch leeren Ladefläche ihres Wagens. Dort lagen nicht nur, sorgfältig in Tücher eingepackt, die Werkzeuge ihres Großvaters, sondern auch ein etwas ziemlich Unförmiges in einem braunen groben Tuch, was eigentlich ihrer Großmutter gehörte, auch wenn sie es schon lange besaß, ohne es spielen zu können. Es war eine alte Laute, die jetzt erst vor kurzem neue Metallsaiten erhalten hatte, die der Großvater ihrer Freundin aus Cologna mitgebracht hatte. Ein Grinsen huschte über Rinahs Gesicht, als sie daran zurückdachte, was geschehen war, dass sie das Instrument jetzt schon zum wiederholten Mal mitnahm, wenn sie ihren Großvater in den Wald begleitete.

Es war ihr Großvater, der ihr vor einigen Jahren den kleinen verborgenen See gezeigt hatte, der mitten in ihrer Waldparzelle lag und komplett von riesigen Weiden umgeben war, bis auf einer Seite, wo es sogar einen kleinen Strand gab, der ganz flach in das dunkle, klare Wasser abfiel.

Auf beiden Seiten dieses Strandes lagen zwei große rechteckige Steinblöcke und luden förmlich dazu ein, sich auf sie zu setzen und die Beine wahlweise ins Wasser oder in den Sand baumeln zu lassen. Rinah waren schon früh die kaum sichtbaren Linien Formen und Punkte aufgefallen, die die ganze Oberfläche beider Steine bedeckten. Die Steine waren so groß, dass sie sich sogar noch heute auf sie in die Sonne legen konnte, um sich zu sonnen, während der Wind in den Bäumen rauschte und rings um sie herum die Laute und Geräusche von Tieren erklangen und besonders von Insekten, die sich hier anscheinend sehr wohl fühlten. Als sie im vergangenen Sommer einmal rücklings auf einem der Steine lag, nachdem sie ihrem Großvater bei der Auswahl der Äste geholfen hatte, die sich am ehesten zur Herstellung neuer Gegenstände für die Küche eigneten, hatte sie angefangen eine Melodie, die in ihrem Kopf herumspukte, erst zu summen und dann zu singen.

Das war eine andere Sache, in der sie sich persönlich von den anderen Menschen im Dorf unterschied: Genau wie ihre Großmutter liebte sie es zu singen. Sie sang die Melodie ganz ohne Text und ihre Stimme füllte die Stille über dem See, die eingetreten war, sobald sie zu Singen anfing. Sie hatte ihre Augen geschlossen und ihre Stimme drückte verschiedene Gefühle aus, ohne dass sie einen Text benötigt hätte. Da sie auf dem Rücken lag, konnte sich die Kraft ihrer Stimme gar nicht richtig entfalten und sie hielt ihre Augen geschlossen und lauschte ganz in ihr Innerstes hinein.

Sie hatte das Lied kaum beendet, als plötzlich leises Klatschen erklang und eine ganz leise Stimme rief. „Bravo, kleine Rinah.“

„Hätte ich gewusst, dass du eine so schöne Stimme hast, hätte ich schon viel früher versucht, dich zum Singen zu überreden.“

Rinah wäre vor Schreck beinahe vom Steinblock ins Wasser geplumpst und blickte sich erschrocken um, bis ihr Blick verwundert auf einer schemenhaften Figur ruhte, die scheinbar auf dem anderen Steinblock saß und in die durchsichtigen Hände klatschte, während das wogende Grün der Schilfpflanzen durch seinen Körper zu sehen war. Seltsamerweise spürte sie nicht das geringste bisschen Angst vor dieser Figur, die kaum größer war, als sie selbst und aussah, wie ein sehr altmodisch gekleideter, gut aussehender blonder Mann, der jetzt vom Stein hopste und sich tief in ihre Richtung gewandt verbeugte.

„Du hast eine wunderschöne Stimme“, stellte er bewundernd fest und ihre Blicke trafen sich.

„Danke“, meinte Rinah, der im Moment nicht Besseres einfiel und merkte, wie sie sogar ein wenig Rot im Gesicht wurde. „Wer bist du und woher weißt du meinen Namen?“, erkundigte sie sich neugierig.

„Rate mal“, erwiderte der Mann, der irgendwie auch gar keiner war, und grinste sie an. Sie hörte ihn richtig, auch wenn seine Stimme ein wenig dumpf klang.

Rinah ließ ihre Beine vom Stein baumeln und musterte den Mann in dem seltsamen Gewand, dass fast wie ein dunkleres Bettlaken aussah und der sie nun offen anlächelte.

„Du bist der See“, stellte sie schließlich selbst überrascht fest und der Mann grinste noch stärker.

„Genauer gesagt bin ich der Geist des Sees“, korrigierte er und verbeugte sich erneut vor ihr. „Ich möchte dir übrigens danken, dass du dich immer, wenn du zu mir gekommen bist, versucht hast, möglichst wenig in Unordnung zu bringen oder gar kaputtzumachen.“ Sein Blick verfinsterte sich etwas. „Das macht noch längst nicht jeder Mensch, der sich diesem Ort nähert.“

„Warum habe ich dich hier denn noch nie gesehen?“, wunderte sich Rinah und die Rinah von heute lächelte noch immer, wenn sie an die Antwort des Geistes dachte.

„Ich gehöre zu den magischen Wesen, die es schon von jeher vorgezogen haben, unerkannt und unentdeckt zu bleiben.“

„Dann verstehe ich noch weniger, warum du dich mir gerade jetzt zeigst?“, bohrte sie nach und der Geist blickte sie ernst an und schien sich zu verfestigen, bis Rinah den Stein hinter ihm nicht mehr erkennen konnte.

„Es gibt mehrere Gründe und nicht alle kannst du jetzt oder überhaupt verstehen“, begann er und Rinah runzelte ihre Stirn. Das klang doch verdächtig wie: 'Ich bin ein Erwachsener und du bist ein Kind und kannst das noch nicht verstehen!'

Der Geist sah sie an und lachte hell und klar und klang dabei wie eine Ansammlung hell klingender Glöckchen.

„Keine Angst. Ich meine das nicht wie ein Erwachsener.“

Rinah sah ihn überrascht an.

„Ich wundere mich nicht darüber, dass ich deine Gedanken verstehen kann, wenn du so laut denkst“, erklärte der Geist, kam über den Sand zu ihr hinüber, ohne eine Spur zu hinterlassen und sprang auf den Stein, sich neben sie setzend. „Hauptsächlich war es dein Lied ohne Worte, das mich bezaubert hat.“ Er blickte kurz zu ihr hinüber und seufzte. „Ich wollte, ich hätte noch ein Instrument, mit dem ich dich begleiten könnte oder, noch besser, dessen Spiel ich dir beibringen könnte. Die Magie deiner Stimme wird erst mit Instrumenten komplett.“

„Ich habe kein magisches Talent“, behauptete Rinah düster, bemerkte dabei gar nicht den Blick, den der Geist ihr hinüber sandte und überlegte angestrengt. „Wir haben zu Hause eine alte Laute mit Saiten aus Kordel, aber sie hängt nur an der Wand und klingt schrecklich.“

„Das Spiel der Laute gehört ganz sicher zu meinen Fähigkeiten. Es wäre toll, wenn du sie beim nächsten Mal mitbringen würdest, wenn du deinen Großvater wieder einmal in meinen Wald begleitest“, bat der Geist und blickte erneute kurz zu ihr herüber.

Rinah grinste, als ihr auffiel, wie natürlich und passend sein 'in meinem Wald' geklungen hatte und sie wusste zweifelsfrei, dass dies wirklich der Wald des Geistes war.

„Ich glaube nicht, dass meine Eltern erlauben, das Instrument so einfach mitzubringen“, zweifelte Rinah und spürte die Nähe des Geistes, auch wenn er ja gar keinen richtigen Körper besaß. „Oder kann ich sie mitbringen, damit sie dich auch sehen können?“

Der Geist schüttelte den Kopf. „Das wird nicht klappen. Du bist viel stärker als sie. Sie werden mich wohl nie sehen können, höchstens spüren.“ Er lächelte und korrigierte sich dann ein wenig. „Dein Großvater hat mich bereits vor vielen Jahren gespürt.“

Sie sah ihn überrascht an und er nickte. „Versuche es einfach. Sie werden dir schon glauben.“

Und sie hatte es versucht und ihrem Großvater erzählt, was sie am See erlebt hatte. Zu ihrer Überraschung hatte der sie nur ernst angesehen und dann genickt. „Dass der See ein besonderer Ort ist, ist mir schon aufgefallen“, bestätigte er die Behauptung des Geistes und strich Rinah zärtlich und etwas linkisch über ihr Haar. „Wenn du mir versprichst, gut auf die Lieblingslaute deiner Großmutter aufzupassen, werde ich sie danach fragen.“

„Aber sie hat doch nur eine Laute?“, wunderte sich Rinah und ihr Großvater grinste.

„Eben.“

Und so kam es, dass Rinah die Erlaubnis erhielt, das schon sehr lange nicht mehr benutzte Instrument mitzunehmen, wenn sie ihren Großvater alle paar Tage im Sommer begleitete, um ihm bei der Auswahl der Bäume für seine Schnitzarbeiten zu helfen. Früher hatte er die richtigen 'reifen' Hölzer oder Holzteile schon selbst erkannt und sie, nachdem er sich bei dem entsprechenden Baum entschuldigt und bedankt hatte, geschnitten. Das war auf ganz Terralt schon seit jeher die übliche Art und Weise, sich nach der Entnahme von etwas bei der Natur für das zu danken, was die Menschen für ihr Leben benötigten. Nur war sein Augenlicht in den letzten Jahren doch immer schlechter geworden und seine Tochter hatte sein untrügliches Gefühl für das richtige Holz anscheinend von ihm geerbt. Sie spürte sogar die Lebenskraft eines Baumes, wenn sie ihn berührte und sah die Form des noch im Holz verborgenen Gegenstandes mit geschlossenen Augen. Da aber viele Menschen auf Terralt einen so engen Kontakt zur Natur in all ihren Formen hatten, erschien es für sie als nichts Besonderes. Also begleitete sie ihn und er erklärte ihr, wonach er suchte. Sie suchte, bis sie den richtigen Ast fand und ab da übernahm er den Prozess wieder. Wenn seine Hand den von Rinah gefundenen Baum berührte, fand er die genaue Stelle, die er benötigen würde und verhandelte mit dem Baum, bis der bereit war, den Ast zu opfern, wenn er dafür eine Gegenleistung bekam. Manchmal bestand sie darin, einen anderen kranken Ast zu entfernen, oder mehreren Nachkommen des Baumes eine besondere Pflege oder auch nur Wasser zukommen zu lassen. Immer kam aber die dunkle klebrige Masse zum Einsatz, den sie immer mit sich führten und die dafür sorgte, dass sich der Baum schon nach Kurzem wieder erholt haben würde.

Er würde nie einen ganzen Baum fällen, nur um in einem Schwung gleich ein Dutzend Holzschalen herstellen zu können, die dann schon nach Kurzem zerbrachen, weil ihr Holz nicht 'richtig' war.

Was Rinah anbelangte, zweifelte er nie an ihren Worten und spionierte ihr auch nicht hinterher. Auch er hatte den See immer wieder besucht und eine starke Kraft gespürt, auch ohne den Geist des Sees jemals selbst gesehen zu haben. Es freute ihn einfach, dass Rinahs Nähe zur Schöpfung ganz offensichtlich viel größer war als seine eigene. Daran, dass bei allen Angehörigen ihrer Familie der mittlere Platz ihrer Amulette leer blieb, hatte er sich schon gewöhnt und es störte ihn noch weniger als Rinah, die schon manchmal neidisch auf ihre Mitschüler blickte, wenn sich bei ihnen einfache magische Kräfte zeigten.

Das Rinah nicht log, wenn sie von diesem Geist sprach, konnte er auch hören, seit sie begonnen hatte, die Laute mitzunehmen, denn gerade anfangs hörte sich das Lautenspiel abwechselnd ziemlich schlecht oder dann wieder betörend gut an. Er hörte auch, wenn er von seiner Arbeit aufblickte und lauschte, dass seine kleine Rinah immer wieder andere Lieder lernte, die alle betörend geheimnisvolle Melodien besaßen und sehr sehr alt klangen. Im Winter war nicht nur der See weitestgehend zugefroren, sondern auch Rinah erklärte schon kurz nach dem ersten Frost, dass der Geist des Sees nun schliefe.

Wenn sie von der Schule kam, setzte sie sich oft in die Nähe des Kamins und mühte sich zielstrebig mit dem Instrument ab. Irgendwann war sie dann soweit, dass sie ihr Spiel auch mit Gesang begleitete und ihre Großmutter standen die Tränen in den Augen, während sie ihrer eigenen Arbeit nachging. Auch sie griff das eine oder andere Mal zu den Schnitzmessern. Sie und ihr Mann waren über viele Ecken miteinander verwandt und auch sie konnte ihrem Mann beim Vorbereiten der zu schnitzenden Gegenstände helfen.

--

Es hatte eine gefühlte Ewigkeit gedauert, ehe der Schnee endlich verschwand und noch eine halbe, ehe die Bäume die ersten zarten Knospen bekamen und ihr Großvater wieder das erste Mal in Richtung ihres Waldes aufbrach, der für Rinah nun nur noch 'sein Wald' war.

Am Morgen in der Schule war Rinah dann so zerfahren und unkonzentriert gewesen, dass es den anderen aus ihrem Dorf ein Leichtes gewesen war, sich so richtig über sie lustig zu machen.

Es war ihr aber egal.

Und als sie dann endlich nach Hause konnte, war sie den ganzen Weg gelaufen.

Ihr Großvater hatte im Stillen geschmunzelt, als er ihre Aufregung sah und sich gefragt, ob es Rinah noch bis zu ihrer Lichtung aushalten, oder ob sie schon früher vom Wagen springen würde. Sie hatte sich beherrscht und auch noch so lange gewartet, bis er sie entließ. Er lauschte den Geräuschen, die ihr Lauf erzeugte, und wartete dann, bis er ihre Stimme und ihr Lautenspiel aus der Ferne ganz leise zu sich herüberkommen hörte und lächelte.

Es war wichtig und gut, dass sie jetzt so fröhlich war. Abgesehen davon, dass sie, genau wie alle aus den Familien seiner Frau und seiner eigenen, leiden musste, weil sie so anders war, hatte sie sich vor mehr als zwei Jahren über Nacht verändert. Seit dieser Zeit war eine große Ernsthaftigkeit und Nachdenklichkeit in ihrem Wesen erschienen, wo vorher Unbeschwertheit vorgeherrscht hatte und das hatte nicht nur etwas mit ihrem Älterwerden zu tun.

Sie hatte nie etwas dazu gesagt, aber was auch immer geschehen war. Was immer es gewesen sein mochte, es war einschneidend gewesen.

„Bravo“, rief der Geist begeistert und klatschte in die Hände, ohne dass man etwas hörte. „Da ist jemand wirklich fleißig gewesen“, stellte er anerkennend fest und nickte dann in Richtung der Laute. „Die neuen Saiten aus Metall klingen aber auch sehr gut“, stellte er fest und Rinah hielt ihm das Instrument hin. Man sah, wie er an Substanz gewann, ehe er das Instrument vorsichtig ergriff. Es sah schon seltsam aus, wie der rundliche Rumpf der Laute fast die Oberfläche des Steinblocks berührte und die beiden Händen die Bünde griffen und die Saiten zum Schwingen brachten.

„Ihr Menschen habt ja manchmal reichlich törichte Ideen und macht Sachen, denen jeder Sinn fehlt, aber eure Instrumente haben mich schon immer fasziniert.“ Sein Zeigefinger fuhr an einer der Saiten entlang und er nickte. „Eure Beherrschung der Bändigung der Metalle ist mittlerweile wirklich bewundernswert.“

Er schlug die Laute an und erzeugte einen Klangteppich. Rinahs Augen leuchtenden, als sie erkannte, dass sie diese Klänge noch nicht kannte. Es würde ein neues Lied geben nach der langen Winterzeit. Endlich!

Ein paar Hundert Meter entfernt unterbrach ihr Großvater seine Arbeit und hob lauschend den Kopf. Auch er erkannte eine neue Begleitung und summte halblaut vor sich hin, dabei eine Melodie bauend, die letzten Endes gar nicht mal so weit vom Original entfernt war, dass er noch nie gehört hatte.

Dieses Szenario würde sich über die nächsten Wochen immer wieder so oder so ähnlich wiederholen. Sowohl was ihre Gesangstechnik, als auch was ihr Spiel auf der Laute anbelangte, machte Rinah große Fortschritte. Das bemerkte auch ihr Großvater, wenn er sich einmal die Zeit nahm, der leisen Musik zu lauschen, die durch den Wald zu ihm herüber driftete. Kurz nach dem ersten richtig heißen Tag in der Gegend lauschte er und summte die Melodien, die er mittlerweile erkannte, leise mit. Zu Hause kam es nur selten vor, dass Rinah richtig mit Kraft sang. Außerhalb des Hauses schon einmal gar nicht, nachdem Kinder aus dem Dorf neugierig zu ihrem Grundstück gelaufen kamen und sich dann über sie lustig machten.

Dieses Mal war er jedoch nicht der Einzige, der diesen neuen, alten Liedern lauschte. In etwa derselben Entfernung zu dem See wie Rinahs Großvater gab es noch eine große Höhle, oder mehr eine riesige Wölbung in der Seite eines Hügels, die einen gewaltigen Raum von fast 3 mal 8 Metern bildete, dessen eine Breitseite direkt in den Wald mündete, während die anderen Seiten aus festem Gestein bestanden. Dies war ein geheimer Platz, dessen Existenz und Lage von einer Generation an die nächste weitergegeben wurde.

Zusammen mit dem See ergab es einen fantastischen Ort für die etwas älteren Kinder, um vor Wind und Unwetter geschützt im Sommer einige Tage zu zelten und dann zur Abkühlung immer wieder in den See zu springen.

Es war mehr ein Zufall, der dazu geführt hatte, dass gerade an diesem Tag drei Jungen und zwei Mädchen aus Rinahs Dorf schon frühmorgens ihr Lager in dieser Höhle aufgeschlagen hatten und sich nun so leise wie möglich auf den Weg zum See machten. Es war das erste Mal, dass sie Rinah hier hörten. Im ganzen letzten Jahr war es nie zu einer Begegnung zwischen ihnen und Rinah gekommen. Das sollte sich heute – leider – ändern.

Wie fast immer saß Rinah mit baumelnden Beinen auf dem einen der beiden Steine und übte im Moment einen ziemlich komplizierten Lauf, bei dem ihre Finger irgendwie nicht schnell genug wechselten. Das ärgerte sie ein wenig, weil das Stück so eine herrlich traurige Melodie hatte. Solange sie diesen Lauf aber noch nicht blind spielen konnte, musste sie sich noch viel zu sehr auf ihre Hände konzentrieren und versagte dann bei der Melodie. Der Geist hatte sie wohl darauf hingewiesen, dass sie die Töne ja schließlich immer noch traf, verstand aber, was Rinah damit meinte. Im Moment saß er auf dem gegenüberliegenden Stein und sah ihr einfach nur zu, während Rinah den Lauf immer und immer übte.

„Kannst du denn nichts richtiges spielen“, beschwerte sich eine genervt gelangweilt klingende Stimme, die Rinah erschrocken aufblicken ließ. Ihr Blick fiel auf eine ihr nur zu bekannte wuchtige Gestalt, die gerade zusammen mit 4 anderen, die Rinah auch sofort erkannte, auf das Stück Wiese trat, dass auf dem kleinen Strand endete und ihr wurde heiß und kalt.

„Hallo Rudvol“, meinte sie tonlos und legte die Laute hinter sich auf dem Stein ab, während sich in ihrem Magen ein Kloß bildete. „Wie geht es dir?“

„Du meinst, seit dein famoser Vater mich als Lehrling rausgeworfen hat, nur weil ich versucht habe, euch das Leben ein wenig einfacher zu machen?“, fragte er mit diesem gehässigen bösen Tonfall, bei dem es Rinah schon kalt den Rücken heruntergelaufen war, als der pickelige Junge ihn schon in den Auseinandersetzungen mit ihrem Vater benutzt hatte.

„Er hat dich hinausgeworfen, weil du einen Baum einfach so gefällt hast, mit dem man dann doch nur minderwertige Holzschalen hätte herstellen können“, korrigierte sie ihn leise und merkte, dass sie leicht zitterte, während sich die anderen Jungen und Mädchen dichter um Rudvol scharrten. Rudvol hatte eine Zeit lang bei ihnen als Lehrling gearbeitet, bis er, nachdem ihr Großvater nicht auf seine Verbesserungsvorschläge eingehen wollte, anfing, seinen Worten auf Taten folgen zu lassen. Als gutem Sohn seines Vaters war ihm der Profit wichtiger als das Wohl der Bäume. Nachdem der älteste Sohn der Familie die Bäckerei und auch wahrscheinlich alles andere übernehmen würde, musste er sich schon nach etwas anderem umsehen und sein Blick fiel auf die Holzgegenstände, die der Großvater der Freundin seinen kleinen Schwester herstellte, und die sich immer sehr gut verkauften. Außerdem war sein Blick auch auf Rinah gefallen, die immer hübscher wurde. Es gab in Rinahs Familie keinen Sohn und deshalb bildete sich in seinem Kopf die Idee, beides zu übernehmen. Aber dafür sollte die Werkstatt ruhig noch etwas mehr abwerfen. Dass niemand aus Rinahs Familie dabei auch nur das kleinste magische Talent zu haben schien, störte ihn nicht. Was nutzten schon ein tolles Talent und ein leerer Magen.

Und dann war er quasi über Nacht hinausgeworfen worden! Das 'Gespräch', das er danach mit seinem Vater führen musste, brachte ihn noch immer dazu, jetzt mit den Zähnen zu knirschen und Rinah hasserfüllt anzustarren. Er war mit seinen gut 15 Jahren nicht nur gut 2 Jahre älter als sie, sondern hatte noch dazu den Körper eines Gewichthebers. Mit Ceriess hatte er mittlerweile auch eine Freundin gefunden, die ständig bewundernd zu ihm hoch blickte. Neben deren Schwester gab es dann noch die beiden Brüder eines der Bauern mit einem größeren Hof, die einem ähnlichen Schicksal entgegensahen wie er, da auch sie nicht die Erstgeborenen in ihrer Familie waren. Zusammen bildeten sie eine ziemlich unangenehme Gruppe, über die sich alle im Dorf freuten, wenn man sie nicht sah.

Im Moment blickte Rinah kurz Hilfe suchend zu dem anderen Stein hinüber, doch der Geist war verschwunden.

Auf der anderen Seite konnte ihr ein Wesen, das schon Schwierigkeiten hatte, sich so zu verfestigen, dass es eine Laute spielen konnte, bei dem, was jetzt kam, sowieso nicht helfen.

Rudvol kam langsam auf sie zu, ohne sie aus dem Blick zu lassen und grinste. Freundlich sah das Grinsen nicht aus.

„Was ist denn das für ein komisches Instrument, was du da gerade zu Verstecken versuchst?“, meinte er gehässig und versuchte, um sie herum zu greifen. Rinah umfasste den Hals der Laute im selben Moment, in dem er mit beiden schaufelartigen Händen nach dem Holzkorpus griff. Ein hässlicher Laut brechenden Holzes erscholl und ein letzter dissonanter Ton der Stahlsaiten ertönte, ehe die Saiten erschlafften und die Laute genau am Korpus brach.

„Ooooooh, puttemacht!“, säuselte Rudvol in Babysprache und zog eine traurige Fratze, während er das nun völlig zerstörte Instrument langsam losließ. In Rinah kämpften unendliche Trauer und Wut miteinander.

„Das kriegt dein Opa bestimmt wieder hin“, meinte er spöttisch, sich schon wieder von Rinah abwendend und die anderen 4 lachten dreckig. „Na dann übe noch schön.“ Erneutes Lachen der anderen.

Ohne sich noch einmal umzuschauen, verschwanden die 5 wieder hinter den Weiden am See und tauchten lachend im Wald unter.

Fassungslos hielt Rinah die beiden Teile der Laute in ihren Händen und Tränen liefen ihr über die Wange. Sie fühlte sich unendlich hilflos und traurig.

Sie zuckte zusammen, als sie den Druck eines Armes auf ihrer Schulter spürte und eine bekannte Stimme sie sanft ansprach.

„Es tut mir leid, dass ich dir jetzt leider nicht helfen konnte, Rinah!“ Auch wenn er ja nur ein Geist war, beruhigte sie seine Nähe doch.

„Ist schon gut“, schniefte sie und blickte hilflos auf das zerstörte Instrument. „Meine Mutter wird das nicht gut finden.“

„Repariere sie doch selbst“, schlug der Geist vor und Rinah sah ihn an, als wäre er vollkommen wahnsinnig.

„Das kann man nicht mehr reparieren“, stellte sie fest, als würde sie gerade mit einem völlig durchgedrehten Menschen reden. Die Ruhe und Kraft, die der Geist mit einem Mal ausstrahlte, wunderte sie aber schon.

„Da hast du wohl recht. 'Man' im Sinne von einem x-beliebigen Terraltler kann das Instrument nicht reparieren, bis auf wenige Ausnahmen, aber es wird langsam Zeit, dass du endlich dein wahres Erbe antrittst, Rinah.“

Jetzt war Rinah komplett verwirrt. Deshalb stellte sie auch eine Frage, die mehr als komisch war.

„Du hast mich vorher noch nie beim Namen genannt“, stellte sie zuerst fest. „Und wenn du ihn nun aussprichst, betonst du ihn so seltsam. Warum?“

„Du meinst, warum ich nicht Rina sage mit Betonung auf dem 'i', sondern Rinah mit Betonung auf dem 'a' und dabei auch das gehauchte 'h' ausspreche?“, vergewisserte sich der Geist des Sees und lächelte, woraufhin Rinah nickte. „Weil ein Frauenname der ‚Hardak denn Arbess‘ immer so ausgesprochen wird.“

„Der was?“, Rinah wurde immer verwirrter.

„Das war vor sehr langer Zeit der Name der Hardak, die den Bäumen sehr nahe standen“, antwortete der Geist und Rinah sah ihn weiter fragend und abwartend an. „Heute nennen sich die Hardak Symbiosane und die unter ihnen mit einer großen Nähe zu Bäumen Symbiosabe.“

Rinah fiel sprichwörtlich ihre Kinnlade herunter und ein entsetzter Gesichtsausdruck erschien, während sie ungläubig den Kopf zu schütteln begann.

„Nein. Nein!“, sie zitterte erneut, auch wenn der Grund nun ein anderer war. „Das kann nicht sein!“ Dabei kam ihr alles Negative in den Sinn, was sie über die Symbiosane gehört hatte und sah den Geist weiterhin entsetzt an.

„Das meiste von dem, was dir gerade durch den Kopf geht, stimmt nicht“, stellte der Geist fest und Rinah war überrascht über die Macht, die hinter seinen Worten schimmerte.

Es verschlug ihr den Atem und sie schluckte und schloss wieder ihren Mund.

„Die Symbiosane oder Hardak sind das mutigste Volk, das je auf diesem Boden wandelte“, stellte er leise und damit umso eindrucksvoller fest. „Dass das Volk der Kadane, das ja nicht umsonst mit einem Fluch belegt wurde, ihre Weigerung, andere Menschen umzubringen, nur um selbst am Leben zu bleiben, fälschlicherweise als Schwäche eingestuft hat und die Hardak ab diesem Zeitpunkt nur noch als recht nützliche Schwächlinge angesehen hat, war schon damals falsch und zeigt nur, wie wenig die Kadane damals von den göttlichen Prinzipien von Terralt verstanden haben.“

„Aber ...“ Die Verwirrung in Rinah Kopf ließ es nicht zu, dass sie ihren Einwand auch nur formulieren könne.

Nach einer Pause meinte der Geist leise. „Deine Familie folgt doch nun dem christlichen Glauben, wie er auf Terralt gültig ist.“

Rinah nickte.

„Und auch wenn die Bibel hier ein wenig anders ist, als beispielsweise die auf unserer Schwesternwelt Terra gibt es in beiden Fassungen sowohl den Spruch 'Auge um Auge, Zahn um Zahn' und den Spruch 'Wenn dir jemand auf die eine Wange schlägt, halte ihm auch die andere hin' oder so ähnlich.“

Er wartete bis Rinah nickte, ehe er fortfuhr.

„Welcher Ansatz ist reifer, erwachsener?“

Rinahs Augen wurden groß und größer, als sie zu verstehen begann und schließlich ganz langsam nickte.

„Aber was hat das nun alles mit mir zu tun?“

„Alles in allem gibt es vielleicht noch knapp 200 Symbiosane auf Terralt, die sich dessen bewusst sind und auch noch als solche leben.“ Er machte eine Pause und lächelte sie an. „Daneben gibt es aber noch etwa dreimal so viele Terraltler, die eigentlich Symbiosane sind, ohne sich dessen bewusst zu sein ... so wie beispielsweise deine Familie und damit auch du.“

Rinah schluckte. Das war jetzt wirklich ein wenig zu viel, um es auf einmal zu verdauen. In ihrem Kopf herrschte Chaos, während sie die beiden Teile der Laute so fest umklammert hielt, dass sie ihr in die Hände schnitten. Schließlich atmete sie mehrmals tief ein (in den Unterbauch, wie es der Geist ihr gezeigt hatte) und versuchte irgendwie wieder klar zu denken. Der Geist ließ ihr die Zeit und schwieg. Er hatte sie bisher noch nie belogen und alles, was er ihr beigebracht hatte, war einzig und alleine für sie selbst von Nutzen.

Sie lockerte ihren Griff um die Reste des Instruments und hob es dann demonstrativ an.

„Was muss ich machen?“

Der Geist lächelte und nickte.

„Das ist die richtige Einstellung“, stellte er zuerst fest und erschien mit einem Mal direkt vor ihr. „Schließe deine Augen.“

Rinah gehorchte.

„Spüre das Holz in deinen Händen.“

Sie versuchte es, schüttelte dann aber frustriert den Kopf.

„Lass die Augen geschlossen und gebe nicht auf“, befahl er leise ... und begann leise zu summen. Was hatte er vor?

„Nicht ablenken lassen.“

Sie versuchte sich weiter auf das tote Holz zu konzentrieren.

Nun begann er zu singen und Rinah runzelte die Stirn, als sein Bariton etwas anstimmte, was weitaus mehr war, als eine bloße Melodie. Es fühlte sich an, als würden dort, wo die Stimme ihre nackte Haut berührte, Formen entstehen, die manchmal sogar in ihr Innerstes eindrangen. Die Melodie hatte etwas Hypnotisches an sich und sie schluckte, als etwas in ihr zu Erwachen schien.

Mit einem Mal 'sah' sie das Holz der kaputten Laute. Und dabei waren ihre Augen immer noch geschlossen! Sie sah sie noch weitaus klarer, als die verborgenen Formen in einem Baum, wenn sie ihrem Großvater half.

Das Lied des Geistes verebbte, doch ihr 'Sehen' wurde immer klarer.

„Gut“, stellte er zufrieden fest. „Und nun richte deine Aufmerksamkeit auf die Bäume, die uns umgeben. Die Weiden werden dich am meisten unterstützen.“

Eigentlich verstand sie gar nicht, was der Geist meinte. Auf der anderen Seite begriff sie es sofort und atmete noch tiefer ein und aus. Es fühlte sich an, als würde ihre Aufmerksamkeit an der Außenseite des Steins entlang zu Boden fließen und sich von dort aus in alle Richtungen auszudehnen.

Nach Kurzem erreichte sie den ersten Baum, der sie freudig und wohlwollend begrüßte und sich für die schönen Lieder bedankte. Rinah nahm sich vor, im Moment gar nichts mehr zu hinterfragen, sondern alles einfach aufzunehmen. Sie machte die Runde und berührte noch mehrere andere Bäume, ehe ihre Aufmerksamkeit wieder in ihren Körper zurückkehrte.

„Sehr gut“, meinte der Geist des Sees lobend.

„Und nun lerne von den Bäumen, was du machen musst, damit das was zerbrochen ist, wieder zusammenwachsen kann.“

Rinah zögerte ein wenig, zuckte innerlich mit den Achseln und kehrte zur Präsenz der Bäume zurück. Die Geister der Bäume waren ein wenig langsam, doch sie lernte, was sie ihr zu erklären versuchten.

Als sie zu den Bruchstücken in ihren Händen zurückkehrte, blieben noch weiterhin Verbindungen zu den Bäumen um sie herum bestehen.

Sie hielt die Bruchstücke, wie sie vorher einmal miteinander verbunden waren, und tat, was die Bäume ihr gesagt hatten und was natürlich war.

Der Geist des Sees nickte zufrieden und schimmerte grün, ohne das es Rinah mit ihren geschlossenen Augen gesehen hätte. Sie wäre über die Macht, die der Geist mit einem Mal ausstrahlte, erstaunt gewesen. Wäre sie jetzt auch noch nackt gewesen und hätte sie jemand gesehen, hätte ihm oder ihr vor Staunen der Mund offen gestanden. Etwas wie ein zartes Geflecht sanft glühender Linien schien aus dem Boden in sie einzudringen und sich dann an ihr emporzuwinden. Der Geist lächelte und vollführte mit seiner rechten Hand seltsame Bewegungen in der Luft. Daraus entstand etwas wie Schriftzeichen, um die sich die grünen Linien herumwanden, bis sie von alleine verblassten. Er machte das drei Mal und senkte seine Hand dann wieder.

Schließlich kamen die grünen Linien zeitgleich an ihrem Kopf und an ihren Händen an und wanden sich um das Holz der zerbrochenen Laute.

Sie konzentrierten sich von beiden Seiten kommend auf die Bruchstelle und ein leises Knistern ertönte. Rinah nahm es wahr, konzentrierte sich aber weiter auf das, was sie spürte. Schließlich verstummte erst das Knistern, ehe auch die grünlichen Linien verschwanden und sie öffnete ganz langsam ihre Augen.

Irgendwie überraschte es sie gar nicht, dass sie jetzt plötzlich wieder eine vollständige Laute in der Hand hielt. Vorsichtig strich sie über die nun wieder gespannt wirkenden Saiten und verzog ihr Gesicht, als der Klang so richtig schief tönte.

„Das war zu erwarten“, meinte der Geist nur trocken. „Du hast das Holz so verändert, dass die Spannung der Saiten nicht mehr stimmt. Es gibt wohl auch Hardak, die eine genauso große Nähe zu Metallen und Mineralien haben wie du jetzt zu Holz, aber die sind von hier aus noch mehrere Tagesreisen entfernt.“

Auch diese Information nahm Rinah nur so hin und drehte die Knebel, bis sie mit der Stimmung der Saiten zufrieden war.

Dann strich sie verträumt über die Saiten, erstaunt den veränderten vollen Klang wahrnehmend.

„Komm. Spiel das Lied des Sommerregens“, schlug der Geist vor und Rinah folgte seinem Vorschlag.

Sowohl ihr Großvater als auch Rudvol und seine Anhänger hörten es, auch wenn beide völlig unterschiedlich darauf reagierten. Ihr Großvater wunderte sich über den neuen Klang und fragte sich, ob da irgendetwas geschehen war. Rudvol lief es kalt den Rücken runter, als Rinah nun auch zu singen begann.

„Die Laute ist wieder heil“, stellte seine Freundin entsetzt fest und Rudvol nickte nachdenklich. Niemand machte den Vorschlag, einfach zurückzugehen und das Instrument jetzt noch einmal zu zerstören. Rinahs Lied hatte mit einem Mal etwas ausgesprochen Magisches an sich und es war allen klar, dass da nicht mehr das kleine verängstigte Mädchen spielte, an dem er sich vor wenigen Minuten noch so einfach hatte rächen können.

„Am besten beachten wir sie gar nicht weiter“, entschied er und schichtete das trockene Holz, dass sie auf dem Rückweg vom See gesammelt hatten vorsichtig in der Feuerstelle auf. Seine großen Hände zitterten dabei und sein Rücken war mit einem Mal schweißnass.

Als Rinah die neue alte Laute sinken ließ, schaute sie verwundert auf den nun perfekt aussehenden Holzkorpus.

„Wieso ...?“

„Weil es an der Zeit war. Weil du zwei Talente hast, ein magisches und ein nichtmagisches, die dich erst komplett werden lassen. Weil wir euch brauchen. Weil die anderen euch brauchen.“ Die Stimme des Geistes des Sees war leise und hatte etwas sehr Eindringliches, dass Rinah erstaunt zu ihm blicken ließ.

„Was wird jetzt geschehen? Werde ich dich wiedersehen? Wer bist du?“ Rinah stockte. „Wer bin ich?“

Der Geist saß mit einem Mal wieder neben ihr und hielt seine rechte Hand in einem Abstand von gut 20 Zentimetern vor ihrem Oberkörper. Rinah bemerkte, wie sich das Amulett, das sie auf ihrer Haut trug, spürbar erwärmte. Der Geist zog seine Hand schon nach wenigen Augenblicken zurück. Rinah sah ihn nur an.

„Na komm schon. Bist du denn gar nicht neugierig?“, forderte er sie auf und Rinah legte vorsichtig die Laute auf Seite und nestelte ihr terraltisches Amulett hervor, dass sie seit über einem Jahr an einem Lederriemen um ihren Hals trug.

Sie betrachtete es, unfähig zu begreifen, was sie sah. Nicht nur gab es jetzt ein mittleres Symbol, was ganz eindeutig eine Laute und eine stilisierte Frau mit geöffnetem Mund darstellte. Auch das linke Symbol, was den christlichen Weinkrug dargestellt hatte, war plötzlich verschwunden. An seiner Stelle stand jetzt ein stilisierter Baum mit einer mächtigen Krone.

Sie spürte immer noch ihre Verbindung zu den Bäumen, die sie umgaben und nickten.

„Ich glaube, ich verstehe“, meinte sie leise und sah nochmals scheu zu dem Geist hinüber. „Was ist mit meinen anderen Fragen?“

„Geschehen wird erst einmal gar nichts“, erklärte der Geist. „Auch wenn meine Aufgabe erst einmal beendet ist, solltest du einfach weiterüben und deine Verbindung zu Bäumen erforschen.“

Der Geist strich ihr über ihr Haar. Rinah konnte es sogar spüren und sie spürte auch die Liebe, die er damit ausdrückte. „Du wirst es merken, wenn die Veränderungen so weit sind, dass du, oder genauer du und deine Familie euch entscheiden müsst.“

„Gibt es den Geist des Sees gar nicht?“ Irgendwie tat ihr diese Erkenntnis weh und sie war froh, als der Geist den Kopf schüttelte.

„Keine Angst. Den gibt es und er hat mich gerufen und würde deine Freundschaft um nichts in der Welt missen wollen.“

Damit schien sich der Geist in zwei Wesen zu trennen, von denen das eine genauso aussah, wie Rinah den Geist des Sees kannte und ihr zuzwinkerte, während das andere mit einem Mal ein älterer hagerer Mann mit einem zerzausten Bart und seltsamen grün-braunen Kleidern war.

„Weckerin der Herzen; wir werden uns wiedersehen“, meinte der hagere Mann mit den leuchtend grünen Augen freundlich, sprang vom Stein herunter, nickte ihr zu und verschwand im Wald.

„Und nun?“, meinte Rinah irritiert.

<Spielst du bitte noch eins der Lieder, die der Meister dir beigebracht hat>, antwortete ihr eine Stimme im Kopf und der echte Geist des Sees zuckte mit den Schultern. <Das musst du jetzt leider ganz alleine machen, denn ich hätte nie die Macht, dieses Instrument anzuheben, geschweige denn zu spielen.> Ein Grinsen breitete sich über sein Gesicht aus. <Aber ich kenne noch die eine oder andere Weise, die ich dir gerne weitergeben würde.> Er warf einen Blick zum Stand der Sonne. <Aber das werden wir wahrscheinlich erst beim nächsten Mal machen können.> Im selben Moment hörten sie auch einen leisen Pfiff, mit dem ihr Großvater ihr immer mitteilte, dass sie jetzt nach Hause aufbrechen sollten.

Rinah sprang vom Stein und wickelte die Laute rasch in den Stoff.

„Ich finde es toll einen so guten Freund zu haben wie dich“, erklärte Rinah spontan und meinte dann die Spur eines Errötens auf dem durchscheinenden Gesicht des Geistes zu sehen.

<Ich bin geehrt>, entgegnete der Geist. <Einen guten Heimweg und träume etwas Schönes.>

„Bis dahin wird heute wohl noch einige Zeit vergehen“, stellte Rinah fest und legte ihre Hand von außen auf ihr verändertes Amulett. „Ich glaube, es wird heute Abend erst noch so einiges zu besprechen geben.“

Damit drehte sie sich um, verabschiedete sich auch von den Bäumen und ging zielstrebig durch den Wald in Richtung ihres Großvaters. Sie verstand mit einem Mal besser, warum sich noch nie jemand ihrer Familie im Wald verirrt hatte.

Ob sie wohl noch herausbekam, wer oder was ihr, neben dem Geist des Sees die ganze Zeit geholfen hatte? Und dann sollten sie doch wirklich Symbiosane sein! Unglaublich!

04 - Der Empfang in Bleibe

„Auch wenn der Weg zu unserem zentralen Platz kürzer ist, wenn wir den Mädchen folgen, nehmt ihr es einem alten Mann hoffentlich nicht übel, wenn ich mir gerne den Spaß gönnen möchte, euch über den normalen Weg zu diesem Platz zu führen“, meinte Opa Tock, wie ihn Yssaahn auch schon in Gedanken nannte verschmitzt und führte sie an der Baumgruppe entlang in die Richtung, aus der sie ursprünglich gekommen war.

„Hat das vielleicht wieder etwas damit zu tun, was Melynnah eure unnormale Art zu leben nennt“, hakte sie nach und Opa Tock lachte kurz auf.

„Das sieht ihr wieder ähnlich“, meinte er und schüttelte leicht den Kopf. „Dabei ist gerade sie so stolz auf unsere doch etwas andere Lebensart. Aber behalte diese Idee einfach einmal im Kopf.“

Damit hatten sie die Stelle erreicht, wo die weise Frau mit der sanften Stimme zwischen den gewaltigen Bäumen verschwunden war. Auch sie tauchten in den Schatten ein, der sofort die meisten Laute zu verschlucken schien. Gleichzeitig war da das Gefühl, ganz aufmerksam beobachtet zu werden. Beobachtet und taxiert. Es war wie ein ganz leichter Druck an der äußeren Kante des Gehirns, der dann auch genauso schnell wie er gekommen war, wieder verschwand.

Der alte Tock brummte etwas Unverständliches und nickte wissend, während sie hinter dem ersten Kreis von Bäumen auf einen zweiten zugingen, bei dem die Bäume so dicht beieinanderstanden, dass die Kronen ineinander übergingen. Auch das Unterholz bildete nach außen eine einzige undurchdringliche Masse. Zumindest sah es noch wenige Meter davor im schwindenden Licht so aus. Yssaahn bemerkte wohl, wie sie der alte Tock genau im Blick hielt und einen kurzen vogelähnlichen Laut ausstieß. Vor ihnen bewegte sich auf einmal genau dieses Unterholz und sie erkannte verdutzt, dass es gar kein undurchdringliches Gewirr von kleinen Bäumen und Gestrüpp war. Vielmehr war es die mit Kletterpflanzen von außen dicht bewachsene Außenseite eines großen doppelseitigen Tores, das sich jetzt vor ihnen lautlos öffnete. Schon vorher hatte Yssaahn den Eindruck gehabt, als würde sie ein Feuer riechen. Das fand sie jetzt bestätigt, als das öffnende Tor den Blick auf ein recht großes Feuer freigab.

Wie verzaubert trat sie ein, dicht gefolgt von Salao, der nicht minder beeindruckt war.

„Das nenne ich mal wahre Tarnung“, meinte er leise und bewundernd, als sie auf die ovale Fläche traten, in deren Mitte innerhalb eines Kreises aus aufgeschichteten Natursteinen ein wohlig knisterndes Feuer loderte, über dem an einem zweiseitigen Gestell ein großer Topf hing, aus dem es schon betörend duftete. Rund um das Feuer saßen Menschen und Yssaahn erkannte einige von ihnen, aber nicht alle. Illionah mit der sanften Stimme erhob sich und kam lächelnd auf die Neuankömmlinge zu.

„Nochmals willkommen“, erklärte sie und deutete hinter sich auf zwei halbfeste Konstruktionen, die je zwei große Bäume miteinander verbanden und auf denen oben eine Art Hängerundweg in etwa zwei Meter Höhe um den ganzen Platz herumzuführen schien und 9 Bäume miteinander verband. Jedenfalls saßen dort die kleine Schwester von Melynnah und ein weiteres Mädchen ähnlichen Alters und ließen ihre Beine baumeln. Die Schwester von Melynnah winkte sogar kurz schüchtern und Yssaahn winkte zurück. „Dort hinter mir sind zwei Kammern mit je einem Bett, in die ihr euch zurückziehen könnt, wenn ihr schlafen möchtet. Wir wussten jetzt nicht, ob es vielleicht auch gereicht hätte, nur eine Kammer vorzubereiten ...“

Die beiden Sucher standen sowieso schon nebeneinander und ihre Hände fanden sich wie von alleine. Sie wechselten einen kurzen Blick und Salao meinte dann grinsend. „Es hätte uns durchaus gereicht.“

„Das bleibt eure Entscheidung“, erklärte Illionah achselzuckend und deutete nun auf zwei klappbare Stühle aus Holz mit Fellbespannung, die in der Nähe der Feuerstelle aber auch nicht zu dicht davor standen. Beide hatten sogar eine Kerbe, in die sie ihre Stäbe lehnen konnten. „Setzt euch bitte und macht es euch gemütlich. Das Gericht ist auch fertig. Es ist wohl nur ein einfaches Eintopfgericht. Wir hatten nicht mit Gästen gerechnet.“

„Eintopf? So richtig mit Hülsenfrüchten, Gemüse und vielleicht sogar ein wenig Fleisch?“, erkundigte sich Salao mit leuchtenden Augen und Illionah nickte grinsend.

„Vielleicht sogar mit Kartoffeln?“, bohrte Salao weiter und Yssaahn knuffte ihn.

Erneut nickte Illionah. „Als infolge der Berichte der Terraner die ersten Kartoffeln auf diesem Kontinent auftauchten, gehörten die Symbiosane zu den Ersten, die sie verwendeten und anbauten.“

„Es ist nur wieder niemandem aufgefallen“, ergänzte Herr Tock halblaut und diesmal verstanden ihn die beiden Sucher sehr wohl. „Wie eigentlich selten etwas auffällt, was die Symbiosane angeht.“

Alles in allem saßen fast 20 Menschen um das Feuer herum und hatten die meisten Unterhaltungen unterbrochen, sobald der alte Tock und seine Frau mit den Suchern in den Kreis getreten waren. Illionah nickte einem jungen Mann zu, der die beiden Packen der Sucher nahm, nachdem er ihnen kurz scheu zugenickt hatte und sie in eine der beiden Kammern trug. Salao konnte kaum verhindern, dass er ihm mit einem leichten Stirnrunzeln nachsah.

„Tirreg bringt eure Sachen nur schon einmal in euren Schlafraum, damit sie hier nicht im Weg sind“, erklärte sie beruhigend. „Bei den Symbiosanen wird nicht gestohlen.“

„Bitte entschuldigt, aber ...“

„Ist schon okay“, versicherte die Frau mit ihrer sanften Stimme und lächelte ihnen zu. „Sucher tragen nie viel mit sich herum, aber das benötigen sie dann auch alles dringend für ihre Reise. Wer sollte das besser wissen als wir.“ Sie machte eine Pause und setzte sich wieder auf den Sitz neben Salaos. „Schließlich geht das Suchertum eigentlich auf uns Symbiosane zurück, noch in eine Zeit vor allen Glaubensgemeinschaften, die heute diesen Kontinent bevölkern.“

„Auch die Kadane?“, erkundigte sich Yssaahn überrascht und Illionah nickte lächelnd.

„Auch die Kadane betraten die Bühne von Terralt zu einer Zeit, wo das Volk der Symbiosane schon alt war“, bestätigte sie.

Das Tor öffnete sich erneut und die blonde Enkelin des alten Tock kam mit einer weiteren Frau herein. Auch wenn sie nicht sehr groß war, hatte sie mit ihren jungenhaft kurz geschnittenen Haaren und dem dunklen Umhang eine große Präsenz. Sie ging zielstrebig auf die beiden Sucher zu und nickte ihnen kurz zu. Doch ihre Aufmerksamkeit galt den beiden Stäben. Sie schüttelte ungläubig den Kopf und sah zu dem breit grinsenden blonden Mädchen hinüber. „Bei Damones! Du hast wirklich recht. Diese beiden Prachtstücke habe ich geformt.“ Sie sah sie an und hob ihre Linke und deutete mit ihr flach ausgestreckt auf den Stab von Yssaahn. Der erzeugte seinen charakteristischen Ton, kurz danach gefolgt von Salaos Stab. Die Frau trug selbst einen viel knorriger gewachsenen in einer Schlaufe an einem Gürtel aus bunten miteinander verwobenen Fäden, der nun einen dritten Ton erzeugte, der die anderen beiden Töne zu einem vollen Dreiklang ergänzte.

Yssaahn machte Anstalten, der Frau ihren Stab hinüberzureichen, doch diese winkte grinsend ab und schüttelte den Kopf.

„Nein, das ist wirklich nicht nötig. Es ist nur so, dass es etwa zwei Jahre dauert, bis man zusammen mit einem der älteren Bäume so einen magischen Stab wachsen lässt und dass zumeist zu einem Zeitpunkt, an dem die Person, für die er entsteht, selbst noch gar nicht weiß, dass es sie zu einer langen Reise in die Welt hinaus ziehen wird.“ Sie ließ eine Hand in einer verborgenen Tasche ihres Umhangs verschwinden und zog ein schmales Band heraus, dass aus denselben Farben bestand wie ihr eigener Gürtel und reichte es dem blonden Mädchen. „Da. Ich habe dir nicht geglaubt und damit hasst du die Wette eindeutig und ehrlich gewonnen. Ich hätte nicht gedacht, dass du dich wirklich noch an die Stäbe erinnern könntest. Schließlich kannst du da ja nicht älter als sechs oder sieben gewesen sei, Krabbe!“

„Acht und nenn mich nicht immer Krabbe.“

„Wieso nicht, Krabbe. Ich bin deine Tante und darf das!“, behauptete die Erschafferin der Stäbe, die Hände in ihre Seite gestützt.

„Du wirst auch nicht schlau“, stellte der alte Tock fest und nahm dankend eine Holzschale mit dampfendem Eintopf entgegen. „Wie oft hast du jetzt schon mit Hannah gewettet und verloren, Doressnah?“

Doressnah zuckte nur mit den Achseln. „Ich habe aber auch schon ein paar Mal gewonnen.“

„Was meintest du damit, dass du sie zusammen mit Bäumen geformt hast?“, erkundigte sich Yssaahn neugierig und Illionah übernahm das Antworten.

„Ich sehe euch noch länger Zeit mit uns verbringen und da werden sich diese Fragen im Laufe der Zeit schon alle klären“, meinte sie sanft und den beiden Suchern entgingen die erstaunten Blicke, die sich die Erwachsenen zuwarfen, durchaus nicht.

Ein schlanker Mann von Anfang 30 und eine Frau mit einem eher breiteren Gesicht, das den Gesichtern der Menschen ähnelte, denen sie am Schwarzen Meer begegnet waren, traten auf die beiden Sucher zu, verbeugten sich tief und reichten ihnen je eine Schale mit einem Metalllöffel, der ungewohnt perfekt geformt war und dabei leicht in der Hand lag. Noch ehe der Mann etwas sagte, war Yssaahn klar, das dies die Eltern von Melynnah waren. Es war nicht zu übersehen, dass Melynnah ihre ungewöhnlich klaren Augen von ihrem Vater hatte, auch wenn die beiden dunklen Ringe, die den hellen Streifen der Iris begrenzten, bei ihm lange nicht so ausgeprägt waren wie bei ihr.

„Wir danken euch nochmals dafür ...“, begann Melynnahs Vater und Salao winkte gleich ab.

„Das war wirklich nicht der Rede wert“, erklärte er fast beschämt. „Wir sind nur unserem Weg gefolgt und haben gemacht, was normal und richtig war.“ Er blickte auf seine Hand hinab, die immer noch in den leichten Verband eingepackt war. „Neben meinem eigenen Ungeschick war es mehr die Magie der Stäbe, die die Arbeit gemacht hat.“ Er hielt dem Mann aber seine Hand hin. „Es hat mir aber Freude gemacht, meinen Teil dazu beizutragen zu haben und ich spreche auch im Namen von Yssa, dass wir gerne noch etwas bleiben und euch alle besser kennenlernen wollen.“

„Und das, obwohl ihr wisst, dass wir bloß feige Symbiosane sind?“, warf ein älterer Mann von der anderen Seite der Feuerstelle ein. Neben ihm saßen jetzt der junge Mann, der ihre Bündel in ihr Zimmer gebracht hatte und ein etwa 12 jähriger Junge mit weißen schulterlangen Haaren.

„Gerade weil das, was wir bisher schon erlebt haben, so gar nicht zu dem passt, was wir bisher an bruchstückhaften Informationen über euer Volk wussten“, entgegnete Yssaahn genauso kraftvoll und sah den Mann direkt und herausfordernd an. „Ihr könnt uns schon vertrauen, dass wir garantiert nicht vorschnell urteilen werden und wir haben bisher überhaupt keine Hinweise gesehen, die auf Feigheit hinweisen.“ Der ältere Mann mit dem schon schütteren Haar sagte nichts, doch ein bewundernder Ausdruck huschte kurz über sein murriges Gesicht.

„Bitte entschuldigt Ruod, aber seit ein paar Jahren bemüht er sich, in allem Guten noch etwas Schlechtes zu finden“, erklärte Illionah und ihre sanfte Stimmlage war dabei überraschend hart. „Esst erst einmal, ehe der Eintopf noch kalt wird.“

Damit begannen sich alle ihren Schalen zuzuwenden und nur die Kinder, die bereits fertig gegessen hatten, spielten geheimnisvolle Spiele, die überall, wo ihre Reise die beiden Sucher hingebracht hatte, unterschiedlich und gleichzeitig ähnlich waren. Hilfsmittel war dabei alles, womit man irgendetwas machen konnte und keines der Kinder machte den Anschein, als würde die Tatsache, dass hier niemand technische Spielmittel besaß, verhindern, dass sie Spaß hatten. Melynnahs Eltern stellten zwei Stühle neben die der Sucher und schon bald war ein intensives Gespräch im Gange, bei dem alle Vier wechselseitig feststellten, dass sie schon viel erlebt hatten und sich über viele Aspekte des Lebens tiefgehende Gedanken machten.

„Könnt ihr bitte noch einmal erklären, was das mit den verschiedenen Namen auf sich hat, die alle mit Symbio anfangen“, bat Yssaahn schließlich, als sie beim besten Wille keine Suppe mehr herunter bekam. „Melynnah hat es wohl kurz erklärt, aber davon hatte ich noch nie gehört.“

Kassemirr, der Vater von Melynnah und Jannah blickten kurz zu Illionah hinüber, und Illionah lächelte und nickte.

„Ich weiß, dass das eigentlich zu den Informationen gehört, die Außenstehende nicht erfahren, aber im Fall von Lebensrettern finde ich schon richtig, es ihnen zu erklären.“

Yssaahn sah die offensichtliche Führerin der Symbiosane forschend an und diese wich dem Blick nicht aus. Nicht zum ersten Mal hatte die Sucherin das Gefühl, dass Illionah noch ganz andere Ziele verfolgte als sie preisgab, und es irritierte sie auch, dass sie eine Art Verbindung mit ihr spürte, die von einer großen Nähe im Denken und im Fühlen sprach, als wären sie kurz vor einer Verbindung der Gedanken, die nichts mit der Weitergabe von Informationen zu tun hatte, wie sie bei den meisten Terraltlern durch die Benutzung ihrer Amulette ermöglicht wurde. Als Yssaahn schließlich den Blick von dem von Illionah lösen konnte, half es auch nicht, das sie noch das kurze Lächeln bemerkte, das sofort wieder verschwand.

„Es ist eigentlich ganz einfach“, begann der Kassemirr auf seine ruhige klare Art. „Als Volk heißen wir alle Symbiosane ...“

„Da werde ich gleich noch etwas zu sagen“, unterbrach ihn Illionah.

„... ja und dann stellt sich bei allen Symbiosanen eigentlich schon in recht jungen Jahren heraus, was ihnen am meisten liegt. Sei es, dass sie besonders gut zum Erdreich und den Pflanzen Kontakt aufnehmen können, oder den Bäumen, oder den Nutztieren, oder zu Metallen und Edelsteinen tief im Innern des Erdreichs ... Bei unseren beiden Mädchen hat sich noch nichts Entsprechendes gezeigt und Skribb ist mit dreieinhalb sowieso noch zu klein. Die Enkelin vom alten Tock, Hannah zeigt jetzt schon eine große Nähe zu Bäumen, ganz im Gegensatz zu ihren Eltern. Damit ist sie eine Symbiosabe. Ihr Vater ist Symbiosale und ihre Mutter eigentlich Symbiosase. Sie nutzt diese Nähe zu Steinen und Metallen aber dafür, für die Nutzpflanzen die richtigen Stoffe bereitzuhalten.“

Er hielt kurz inne, bis Yssaahn schließlich nickte.

„Es gibt noch zwei weitere Gruppierungen“, fuhr er fort. „Zum einen werden wir von Frauen angeführt, die wir die weisen Frauen nennen. Unsere Wichtigste ist natürlich Illionah und dann haben wir noch Juschlah.“ Er machte eine Pause, sah zu einer jungen Frau Anfang Zwanzig hinüber, die wie zufällig neben Illionah saß und unter ihren schulterlangen dunkelbraunen Haaren jetzt verschämt leuchtete wie eine überreife Tomate. „Sie wird in gar nicht so weiter Zukunft sicher eine genauso gute und mächtige weise Frau wie Illionah werden. Als letztes gab es vor sehr sehr langer Zeit noch eine weitere Gruppierung, die sich besonders Menschen nähern konnten. Dabei reichten die Möglichkeiten wohl von außergewöhnlichen Heilkräften über die Führung größerer Gruppen bis hin zu einer besonderen Vermittlerfunktion im Austausch mit unseren Göttern.“

Mit sichtlicher Genugtuung nahm er die Überraschung der beiden Sucher wahr, ehe er fortfuhr.

„Dabei steht für uns über allem Kerridwah, die allumfassende Göttin, die alles geschaffen hat.“ Er lächelte sie kurz an. „Wir halten uns aber für viel zu unwichtig, als dass sich die Mutter von allem und allen mit uns abgeben würde. Dafür gibt es dann Kobahn für die Symbiosase, Kalliroos für die Symbiosabe, Kerriasis für die Symbiosale und letzten Endes Krigitt für die Symbiosame, die irgendwann den Einschmeichlungen der anderen Mächtigen der damaligen Zeit nicht widerstehen konnten und die Symbiosane verlassen haben.“ Seine jüngere Tochter war inzwischen auf seinen Schoß geklettert und starrte die beiden Sucher neugierig an. „Seit es keine Symbiosame mehr gibt, fehlt dem Volk der Symbiosane etwas und wir wurden zu Schmutzabtretern der anderen Völker, die uns eigentlich nur deswegen am Leben ließen, weil wir Dinge beherrschen, die sonst niemand kann.“

Eine fast greifbare Traurigkeit schien sich auf dem Platz um das Feuer zu sammeln und sogar die Kinder waren mucksmäuschenstill. Die Stille war unangenehm.

„Macht ihr eigentlich auch Musik?“, wechselte Salao abrupt das Thema.

„Wie meinst du das?“ Illionah war die Verwirrung anzusehen.

„Gerade wenn wir auf ein Volk mit einer längeren eigenen Tradition getroffen sind, gab es immer ungewöhnliche Musikinstrumente und ungewöhnliche Lieder“, erläuterte der Sucher offenherzig und die Weise der Symbiosane von Bleibe bewunderte die Weisheit, die aus seiner auf den ersten Blick naiven Frage sprach.

„Es wird euch nicht so sehr wundern, wenn ich schon vorher davor warne, dass die Mehrzahl unserer Lieder eher traurig und melancholisch ist“, erklärte die Weise und ihre Partnerin stand ebenso wie noch ein paar andere Menschen auf und verschwanden kurz. „Die anderen sollten jetzt vielleicht unseren Versammlungsplatz in unsere Versammlungshalle verwandeln.“

Was jetzt geschah, passierte ebenso routiniert wie unverhofft und die beiden Sucher konnten sich nur zunehmend verdutzter umschauen. Sie hatten schon mitbekommen, dass sich, bis auf das Eingangtor, zwischen jeden der Bäume, die die Feuerstelle umrahmten, je ein kleines Zimmer befand. Jetzt waren es aber hauptsächlich die Kinder und Jugendlichen, die zu jedem dieser Räume gingen, und bei den Wänden, die in den Innenraum führten, zu beiden Seiten mehrere Schlaufen lösten. Dann wurden etwa 4 bis 5 Meter lange Holzstangen geholt und in je eine Öse am unteren Rand dieser Stoffaußenwände gesteckt, ehe alle Innenwände nacheinander innen hochgeklappt wurden. Damit entstand über den beiden Suchern ein Dach sich überlappender ehemaliger innerer Außenwände und das Raumangebot des Platzes erhöhte sich um alle Sitz- und Schlafgelegenheiten, die sich in den kleinen Räumen befanden. Man merkte sofort, wie die Wärme des Feuers nicht mehr nur zum Himmel verpuffte, sondern sich unter dem Dach sammelte.

„Und von außen ist das ganze Gebäude noch nicht einmal zu sehen“, stellte Yssaahn bewundernd fest und der alte Tock widersprach ihr nicht ohne einen gewissen Stolz in der Stimme.

„Von der anderen Seite sieht man aber immer noch den Schuppen für die Tiere aus Holz“, stellte er richtig. „Aber es stimmt schon. Den größten Teil des Gebäudes sieht man nur, wenn man weiß, wo es steht.“

„Aber warum ist das so?“ Man merkte Salao an, dass ihn diese Frage beschäftigte und dass er Schwierigkeiten hatte, eine Erklärung zu finden.

„Die Wurzeln reichen sehr weit in die Vergangenheit zurück“, begann Illionah in ihrer ruhigen Art eine Erklärung und starrte gedankenverloren in die knisternden Flammen des Lagerfeuers, und man spürte förmlich die Erklärung, die im Raum schwebte, ohne dass sie jemand aussprach. „Für die meisten anderen Völker, die uns über die Jahrtausende begegneten, ist die Erklärung einfach und führte mit zu unserem einzigartigen Ruf.“ Sie blickte die beiden Sucher kurz an und Yssaahn erstaunte dabei die Schwingung von Stärke und sicherer Ironie, die von ihr ausging. „Der dahinterliegende ursprünglich Grund ist dabei fast banal. Unsere Vorfahren hatten es einfach satt, sich vor allen Lebewesen, die größer als eine Maus waren, ängstlich zu verstecken und die Tage damit zu vergeuden, einfach nur am Leben zu bleiben.“ Die Sucher sahen sich überrascht an, als sie begriffen, von welch einem gewaltigen Zeitrahmen die Weise der Symbiosane da sprach. „Sie lernten es, das Leben mit der Kraft ihrer Gedanken und einem immer weiter wachsenden Verständnis für das Leben und die Natur soweit zu beherrschen, dass sie in Verbindung mit den Kraftquellen dieser Natur treten konnten, um dabei das Göttliche dahinter zu entdecken und ihr oder ihm zu dienen.“

Illionah sah sie etwas unsicher an und zuckte etwas hilflos mit den Achseln.

„Ohne da jetzt mit der Legende von Samah und Bjoh anzufangen.“ Sie hob lächelnd ihre Hand, als gerade von den kleineren Kindern rundherum ein enttäuschtes 'Oohh!' zu hören war. „Unsere Vorfahren erarbeiteten sich ein großes Verständnis für die Natur, die sie in ihrer Vielschichtigkeit umgab, und erregten damit schließlich die Aufmerksamkeit von Wesen, die schon alt waren, als es noch gar keine Menschen gab und diese halfen unseren Vorfahren, eine so enge Verbindung mit der Welt um sie herum aufzubauen, dass Dinge möglich wurden, die unerreichbar sind, wenn der Mensch nur versucht, sich die Natur mit Gewalt untertan zu machen. Es wurde erst später klar, dass sie uns auch gleichzeitig viel näher waren, als unsere Vorfahren gedacht hättten.“

Die erwachsenen Symbiosane wurden immer unruhiger und es war eindeutig, dass es nicht jeder billigte, dass ihre geistige Führerin Fremden gegenüber so bereitwillig über Dinge sprach, die außerhalb ihrer Gemeinschaft sowieso niemand verstehen konnte.

„Sind diese Wesen, von denen du jetzt sprichst, zufällig die, deren Name eben fiel und von denen zu jeder Gruppe von Symbiosane eine besonders nahe steht?“, erkundigte sich Yssaahn und erreichte damit, dass sowohl die murrenden Stimmen augenblicklich verstummten, als auch, dass alle erwachsenen Symbiosane überrascht zu ihnen hinübersahen. Illionah lächelte und strich sich mit der flachen Hand durch ihr wuscheliges Haar. Sie verbarg damit fast gänzlich ein Kopfschütteln in Richtung der Sucherin und sah sie mit einem Blick an, den Yssaahn überhaupt nicht deuten konnte.

„Das heißt also, dass es für Symbiosane unabdingbar und gleichzeitig unendlich natürlich ist, sich mit der Natur zu verbinden und im Einklang mit ihr zu leben, also so zu leben, das ihr nur minimale Spuren hinterlasst.“ Salao lächelte, als Illionah ihm bedächtig und zustimmend zunickte. „So gesehen sind wir Spuren dieser Einstellung schon bei mehreren Völkern im Verlauf der letzten zwei Jahre begegnet“, erklärte er nachdenklich. „aber niemand scheint die Prinzipien so konsequent zu leben, wie ihr Symbiosane.“

„Es wäre uns eine Ehre und eine Freude, wenn ihr uns erlauben könntet, euch ein wenig besser kennenzulernen“, damit nickte Yssaahn Illionah zu.

„Was hältst du davon, Ruod?“, wandte sich die Weise an den Mann, der neben Opa Tock der älteste der Symbiosane der Gruppe und auf der anderen Seite das Sprachrohr der Kritiker zu sein schien.

Der lachte amüsiert und schüttelte bewundernd den Kopf.

„Das ist natürlich wieder einmal äußerst geschickt“, stellte er fest und seufzte. „Es ist kaum noch Platz für irgendwelche Zweifler und auch ich werde meinen Spaß daran haben, diese beiden hervorragenden Exemplare der Gruppe der Sucher zu unterrichten.“ Er schüttelte nochmals den Kopf und musterte die Weise. „Trotzdem sehe ich überdeutlich, dass da noch eine Ebene mitschwingt, die du uns im Moment bewusst verschweigst.“ Er hob abwehrend seine Hand, als Illionah zu einer Entgegnung ansetzen wollte. „Da du und Juschlah aber auch unbestritten die mächtigsten weisen Frauen seid, die unsere Gruppe der Symbiosane seit langem hatte, werde ich neugierig verfolgen, wie es weitergeht.“ Er deutete eine Verbeugung in Richtung der schmächtigen Frau mit dem rundlichen Gesicht und der sanften Art an. „Die mütterliche Kerridwah lehrt gerade uns Männer, dass es manchmal besser ist, einfach nur den Mund zu halten und abzuwarten.“

Es kam eine gewisse Unruhe auf, als ein paar Symbiosane, die nach der Frage zur Musiktradition bei den Symbiosanen kurz den Kreis verlassen hatten, mit verschiedenen Instrumenten zurückkamen. Darunter auch die junge Frau, die neben Illionah gesessen hatte und Yssaahn schon dadurch aufgefallen war, dass sie eine ähnlich sanfte Ausstrahlung hatte, wie die, die in Wellen von Illionah ausging. Ihr Instrument war eines der ungewöhnlichsten, das die Sucher je gesehen hatten. Es war eine Art Geige, bestand aus einem langen leicht geschwungenen Hals aus Hartholz mit den Spannvorrichtungen von 4 Saiten, einem Holzkörper, der an einen kleinen Kürbis erinnerte, und wurde mit einer Art Bogen gespielt. Es gab auch Vertreter der Gattungen Flöten und zweier dumpf klingender flacher Trommeln, die mit gebogenen Stöcken oder der flachen Hand gespielt wurden, doch das Streichinstrument spielte schon eine herausragende Rolle.

Illionah sollte recht behalten. Die meisten Stücke waren wirklich sehr melancholisch und traurig, doch manchmal schien es fast so, als würden sich sowohl die Laute der Nacht als auch das Rauschen der Bäume und andere Geräusche der sie umgebenden Natur in die Stücke mit einflechten. Währenddessen führte die Neugier auf beiden Seiten dazu, dass die beiden Sucher sich mit der Mehrzahl der Symbiosane unterhielten, die im Moment in den Häusern lebten, die zu Bleibe gehörten. Sie erfuhren auch, dass es noch weitere gab, die mit anderen Terraltlern verheiratet waren und nicht alle Verbindungen zu ihren Verwandten verloren hatten.

„Gehören Kinder aus solchen Ehen eigentlich noch zu den Symbiosanen?“, wollte Salao wissen und der hochgewachsene Tierobb, der der Vater der sehr schüchternen Schonnah war, die sie ja schon ein wenig nach der Rettung der Kinder vor der Bärin kennengelernt hatten, überlegte erst bedächtig, ehe er ernst antwortete.

„So ganz genau weiß das niemand“, gab er zu und schob seine kleine Tochter auf dem Schoß etwas zu Seite, die die ganze Zeit die Neuankömmlinge mit großen Augen anstarrte. Lemilah war etwa 5 und in diesem Alter hatte sie noch die Fähigkeit, sich mit ihrem ganzen Sein auf jemanden zu konzentrieren.

Trotzdem dauerte es nicht lange und Yssaahn schaffte es kaum noch, ihre Augen aufzuhalten.

Irgendetwas brachte sie aber dazu, am Übergang zwischen Traum und Wirklichkeit noch so wach zu sein, dass sie durchaus mitbekam, als sich die erwachsenen Symbiosane sehr leise, kurz und eindringlich unterhielten.

Sie schwamm gerade hinauf an die Oberfläche des Wachseins und hörte dabei die abschließenden Worte von Illionah gefolgt von Lauten der Zustimmung durch die anderen Symbiosane.

„Damit ist es abgemacht, dass sich alle, die Verbindung zu unserer Gruppe haben, übermorgen Abend hier einfinden und über unsere Zukunft entscheiden“, fasste sie gerade zusammen.

„So gerne ich hier bin, so sehr bedauere ich es, wie sehr sich die Gegend in der letzten Zeit verändert hat“, meldete sich abschließend der alte Tock und die anderen murmelten ihre Zustimmung, während sie sich erhoben und teilweise schon tief und fest schlafende kleine Kinder vorsichtig hochnahmen.

Yssaahn zuckte nur leicht zusammen, als sie Juschlah Augenblicke später ganz vorsichtig an der Schulter berührte.

„Ihr solltet jetzt vielleicht auch besser in euer Bett wechseln“, erklärte die junge Frau mit den langen braunen Haaren, die ihr glatt die blaue Bluse hinunterliefen, und blickte sie nur kurz scheu an. „Das Lagerfeuer ist fast heruntergebrannt und es wird hier nachts immer noch ziemlich kalt.“

„Diese tolle Spielerin dieses ungewöhnlichen 4-saitigen Streichinstruments hat damit bestimmt recht“, stimmte ihr Salao schläfrig bei und rekelte sich gähnend und die junge Frau errötete. „Kann man die Seitenwand dann wieder schließen?“

„Natürlich“, erwiderte die jüngere der beiden weisen Frauen und die beiden Sucher sahen, dass dies genau das war, was die letzten Symbiosane um die Feuerstelle herum, gerade taten. Das Dach der Halle wurde wieder zu mehreren separaten Seitenwänden, die an den jeweiligen Balken befestigt wurden.

Sie verschwanden schließlich hinter der Wand ihres Gästezimmers und waren auch schon eingeschlafen, noch ehe die große gewebte Decke sie so richtig mit wohliger Wärme umgeben konnte. Der letzte Gedanke von Yssaahn, ehe sie schließlich einschlief, befasste sich mit einer recht seltsamen Frage. Wer war diese Gestalt, die sie im Halbdunkel des Waldes gesehen hatte, kurz bevor sie sich dem Dorf näherten? Sie war sich sicher, dass sie sich nicht getäuscht hatte und auch, dass sie ihr wohlgesonnen gewesen war. Wohlgesonnen und sehr sehr neugierig. Nur ... was war der Grund für diese Neugierde?

05 - Das Runenspiel

Als Yssaahn am nächsten Morgen die Augen aufschlug, wusste sie im ersten Moment überhaupt nicht, wo sie nun eigentlich war. Das, was sie aber sofort merkte, war die Tatsache, dass ihr Kopf warm und sicher in der Armbeuge von Salao ruhte, dessen Atem ruhig und gleichmäßig ging, auch wenn er definitiv nicht mehr am Schlafen war. Auch seine Hand, die ihr leicht über das Haar bis auf ihren Rücken strich, fühlte sich herrlich an.

Sie seufzte zufrieden und schloss die Augen erst einmal wieder. Ganz egal wo sie waren. Es war sehr angenehm und sie wollte einfach noch ein wenig liegen bleiben. Von draußen war Kinderlachen zu hören und über ihnen rauschten Bäume.

Symbiosane! Sie waren in einem Dorf der Symbiosane, die natürlich auch wieder anders waren, als sie es in ihrer Schulzeit gelernt hatte. Das war aber wirklich nicht das erste Mal, dass sie feststellen musste, dass die Wirklichkeit fast immer anders war, als das, was sie gelernt hatte. Sie liebte es, wenn Salao seine große Hand warm auf ihren Rücken legte, wo sich diese Wärme strahlenförmig auf ihren ganzen Körper ausbreitete. Wo war eigentlich ihr Stab? Vom Fußende her drängte sich eine leichte Schwingung in ihr Bewusstsein und sie seufzte erneut.

„Sollten wir jetzt nicht besser langsam einmal aufstehen, Yssa?“, meinte Salao leise und sie hörte ihn mit dem rechten Ohr, während ihr linkes seine Stimme als tiefe Schwingung direkt über seinen Brustkorb wahrnahm.

„Nur noch ein paar Minuten“, schmollte sie undeutlich, während so langsam alles, was am Vortag geschehen war, wieder in ihr aufstieg. Es überraschte sie jetzt selbst, wie wohl sie sich bereits unter den Symbiosanen fühlte, deren Lebensstil so ganz anders war, als der der anderen Terraltler. Und eines waren sie sicher nicht: feige! Es war ja auch unlogisch. Kein Volk überlebte über unzählige Jahrhunderte oder vielleicht sogar Jahrtausende, wenn es feige war, und behielt dabei auch noch seine Eigenheiten. Während sie langsam wieder einzuduseln drohte, passierte etwas mit und in ihr, was bei Salao zu einem Stirnrunzeln führte und dazu, dass er seinen Atem reflexartig anhielt. Für ihn legte sich ein rötlicher Schimmer über die Haare von Yssaahn und kleine glitzernde Punkte bildeten sich und wurden heller, bis sie wie rote Glühwürmchen aussahen. Aus dem Augenwinkel nahm er dann wahr, dass auch Yssaahns Stab zu glühen anfing. Er spürte jedoch auch, dass da nichts Negatives im Spiel war. Testweise nahm er seine Hand von Yssaahns Rücken und näherte sich ihren Haaren, nur um dort etwas abzubekommen, was er, hätte er schon einmal etwas mit Elektrizität zu tun gehabt, als leichten elektrischen Schlag beschrieben hätte. Also legte er seine Hand wieder auf ihren Rücken zurück.

Yssaahn hätte ihm ja gerne dafür gedankt, aber sie war dazu gar nicht mehr in der Lage. Dafür nahm sie ihn jetzt überdeutlich wahr und seufzte erneut. Sie sah, warum sie ihn mittlerweile so liebte und warum sie so perfekt zusammenpassten. Dann lenkte sie ihre Aufmerksamkeit in ihre direkte Umgebung und nahm dabei die Menschen wahr, die bereits ihr Frühstück hinter sich hatten und ihrem Tagwerk nachgingen. Auch die Tiere nahm sie wahr, aber die Menschen waren weitaus deutlicher und erschienen ihr wie pulsierende rötliche Schemen. Es überraschte sie, dass sie sogar fast augenblicklich begriff, welche Person sie da vor sich hatte ... und auch wie es ihr ging. Sie erweiterte den Kreis um sich und stieß auf den Schemen eines jungen Mannes, der extrem blass und ... irgendwie falsch wirkte. Das war Tirreg, einer der beiden Söhne von Ruod, dem etwas grantigen Symbiosanen vom Vorabend. Warum sah aber die Aura von Tirreg so falsch aus? Es fühlte sich dabei nicht krank an. Sein Bruder Tiomma arbeitete neben ihm auf dem Feld und fühlte sich richtig und gesund an. Sie erinnerte sich jetzt, dass sie schon am Vorabend ein seltsames Gefühl gehabt hatte, als sie, auch wenn nur kurz, mit ihm zu tun hatte.

Plötzlich schien es ihr, als würde noch jemand neben ihr stehen und in die Richtung des neunzehnjährigen Mannes blicken. Sie wagte es gar nicht, in diese Richtung zu blicken, weil sie einfach wusste, dass dies keine normale Person war.

<Wäre das Schicksal normal verlaufen, wäre er mit seiner Mutter gestorben>, durchflutete eine warme, weiche, weibliche Stimme ihr Innerstes. <Seine Jacke hat sich jedoch an einem verkrüppelten Baum verfangen, während die Kutsche in die Schlucht gestürzt ist und er hat überlebt. Er gibt sich jetzt jedoch immer noch die Schuld am Tod seiner Mutter und erlaubt es sich nicht, zu leben.>

<Kann man ihm helfen?> Yssaahn stellte die Frage, auch wenn ihr im Moment überhaupt gar nicht klar war, wie sie jetzt darauf kam, dass sie in so einem Fall überhaupt in der Lage sein sollte, zu helfen. Sie spürte nur, dass es irgendwie ihre Aufgabe war, oder zumindest werden würde.

<Noch nicht>, lautete auch die leicht lächelnde und anerkennend nickende Stimme. <Da musst du noch weiter auf deinem Weg sein und auch Tirreg muss erst wieder selbst dazu bereit sein, ins Leben zurückzukehren.>

Das Wesen schaute sie an, doch Yssaahn wagte es nicht, den 'Blick' zu erwidern. <Ich freue mich, dass ihr den Weg zu ihnen gefunden habt. Terralt braucht die Symbiosane und die Symbiosane brauchen euch.>

Yssaahn wagte einen Blick und fand ihre Vermutung bestätigt. Es war die junge Frau, die sie schon am Vortag im Wald gesehen hatte und es war schon alleine bedeutungsvoll, dass sie ihr nicht als Schemen erschien, sondern als klar umrissene Person, die ihr jetzt sogar leicht verschmitzt zugrinste und dann beifällig nickte.

<Du bist mutig. Das gefällt mir!>

<?>

<Das wirst du noch früh genug begreifen.>

Damit verschwand das, was nach Yssaahns Gefühl ein höheres Wesen war. Als das Gefühl vollständig verschwunden war, nahm sie wahr, dass jemand sie beobachtete. Dem Gefühl folgend traf Yssaahn auf den Schemen von Illionah, die ihr zunickte.

<Was passiert hier?>, versuchte Yssaahn zu fragen, auch wenn sie gar nicht wusste, ob Illionah sie jetzt wirklich wahrnahm oder auch ob sie sie verstand.

<Sehr sehr viel>, war die erste noch sehr kryptische Antwort der weisen Frau der Symbiosane und auch hier hörte sie das Lächeln. <Wir werden aber noch genügend Zeit haben, darüber persönlich zu sprechen.> Sie nickte ihr zu. <Erlöse jetzt aber erst einmal deinen Mann und frühstückt etwas. Ich freue mich jedenfalls sehr, dass ihr den Weg zu uns gefunden habt.>

Damit verblassten die Eindrücke und sie nahm immer stärker Salao wahr und spürte seinen besorgt erhöhten Pulsschlag.

Mit einem Seufzen schlug sie ihre Augen auf und blickte hoch in sein Gesicht.

„Es ist alles gut“, erklärte sie. „Ich verstehe es nicht, aber es ist wirklich alles gut.“

Salao sah sie trotzdem besorgt an und holte tief Luft. „Ich bin mir nicht sicher, ob es eine gute Entscheidung ist, hier zu bleiben“, stellte er fest und hob seine Hand, als sie gleich etwas erwidern wollte. „Ich weiß. Auch ich spüre, dass dies hier auf irgendeine Art das Ziel unserer Reise ist und es ist wirklich wahnsinnig interessant, diese letzten Vertreter eines so uralten Volkes kennenzulernen“, er hielt kurz inne und strich ihr eine schwarze Locke aus der Stirn. „Aber wir sollten etwas vorsichtig sein und uns nicht so einfach vereinnahmen lassen. Nicht das wir uns auf etwas einlassen, dass viel stärker ist als wir selbst.“ Er hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Da war gerade eine magische Energie am Werk, die gewaltiger war, als alles, was wir bisher erlebt haben.“

„Ich habe die junge Frau in der altmodischen Kleidung wieder gesehen, von der ich gestern gesprochen habe.“

„Die, die du als Einzige im Wald gesehen hast?“, erkundigte sich Salao und Yssaahn nickte.

„Ja und ich werde mit Illionah über sie sprechen“, entschied sie nachdenklich. „Sie fühlt sich so unheimlich alt und mächtig an, dass ich den Gedanken nicht loswerde, dass sie zu den Beschützern der Symbiosane gehört. Wenn das stimmt, weiß sie bestimmt noch am ehesten etwas Genaueres.“

„Dann hat diese Beschützerin ja nicht wirklich eine gute Arbeit geleistet“, stellte Salao fest und Yssaahn zuckte mit den Achseln.

„Das kann man im Moment ja nur ganz schwer beurteilen“, meinte sie und schwang ihre Beine aus dem Bett. „Zumindest haben sie über all die Jahrhunderte überlebt und sind nicht ausgestorben.“

Salao nickte und von hinter dem Vorhang ertönte die Stimme von Torinah.

„Hallo ihr beiden. Seid ihr nun wach? Ich habe euch euer Frühstück mitgebracht“, kam die unsichere Stimme der älteren Frau.

„Wir danken dir, Torinah“, sprach Salao und grinste Yssaahn an. „Meine Gefährtin kann sich einfach nicht von diesem kuscheligen Bett trennen. Wir sind aber gleich soweit.“

Yssaahn funkelte ihn an und versuchte ihn zu kitzeln, was nicht gelang, weil er nur seine Hände ganz um sie legen musste, um diesen Angriff erfolgreich abzuwehren.

Schon nach Kurzem schoben sie den schweren Stoff zur Seite und traten hinaus auf den Innenhof, auf dem am Vorabend das kleine Fest stattgefunden hatte und wo nun auch der alte Tock seiner Frau dabei half, aus einem anderen der Zimmer einen Tisch und ein paar Baumstümpfe zusammenzustellen.

Die alte Tock, wie sie wohl auch von den anderen Symbiosanen genannt wurde, hatte bereits einen Eimer Wasser aus dem Brunnen, der direkt neben einem der Bäume, die Teil dieses ungewöhnlichen Hauses waren, im Boden verschwand, hochgeholt und ein weiches Tuch und ein Stück selbst gemachter Seife bereit gelegt und war gerade dabei, das mitgebrachte Tablett auf einem Gestell zu befestigen, das so mit wenig Aufwand einen Tisch daraus zauberte. Auf der Feuerstelle lag bereits frisches Holz.

„Da ich nicht wusste, was ihr am liebsten frühstückt, habe ich euch frische Milch mitgebracht und einen Kräutertee gemacht“, erklärte sie und begutachtete ihr Werk, ehe sie sich wieder zum Gehen wandte.

„Musst du gleich weg, oder kannst du uns vielleicht nicht noch etwas Gesellschaft leisten?“, bat Yssaahn, während sich Salao laut prustend mit dem eiskalten Quellwasser zu waschen begann. „Natürlich nur, wenn wir dich jetzt nicht von irgendetwas Wichtigem abhalten und auch nur, bis Illionah kommt.“

Sowohl Torinah, als auch Salao blickten sie kurz erstaunt an.

Die alte Frau zögerte und nickte dann und ein Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Es ist ein Vorteil meines Alters, dass ich nur noch das machen muss, was ich kann und sonst die Gemeinschaft hilft, wie auch ich damals den Ältesten geholfen habe“, erklärte sie stolz und nahm dankbar in einem der beiden Sessel Platz während Yssaahn eine Bank so zu dem Tisch herüber drehte, bis sie auf ihm Sitzen und frühstücken konnte.

„Das heißt also, dass sich die Symbiosane an die alten Gemeinschaftsregeln halten“, stellte Salao fest und wirbelte dicht neben Yssaahn seinen Kopf mit den tropfnassen Haaren hin und her, und Yssa schrie entrüstet auf.

„Das ist mit einer der Gründe, warum die Symbiosane nie in eine der neuen großen Städte ziehen werden“, erklärte sie stolz und ihr Gesicht verdüsterte sich. „Ganz zu schweigen von dem, was man über das Leben auf unserer kalten Schwester hört.“

Salao zog sich das Hemd über, dass er schon in der letzten Nacht aus seinem Rucksack genommen hatte und sah die alte, fast weißhaarige Frau irritiert an, bis er endlich verstand, was sie meinte.

„Du meinst Terra“, begriff er schließlich und schüttelte andächtig den Kopf. „Es ist schon sehr lange her, dass ich diese Bezeichnung gehört habe: 'unsere kalte Schwester'. Kalt, weil es keine Magie gibt, die schon für sich dafür sorgt, dass die Menschen sich näherkommen.“

„Alte, die abgeschoben und vergessen werden“, spie Torinah fast hervor. „Menschen ohne Verbindung zu den Ahnen, zueinander und zu ihrer Zukunft um sie herum. Das kann nicht gut gehen.“

„Eine Philosophin“, stellte Yssaahn fest und Torinah schnaubte.

„Nur gesunder Menschenverstand und die Fähigkeit, den Hüterinnen zuzuhören, wenn sie einmal vorbeikommen und von Terra erzählen, wenn sie danach gefragt werden.“

Salao erwischte sich dabei, dass er die alte Dame betrachtete und plötzlich verschiedenfarbige Bereiche auf ihrem Körper zu erscheinen schienen. Besorgt kniff er die Augen zu und schüttelte den Kopf. Als er erneut zu ihr hinübersah, waren diese farbigen Bereiche plötzlich wieder verschwunden. Dafür dröhnte sein Kopf, aber auch das verschwand schon nach Kurzem, als er am Frühstückstisch saß.

Das Frühstück war einfach und nahrhaft und unterschied sich nicht sehr von den Frühstücken, die sie bei anderen Völkern auf ihrer Reise bekommen hatten, vielleicht abgesehen von vergorener Ziegen- und Schafsmilch, an die sich Yssaahn wahrscheinlich nie gewöhnen würde. Das Besondere war eher die Friedlichkeit, die alles wir eine dicke Decke bedeckte und unheimlich angenehm war. Auf der einen Seite war sich Yssaahn ganz sicher, dass sie noch nie in dieser Gegend des Landes gewesen war und auf der anderen Seite fühlte sie sich, als wäre sie nach langer Suche nach Hause gekommen. Wie wenig Sinn das machte, war ihr klar. Dazu kamen dann noch die Art und Weise, wie ihre Sucherstäbe sie quasi in das Dorf geführt hatten und was dann alles am Vortag geschehen war, inklusive der Tatsache, dass sie die neuen Helden gesehen hatten, die, auch wenn sie noch so jung waren, jetzt schon einen kolossalen Einfluss auf die Zukunft von Terralt hatten. Sie war so in ihre Gedanken vertieft, dass sie gar nicht mitbekam, als Illionah am Tisch auftauchte. Erst als sie sich einen Klappstuhl holte und neben ihr niederließ, biss sie erneut in ihr Brot mit einer süßem Creme und hob langsam den Kopf.

Ihr Blick kreuzte sich mit dem der weisen Frau der Symbiosane, die sie nachdenklich anlächelte.

„Bitte lauft nicht weg“, kam die überraschende Bemerkung der Frau und Yssaahn fühlte sich irgendwie ertappt. Das war eine der Ebenen, in denen ihre Überlegungen im Moment durchaus wandelten.

Yssaahn sah Salao an und der erwiderte ihren Blick und zuckte nur ganz leicht mit den Schultern. Sie seufzte. Er überließ ihr natürlich die Verhandlungen. Er war auch mehr der Praktiker. Das stimmte schon.

„Ich habe darüber nachgedacht“, gab sie zu und sah die weise Frau offen an. „Es gibt viel, was ich nicht verstehe.“ Sie schwieg einen Moment, ehe sie fortfuhr. „Doch das fühlt sich auch gleichzeitig so passend an, wie ein paar Schuhe, dass man auf einem Jahrmarkt findet und die passen, als wären sie extra für einen angefertigt worden.“

Illionah grinste und nickte. „Ich verstehe, was du meinst. Leider kann ich dir aber nicht erklären, was da im Einzelnen passiert.“ Yssaahn runzelte ihre Stirn und Illionah seufzte. „Das stimmt wirklich. Mir spuken da ein paar Ideen durch den Kopf, aber die sind so abenteuerlich, dass es vermessen wäre, sie auch nur laut auszusprechen.“

<Dann sprich sie leise aus>, forderte Yssaahn sie in Gedanken auf und sah an Illionahs Gesicht, dass sie sich an das Gefühl der Verbindung mit ihr richtig erinnert hatte.

<Ich ... ich verstehe es doch selbst nicht. Schon diese direkte Verbindung habe ich so noch nie erlebt>, gab sie zu.

„Wenn man als Sucher unterwegs ist, ist eine der stärksten Kräfte, die einen antreibt, die Neugier und ich habe das Gefühl, dass hier bei und mit euch so einiges passieren wird.“ Sie hielt erneut inne und Salao schenkte ihr noch etwas Tee ein und berührte dabei ihre Hand. „Also im Moment möchte ich noch so einiges über das alte Volk der Symbiosane lernen.“

„Ihr kennt euch schon lange?“

„Unendlich lange“, erwiderte Yssaahn und Salao lächelte. „Wir haben uns schon in der Schule kennengelernt in einem Alter, wo Jungen und Mädchen noch keine Probleme damit haben, zusammen zu spielen. Danach waren wir natürlich eine Zeit lang nicht zusammen, bis wir feststellten, dass die Behauptungen unserer Freunde, wie komisch Jungen oder Mädchen sind, irgendwie nicht stimmten.“

„Unendlich lange“, wiederholte Illionah nickend. „Ich danke euch.“

„Was habt ihr davon?“

„Ich weiß es nicht genau, aber ...“ Sie zuckte mit den Achseln.

„Seid ihr jetzt fertig?“, meldete sich Torinah und erhob sich schwerfällig. „Ich muss mich langsam um die Vorbereitungen für das Abendmahl kümmern. Die Frauen treffen sich bei uns. Wir wollten dann auch besprechen, was es zum Treffen geben soll.“

„Treffen?“ Yssaahn sah sie verwundert an.

„Ja“, stimmte ihr Illionah zu. „Die gestrigen Ereignisse haben ein Treffen ausgelöst, was sich nun schon seit einiger Zeit abzuzeichnen begann.“ Man hörte, dass sie im Moment nicht mehr darüber verlauten lassen wollte. „Es wird morgen Abend stattfinden und es werden alle Symbiosane anwesend sein, die auch nur entfernt zum Stamm gehören.“ Ihr Blick kreuzte sich mit dem von Torinah, die sie mit gerunzelter Stirn ansah. „Ja. Du hast ja recht. Sie gehören wirklich schon mehr dazu. Es wird um die Zukunft der Symbiosane an diesem Ort gehen. Wir haben eine sehr starke Verbindung zu verschiedenen Aspekten der Natur und benötigen diese auch lebenswichtig für unser Leben und für das, was wir produzieren.“

„Und diese Voraussetzungen sind hier immer weniger gegeben“, begriff Yssaahn und Illionah nickte.

„Trotzdem eine schwere Entscheidung“, stellte Salao fest.

„Wir waren fast drei Generationen lang an diesem Ort“, schnaubte Torinah verächtlich. „Es wird wahrscheinlich einfach mal wieder Zeit.“

Damit begann sie mit Hilfe der anderen, das Frühstücksgeschirr wieder zusammenzupacken.

***

Irgendwie war es doch ein komisches Gefühl! Nach vielen Wochen, in denen sie eigentlich immer etwas zu tun hatten und entweder ihren Gastgebern halfen und von ihnen lernten, war dies dann der erste Tag, an dem sie nach dem Frühstück eigentlich nichts zu tun hatten. Und das, wo die Dorfbewohner ganz offensichtlich mehr als genug zu erledigen hatten. Die angespannte Geschäftigkeit erfüllte alles und führte dann auch dazu, dass die beiden Sucher schließlich umhergingen und versuchten, den Menschen zuzusehen, ohne sie zu stören. Dass sie nicht an jeder Hütte gleich freundlich und offen empfangen wurden, war jetzt nicht weiter verwunderlich. Das hing auch mit ihrem Dasein als Sucher zusammen. Dabei waren die spirituellen Probleme aber eher untergeordnet. Schließlich kam das Statussymbol ja gerade aus den Händen dieser Symbiosane. Auch wenn es Salao natürlich brennend interessierte, was hinter ihrer 'Herstellung' stand, war es ihm klar, dass ihn niemand einweihen würde. Trotzdem spürten sie an einigen Stellen, dass hier mehr am Werk war, als ganz normale Landwirtschaft und Bearbeitung von Holz. Es hätte dabei noch nicht einmal den Hinweisen der Sucherstäbe bedurft. Sie beobachteten Ruod und seine beiden Söhne bei der Versorgung der Tiere, und besonders das enge Verhältnis der jungen Männer zu den kräftigen Pferden fiel auf. Yssaahn hatte das Gefühl, die Härchen auf den Armen wären vor lauter Energie am Knistern.

Der stille Tirreg mit den kurzen dunklen Haaren war Yssaahn schon am Vorabend bei dem kleinen Fest aufgefallen. Immer wenn sie ihn ansah, lief es ihr kalt den Rücken herunter und sie hatte das Gefühl, jemanden vor sich zu haben, den es eigentlich gar nicht geben sollte; jemanden, der eigentlich gar nicht hier hingehörte. Das Gefühl flammte immer dann auf, wenn er zu ihnen hinüberschaute. Wenn er sich auf die Tiere konzentrierte, fehlte es völlig und man spürte, dass die Tiere seine Welt waren.

Wie sie es schon mehrfach gemacht hatte, tauchte Illionah plötzlich neben ihnen auf, während sie den beiden jungen Männern zusahen, die mit vier Pferden trainierten, von denen zwei noch sehr jung zu sein schienen.

„Die Enkel von Ruod sind das, was ihn am Leben gehalten hat. Ohne sie wäre er am Tod seiner einzigen Tochter Darellah vor zwei Jahren zerbrochen“, stellte sie leise fest, als Ruod gerade von der anderen Seite auf die Weide kam und einen Wagen hinter sich herzog. Yssaahn sah kurz zu der weisen Frau und wartete ab. „Im Herbst zur Zeit des ersten Herbststurmes war sie mit ihren Söhnen auf einem offenen Pferdewagen unterwegs und wollte unbedingt noch im Dorf ankommen, ehe der Sturm so richtig losbrechen würde. Eigentlich kannte sie den Weg sehr gut, der sich zwischen mehreren dicht bewaldeten Hügeln hin und her schlängelt, aber es dämmerte und regnete, und sie hatten gerade den höchsten Punkt vor dem längsten Abstieg erreicht, als der Sturm so richtig losbrach. Als schließlich ein Blitz direkt neben der Kutsche einschlug, gab es für die beiden Pferde kein Halten mehr und auch ihre Verbindung zu den Jungen zerbrach. Sie hetzten den engen Weg hinunter und nahmen die erste Kehre nur mit Mühe. Die danach klappte auch noch irgendwie, aber dann kam die Kehre direkt oberhalb einer Steinklippe, die gut 20 Meter in die Tiefe ging und das klappte dann nicht mehr. Die beiden Pferde schafften es noch, aber der vierrädrige Wagen flog förmlich ins Nichts vor der Steinwand und krachte bei Sturz nach unten mehrfach gegen die Steine.“

„Darellah löste mit einem Fußtritt die Verbindung des Geschirrs der Pferde mit dem Wagen, ehe sie von der Wucht des Aufpralls nach hinten durch die Luft geschleudert wurde. Wie Tiomma bis heute nicht verstehen kann, hat sie dabei keinen Laut von sich gegeben. Gleichzeitig sackte der Wagen weiter nach unten ab.“

„Tiomma sprang nach links vom Wagen und erreichte eine Birke, die aus unerfindlichen Gründen noch nicht in den Abgrund hinabgestürzt war und sich irgendwie in eine erdgefüllte Spalte gezwängt hatte. Wie dieser Baum es schaffte, sein zusätzliches Gewicht zu halten, ist ein Wunder. Das ist aber nichts im Vergleich zu dem, was mit Tirreg passierte. Seine beiden Füße verfingen sich in einem Seil, das neben anderen Dingen in der Kutsche lag und er wurde aus der Kutsche geschleudert, mit zusammengebundenen Beinen. Die Steinwand hat eine Besonderheit. Es gibt eine Art Felsnase, die ziemlich scharf ist. Links von ihr ist eine Einbuchtung. Tirreg wurde über diese Felsnase katapultiert während der Wagen in die Tiefe stürzte. Es ist eigentlich vollkommen unmöglich, aber er ist mit zusammengebundenen Beinen auf diese Einbuchtung zugestürzt, kopfüber. Ehe sein Kopf aber auf dem Fels aufschlagen konnte, muss sich das Seil gestrafft haben. Anstatt ihn wie eine Puppe durch die Luft zu schleudern, hat sich das Seil in dieser Felsnase verhakt und ... ist gerissen. Tirreg war nur wenige Zentimeter über der Einbuchtung, als das Seil riss, und fand sich mit einer höllischen Beule am Kopf und noch immer gebundenen Beinen auf dem Felsvorsprung wieder, als er wieder zu Bewusstsein kam.“

Yssaahn sah die weise Frau gebannt an, wagte es aber trotz allem nicht, die Frage zu stellen, die ihr auf der Zunge lag.

Illionah sah sie traurig nickend an. „Du hättest die Frage ruhig stellen können“, meinte sie nur. „Seit diesem Unfall umgibt Tirreg eine Aura, als wäre er eigentlich gar nicht mehr von dieser Welt, als gehöre er gar nicht mehr hierher.“

Als spüre er, dass über ihn geredet wurde, blickte Tirreg, der ein junges Pferd beruhigte, was sein Opa zum ersten Mal vor einen Wagen spannte, indem er ihm bloß seine Hand auf den Hals legte. Als sich ihre Blicke kreuzten, überrollte sie wieder dieses Gefühl von hoffnungsloser Traurigkeit, auch wenn Tirreg selbst vollkommen entspannt dastand.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739420455
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Juni)
Schlagworte
Magie Fantasy Parallelwelt Science Fiction

Autor

  • Dirk Richter (Autor:in)

Vor mehr als 57 Jahren wurde ich in Opladen an der Wupper geboren. Heute ist dies ein Teil von Leverkusen. Dort habe ich meine Kindheit verbracht und von 10 bis etwa 20 Jahren zu schreiben begonnen. Vor etwa 10 Jahren meldete sich die Magie der Worte zurück und ich fing wieder an, Menschen zu entführen. Mittlerweile spielen sämtliche Bücher und Geschichten in den magischen Parallelwelten von Terra, die alle weit weniger technisiert sind und in denen Magie eine wichtige Rolle spielt
Zurück

Titel: Die Symbiosane