Lade Inhalt...

Sehnsuchtstrilogie: Die Sehnsuchts-Trilogie in einem Band

von Frida Luise Sommerkorn (Autor:in)
640 Seiten
Reihe: Sehnsuchts - Trilogie, Band 4

Zusammenfassung

Immer wieder im Juni

Clara liebt ihr Leben in Berlin. Doch immer wieder drängt sich diese ungestillte Sehnsucht auf, die sie schon ihr ganzes Leben lang begleitet.

Als ihr Vater stirbt und sie ihrer Mutter auf dem Allgäuer Hof zur Hand geht, ahnt sie nicht, dass ausgerechnet sein Vermächtnis ihr Leben auf den Kopf stellen wird. Denn eines Tages tauchen Briefe einer Unbekannten im Schlafzimmer ihres Vaters auf. Neugierig vertieft sie sich in die geheimnisvolle und irgendwie vertraute Liebesgeschichte. Wer war die Frau, deren Worte sich wie eine Umarmung anfühlen?

Allmählich reift in Clara die Erkenntnis, dass dieses Rätsel nur eine Person lösen kann und dass danach nichts mehr so sein wird, wie es bisher war.

Manchmal ist das Glück ganz nah

Clara fühlt sich hin- und hergerissen: Soll sie ihre wahre Mutter suchen, die sie vor über dreißig Jahren zurückgelassen hat? Oder will Magdalena auch jetzt nichts von ihr wissen? Zum Weihnachtsfest besucht sie ihre Familie im Allgäu und begreift, dass sie ihrer Sehnsucht folgen muss!

Gemeinsam mit Bertram begibt sie sich auf die Reise in Magdalenas Vergangenheit. Doch alle Hinweise führen in eine Sackgasse. Dennoch fühlt sie sich ihrer Mutter näher als je zuvor. Noch ein letztes Mal will sie einer Spur nachgehen, deren Ziel sie magisch anzieht.

Und plötzlich überschlagen sich die Ereignisse und Clara ist sich nicht mehr sicher, ob sie die Tür überhaupt öffnen will, an die sie nicht zu klopfen wagt.

Endlich schwingt die Liebe mit

Endlich scheinen sich alle Rätsel der Vergangenheit gelöst zu haben und Clara wünscht sich nichts sehnlicher, als die Zeit mit ihrer echten Mutter genießen zu können. Doch Magdalena fällt es schwer, mit der Schuld zu leben, Clara als Baby im Stich gelassen zu haben. Auch Clemens, der Magdalena monatelang den Hof gemacht hat, reagiert nach einem verhängnisvollen Abend auf keine ihrer Nachrichten. Als sie erfährt, dass ihre Tochter schwanger ist, übermannt sie die Erinnerung und sie verschließt sich nicht nur Clara, sondern auch Clemens.

Ein Hilferuf aus dem Allgäu holt Magdalena in das wahre Leben zurück. Auf dem Weg dorthin bekommt sie unerwartete Hilfe. Und erkennt, dass sie die Vergangenheit ruhen lassen muss, damit die Zukunft eine Chance hat.

Doch wird sie es rechtzeitig ins Allgäu schaffen, um ihrer Tochter ein zweites Mal das Leben zu schenken?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

Liebe LeserInnen!

In diesem eBook-Sammelband können Sie alle drei Teile der Sehnsuchts-Trilogie lesen:

Teil 1: Immer wieder im Juni

Teil 2: Manchmal ist das Glück ganz nah

Teil 3: Endlich schwingt die Liebe mit

In allen Büchern dürfen Sie sich auf eine Familiengeschichte freuen, deren Höhen und Tiefen zwar den Allgäuer Bergen entspringen, jedoch besonders mit den Verwicklungen der Liebe zu tun haben. Während Clara in Immer wieder im Juni eine geheimnisvolle Entdeckung macht, die ihr Leben verändern wird, begibt sie sich in Manchmal ist das Glück ganz nah auf eine Reise, deren Ziel sie magisch anzieht. Als sie dann in Endlich schwingt die Liebe mit auch noch in Lebensgefahr gerät, kann ihr nur noch eine Person helfen. Aber wird die es schaffen, die Vergangenheit ruhen zu lassen und der Zukunft, und somit auch Clara, eine Chance zu geben?

Ich wünsche Ihnen unterhaltsame Stunden im wunderschönen Allgäu!

Ihre

Frida Luise Sommerkorn

Immer wieder im Juni

Clara liebt ihr Leben in Berlin, ihre Modeboutique und ihren Freund Bertram. Doch immer wieder drängt sich diese ungestillte Sehnsucht auf, die sie schon ihr ganzes Leben lang begleitet.

Als ihr Vater stirbt und sie ihrer Mutter auf dem Allgäuer Hof zur Hand geht, ahnt sie nicht, dass ausgerechnet sein Vermächtnis ihr Leben auf den Kopf stellen wird. Denn eines Tages tauchen Briefe einer Unbekannten im Schlafzimmerschrank ihres Vaters auf. Neugierig vertieft sie sich in die geheimnisvolle und irgendwie vertraute Liebesgeschichte. Wer war diese Frau, deren Worte sich wie eine Umarmung anfühlen?

Allmählich reift bei Clara die Erkenntnis, dass dieses Rätsel nur eine Person lösen kann und dass danach nichts mehr so sein wird, wie es bisher war.

Begriffe, die zum Teil nur im Allgäu vorkommen

Alpe

Bergweiden inklusive einer Hütte für die Hirten

Sennalpe

Alpe, auf der Kühe gehalten werden, deren Milch direkt vor Ort zur Käse verarbeitet wird

Senn

Hirte, der sich auch um die Herstellung des Käse kümmert

Viehscheid

Rückgabe der einzelnen Tiere an ihre Besitzer, die den Sommer auf der Alpe verbracht haben

Braunvieh

Allgäuer Rindvieh

Schumpen

weibliches Jungvieh

Schellen

Kuhglocken

Grünten

„Wächter des Allgäu“, 1.783 m hoch

Reiberdatschi

Kartoffelpuffer


Prolog

Früher ...

Wehmütig saß sie auf der alten Bank des zugigen Bahnsteigs und hielt ihre Tasche fest umschlungen. Das war jetzt also aus ihr geworden. Eine junge Frau auf der Flucht. Jedenfalls fühlte es sich so für sie an.

Eigentlich war sie voller Euphorie in ihre Heimat zurückgekehrt, wollte im Schoß der Familie Kraft tanken. Ein bisschen auf dem Hof arbeiten, Freunde treffen, eben das Leben ihrer Jugend genießen. Aber nun war schon wieder alles vorbei. So schnell hatte sie nicht wieder Abschied nehmen wollen.

Natürlich wollte sie auch nicht ewig hierbleiben. Noch war ihre Abenteuer- und Entdeckerlust nicht gestillt. Aber das Schicksal hatte andere Pläne mit ihr gehabt. Wer konnte schon ahnen, dass sie ausgerechnet hier ihre große Liebe finden würde. Und nicht nur die, es gab jetzt auch ein kleines Wesen, so zerbrechlich und doch mit einem starken Blick, für das sie hätte da sein müssen.

Wieder überkam sie das tiefe Schluchzen. Sie musste sich jetzt zusammenreißen, wollte nicht auffallen. Auch wenn so früh am Morgen erst wenige Leute unterwegs waren, keiner durfte davon erfahren, dass sie heimlich und widerstrebend aufgebrochen war.

SIE hatte ihr eindringlich dazu geraten, hatte das neue Leben in den schönsten Farben gemalt und ihr dann aufmunternd auf die Schulter geklopft. So, als wären sie beste Kumpel. Aber das waren sie nicht. Sie waren mehr als das. Nur dass sie SIE enttäuscht hatte und nun dafür büßen musste.

Aber vielleicht hatte SIE recht. Wahrscheinlich war es für alle am besten, wenn sie nicht mehr dazwischenstand. Und so mittellos wie sie war, hätte sie niemals auch noch für ein Kind sorgen können.

Ja, sie wollte die Welt entdecken und frei sein, jedenfalls hatte SIE ihr das eingeredet. Immer und immer wieder, bis sie es selbst glaubte.

Und dann der Abschiedsbrief. Auch den hatte SIE für sie vorgeschrieben. Sie musste ihn nur Wort für Wort übernehmen. Die Schmerzen, die sie dabei empfand, hatte sie verdrängt. So wie alles andere auch.

Warum hatte er sich auch nicht für sie entschieden? Warum konnte er nicht zu ihr stehen und ein gemeinsames Leben mit ihr beginnen? Sie hatten doch so viel zusammen erlebt! Sie hätten eine wunderschöne Zeit miteinander haben können! Sie hätten reden und eine Lösung finden müssen. Aber Reden war noch nie seine Stärke gewesen. Lieber zog er sich zurück und ließ die Dinge auf sich zukommen.

Schluchzend legte sie die Hände vor das Gesicht. Nein, sie wollte diesen Schritt nicht gehen und tat es doch. Sie war genauso wie er, hatte auch zu wenig Mut.

Mit quietschenden Bremsen hielt der Zug an. Automatisch stand sie auf, strich sich ihre Kleidung glatt, nahm die Tasche und bestieg den Zug.

Sie sah nicht ein einziges Mal zurück.


Theresia

»Hast du schon was von Ferdl gehört?«, fragte Traudl und wischte sich mit dem Handrücken über die tränennassen Augen. Ihre brüchige Stimme versagte ihr fast bei dieser Frage.

»Nein, Mutter!«, antwortete Theresia. Genervt schaute sie vom großen Holztisch auf, an dem sie seit einer geschlagenen Stunde saß und versuchte, sich auf die Sitzordnung der nachmittäglichen Trauerfeier zu konzentrieren.

»Und du weißt doch, dass er nicht mehr Ferdl genannt werden möchte. Er ist erwachsen und heißt Ferdinand. So habt ihr ihn jedenfalls vor 26 Jahren getauft.«

Als die Worte raus waren, biss Theresia sich auf die Zunge. Das Wort ihr hatte sie tunlichst vermeiden wollen. Schließlich gab es seit ein paar Tagen kein Ihr mehr. Heute sollte die Beerdigung ihres Vaters sein und sie wusste jetzt schon nicht mehr, wo ihr der Kopf stand.

Traudl hatte sich auf den einzigen Stuhl im Raum gesetzt, der nicht am Tisch, sondern direkt neben der Küchenarbeitsplatte am Fenster stand. Dort hatte Georg, ihr Vater, immer am liebsten gesessen. Und geschwiegen. Georg war kein Mann der großen Worte, auch wenn alle Leute im Ort immer behaupteten, dass er früher bei jeder Feier die Menge unterhalten konnte. Theresia hatte nie viel darauf gegeben, was die Leute sagten, aber sie konnte sich auch beim besten Willen nicht vorstellen, dass ihr Vater als Entertainer auf dem Tisch getanzt hätte. Für sie war er ein zurückgezogener Mann. Unter seinen Blicken war sie so manches Mal zur Ameise geworden. Aber er war nie laut geworden, hatte eben seine Arbeit erledigt und sich sonst aus allem rausgehalten.

Theresia schaute an ihrer Mutter vorbei aus dem Fenster. Wenn sie jetzt an ihn dachte, kam ihr immer wieder in den Sinn, dass er trotz des starren Blickes kein böser Mann gewesen war. Egal welche Probleme sie oder ihre Geschwister hatten, er war immer für sie da gewesen. Nur eben zurückhaltend und wortkarg. Bis zu einer Zeit, da er auch diese Nähe nicht mehr zugelassen hatte. Da war sie zwölf oder dreizehn. Plötzlich war sogar das leichte Lächeln, das er noch manches Mal für sie gehabt hatte, verschwunden.

Theresia schüttelte die Gedanken ab. Seitdem sie mit dem Pfarrer wegen der Trauerrede über ihren Vater gesprochen hatte, kamen ihr immer wieder Zweifel, ob sie ihren Vater wirklich gekannt hatte. Aber dafür war es nun zu spät und Theresia war genervt, dass sie sich nicht auf ihre Arbeit konzentrieren konnte. Warum stellte der Pfarrer eigentlich immer erst solche Fragen, wenn es zu spät war? Sollte die Kirche nicht vielleicht monatlich solche Gespräche führen? Dann müsste man sich schon eher Gedanken über seine Familie und Mitmenschen machen. Oder nahm ihr Pfarrer diese Aufgabe sogar wahr? Schließlich hatte sie ihn öfter mal auf dem Hof gesehen, aber aus Zeitgründen selten mit ihm gesprochen. Und wenn, dann nur im Vorbeigehen zwischen Tür und Angel.

»Aber, er ist doch mein Ferdl«, hörte Theresia ihre Mutter murmeln und musste sich erst wieder daran erinnern, worüber sie gerade eben gesprochen hatten.

Sie schaute auf die Uhr. Gleich 11 Uhr. Ferdinand und Clara wollten schon längst da sein. Der Jüngste im Geschwisterbunde studierte schon seit ein paar Jahren in Bremen. Meeresbiologie! Ihre Eltern hatten nie verstanden, wie es einen echten bayerischen Buben an die Küste verschlagen konnte. Aber Ferdinand hatte sich durchgesetzt.

Clara dagegen, das Sandwichkind, musste sowieso nie etwas durchsetzen. Sie musste als Kind nicht zur Schule, wenn der Bauch weh tat, sie konnte lieber lernen, wenn sie keine Lust zur Stallarbeit hatte und sie durfte in Berlin Design studieren, ohne dass sich ihre Eltern beschwert hätten. Manchmal kam sich Theresia wie das schwarze Schaf der Familie vor.

Aber eigentlich mochte sie ihre Geschwister sehr. Und auch wenn sie das Gefühl hatte, dass die beiden bevorzugt wurden, hatten sie das nie gegen sie ausgespielt. Clara war viel zu lieb, um sich gegen jemanden zu stellen. Erst recht, seitdem sie Bertram kennengelernt hatte. Auch wenn Theresia ihn erst einmal gesehen hatte, er schien schon der Richtige für ihre Schwester zu sein. Und Ferdinand war zwar ein kleiner Lausbub gewesen, aber er hatte es immer geschafft, sie um den kleinen Finger zu wickeln.

Plötzlich kam Bewegung in die zusammengesunkene Gestalt ihrer Mutter.

»Da ist er«, sagte sie und schob ihren Zeigefinger in die Richtung, aus der ihr Sohn kam.

Theresia seufzte. Endlich! Das Lieblingskind war da und sie konnte sich wieder auf ihren Sitzplan konzentrieren. Natürlich gab es keine Tischkärtchen wie bei einer Hochzeit, aber wenigstens wollte sie den Überblick behalten, sodass nicht plötzlich verfeindete Familien, von denen es einige im Ort gab, nebeneinander saßen.

Als ihre Mutter die Küche verlassen hatte, um ihrem Sohn entgegenzueilen, ließ Theresia den Kopf auf die Arme sinken. Hoffentlich war dieser Tag bald vorbei, damit sie sich wieder den Alltagsdingen widmen konnte. Schließlich warteten in der heimischen Käserei noch Regale voller Käselaibe, die gewendet, gebürstet und verfeinert werden wollten.


Clara

»Noch drei Stunden, dann haben wir es geschafft!«

Bertram aktivierte das Navi und nickte, als er die Ankunftszeit sah.

»Und pünktlich werden wir auch sein. Laut Navi kommen wir ungefähr um 12 Uhr an«, sagte er und schaute Clara lächelnd an.

Dankbar zog Clara ihn zu sich heran und küsste Bertram auf die weichste Stelle der Wange, die sie so liebte. Wie eigentlich alles an ihm.

Während Clara sich anschnallte, lenkte Bertram das Auto vom Rastplatz und reihte sich zügig in die viel befahrene Autobahn ein.

Je näher sie ihrer Heimat kam, umso mulmiger wurde Claras Bauchgefühl. So war es ihr schon immer gegangen. Egal, ob sie von langen Urlaubsreisen kam oder sich kurze Auszeiten vom Studium genommen hatte. Sie hatte nie feststellen können, warum das so war. Eigentlich liebte sie ihre Heimat, die Wiesen, die Berge und ihren Hof. Und natürlich ihre Familie. Trotzdem hatte sie immer das Gefühl gehabt, nicht richtig dorthin zu passen. Vielleicht hatte sie das schlechte Gewissen darüber auch immer wieder in die Ferne getrieben.

Traurig schaute sie aus dem Fenster und betrachtete die vorbeifliegende Landschaft. Der Juli hatte es richtig gut mit ihnen gemeint. Hohe Temperaturen und strahlender Sonnenschein waren Grund genug gewesen, sich auch in Berlin viel im Freien aufzuhalten und die Cafés oder Grünanlagen zu genießen. Oder auch mal einen Ausflug in die märkische Natur zu unternehmen.

Sie hatten sich sogar spontan einen Kurzurlaub auf dem Darß gegönnt und Bertrams Familie besucht. Nachdem seine Schwester Anne ein kleines Häuschen am Bodden geerbt und restauriert hatte, konnten sie dort unbeschwerte Stunden allein oder im Kreise der Familie verbringen. Auch Annes Freundinnen Stine und Caro waren oft dabei.

Jedes Mal, wenn Clara an die Zeit auf dem Darß und Bertrams Familie dachte, setzte sich ein wohlig warmes Gefühl in ihr fest. Sie war froh, ein Teil dieser Familie geworden zu sein. Auch wenn Bertram und sie noch nicht verheiratet waren, so fühlte es sich doch so an, als hätte sie schon immer dazugehört.

Ganz anders musste sich Bertram bei ihrer Familie gefühlt haben. Sie hatte ihn nie darauf angesprochen, da sie Angst vor seiner Antwort hatte. Was sollte sie tun, wenn er sich nicht akzeptiert fühlte? Sie wollte sich weder von ihm trennen noch von ihrer Familie lossagen. Und wenn sie jetzt so darüber nachdachte, hatte das auch noch nie jemand von ihr verlangt. Was war das also? Alles Einbildung?

Clara schüttelte den Kopf. Sie musste diese miesen Gedanken loswerden. Sie brauchte nicht über Entscheidungen nachzudenken, wenn es gar nichts zu entscheiden gab.

Außerdem war ihr Vater tot. Er war derjenige gewesen, der sie manchmal mit seinem Blick durchbohrt hatte. Clara hatte nie verstanden, was diese Blicke zu bedeuten hatten. Oft schien er dabei in einer ganz anderen Welt zu sein. Besonders schlimm wurde es, wenn sich diese tiefe Traurigkeit dazu mischte. Dann wäre sie am liebsten immer aufgesprungen und hätte ihn geschüttelt, ihn angeschrien oder einfach nur in den Arm genommen. Wie oft war sie sich sicher gewesen, dass seine Gedanken jeden Moment in Worte gefasst zum Vorschein kommen würden. Sie hatte minutenlang seinem Blick standgehalten, heimlich gebetet, dass er endlich reden würde, aber er hatte es nie getan. Im Gegenteil! Mit jedem dieser Dämmerzustände wurde seine Zurückhaltung größer. Manchmal fühlte sie sich danach wochenlang unsichtbar neben ihm.

Clara hatte diese Zwiespältigkeit nie verstanden. Einerseits konnte er ein liebevoller Vater sein, der sich für seine Kinder Zeit nahm und ihnen die Welt erklärte. Aber dann waren da diese Momente, in denen sie sich von ihm weggestoßen fühlte. Ob es ihren Geschwistern auch so ergangen war? Sie konnte sich nicht daran erinnern, mit ihnen darüber gesprochen zu haben. Anfangs war sie zu klein, dann zu rebellisch und dann nur noch auf der Flucht.

Trotz allem fühlte Clara tiefe Dankbarkeit, wenn sie an ihre Eltern dachte. Im Gegensatz zu Theresia hatte sie sich viel mehr leisten können. Im positiven wie im negativen Sinne. Über ihre Streiche, die sie mit ihren Freundinnen ausgeheckt hatte, ließen sie oft kein Wort verlauten. Strafen gab es kaum welche. Und wenn sie Lust hatte, das Wochenende bei einer Freundin in Sonthofen zu verbringen, war das nie ein Problem gewesen. Sie hatte sich schon immer gewundert, warum ihre Eltern die Geschwister so unterschiedlich behandelten. Theresia bekam sofort geschimpft, wenn auch nur eine Kleinigkeit nicht nach ihren Vorstellungen lief. Und Übernachtungen bei Freundinnen waren schon deshalb nicht drin, weil Theresia auf dem Hof helfen musste.

Es war nicht so, dass sie selbst nicht auch oft geholfen hätte. Clara erinnerte sich noch genau daran, wie umständlich sie ihre erste Kuh gemolken hatte. Da stellte sich Theresia viel geschickter an. Und als sie dann auch noch versehentlich die Milchkanne umgekippt hatte und die halbe Milch auf den Stallboden geflossen war, gab es nur eine kleine Rüge. Im Gegensatz dazu wurde Theresia aber nicht gelobt, dass sie die Dinge viel besser konnte.

Wenn Clara jetzt so darüber nachdachte, wunderte sie sich, dass Theresia und sie trotzdem in der Kindheit unzertrennlich gewesen waren. Theresia hatte alles mit einer Ruhe weggesteckt, die Clara nie hätte aufbringen können. Sie waren in vielen Dingen so verschieden und hatten dennoch immer zusammengehalten.

Vielleicht hatten ihre Eltern in Theresia den Sohn gesehen, der einmal alles erben und fortführen würde. Denn schon früh war klar gewesen, dass Ferdinand, der Jüngste im Bunde, dazu nie bereit wäre. Er war das Nesthäkchen und ihre Mutter verhätschelte ihn, wo sie konnte. Natürlich hätte sie sich gewünscht, dass er, wenn schon nicht auf dem Hof, dann doch wenigstens in ihrer Nähe geblieben wäre. Aber schon in der Grundschule hatte Ferdinand verkündet, dass er einmal die Tiefen der Meere erforschen würde. Das halbe Kinderzimmer hatte aus Aquarien bestanden, die er sich allesamt zusammengespart hatte. Natürlich musste auch er auf dem Hof helfen, aber sobald er damit fertig war, holte er sich sein Fahrrad aus dem Schuppen und radelte nach Burgberg. Sicherlich wäre er lieber ins Meeresaquarium nach Konstanz gefahren. Aber da das wegen der Entfernung überhaupt nicht in Frage kam, half er im Burgberger Tierparadies aus, wo es ging. Und sparte sich damit seine Unterwasserwelt zusammen. Zum Leidwesen des Vaters. Als Ferdinand dann nach dem Abitur direkt nach Bremen gegangen war, hatte Vater dafür gesorgt, dass alle Aquarien aus dem Haus verschwanden. Die Enttäuschung war ihm wochenlang anzusehen gewesen. Umso mehr wunderte es Clara, dass er bei ihr damals keinen Aufstand gemacht hatte. Als sie verkündet hatte, dass sie in Berlin Design studieren würde, hatte ihr Vater nur genickt und einen Glückwunsch gemurmelt.

Bertrams plötzliche Berührung schreckte Clara aus ihren Gedanken.

»Wir sind gleich da, mein Schatz«, sagte er leise und schaute sie lächelnd an.

Clara setzte sich aufrechter hin. Sie versuchte, sich zu orientieren. Konnte es sein, dass sie so lange in Gedanken versunken gewesen war? Gerade verließen sie die A7, um der B19 zu folgen. Blieben ihr also noch ein paar Minuten Zeit, sich zu sammeln. Sie hatte schon ewig nicht mehr so viel über ihre Familie nachgedacht. Aber das war bei einer Beerdigung sicher verständlich.

Die Beerdigung! Auch hier war Clara wieder froh, dass Theresia vor Ort wohnte und sich um alles gekümmert hatte. Sie hatte auch Claras Angebot abgelehnt, eher zu kommen, um ihr unter die Arme greifen zu können. Das schaffe sie jetzt auch schon allein, war ihr Argument. Clara wusste nicht genau, was sie davon halten sollte. Vielleicht steckte ja doch ein kleiner Vorwurf mit drin? Na ja, sie würde es merken, wenn sie gleich auf den Hof einbogen. Für die nächste Woche hatte sie jedenfalls Urlaub eingeplant, um für ihre Familie da zu sein.


Traudl

»Mein herzliches Beileid, Traudl! Er war so ein Guter«, schluchzte die ältere Dame und drückte Traudls Hand so fest, dass sie sie schnell zurückzog. Mit einem Kopfnicken bedankte sie sich. Lächeln konnte sie schon lange nicht mehr. Die Schlange der Kondolierenden wollte kein Ende nehmen. Traudl war froh, dass Theresia ihr irgendwann einen Stuhl hingeschoben hatte und seitdem einen Regenschirm als Sonnenschutz über sie hielt. Der Friedhof lag am Grab ihres Mannes ungeschützt in der prallen Sonne und sicher hätten ihre Knie irgendwann nachgegeben.

Als die letzten Beileidsbekundungen überbracht waren, half Theresia ihrer Mutter auf. Sie hakte sich bei ihr unter und wollte sie zum Ausgang führen.

»Ach, lass mich doch noch ein bisschen beim Schorsch bleiben«, bat Traudl. Sie klammerte sich an Theresias Unterarm.

»Mutter, die Gäste werden zuhause warten«, mahnte Theresia. »Schau, wie lange wir jetzt schon hier gestanden haben. Da sind die ersten sicher schon bei uns auf dem Hof.«

»Sollen sie halt warten«, murmelte Traudl und löste sich vorsichtig vom Arm ihrer Tochter.

Sie beugte sich hinunter und richtete die Schleife des größten Kranzes, den Theresia für die Familie ausgesucht hatte.

»Hatten die keinen Flieder, den sie hätten mit reinbinden können?«, fragte Traudl und kam ächzend wieder nach oben.

Theresia seufzte leise.

»Nein, Mutter, Anfang August gibt es keinen Flieder mehr. Da hätte der Vater im Mai sterben müssen.«

Kaum war der Satz über ihre Lippen gekommen, schlug sich Theresia die Hand auf den Mund.

»Entschuldige ...«, murmelte sie erschrocken.

Traudl musterte ihre Tochter missbilligend, sagte aber kein Wort. Stattdessen schaute sie zum Grab ihres Mannes und schüttelte unmerklich den Kopf.

Die Resi war noch nie einfühlsam gewesen, dachte Traudl und schluckte. Aber ihrem Vater jetzt auch noch vorzuschreiben, wann er zu sterben hätte, nur damit er mit seinen Lieblingsblumen beerdigt werden könnte, war noch weniger als das. Trotzdem wusste Traudl, dass dem Schorsch die Bemerkung gefallen hätte. Auch wenn er es sich hätte nicht anmerken lassen. Schon gar nicht mehr seit damals, aber solche unbedachten Äußerungen seiner Großen hatten ihn immer amüsiert. Leider hatte er der Resi nie zeigen können, wie sehr er sie geliebt hat, dachte Traudl traurig. Lieber spannte er sie in die Hofarbeit ein und verband so das Angenehme mit dem Nützlichen, sie war in der Nähe und er hatte Hilfe. Als Resi dann auch noch Quirin kennengelernt hatte und der auf dem Hof mit einstieg, war sein Glück perfekt. Wenigstens würde ihm ein Kind erhalten bleiben. Noch dazu, wo sie nach ihm geraten war.

»Mutter, wir müssen los«, mahnte Theresia leise.

Traudl winkte ab. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten sie sich den Leichenschmaus gespart. Wo waren denn die ganzen Leute gewesen, als es dem Schorsch so schlecht gegangen war? Vereinzelt waren ein paar halbherzige Anfragen gekommen, aber letztendlich hatte ihnen niemand unter die Arme gegriffen. Hätte sie sowieso nicht gewollt.

Traudl setzte sich wieder auf den Gartenstuhl, der noch immer in der Nähe des Grabes stand.

»Ihr könnt schon rübergehen«, bot Ferdinand flüsternd an. »Ich komme so schnell wie möglich mit ihr nach.«

Mit dem Kopf deutete er auf die trauernde Mutter hinter sich.

»Meinst du wirklich? Die Mutter muss doch dabei sein ...«, begann Theresia.

»Ach komm, lass Mutter noch ein bisschen hier. Die Leute freuen sich jetzt auf Kaffee und Kuchen oder eine Brotzeit und ein Bier. Da ist es wahrscheinlich egal, wann sie nachkommt«, sagte Clara.

Die drei Geschwister standen im Halbkreis neben dem Grab und betrachteten ihre Mutter.

»Na gut, aber bleibt nicht zu lange, ja?«

Theresia drückte Ferdinand die Hand und hakte sich bei Clara unter. Langsam bewegten sie sich auf den Ausgang des Friedhofs zu, an dem Bertram mit Theresias Kindern wartete.

»Endlich haben wir Ruhe«, sagte Traudl unvermittelt und schaute ihren Töchtern nach. Sie hatte sich in der Zwischenzeit den Regenschirm wieder aufgespannt und legte ihn auf der Schulter ab, sodass ihr Kopf fast ganz darunter verschwand.

Lautlos trat Ferdinand neben sie.

»Dein Vater hat dich sehr geliebt, weißt du das?«, fragte Traudl nach einer langen Stille.

Ferdinand wusste nicht recht, was er sagen sollte. Ihm war es nicht immer so vorgekommen. Erst recht nicht mehr, seitdem er zum Studium in den Norden gezogen war. Mit seinem »Meeresbiologietick« sollte er seinem Vater gestohlen bleiben. Das waren jedenfalls die Worte, die er von ihm mit auf dem Weg nach Bremen bekommen hatte.

»Also, wusstest du das?«, fragte Traudl nach.

Ferdinand seufzte innerlich. Die Wahrheit konnte er seiner Mutter wohl in diesem Moment kaum sagen.

»Kann schon sein«, antwortet er vage.

»Nein, das war so! Er hat jedes seiner Kinder geliebt, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise.«

Nachdrücklich nickte Traudl dazu.

»Weißt du noch, als du dein erstes Aquarium in deinem Zimmer gefunden hast? Das war doch eine schöne Überraschung, was?«

Noch immer nickte Traudl.

»Ja, aber das hast du mir dahin gestellt«, antwortet Ferdinand vorsichtig.

Jetzt verlagerte Traudl die Schwingung des Kopfes in die andere Richtung. Unaufhörlich schüttelte sie ihre grauen Locken. Dabei bewegte sich der Regenschirm im Gleichklang mit.

Ferdinand musste sich ein Grinsen verkneifen.

»Tja, das sollten alle glauben. Dein Vater hat das Aquarium heimlich gekauft. Ich wusste nichts davon. Aber er wollte nicht, dass das jemand erfährt. Also sollte ich es auf meine Kappe nehmen.«

Als Ferdinand nichts sagte, lugte Traudl unter dem Regenschirm hervor und versuchte, das Gesicht ihres Jüngsten zu erkennen. Da aber die Sonne so blendete, verkroch sie sich schnell wieder unter dem schützenden Dach.

»Das war nicht das einzige Mal, dass er so etwas gemacht hat. Ich könnte euch Sachen erzählen«, legte Traudl nach.

»Aber warum hat er das gemacht? Ich hätte mich doch riesig gefreut, wenn ich gewusst hätte, dass er mir dieses Geschenk gemacht hat.«

Ferdinand trat um den Stuhl herum und ging neben seiner Mutter in die Hocke.

Traudl nestelte an ihrer Jackentasche und zog ein zerknülltes Papiertaschentuch hervor. Erleichtert schaute ihr Ferdinand zu. Er war froh, dass sie endlich von ihren bestickten Stofftaschentüchern abgelassen hatte. Es hatte ihn immer geschüttelt, wenn seine Mutter mit so einem durchweichten Tuch in der Hand auf ihn zukam.

»Hm, Mutter? Warum war er so?«, hakte Ferdinand nach.

»Ach, er war doch nicht so. Jedenfalls nicht immer. Und damals schon gar nicht. Aber seitdem ist eben ...«

Traudl hielt inne und schaute Ferdinand erschrocken an.

»Seit damals?«, fragte Ferdinand. Kleine Falten bildeten sich auf seiner Stirn.

Nun begann Traudl richtig zu schluchzen. Das erste Mal heute. Eigentlich hatten die Geschwister erwartet, dass sie die Beerdigung vor Traurigkeit kaum überstehen würde. Aber sie hatte sich erstaunlich tapfer gehalten.

Unbeholfen versuchte Ferdinand, seine Mutter in den Arm zu nehmen. Er kniete vor ihrem Stuhl und schlang seine Arme um ihren Hals. Das Zucken des schmächtigen Körpers berührte ihn.

Plötzlich versteifte sich Traudl.

»Das habe ich jetzt davon. Wir hätten das gemeinsam regeln sollen. Aber nun hat er sich aus dem Staub gemacht. Und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.«

Ferdinand hatte die gemurmelten Worte seiner Mutter kaum verstanden. Noch weniger ihren Inhalt.

»Womit musst du umgehen?«

Er war aufgestanden und putzte die Hosen in Höhe der Knie sauber.

Auch Traudl hatte sich erhoben.

»Das ist egal«, sagte sie mit trotziger Stimme. »Wir sollten jetzt besser gehen.«

Nachdenklich schaute Ferdinand seine Mutter an, ließ sich aber von ihr einhaken und fragte auch nicht nach.

Ohne sich noch einmal umzudrehen, marschierte Traudl am Arm ihres Sohnes über den Friedhof. Wie hatte sie sich denn so verplappern können. Das war alles der Ärger darüber, dass Schorsch die Sache nicht eher angegangen war. Es nie wirklich wollte. Aber sie konnten doch nicht beide ohne ein Wort unter der Erde verschwinden!

Traudl seufzte. Darüber konnte sie sich auch noch morgen den Kopf zerbrechen. Jetzt musste sie erst mal den Leichenschmaus hinter sich bringen.


Theresia

»Ich finde es trotzdem schade, dass Quirin heute nicht dabei war. Schließlich habt ihr den Hof und alles geerbt«, sagte Clara in die geschäftige Stille hinein.

Seit fast zwei Stunden waren sie nun schon dabei, die Spuren des Leichenschmauses zu beseitigen. Mittlerweile ging es auf Mitternacht zu.

Bei Claras Bemerkung hielt Theresia kurz inne. Sie war gerade dabei, die Arbeitsplatte von den letzten Resten des Buffets zu befreien.

»Ja genau, und deshalb hätte es der Vater sicher nicht gerne gehabt, dass er das Braunvieh auf der Alpe auch nur für einen Tag jemandem anderen überlässt. Oder hättest du hochgehen wollen?«, gab Theresia bissig zurück, bevor sie sich wieder der Arbeitsplatte widmete.

»Natürlich nicht!«, antwortete Clara. »Das war ja auch gar nicht so gemeint. Ich dachte ja nur, dass es schöner gewesen wäre, wenn wir uns alle zusammen vom Vater hätten verabschieden können.«

Theresia spülte den Putzlappen nach, drückte ihn sorgfältig aus und hängte ihn dann über den Wasserhahn. Sie wischte sich beide Hände an der verschlissenen Schürze ab und drehte sich langsam Clara zu.

»Hast du noch Zeit zum Reden? Ihr werdet ja sicher morgen abreisen müssen ...«

Theresia hatte es absichtlich so klingen lassen, dass Clara nur zugreifen und kein schlechtes Gewissen haben musste. Sie konnte jetzt einfach keinen Besuch ertragen. Auch wenn sie ihre Schwester liebte, so brauchte sie dringend ihren Alltag wieder. Die letzten Tage waren schon anstrengend genug gewesen. Diese ganze Organisation der Beerdigung hatte sie völlig aus ihrem Rhythmus gebracht. In der Käserei ging es bestimmt drunter und drüber, auch wenn Bille, ihre Angestellte und Freundin, etwas anderes behauptete.

Sie waren noch immer in der Umstrukturierung. Als der Vater nach seinem Herzinfarkt plötzlich ausgefallen war, musste Quirin seine Aufgaben übernehmen. Dabei schien es Theresia so, als ob er den Job auf der Alpe nur zu gerne übernommen hätte. Drei Monate in den Bergen, kein Stress auf dem Hof, nur die Kühe und sonst absolute Stille. Auch wenn Theresia wusste, dass die tägliche Arbeit dort oben kein Zuckerschlecken bedeutete, konnte sie Quirins Gesichtsausdruck nicht vergessen. Mit einem unterdrückten Lächeln war er losgezogen, als klar war, dass so schnell kein Ersatz für den Vater gefunden werden konnte.

Mit Grausen erinnerte sich Theresia daran, wie plötzlich nachts das Telefon klingelte und der Bertl, der mit dem Vater auf der Alpe war, zusammenhangloses Zeug schrie. Irgendwann hatte sie verstanden, dass es um den Vater ging und er in die Immendorfer Herzklinik geflogen worden war. Und dann war alles ganz schnell gegangen. Der Vater lag im Sterben, der Quirin musste hoch zu den Kühen und an ihr blieb alles andere hängen.

Clara hatte sich in der Zwischenzeit an den großen Holztisch gesetzt und eine Flasche Wein geöffnet. Sie waren beide keine Biertrinker. Sie klopfte mit der Hand auf den Platz neben sich und schaute ihre Schwester aufmunternd an.

Erschöpft ließ sich Theresia auf die Eckbank fallen. Sie brauchte Ruhe, viel Schlaf und einen geregelten Alltag. Dann würde sie schon alles schaffen.

»Wir wollten eigentlich noch ein paar Tage bleiben«, begann Clara vorsichtig. »Dir und Mutter unter die Arme greifen. Ich weiß, dass ich die Sachen nicht so gut erledigen kann wie du, aber zur Hand gehen kann ich dir. Ich habe bestimmt nicht alles verlernt.«

Theresia seufzte. So etwas hatte sie schon geahnt. Es war ja lieb von Clara, dass sie helfen wollte, aber dann musste sie ja noch jemandem über die Schulter schauen. Schließlich war sie jetzt die Einzige auf dem Hof, die wusste, was gemacht werden musste. Ihre Mutter wollte sie so gut es ging schonen. Das hätte sie beim Vater auch tun sollen, aber der war durch nichts davon abzubringen gewesen, auch mit knapp 70 noch die Knochenarbeit auf der Alpe zu übernehmen. Könnte ja das letzte Mal sein, hatte er noch gesagt.

»Hey, ich weiß, dass dir dein geregelter Ablauf heilig ist, aber ich glaube einfach, dass sogar du jetzt mal Hilfe gebrauchen könntest. Ferdinand will auch noch ein paar Tage dranhängen. Dann kannst du ihm und Bertram die Männerarbeit überlassen und ich helfe dir in der Käserei. Was meinst du?«

Clara hatte ihre Hand auf Theresias Arm gelegt und schaute sie eindringlich an.

Zögernd nickte Theresia. Vielleicht hatte Clara ja recht. Auch wenn sie nicht wusste, ob es für sie leichter würde, aber die Arbeit würde wenigstens erledigt werden. Und für die beiden Männer hätte sie tatsächlich etwas zu tun. Quirin war gerade dabei gewesen, ein Stück der Hofeinfahrt wieder zu richten. Regen und Schlamm verwüsteten die leicht schräg liegende Einfahrt regelmäßig. Und das zu erledigen hatte sie nun wirklich keine Zeit.

»Gut, dann machen wir es so«, sagte sie nur kurz und prostete Clara zu. Dann fiel ihr etwas ein.

»Sag mal«, begann sie. »Ist dir an der Mutter etwas aufgefallen?«

Clara überlegte.

»Nein! Wieso?«

»Mhm, ich dachte ja nur ...«, antwortete Theresia unbestimmt.

»Was meinst du denn?«, hakte Clara nach.

Theresia rang mit sich.

»Ach, vielleicht ist es einfach noch zu früh.«

»Was ist noch zu früh? Theresia, jetzt red doch mal Klartext«, sagte Clara.

Theresia spürte die Angst in Claras Stimme. So war das doch gar nicht gemeint gewesen. Sie holte tief Luft.

»Ich dachte eigentlich, die Mutter würde jetzt aufatmen. Also, natürlich nicht, weil der Vater tot ist. Eher, weil sie jetzt keinen Druck mehr bekommt.«

Jetzt war es raus, was sie schon so lange beschäftigte.

»Du meinst, der Vater hat unsere Mutter unter Druck gesetzt? Aber womit?«, fragte Clara.

»Ist dir denn nicht aufgefallen, dass irgendwas mit den beiden nicht stimmen konnte? Wenn die Leute von früher erzählen, da waren unsere Eltern lebenslustige Menschen, die keine Gelegenheit zum Feiern ausließen. Natürlich sind sie älter geworden und hatten den Hof und uns, aber hast du nie das Gefühl gehabt, dass da noch was anderes sein könnte?«

»Doch, schon! Aber meinst du, der Vater war daran schuld?«, fragte Clara. Sie rieb sich mit der Hand über die Stirn.

Theresia musste schmunzeln. Das hatte Clara von klein auf getan, wenn sie über etwas grübeln musste.

»Irgendwie habe ich das die ganze Zeit gedacht, ja. Du kennst doch seinen Blick. Wenn er zum Abendessen in die Küche kam, dann hat er uns immer erst der Reihe nach fixiert. So, als könnte er in unseren Blicken lesen, was wir ausgefressen hatten. Und statt der Mutter einen Kuss zu geben, nickte er ihr zu, so als wollte er fragen, ob sie alles im Griff hätte«, sagte Theresia. Sie nippte an ihrem Wein.

»Ich glaube, es ist noch zu früh, um eine Veränderung an unserer Mutter feststellen zu können. Der Vater wurde heute erst beerdigt. Und sie sah weder erleichtert noch glücklich aus. Auch wenn sie sich nicht mehr geliebt haben sollten, ich hatte heute das Gefühl, dass Mutter wirklich traurig war«, antwortete Clara.

Theresia nickt bedächtig. »Bist du eigentlich traurig?«, fragte sie plötzlich.

Clara schluckte.

»Ehrlich gesagt habe ich mich das auch schon den ganzen Tag gefragt. Irgendwie schon, aber er war kein Vater wie andere, oder? Ich kann mich nicht entsinnen, mit ihm gekuschelt oder Geheimnisse anvertraut zu haben«, sagte sie.

»Und Mutter? War es bei ihr anders?«, hakte Theresia nach.

Clara zuckte mit den Achseln.

Eine Weile blieb es still in der Küche.

»Ich habe vor einiger Zeit Bertrams Familie kennengelernt, bei denen gelacht und sich umarmt wird. Einfach so zwischendurch. So etwas hat es bei uns nicht gegeben. Manchmal hat Mutter noch über Ferdinand gelacht, aber sonst ...?«

Während Clara das sagte, schaute sie nicht auf.

»Ja, das Leben ist nicht lächerlich, wie Mutter immer sagte. Und wie oft habe ich ihr gesagt, dass das Lachen nichts mit lächerlich zu tun hat. Aber das war ihr egal. Wir wüssten schon, was sie meinte«, sagte Theresia und stierte ebenfalls auf die Tischplatte unter ihren Händen. »Aber ich habe ehrlich gesagt nie verstanden, was sie damit meint.«

Plötzlich sah Clara auf.

»Warum haben wir uns eigentlich früher nie über so etwas unterhalten? Wir haben doch beide darunter gelitten.«

»Weil du immer, sobald es ungemütlich auf dem Hof wurde, verschwunden bist. Entweder zu Freundinnen, auf lange Reisen oder zum Studium. Und das hast du richtig gemacht! Du durftest wenigstens. Ich nicht! Aber ich wäre an deiner Stelle auch abgehauen«, ereiferte sich Theresia.

Wieder lag eine lange Stille im Raum. Nur die Wanduhr tickte leise.

»Und nun?«, fragte Clara.

»Nun geht’s ins Bett«, kam es von der Tür. Bertram stand im Schlafanzug und alten Pantoffeln im Türrahmen und rieb sich die Augen.

»Es ist mitten in der Nacht! Ihr müsst doch beide total erschlagen sein«, fügte er hinzu.

Erschrocken waren Clara und Theresia aufgesprungen. Fast so wie früher, wenn sie bei etwas Verbotenem erwischt wurden.

Ertappt begann Clara zu lachen und Theresia stimmte erleichtert mit ein. Sie umarmten sich kopfschüttelnd, immer noch das Grinsen im Gesicht.

Plötzlich wurde Theresia wieder ernst.

»Wir können ja schauen, wie es Mutter in der nächsten Zeit geht und ob etwas dran ist an unserer Theorie.«

Sie hielt kurz inne.

»Trotz allem könntest du versuchen, mit ihr zu reden. Mir würde sie nie im Leben irgendetwas anvertrauen, aber vielleicht dir. Was meinst du?«

Zögernd nickte Clara. Theresia sah ihr an, dass sie sich bei der Aussicht nicht wohlfühlte.


Clara

Als Clara die Augen öffnete, schien die Sonne schon intensiv in das Zimmer. Erschrocken setzte sie sich auf. Sie startete ihr Handy und wartete ungeduldig, bis es endlich hochgefahren war. 8:22 Uhr stand ganz groß auf dem Display.

Seufzend lehnte sie sich an die Rückenlehne des Holzbettes. Nun war sie sowieso schon zu spät. In Berlin würde sie sich noch einmal an Bertram kuscheln und weiter dämmern. Aber hier wurde mit den Hühnern aufgestanden. Bloß dass die schon seit Stunden wach waren.

Lächelnd schaute Clara auf den schlafenden Bertram. Seit ihrer Ankunft gestern hatten sie kaum Zeit füreinander gehabt. Erst die Beerdigung und dann gab es ständig irgendwas zu tun. Auch Bertram hat es sich nicht nehmen lassen und die Gäste bewirtet.

Clara musste an das Gespräch mit Theresia denken. Sie hatte in der Nacht kaum ein Auge zumachen können, war erst gegen Morgen eingeschlafen. Was war nur mit ihrer Familie los? Warum schienen alle so unterschiedliche Wahrnehmungen von ihrem Zusammenleben zu haben? Obwohl sie in vielen Dingen Theresia beipflichten musste, hatte sie zu manchen von ihnen andere Ansichten.

Nie hätte sie vermutet, dass sich ihre Mutter ändern würde, wenn der Vater nicht mehr wäre. Sie konnte schwer nachvollziehen, warum Theresia so dachte. Sollte ihre Mutter so unter dem Einfluss des Vaters gestanden haben? Aber Vater hatte auch weiche Seiten gehabt. Sie musste sich nur an die verschiedenen Blicke erinnern, die er ihr zuwarf. Von Traurigkeit bis voller Liebe war alles dahbei gewesen. Letzteres sehr selten, aber ab und an hatte es durchgeblitzt.

Clara ließ die Gedanken kopfschüttelnd los. Sie musste zu Theresia in die Käserei. Wahrscheinlich war sie sowieso schon sauer, weil Clara nicht früher erschienen war. Zärtlich strich sie Bertram über die Wange und schlüpfte leise aus dem Bett.

In ihrem Zimmer hatte sich nicht viel verändert. Noch immer lagen ihre Kinderbücher im Regal, der alte Schreibtisch stand auf wackeligen Beinen unter dem Fenster und selbst die Kuscheltiere saßen auf dem Ohrensessel, als hätte Clara noch gestern mit ihnen gespielt. Wenigstens hingen die Poster ihrer Lieblingsbands von damals nicht mehr an der Wand. Und das Bett war durch ein Doppelbett ausgetauscht worden. Das helle Holz leuchtete warm in der Sonne, die sich durch sämtliche Ritzen zwischen den Fensterläden ihren Weg bahnte. Und Ritzen gab es jede Menge. Das Haus sah zwar von außen gepflegt aus, was sicher auch an der üppigen Blumenpracht lag, die auf jedem Balkon blühte, aber wenn man genauer hinsah, entdeckte man vergessene Spuren des Alters. Sicher waren nie die Zeit und das Geld übrig gewesen, um sich darum zu kümmern.

Als Clara vor der Küchentür stand, holte sie noch einmal tief Luft. Zaghaft schob sie die Tür auf und ließ die Luft wieder langsam aus ihren Lungen. Die Küche war leer.

Natürlich hätte sie sich auch gerne mit Mutter und Theresia unterhalten, aber Vorwürfe oder anklagende Blicke hätte sie im Moment nicht ertragen können. Erst brauchte sie einen Kaffee und etwas Festes im Magen.

Gerade als sie den Tisch gedeckt und den Kaffee in eine Thermoskanne gegossen hatte, schlurfte Bertram in die Küche. Verschlafen schaute er sich um.

»Keiner da?«, fragte er und streckte sich.

Clara hielt den Kopf schief und lächelte ihn an.

Schnell kam Bertram näher und schloss sie in die Arme.

»Guten Morgen, mein Schatz«, flüsterte er in ihr Haar.

Clara schmiegte sich an ihn und erwiderte mit geschlossenen Augen seinen Gruß.

»Wo Mutter ist, weiß ich nicht, aber Theresia ist sicher schon lange in der Käserei. Und ich sollte auch schon längst dort sein«, sagte Clara, als sie sich endlich von Bertram lösen konnte.

»Meinst du wirklich, dass sie das heute so eng sehen? Einen Tag nach der Beerdigung?«, fragte Bertram und setzte sich an den gedeckten Tisch.

Clara goss beiden Kaffee ein. Beim Setzen schob sie Bertram die Milch zu.

»Das war hier immer so. Ob es ein besonderer Tag war oder nicht, der Hof verlangt frühes Erscheinen. Vaters Worte ... Ich bin ja froh, dass das Braunvieh im Moment auf der Alpe versorgt ist, sonst wäre hier noch ganz anderes Treiben.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Jetzt sind wir sowieso schon zu spät dran, also können wir auch noch das Frühstück genießen.«

»Urlaub müsste man haben«, erklang es in diesem Moment von der Tür her.

Erschrocken schaute sich Clara um und sah, wie ihre Mutter schnurstracks auf den Stuhl am Fenster am anderen Ende der Küche zusteuerte.

»Guten Morgen«, riefen Clara und Bertram wie aus einem Munde.

Traudl nickte und setzte sich umständlich.

»Setz dich doch zu uns! Magst du noch einen Kaffee?«, fragte Clara und war schon auf dem Sprung.

»Ach was, Kaffee am späten Vormittag. Wo denkst du hin?«, antwortete Traudl, ohne ihren Blick von der Landschaft vor dem Fenster zu nehmen.

Clara sah, wie Bertram versuchte, sich das Grinsen zu verkneifen. Später Vormittag war auch wirklich ziemlich übertrieben. Es war gerade mal 9 Uhr.

»Wo warst du denn?«, fragte Clara beiläufig. Auch wenn sie sich viel lieber mit Bertram unterhalten hätte, hatte sie das Gefühl, ihre Mutter miteinbeziehen zu müssen.

»Na, wo soll ich schon gewesen sein, Clara? Ich war bei deinem Vater auf dem Friedhof!«

Clara schluckte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihre Mutter schon so früh am Morgen wieder auf den Friedhof wollte.

»Und wie geht’s dir jetzt?«, fragte sie.

Traudl winkte ab. »Wie soll es mir schon gehen? Ich habe gestern meinen Mann beerdigt. Da kann es mir nicht gut gehen!«

Clara seufzte tonlos. Natürlich konnte es ihr nicht gut gehen. Keinem ging es gut, auch wenn jeder den Tod des Vaters anders verkraftete. Für sie selbst war es schwierig, angemessen zu trauern. Seitdem sie das Reisen für sich entdeckt hatte und danach direkt zum Studium nach Berlin gegangen war, hatten sie sich immer weiter entfremdet. Selbst bei den kurzen Besuchen zwischendurch hatte sie das Gefühl gehabt, dass ihr Vater ihr eher aus dem Weg gegangen war. Gespräche gab es schon lange keine mehr. Hatte es eigentlich auch nie richtig gegeben. Immer nur diese Blicke.

Als sie an die gestrige Beerdigung dachte, kroch eine traurige Kälte über ihren Rücken. Es waren zwar sehr viele Menschen da gewesen, aber Tränen waren ganz wenige geflossen. Am wenigsten bei den Angehörigen. Mutter hatte ein zerknautschtes Gesicht gezogen, das keinen Blick hinter die Fassade zuließ. Theresias Augen waren überall herumgehuscht, so als hätte sie Angst, den Überblick zu verlieren. Clara hatte die Befürchtung, dass sich Theresia hinter der Organisation versteckte, um der Trauer keinen Raum zu lassen. Schließlich musste sie direkt weiter funktionieren. Aber genau konnte sie es nicht sagen. Allein Ferdinand stand mit gesenktem Blick am Grab und hatte die Fäuste geballt, so als wollte auch er die Tränen nicht zulassen.

Vaters Brüder würden sowieso nie in der Öffentlichkeit weinen und Mutters Schwester hatte immer wieder ängstlich auf Traudl geschaut und sich mit dem Taschentuch die Augen getupft. Clara hatte nicht sehen können, ob sie wirklich feucht waren.

Bevor sie weiter grübeln konnte, ging die Küchentür wieder auf und Theresias Kinder traten zögernd ein. Die dreizehnjährige Mia erfasste kurz die Lage, ging zur Großmutter, um sie zu begrüßen, und ließ sich dann erleichtert am Küchentisch bei Clara und Bertram nieder. Ihr achtjähriger Bruder Linus folgte ihr wie ein Schatten.

»Na, ihr beiden? Wollt ihr mit uns frühstücken?«, fragte Clara lächelnd. Sie wuschelte Linus durchs Haar und drückte gleichzeitig Mia den Arm.

Als die Geschwister nickten, machte sich Clara daran, weitere Brötchen aufzubacken. Sie holte Marmelade und Schokocreme aus dem Kühlschrank und stellte es auf den Tisch. Bertram und sie aßen morgens lieber Schinken und Käse. Zumal es hier den hauseigenen Käse gab.

»Tante Clara, erzählst du uns wieder was von deinen Abenteuern?«, fragte Linus mit gedämpfter Stimme, als Clara sich wieder gesetzt hatte. Dabei schaute er kurz zu seiner Großmutter. Aber Traudl blickte noch immer ohne Regung aus dem Fenster.

Clara war Linus‘ Blick gefolgt. Sie lächelte ihren Neffen bedauernd an.

»Ich glaube, wir verschieben das besser. Ich muss auch gleich zu eurer Mutter in die Käserei«, sagte sie.

»Habt ihr Lust, mir den Hof zu zeigen?«, fragte Bertram, als er sah, dass Linus enttäuscht ins Brötchen biss.

»Das kann Linus alleine machen. Ich will eh noch zu meiner Freundin«, antwortete Mia kauend.

»Man spricht nicht mit vollem Mund!«, kam es prompt vom Fenster her. »Und du könntest besser deiner Mutter zur Hand gehen, statt immer nur mit deinen Freundinnen rumzulachen. Als ich so alt war wie du, hatte ich schon jede Menge Pflichten auf dem Hof. Und wehe, ich habe sie nicht erledigt. Da gab’s was mit dem Gürtel.«

Clara zwinkerte Mia zu, die den Ton ihrer Großmutter aber gewohnt zu sein schien. Ungerührt aß sie weiter. Macht sie richtig so, dachte Clara. Die Geschichten hatten sie sich, als sie noch Kinder waren, auch schon immer anhören müssen. Erst später waren die versteckten Drohungen an ihnen abgeprallt. Mia schien es schon jetzt nicht mehr an sich heranzulassen.

»Geh ruhig, Mia«, sagte Clara. »Ich helfe der Mama in der Käserei.«

Sie nahm den letzten Schluck Kaffee und stand auf. Das abfällige Schnauben ihrer Mutter ging dabei fast unter. Entschuldigend drückte sie Bertram einen Kuss auf die Wange. Schon wieder hatten sie nicht miteinander plaudern können.

Als Clara um halb zehn in die Käserei trat, schlug ihr der säuerliche Duft entgegen, den sie noch von früher kannte. Da der kleine Hofladen erst um 10 Uhr öffnete, nahm Clara an, dass Theresia noch in der Käserei war. Sie zog die vorgeschriebene Hygienekleidung über, wusch und desinfizierte ihre Hände und öffnete die Tür zu Theresias heiligen Hallen. Auf den ersten Blick sah alles so aus, wie sie es aus der Kindheit kannte. Erst beim genauen Hinsehen entdeckte sie, dass die Arbeitsplatten, Kessel und Geräte im saubersten Edelstahl glänzten. Alles Holz war aus diesem Raum verbannt worden. Hygiene und Ordnung waren für Theresia oberstes Gebot. Hier lag kein Ding nicht dort, wo es hingehörte.

Im hinteren Teil des Raumes sah Clara, wie Bille, Theresias Mitarbeiterin, gerade die eingedickte Milch prüfte, um dann die Harfe in dem großen Kessel in Gang zu setzen, die die Gallerte in Käsebruchgröße schnitt. Theresia war nirgends zu sehen. In diesem Moment hob Bille den Kopf und lächelte Clara freundlich an. Sie hatten sich gestern kurz auf der Beerdigung begrüßt, kannten sich aber sonst nur flüchtig. Mit dem Kopf deutete Bille Richtung Lagerraum und widmete sich wieder ihrer Arbeit.

Beim Betreten des Raumes, in dem die Käselaibe nach dem Salzbad im ersten Reifeprozess gelagert wurden, war Clara froh, dass sie sich einen Fleecepulli übergezogen hatte. Bei gerade mal 13 Grad ging es sicher dem Käse gut, der Unterschied zur sommerlich warmen Außentemperatur aber war für Clara unangenehm. Sie spürte sofort die Gänsehaut unter ihrem Pulli. Reflexartig zog sie die Schultern nach oben.

»Kannst gleich mitmachen, dann wird dir warm«, rief Theresia, die sich an dem großen Holztisch zu schaffen machte. Gerade hatte sie einen Käselaib mit Salzwasser abgewischt und hievte ihn wieder zurück in das Regal, in dem der Käse auf Holzbrettern ruhte. Dabei schaute sie demonstrativ zur großen Uhr, die neben der Eingangstür hing.

»Entschuldige, ich hatte mir keinen Wecker gestellt. Und von alleine wache ich nicht mehr so früh auf«, antwortete Clara schnell und holte sich ebenfalls einen Käselaib aus dem Regal.

»Vorsichtig ablegen ...«, sagte Theresia. Sie schien Claras Entschuldigung stillschweigend zu akzeptieren.

Umständlich begann Clara, den Käse abzureiben. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das zum letzten Mal gemacht hatte. Es musste eine Ewigkeit her sein.

»Rubbel nicht so doll«, hörte sie Theresia sagen.

Behutsamer glitten ihre Hände über die schmierige Oberfläche. Dabei spürte sie den aufmerksamen Blick ihrer Schwester auf ihr ruhen. Es hatte sich also nichts geändert. Noch immer konnte sie Theresia nichts recht machen.

Als sie ihr Werk beendet hatte, schob sie den Käse wieder an seinen ihm zugedachten Ort. Dabei blieb sie mit dem unteren Rand am Holzbrett hängen und brauchte einen zweiten Anlauf, um den Käse an seinen Platz zu schieben. Prompt hörte sie ein genervtes Schnauben hinter ihrem Rücken.

So arbeiteten sie eine Weile schweigend nebeneinander her. Theresia mit der doppelten Geschwindigkeit wie Clara. Aber das war Clara egal. Die eintönige Arbeit hatte etwas Meditatives für sie. Wenn Theresia nicht ständig über ihren ungeschickten Umgang mit den schweren Käselaiben seufzen würde, könnte sie ungestörter ihren Gedanken nachhängen. Noch viel lieber hätte sie mit Theresia geplaudert, aber das mochte ihre Schwester nicht. Clara wusste zwar nicht, was dagegen sprechen würde, denn es erforderte keine wirkliche Konzentration, die Laibe hin- und herzutransportieren. Oder lag es daran, dass Clara sich ab und an ungeschickt anstellte? Wollte Theresia deshalb nicht mit ihr reden?

»Wusstest du, dass Mutter schon an Vater Grab war?«, fragte sie probehalber.

»Nein«, kam die einsilbige Antwort.

»Was machen deine Kinder eigentlich in den Ferien? Schickst du sie in eine Freizeit oder in ein Sportcamp?«, legte Clara nach.

»Nein«, antwortete Theresia, ohne aufzuschauen.

»Warum nicht?« Clara wusste, dass Theresia und Quirin selten den Hof für einen Urlaub verließen. Es gab einfach zu viel zu tun. Wenigstens trafen sie sich an Sonntagen ab und an mit befreundeten Bauern, aber sie waren mit den Kindern zum Beispiel noch nie am Meer gewesen. Deshalb hatte sie irgendwann vorgeschlagen, die Kinder doch in Freizeiten zu schicken oder sie mit dem Sportverein mitreisen zu lassen.

Theresia hievte gerade den letzten Käse in der Längsreihe ins Regal. Dann drehte sie sich um, wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn und schaute zur Uhr.

»Ich muss rüber, Essen kochen! Komm lieber mit, alleine will ich dich hier nicht lassen«, sagte sie und schob Clara im Vorbeigehen mit der Hand auf dem Rücken aus dem Kühlraum.

Clara fühlte sich wie ein unmündiges Kind. Sie wusste ja, dass sie sich nicht so geschickt anstellte, aber diese ständige Überwachung ihrer Schwester ging ihr ziemlich auf die Nerven. Wenn Clara daran dachte, wie sie Theresia in die Kunst des Skizzierens eingeweiht hatte, hätte sie ihr auch sämtliche Stifte aus der Hand reißen können. Theresia hatte viel zu stark aufgedrückt. Der Stift musste über das Papier schweben und dabei die Ideen hinausfließen lassen. Aber sie hatte es nicht getan und Theresia machen lassen, bis sie es selbst aufgegeben hatte. Das war jetzt schon fast zwanzig Jahre her. Wehmütig lächelte Clara, als sie über den Hof zum Wohnhaus gingen.

In der Küche wurden sie schon von ihrer Mutter erwartet, die demonstrativ auf die Uhr schaute.

»Ihr seid spät dran! Müsst euch sputen, wenn das Essen pünktlich um zwölf auf dem Tisch stehen soll«, sagte sie.

»Ja, ja, Mutter«, antwortete Theresia lapidar und machte sich nach ausgiebigem Händewaschen daran, die Kartoffeln zu schälen.

Clara schluckte. Hier lief alles nach einem anderen Plan ab als in ihrem Leben. Pünktlichkeit schien ein bestimmender Faktor zu sein, und die entsprechenden Vorwürfe dazu, wenn dem nicht so war.

»Was kann ich helfen?«, fragte sie.

Theresia zuckte mit den Schultern. »Du kannst deinen Bertram und die Kinder holen. Ich habe sie nicht auf dem Hof gesehen. Wer weiß, wo die sich schon wieder rumtreiben«, antwortete sie schließlich.

»Ach, die können nicht weit sein. Ich kann Bertram später anrufen und dir jetzt lieber zur Hand gehen, oder?«, versuchte es Clara mit freundlicher Stimme.

»Ach was, da gibt’s nicht viel zu helfen. Reiberdatschi sind schnell gemacht«, antwortete Theresia.

»Wärst du früher rübergekommen, bräuchtest du nicht schon wieder Reiberdatschi zu machen, sondern könntest was Anständiges kochen«, schnarrte Traudl.

Theresia hielt beim Schälen inne. Langsam richtete sie sich auf und wischte sich die Hände an einem Küchentuch ab.

»Weißt du was, Mutter? Du hast recht! Ab heute kochst du wieder, dann kommt das Essen pünktlich auf den Tisch. Jetzt, wo der Quirin auf der Alpe ist, bleibt draußen sowieso alles an mir hängen. Vielleicht tut dir das auch gut, damit du nicht so viel über Vaters Tod nachgrübeln musst.«

Theresia schob die verdatterte Traudl an die Arbeitsplatte und drückte ihr das Schälmesser in die Hand.

»Ich gehe mit Clara die Kinder holen. Bis gleich«, setzte sie nach und schob Clara eilig aus der Küche hinaus.

»... an mir hängen bleibt ...«, hörten sie ihre Mutter noch brummen, bevor sie auf den Hof traten.

Die Sonne schien von einem knallblauen Himmel. Schnurstracks ging Theresia quer über den Hof, bog am Stall ab und kam erst wieder dahinter zum Stehen. Die ganze Zeit über hatte sie Clara hinter sich hergezogen. Endlich ließ Theresia ihre Hand los. Strahlend schaute sie Clara an.

»Was sagst du? Wie früher?«, grinste sie.

Clara schaute unsicher an dem riesigen Kastanienbaum hinauf, unter dem sie standen. Dann ließ sie sich von Theresias Grinsen anstecken.

»Okay, dann los«, sagte sie, obwohl ihr nicht ganz geheuer war.

Als sie Kinder waren, hatten sie oft unter dem Baum gelegen und in die schwankenden Äste geschaut. Bis Theresia auf die Idee kam, sich ein geheimes Plätzchen zu bauen.

Sie hatten Bretter und Nägel aus dem Schuppen geholt und zwei Äste ausgesucht, die gleich stark schienen und gegenüber lagen. Mit einem dritten Ast verbunden bildeten die Sitzflächen ein offenes Dreieck, sodass für jede genug Platz zum Sitzen blieb.

Behände stieg Theresia auf die unteren Äste und machte es sich auf ihrer Seite bequem. Clara staunte, wie beweglich ihre Schwester noch war. Sie selbst machte zwar regelmäßig Sport und war auch schlanker als Theresia, aber sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal irgendwo hochgekraxelt war. Theresia war schon immer die Mutigere von ihnen beiden gewesen. Wenn sie, was selten genug vorkam, allesamt in Familie auf den Grünten wanderten, lief Theresia immer vorneweg. Sie blieb nie auf dem Weg, sondern suchte sich immer abseits schwierigere Routen. Manchmal durfte sie mit einem Freund ihrer Eltern klettern oder bergsteigen gehen. Und jedes Mal kam sie mit einem Strahlen im Gesicht zurück.

Als Clara endlich auf ihrem Sitz angekommen war, schaute sie bange nach unten.

»Meinst du, das hält uns noch aus?«, fragte sie.

Theresia lachte.

»Ich habe die Bretter vor einiger Zeit ausgetauscht. Schließlich hocken meine Kinder auch öfter hier oben.«

»Ach wirklich? Sind die auch so kletterverrückt wie du?«, fragte Clara. Sie lehnte sich vorsichtig zurück, hielt sich aber sicherheitshalber an einem anderen Ast fest. Auch wenn ihr das bei einem Absturz wahrscheinlich nicht viel bringen würde.

Theresias Blick verfinsterte sich und Clara hätte sich auf die Zunge beißen können, dass sie das Thema angeschnitten hatte. Sie wusste, wie sehr Theresia darunter litt, keine Zeit für ihre Leidenschaft zu haben. Und nicht nur das, sie hatte in der Familie auch niemanden, der dafür Verständnis aufbrachte. Hier zählte der Hof und die Tiere, sonst nichts.

»Wenn ich jetzt da bin, kannst du doch mal für einen Tag in die Berge verschwinden. Was meinst du?«, fragte Clara schnell, um ihre Schwester wieder aufzuheitern. Leider löste es das Gegenteil aus.

»Clara, ganz ehrlich! Der Quirin ist auf der Alpe, die Mutter in Trauer und du hast hier auf dem Hof zwei linke Hände«, antwortete Theresia mit geschlossenen Augen. Sie hatte sich ganz zurückgelegt und ließ die Beine baumeln.

Clara wurde schon bei dem Anblick schwindelig.

»Bertram und Ferdinand sich doch auch noch da«, legte sie halbherzig nach. Sie wusste, dass sie ihre Schwester nicht würde umstimmen können. Es fühlte sich nur so gut an, sie endlich mal wieder lächeln zu sehen. Dabei erkannte Clara noch das Kind in ihr. Ansonsten schien Theresia hier unter enormem Druck zu stehen.

»Clara, ihr seid Stadtkinder! Wie wollt ihr denn alleine auf dem Hof und mit der Käserei klarkommen? Täglich bringen die Bauern ihre Milch vorbei, die sofort verarbeitet werden muss. Die Bille schafft das nicht alleine. Ich bin schon froh, dass wir die Hanna stundenweise für den Laden haben, aber auch dort müssen wir öfter aushelfen, weil Hannas Kinder noch klein und öfter krank sind. Wenn der Vater noch leben würde, wäre der Quirin hier und dann sähe das Ganze schon anders aus. Dann wäre jemand da, der über alles schauen könnte, aber so ...«

Clara konnte Theresias Traurigkeit spüren. Hier unter dem schützenden Blätterdach legte sie sich wie eine Decke über sie.

»Ach Theresia, was ist nur aus deinem Leben geworden?«, fragte Clara leise. »Ich meine, du hast einen netten Mann, zwei tolle Kinder und ein Auskommen, aber bist du denn glücklich?«

Zögerlich hatte Clara ihre Hand in Theresias geschoben. Sie hatte erwartet, dass Theresia sie abschütteln würde, aber das tat sie nicht.

Clara blickte zur Seite. Ihre Schwester hatte noch immer die Augen geschlossen, nur eine Träne bahnte sich ihren Weg über die Wange und lief den Hals hinab. Theresia ließ es geschehen.

Als Clara vorsichtig mit dem Daumen über Theresias Handrücken strich, hörte sie ihre Mutter rufen.

»Theresia, das Essen wartet nicht!«, schallte es vom Hof herüber.

»Das ist aus meinem Leben geworden!«, antwortete Theresia mit einem lauten Seufzer. Schnell entzog sie Clara ihre Hand und machte sich daran, den Baum hinunterzuklettern.

Unten angekommen drehte sie sich noch einmal um.

»Was hat der Vater immer gesagt? Die Berge kommen gut alleine zurecht, aber wir sind deine Familie und brauchen dich! Also, bleib da.«

Für einen Moment blieb Theresia stehen und schaute in die Ferne Richtung Allgäuer Hochalpen.

»Er hat nie begriffen, worum es wirklich geht«, sagte sie sehnsuchtsvoll. »Es ist doch nicht die Anstrengung oder die Schwierigkeit oder das Obensein. Ich muss den Gipfel nicht erklimmen, ich möchte einfach da sein. Die Ruhe genießen, die Nähe zum Himmel, die Ferne zum Alltag, die Berührung mit meinem eigenen puren Leben, das lässt mich freier atmen.«

Clara hatte Theresia noch nie so gesehen. Es fühlte sich an, als würde sie in diesem Moment ganz tief in sich ruhen.

»Endlich einmal wieder vom Nebelhorn aus den Hindelanger Klettersteig gehen, das würde schon reichen«, legte Theresia flüsternd nach.

Abrupt drehte sie sich um und schüttelte unwirsch den Kopf.

»Komm lieber, Mutter ist eh schon verschnupft«, sagte sie über die Schulter und stapfte mit den Händen in den Hosentaschen davon.

Aber Clara konnte nicht vom Baum steigen und ihrer Schwester folgen. Sie musste das eben Erlebte erst einmal verdauen. Klar, sie wusste, dass Theresia die Berge liebte. Deshalb war sie ja auch nie hier weggezogen. Aber dass es das Bergsteigen war oder besser das Einssein mit dem Berg, das hatte Clara noch nie so stark bei ihr gespürt. Ob das überhaupt jemand wusste? Hatte sich Theresia ihrem Mann einmal so geöffnet? Waren sie und Quirin mal zusammen in den Bergen gewesen? Clara konnte sich nicht erinnern.

Vielleicht war die immerwährende Unzufriedenheit auch ein Grund, warum Theresia so sprunghaft sein konnte. Noch vor einer Stunde in der Käserei hätte sie es sich nicht träumen lassen, kurz darauf mit ihr auf ihrem Lieblingsbaum zu sitzen. Und vor allem nicht, Theresia so nahe zu kommen.

Clara kämpfte mit den Tränen. Das Leben lief an Theresia vorbei, ohne dass sie selbst groß Einfluss darauf nehmen konnte. Sie war zum Spielball zwischen Familie, Hof und Käserei geworden und dabei selbst auf der Strecke geblieben.

Clara dachte an ihr Leben in Berlin und was sie alles schon erlebt hatte. Und auch Ferdinand war seinem Traum gefolgt und studierte Meeresbiologie. Und allen rundherum war immer schon klar gewesen, dass Theresia auf dem Hof bleiben würde. Ihn einmal sogar übernehmen würde. Ganz einfach, weil sie schon immer diejenige war, die den Eltern zur Hand gegangen war. Von ihr wurde es sogar verlangt. Clara und Ferdinand konnten sich entwickeln. Theresia nicht. Aber warum war das so? Warum hatten ihre Eltern die Arbeit auf dem Hof nicht gleichmäßig auf die Kinder verteilt? Warum durfte Clara bei Freundinnen sein, reisen und weggehen, ohne einen Vorwurf zu hören? Und warum hatte sie in all den Jahren nie gespürt, dass Theresia dabei ganz vergessen wurde?

Traurig kletterte Clara vom Baum. Sie wusste nicht, ob sie jetzt die Kraft hatte, Theresia und Mutter gegenüberzutreten. Unschlüssig drehte sie sich im Kreis und entdeckte zu ihrer Erleichterung, wie Bertram mit den Kindern über die üppige Blumenwiese rannte. Ihr Herz macht einen Sprung, als sie sah, wie fröhlich die drei herumtollten. Sie sollte versuchen, Theresia noch mehr zu unterstützen, solange sie hier waren. Dann konnte sie vielleicht auch etwas mit ihren Kindern unternehmen. Und eventuell doch mal wieder einen Berg besteigen. Und wenn es der Grünten wäre. Hauptsache raus aus dem Alltag.

Als Bertram, Mia und Linus bei ihr ankamen, hakte sie sich glücklich bei ihrem Freund unter.

»Es gibt Reiberdatschi«, rief sie den Kindern zu. »Wer zuerst da ist, muss nicht spülen.«

Das ließ sich selbst die 13jährige Mia nicht zweimal sagen und sprintete Richtung Küche.


Ferdinand

»Ferdl, iss, mein Junge! Ich kann auch noch was nachmachen«, munterte Traudl ihren Sohn auf, der noch immer müde kauend am Tisch saß.

»Och Mutter, ich habe doch schon so viel gegessen. Mehr geht nicht!«

Demonstrativ lehnte sich Ferdinand weit zurück und strich sich dabei über seinen Bauch.

»Mama, können wir aufstehen?«, fragte Linus ungeduldig. Er zappelte dabei mit den Beinen und klatschte einen eigenwilligen Rhythmus.

»Hey, Linus, gib Ruhe«, motzte ihn seine Schwester an.

Als Theresia nickte, schossen beide von ihren Stühlen hoch und waren im nächsten Moment verschwunden.

»Das hätte es früher nicht gegeben. Als euer Vater noch lebte, hat er sich immer aufgeregt, wenn die Kinder schon während des Essens wegwollten. Das hättet ihr euch damals nicht erlauben dürfen«, sagte Traudl vorwurfsvoll. Dabei schaute sie aus dem Fenster, als hätte sie draußen etwas Interessantes entdeckt.

»Wir sind doch schon alle fertig«, verteidigte Ferdinand die Kinder. »Und außerdem redest du so, als wäre Vater schon ewig tot.«

Ferdinand nahm einen großen Schluck von seiner Apfelschorle und stellte das Glas einen Tick zu laut auf den Tisch.

»Deine Tischmanieren hätten ihm auch nicht gefallen«, legte Traudl nach.

Clara seufzte.

»Mutter, möchtest du dich nicht ein bisschen hinlegen? Ich kann mich um die Küche kümmern«, sagte sie und legte ihrer Mutter eine Hand auf den Arm.

»Das wird das Beste sein, schließlich musste ich mich ja schon um das Essen kümmern«, antwortete Traudl, entzog Clara den Arm und schaute Theresia von der Seite an.

Kopfschüttelnd schob Theresia den Stuhl vom Tisch weg.

»Ferdinand und Bertram, habt ihr Zeit, die Einfahrt weiter zu begradigen? Der Quirin hatte vor ein paar Wochen damit angefangen. Ich muss sowieso wieder in die Käserei, da kann ich euch zeigen, was zu machen ist.«

Theresia wartete nicht darauf, ob die beiden Angesprochenen auch wirklich hinter ihr herkamen. Ohne sich umzudrehen, verließ sie die Küche.

Bertram drückt Clara schnell einen Kuss auf die Wange und zog Ferdinand mit nach draußen.

Auch Traudl schickte sich an, ihr Bett aufzusuchen. So unauffällig wie möglich schlenderte sie dabei an der Schale mit den Bonbons vorbei, die auf der Anrichte stand.

Clara grinste. Als ob nicht jeder wüsste, dass ihre Mutter heimlich naschte. Sämtliche Jackentaschen waren bestückt mit Süßigkeiten.

»Okay, ist ja eigentlich nicht schwer. Ihr müsst erst mal den Weg weiter ebnen und dann den Haufen Schotter darüber verteilen. Mehr ist es nicht.«

Theresia schaute von Ferdinand zu Bertram und wieder zurück, nickte kurz und löste sich ohne ein weiteres Wort aus der kleinen Gruppe.

Bertram schaute ihr hinterher, wie sie die Käserei ansteuerte.

»War deine Schwester schon immer so?«, fragte er Ferdinand. Dabei griff er nach einer von den vielen Schaufeln, die Theresia ihnen an den Apfelbaum gelehnt hatte. Der kleine Vorgarten schmiegte sich idyllisch zwischen das Wohnhaus und das angrenzende Feld. Unter einigen Obstbäumen stand eine Sitzgruppe aus derbem Holz, von der aus man einen weiten Blick ins Tal hatte. Obwohl der Hof an die letzten Häuser von Burgberg angrenzte, lag er doch schon um einiges höher als der Rest der Ortschaft.

Ferdinand hatte sich ebenfalls eine Schaufel geschnappt und überlegte, wo sie beginnen könnten.

»Ich weiß ehrlich gesagt nicht genau, ob sie schon immer so war. Theresia ist ja ein ganzes Stück älter als ich«, antwortete er auf Bertrams Frage. »Sie war wohl noch nie der große Sonnenschein, aber so kurz angebunden habe ich sie auch nicht oft erlebt.«

Jetzt, wo Bertram es angesprochen hatte, wagte Ferdinand auch, darüber nachzudenken. Er hatte bisher versucht, nicht zu viele Gefühle aufkommen zu lassen. Nicht über den plötzlichen Tod des Vaters und nicht darüber, warum seine Familie so war, wie sie sich jetzt wieder zeigte. Das konnte er alles viel besser in Wilhelmshaven, wenn er weit weg war. Am dortigen Senckenberg-Institut hatte er einen Langzeitpraktikumsplatz ergattert und unterstützte die wissenschaftlichen Mitarbeiter. Besonders einer von ihnen ging er gerne zur Hand. Sonja war eine Wahnsinnsfrau! Sie wusste alles oder hatte immer Lösungen parat, erklärte geduldig und behandelte ihn nicht wie einen Azubi im ersten Lehrjahr. Außerdem roch sie immer leicht nach Vanille und sah unverschämt gut aus.

In den letzten Wochen konnte er einfach nicht mehr anders, als um sie zu werben. Und er hatte sogar das Gefühl, dass sie nichts dagegen hatte.

Energisch begann Ferdinand, die vom Wasser verdrängte Erde wieder an ihren Bestimmungsplatz zu schaufeln. Sonja! Warum musste Vater auch ausgerechnet jetzt sterben. Endlich hatte sie zugestimmt, sich auf einen Tee mit ihm zu treffen. Und jetzt hörte er nichts von ihr. Es war zum Verrücktwerden. Obwohl er genau wusste, dass sie ihn auch mochte, zierte sie sich, etwas privat mit ihm zu unternehmen. Natürlich konnte er sich denken, woran das lag. Aber das wollte er einfach nicht akzeptieren! Was waren schon acht Jahre Altersunterschied? Na und? Dann war sie eben schon 34 und sehnte sich nach einer richtigen Familie mit Kindern. Das wollte er doch auch alles. Klar, er hätte noch Zeit. Mit Mitte 20 denken die wenigsten Männer daran. Aber er hatte nun mal jetzt schon seine Traumfrau gefunden. Für sie würde er alles wagen. Sein Studium würde er in zwei Jahren beendet haben. Und wenn sie Kinder wollte, aber ihren Wahnsinnsjob auch nicht aufgeben wollte, dann würde eben er sich um ihre Kinder kümmern. Dafür war er ja dann der Vater. Heutzutage waren das doch keine wirklichen Probleme mehr.

»Ferdinand?«

Bertram holte ihn aus seinen Gedanken.

»Ich glaube, hier liegt jetzt genug Erde. Vielleicht können wir die jetzt verteilen?«, fragte Bertram mit einem leichten Grinsen.

Ferdinand schaute auf. Vor ihm lag ein großer Haufen Erde, der eigentlich hätte breit gestreut werden sollen.

»Sorry«, feixte Ferdinand. »War wohl etwas übermotiviert.«

»Falls du Lust hast zu reden ... nur zu«, ermunterte ihn Bertram. Er hieb seine Schaufel in den Hügel, den Ferdinand mitten auf den Weg hinterlassen hatte.

Seitdem Ferdinand öfter bei ihnen in Berlin gewesen war und auch schon einen Kurzurlaub auf dem Darß mitgemacht hatte, kannten sich die beiden Männer und verstanden sich trotz des Altersunterschieds von 15 Jahren gut.

»Danke, aber das muss ich erst mal mit mir selbst ausmachen. Vielleicht komme ich irgendwann auf dein Angebot zurück«, antwortete Ferdinand schwitzend.

»Darf ich dich mal was fragen?«, hakte Bertram nach einer Weile nach.

»Klar«, antwortete Ferdinand, froh sich mal kurz aufrichten zu können.

»Ich weiß, ich könnte das Clara auch fragen. Aber ihre Antwort kenne ich ja schon.«

Bertram stützte sich mit den Unterarmen auf der Schaufel ab und schaute Ferdinand an.

»Welche Rolle hat dein Vater für dich gespielt? Es liegt zwar eine gewisse Traurigkeit über dem Hof, aber manchmal fühlt es sich so an, als ob euer Vater schon ewig tot wäre. Vermisst ihn denn keiner?«

Ferdinand spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Jetzt war es also soweit, nun musste er der Wahrheit doch schon hier ins Auge schauen. Am liebsten hätte er die Schaufel weggeworfen und sich aus dem Staub gemacht. Aber das war ihm zu blöd. Er konnte sich vor Bertram nicht wie ein kleines Kind benehmen. Das war sonst hier seine Masche und damit war er auch immer gut durchgekommen.

Ferdinand nickte Bertram kurz zu und deutete an, dass er gleich wieder da sein würde. Als er mit zwei Flaschen Bier zurückkam, setzten sie sich unter die Obstbäume auf die Holzbänke. Aber auch nach dem dumpfen Klang der aneinanderstoßenden Flaschen wusste Ferdinand nicht, wie er beginnen sollte.

»Als ich noch klein war, bin ich nachts oft zu meinen Eltern ins Bett geschlüpft. Aber nie in die Mitte, immer nur auf Mutters Seite«, begann er schließlich. »Eines Abends hörte ich, dass meine Eltern noch wach waren. Ich schlich mich leise zur Schlafzimmertür und wollte sie gerade öffnen, da hörte ich, dass sie sich heftig stritten. Ich blieb starr vor Schreck stehen und lauschte weiter. Ich konnte es nicht glauben, ich hatte meine Eltern noch nie streiten hören. Im Laufe des Streits wurde meine Mutter immer lauter und ihre Stimme immer schriller. Mein Vater war anfangs eindringlicher, als wollte er sich entschuldigen. Aber irgendwann sagte er gar nichts mehr. Verstanden habe ich so gut wie nichts.«

Ferdinand nahm einen großen Schluck aus seiner Bierflasche. Mit dem Handrücken wischte er sich über den Mund.

»Gerade als ich wieder enttäuscht in mein Bett gehen wollte, hörte ich, dass meine Mutter irgendetwas über Clara sagte. Ich versuchte, mein Ohr noch enger an die Tür pressen, aber ich bekam immer nur Fetzen mit. Es ging um irgendetwas, wovon niemand etwas wissen durfte. Und dann sagte mein Vater nur noch einen einzigen Satz: Wenn du das tust, bin ich auch weg. Und dann war Ruhe. Völlig verfroren schlich ich wieder in mein Bett.«

Wieder setzte Ferdinand die Flasche an.

»Seitdem war irgendetwas anders. Vater zog sich immer mehr zurück. Er unternahm nichts mehr mit uns, sprach nur noch selten und zog in ein eigenes Schlafzimmer. Angeblich, weil er schnarchte. Und Mutter? Die nahm das Zepter jetzt endgültig in die Hand. Erziehung, Schule, Arbeit auf dem Hof und unsere Freizeit koordinierte sie so, wie es ihr passte. Theresia musste als Große viel mit anpacken. Und obwohl Clara nicht viel jünger war, durfte sie, so oft sie wollte, den Hof verlassen. Und ich wurde verhätschelt. Ein Kind bekommt das schnell mit. Natürlich habe ich meine Privilegien ausgekostet, auch wenn mir Theresia oft leidtat.«

Ferdinand zog die Luft tief in seine Lungen. Darüber hatte er noch nie mit jemandem gesprochen. Er hätte nicht gedacht, dass es so erleichternd sein konnte. Auch wenn Bertram wahrscheinlich nicht viel dazu sagen würde und konnte, aber er hatte zugehört. Das allein zählte.

»Und du weißt bis heute nicht, worum es bei dem Streit ging?«, fragte Bertram nachdenklich.

»Nein! Ich weiß nur, dass das der Tag war, an dem ich meinen Vater verloren habe. Und nicht nur ich. Selbst wenn er zum Beispiel beim Essen anwesend war, gab er nur einsilbige Antworten, wenn wir ihn irgendetwas fragten. Irgendwann haben wir ihn nichts mehr gefragt. Und er hat uns nicht mehr wahrgenommen. Manchmal hat er uns angesehen, als wären wir Fremde. Als würde er durch uns hindurch sehen. Und trotzdem war da etwas in seinem Blick. Traurigkeit vielleicht oder Resignation.«

Ferdinand war aufgesprungen und schnappte sich seine Schaufel wieder.

»Aber er hat nie gemerkt, wie sehr er uns gefehlt hat. Den Schmerz, den wir jetzt hätten spüren müssen, den haben wir schon vor vielen Jahren durchlebt. Also, wahrscheinlich nimmst du deshalb jetzt weniger Trauer wahr. Wobei ich nicht weiß, ob es meine Schwestern auch so empfinden. Über Gefühle wird bei uns nicht geredet.«

Mit dem letzten Satz stieß er die Schaufel fest in die Erde und setzte seine Arbeit fort.


Traudl

Unbeholfen zupfte Traudl hier und da ein paar Grashalme zwischen den Kränzen und Blumengebinden aus. Zur Grabpflege war es noch zu früh, schließlich war das Grab noch nicht einmal richtig angelegt. Aber sie würde es trotzdem jetzt schon zur Gewohnheit werden lassen, jeden Morgen direkt nach dem Frühstück zum Friedhof zu gehen. Das würde ihr Gewissen beruhigen. Und die Leute würden glauben, dass sie ihrem Schorsch nachtrauerte.

Unter leisem Ächzen kam sie aus der gebückten Haltung zum Stehen. Warum der Stuhl, den sie zur Beerdigung gebraucht hatte, noch immer dort stand, wusste sie nicht. Aber sie war sehr froh darüber. Vorsichtig ließ sie sich nieder.

Eine ganze Weile saß sie still da und schaute auf das Blütenmeer, das ihren Mann nun bedeckte.

»Wenn die Leute wüssten, Schorsch! Ob du dann auch so viele Trauerbekundungen bekommen hättest?«, murmelte sie. »Vielleicht hätte ich es am Grab allen erzählen sollen, was du eigentlich für ein Schuft bist.«

Wieder blieb sie ganz still sitzen und hing ihren Gedanken nach.

»Nein, ein Schuft warst du eigentlich nicht. Das kann man dir nicht nachsagen. Ganz im Gegenteil, du hast Verantwortung übernommen und dein Leben dafür geopfert.«

Wieder hielt sie inne. Vorsichtig schaute sie sich um. Als sie niemanden entdeckte, holte sie tief Luft.

»Aber unser Leben hätte ganz anders verlaufen können, hättest du dich zusammengerissen. Ich kann es bis jetzt nicht glauben, dass du mir das angetan hast. Wirklich! Bis jetzt nicht! Wusstest du das?«

Traudl grunzte abfällig und suchte in ihrer Jackentasche nach einem Taschentuch. Als sie keines fand, nahm sie ihre Handtasche auf den Schoß und versuchte dort ihr Glück. Endlich wurde sie fündig. In der Zwischenzeit hatten sich allerdings die Tränen schon verflüchtigt. Nur die Wut war geblieben.

»Vielleicht hätte ich dich damals vor die Tür setzen sollen. Ich hätte schon mein Auskommen gehabt, schließlich gehört der Hof meiner Familie. Irgendein Bauer wäre vielleicht froh darüber gewesen, mich mitsamt dem Hof zu bekommen. Trotz Kind!«

Sie ließ die Tasche wieder auf den Boden sinken.

»Aber nein, ich habe dir verziehen. Wobei das nicht ganz stimmt. Ich habe dir nie verziehen. Nur haben wir uns eben arrangiert. Und als sie endlich weg war, sowieso. Wobei du danach auch irgendwie weg warst. Meinst du, ich habe das nicht mitbekommen? Du warst doch viel lieber im Stall bei dem Vieh als in unserer Küche. Aber das Essen durfte ich für dich kochen. Und den Kontakt zu den Mädels hast du auch gemieden. Aber heimlich, ja ... heimlich hast du sie liebevoll beobachtet. Dachtest du wirklich, dass ich das nicht sehen würde? Kaum war ich außer Sichtweite, konntest du sogar mit ihnen reden oder spielen. Auf deine zurückhaltende Art, versteht sich.«

Traudl hob das Gesicht zum Himmel. Kein Wölkchen war zu sehen.

»Ich frage mich, wie wir es geschafft haben, Ferdl zu zeugen. Die wenigen Male, die wir das Bett geteilt haben. Das grenzt schon an ein Wunder. Und glaub nicht, dass ich an deinen Reaktionen nicht gesehen habe, dass du so manches Mal dachtest, dass der Bub nicht von dir sein konnte. Da irrst du dich. Ich war dir immer treu, mein Lieber!«

Schnell schloss sie die schmerzenden Augen und senkte den Kopf wieder.

»Was ist nur aus unserer Familie geworden? Die Kinder mögen mich nicht, obwohl ich doch immer alles für sie gemacht habe. Selbst Ferdl zieht es weit weg. Mein Ferdl. Und Clara sowieso. Aber das konnte ja nicht anders kommen. Wenigstens bleibt mir die Resi, das gute Kind.«

Nachdenklich schüttelte sie den Kopf.

»Sie macht schon die gleichen Fehler wie ich, als ich jung war«, murmelte sie weiter. »Hat sich einen netten Mann geangelt, den alle mögen. Und was hat sie jetzt davon? Er sucht genauso das Weite wie du, Schorsch. Und das, obwohl die beiden noch nicht mal Probleme miteinander hatten. Jedenfalls nicht so wie du und ich. Oder vielleicht doch?«

Angestrengt versuchte sie, sich an eigenartige Situationen zu erinnern. Da waren die verschiedenen Dorffeste oder Familienfeiern, aber aufgefallen war ihr nichts. Resi und Quirin waren mit den Kindern immer vorausgegangen und sie später nach. Und wenn sie Glück hatte, war der Schorsch auch noch gekommen. Viel Später. Auf ein Bier und dann wieder heim. Meistens war der Quirin da aber schon wieder weg. Angeblich nach dem Vieh sehen. Oder nach dem Rechten. Oder wonach auch immer. Aber ob es deswegen Streit gegeben hatte, daran konnte sich Traudl nicht erinnern.

Allmählich stand die Sonne hoch am blauen Himmel. Es war ungewöhnlich heiß und trocken für die Gegend. Normalerweise zogen immer wieder Wolken über die Berge oder den Alpsee und regneten ab. Aber in diesem Jahr war alles anders.

Ob sie mit Resi reden sollte? Schließlich musste es ja nicht so laufen wie bei ihr.

Wieder grunzte Traudl und setzte das Gemurmel fort.

»Ach, die Resi will doch gar nichts von meinen Ratschlägen wissen. Wie keines meiner Kinder. Ich bin überflüssig. Vielleicht soll es ja auch so sein, dass die Kinder ihre eigenen Fehler machen. Aber dabei kann man doch nicht zusehen. Schorsch, du hättest ja auch mal was sagen können. Das muss dir doch auch aufgefallen sein!«

»Mutter? Ist alles in Ordnung?«

Clara lief mit großen Schritten über den schmalen Kiesweg zwischen den Gräbern hindurch.

»Was soll denn sein?«, fragte Traudl unwirsch.

»Na ja, du warst plötzlich nach dem Frühstück weg und keiner wusste wohin«, antwortete Clara atemlos. Sie setzte sich neben ihre Mutter in das Gras.

»Ich bin doch immer nach dem Frühstück auf dem Friedhof«, sagte Traudl, ohne ihre Tochter anzuschauen.

Clara grinste innerlich. Immer war ja wohl ein bisschen übertrieben. Schließlich lag Vater noch nicht lange hier. Aber sie verkniff sich eine Bemerkung dazu.

»Und du möchtest jetzt jeden Morgen hierher kommen?«, fragte sie versöhnlich.

Traudl zuckte mit den Schultern und nickte gleichzeitig. Das hatte sie vor, ja. Seitdem ihr die Resi das Kochen des Mittagessens aufgedrückt hatte, konnte sie so den Vormittag sinnvoll füllen. Vielleicht noch mal beim Supermarkt oder Bioladen in Burgberg vorbeigehen, was aber selten vorkam. Auch das Einkaufen ließ sich die Resi nicht nehmen. Sie legte beim Frühstück fest, was Traudl kochen sollte. So weit war es nun also schon gekommen. Als Nächstes stand wahrscheinlich die Entmündigung an.

Traudl drehte den Kopf unauffällig ihrer Tochter zu. Da Clara es nicht bemerkte, sondern in Gedanken versunken die Blumenkränze beobachtete, konnte sie ungestört in das zarte Gesicht schauen. Um Clara musste sie sich keine Sorgen machen. Die würde ihren Weg gehen. Auch wenn keiner wusste, wohin der führen würde.

Plötzlich überkam Traudl eine unbändige Sehnsucht. Sie schluckte hart. Diese Gefühle hatte sie seit mehr als dreißig Jahren erfolgreich verdrängt. Also, warum tauchten sie gerade jetzt wieder auf?

»Mutter? Was ist los? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen!«, fragte Clara besorgt.

Diese Augen, dachte Traudl. Warum musste sie diese Augen haben? Und wie war es ihr nur gelungen, diesen Blick die ganzen Jahre zu ignorieren?

Sie schüttelte kurz den Kopf, um die Gedanken beiseite zu wischen. Dann stand sie auf.

»Lass uns nach Hause gehen, schließlich habe ich bald wieder Küchendienst«, schnaubte sie und nickte ihrer Tochter zu. Gerne hätte sie sie in den Arm genommen, aber Zärtlichkeiten wurden schon lange keine mehr ausgetauscht. Vielleicht war das auch besser so, sonst wäre sie noch in Tränen ausgebrochen. Und auf die Fragen ihrer Tochter hätte sie im Moment keine Antworten gewusst. Sie musste erst noch überlegen, was sie mir ihrem Wissen anfangen sollte. Preisgeben oder mit ins Grab nehmen?


Theresia

Während Clara den Geschirrspüler bestückte, spülte Theresia unter lautem Klappern die schweren Töpfe und Pfannen.

»Musstest du wieder für jedes Gemüse einen eigenen Topf nehmen?«, fragte sie dabei über die Schulter in Richtung ihrer Mutter.

Traudl saß auf ihrem Platz am Fenster und starrte in den Garten.

»Ich kann eben kochen und rühre die Sachen nicht nur zusammen. Hättest du mir ab und an zugeschaut, wüsstest du, wovon ich rede«, knurrte sie zurück.

»Das soll jetzt heißen, dass ich nicht kochen kann, oder was?«, ließ sich Theresia auf das Wortgefecht ein.

Ein abschätziges Murren aus Traudls Richtung zeigte an, dass sie keine Lust auf Diskussionen hatte.

»Wer mag ein Bier oder Radler?«, fragte Ferdinand in die Runde. Er und Bertram hatten sich nach dem Essen zurückgelehnt und gesättigt dem Treiben zugeschaut.

»Ein Radler würde ich nehmen«, antwortete Bertram.

»Wollt ihr nicht vielleicht erst mal die Einfahrt fertigmachen, bevor ihr mit Saufen beginnt?«

Theresia schaute bei der Frage nicht einmal auf.

»Saufen? Also wirklich, Schwesterherz! Wir genehmigen uns jetzt ein Mittagsbier und dann schaffen wir draußen weiter. Schließlich hat Bertram Urlaub!«, gab Ferdinand grinsend zurück.

»Urlaub? Was ist das denn? Meinst du, ich kann mir Urlaub leisten? Und der Quirin wäre schon längst fertig mit der Einfahrt! Vielleicht hätte ich ja noch andere Sachen für euch zu tun«, antwortete Theresia. Dabei klatschte sie den Schwamm in das Spülwasser, das sich überall verteilte.

»Ach Theresia, was ist denn los mit dir? Sag uns, wie wir dir helfen können. Deshalb sind wir doch hier«, versuchte Clara, die Wogen zu glätten. Sie tupfte mit dem Trockentuch die Spülwasserspuren ab.

»Na, was soll los sein? Die Arbeit wird nicht weniger, der Quirin ist nicht da und jetzt muss ich mir auch noch sagen lassen, dass ich nicht kochen kann«, ereiferte sich Theresia.

Mühsam versuchte sie, die verkohlte Pfanne wieder sauber zu schrubben. »Als ob man das Kochen nennen kann, wenn das Fleisch schwarz auf die Teller kommt«, murrte sie weiter.

»Du wirst schon wie dein Vater«, keifte Traudl zurück. »Immer über alles herziehen!«

Jetzt hielt Theresia inne. Langsam hob sie die Hände aus dem Spülwasser und drückte den Schwamm aus. Das hatte ihre Mutter nicht wirklich gesagt, oder?

»Wie Vater? Der ist nie über irgendetwas hergezogen. Wenn er mal gemeckert hat, dann hatte das auch seinen Grund!«

Theresia drehte sich langsam um. Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Wer mosert denn hier den ganzen Tag rum? Natürlich bist du noch in Trauer und wir müssen das aushalten. Aber wir sind auch in Trauer! Das war nämlich unser Vater. Vielleicht hast du ihn sogar auf dem Gewissen mit deiner ständigen Nörgelei!«

Theresia hatte sich in Rage geredet. »Also, wenn ich hier irgendwas von irgendwem geerbt habe, dann doch von dir! Du hast doch an allem was auszusetzen. Und am meisten an mir.«

Clara legte beruhigend ihre Hand auf Theresias Arm. Unwirsch zog sie ihn fort und schaute ihre Schwester an.

»Und du? Wenn du jetzt ein Wort dazu sagst, von wegen, dass wir nicht streiten sollen, dann platze ich. Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie ich mich die ganzen Jahre, in denen du dein Leben leben durftest, gefühlt habe? Hast du einmal darüber nachgedacht, warum du so bevorzugt behandelt wurdest?«

Theresia hielt inne. Sie musste sich zusammenreißen. Auf keinen Fall wollte sie jetzt vor ihrer Familie anfangen zu heulen. Aber die Tränen drängten unaufhörlich nach draußen. Ungelenk wischte sie sich mit dem Handrücken über die Augen.

Clara hatte das Handtuch beiseitegelegt und sich zu Bertram gesetzt. Auch in ihren Augen sah Theresia Tränen glitzern. Aber sie konnte die aufgestaute Wut einfach nicht unter Kontrolle bringen, wusste aber auch nicht, was sie noch sagen sollte, da sich sonst niemand dazu äußerte.

»Hey Theresia, das ist doch nicht Claras Schuld. Da musst du Mutter fragen. Klar ist es uns aufgefallen, aber was sollten wir denn machen?«, schob Ferdinand ein.

»Ach ja, du bist ja hier sowieso das Nesthäkchen und kannst dir alles erlauben. Wenn ich an Vaters Stelle gewesen wäre, hätte ich dich ganz anders mit einbezogen in die Schufterei. Aber du standest ja unter dem Schutz der Mutter! Stimmt’s, Mutter? Willst du vielleicht auch mal was dazu sagen?«

Theresia band sich die Schürze ab und warf sie achtlos über die Stuhllehne. Alle Augen waren auf Traudl gerichtet. Aber die rührte sich nicht.

»Klar, ist ja auch viel einfacher, nichts dazu zu sagen. Das könnt ihr alle richtig gut hier in dieser Familie. Der Vater, der nie was sagt. Die Mutter, die das Zepter schwingt und austeilt. Und zwei Geschwister, die ihre Privilegien auskosten. Warum bin ich das schwarze Schaf in der Familie? Kann mir das einer sagen?«

Die letzten Worte hatte Theresia aus voller Kehle geschrien. Sie schnappte nach Luft und hielt sich an der Stuhllehne fest.

»Jetzt ist Schluss, Resi«, mischte sich Traudl ein.

Theresia wartete, ob ihre Mutter noch weiterreden würde. Sie fand auch, dass jetzt endlich Schluss damit sein müsste. Aber Traudl sagte nichts mehr, sondern schaute ihre große Tochter nur wütend an.

»Ach, klar. Das habe ich ja ganz vergessen! Über Probleme wird ja in dieser Familie auch nicht gesprochen. Lieber geht wieder jeder schnell seiner Wege und mit ein bisschen Glück haben alle die Probleme ganz schnell vergessen. Unter den Tisch gekehrt. Wenn man sie nicht mehr erwähnt, verschwinden sie von selbst.«

Theresias Fingerknöchel traten weiß hervor, als sie die Lehne umklammerte. Noch immer atmete sie heftig ein und aus.

»Und wisst ihr was? Vielleicht ist es ja auch gut so! Reden wir nicht drüber, machen wir einfach weiter wie bisher. Dann will ich euch aber auch nicht mehr auf dem Hof sehen. Halten wir es wie immer, jeder geht seiner Wege!«

Sie blickte Clara und Ferdinand an und nickte ihnen kurz zu. Dann drehte sie sich um und verschwand eilig aus der Küche.

Noch bevor sie auf den Hof treten konnte, übermannte sie der Heulkrampf. Schnell ließ sie die Türklinke wieder los und rannte in ihr Zimmer. Eigentlich hätte sie schon längst wieder in der Käserei sein müssen, aber sie spürte, dass etwas aus ihr herausbrechen wollte, was sich seit Jahren angestaut hatte. Sie hatte Mühe, zwischen dem unbändigen Schluchzen Luft zu holen. Schnell vergrub sie ihr Gesicht in das Kissen, damit niemand von ihrer Schwäche hörte.


Clara

Den Schreck spürte Clara noch mit jeder Faser ihres Körpers. Als Theresia aus der Küche gerannt war, legte sich eine bedrückende Stille über den Rest der Familie. Traudl schüttelte unaufhörlich den Kopf und gab grunzende Laute von sich. Ferdinand zog mit dem Finger die Maserung des Holztisches nach. Bertram hatte seinen Arm um Claras Schulter gelegt.

»Wir hätten mehr zu ihr stehen müssen«, flüsterte Clara. Sie lehnte ihren Kopf an Bertrams Schulter, der sie sofort noch enger an sich zog.

»Die Resi war schon immer bockig«, schnaubte Traudl.

»Bockig? Mutter, das hat doch nichts mit bockig zu tun! Theresia ist eine erwachsene Frau, die Hilfe braucht.«

Clara hatte sich aufgesetzt und versuchte, ihre Mutter zum Reden zu bringen.

»Sie hat doch ganz recht! Wann wurde denn bei uns mal über Probleme gesprochen? Und dass ihr mich anders behandelt habt als sie, das musst doch selbst du gemerkt haben.«

Ein leichtes Zucken durchfuhr Traudls Körper. Sie holte tief Luft, als wollte sie etwas dazu sagen, stieß sie dann aber genauso geräuschvoll wieder aus. Traudl hob das Kinn. Sie schaute weiter hinaus in den Garten. Nur die mahlenden Kaumuskeln deuteten darauf hin, dass sich etwas in ihr regte.

»Warum sagst du nichts dazu?«, fragte Clara vorwurfsvoll.

»Ach Clara, lass doch«, antwortete Ferdinand stattdessen. »Theresias Vorwürfe reichen doch für heute. Vielleicht ist es wirklich besser, wenn wir wieder verschwinden. Schließlich hat sich jeder sein Leben gesucht, das er leben möchte. Und das ja wohl nicht umsonst, oder?«

Die letzten beiden Sätze hatte er mehr geflüstert als gesprochen. Trotzdem drehte sich Traudl jetzt zu ihm um und schaute ihn mit traurigen Augen an.

Abrupt stand Ferdinand auf.

»Also, ich packe jetzt mal meine Sachen. Falls ihr fahren solltet, könnt ihr mich bis zum Bahnhof mitnehmen.«

Ohne jemanden anzuschauen, stiefelte er aus der Küche.

Hilflos sah Clara Bertram an. Wieder nahm er sie zärtlich in den Arm.

»Lass uns nach oben gehen und darüber reden«, flüsterte er ihr ins Ohr.

Diesmal schien Traudl nichts mitbekommen zu haben, denn sie stierte wieder aus dem Fenster.

Clara seufzte innerlich. Bisher waren die Besuche bei ihren Eltern ja schon schwierig gewesen, aber diesmal endete es wohl in einer Katastrophe.

Mit mulmigem Gefühl stand sie endlich auf und zog Bertram mit sich. Ihr fiel beim besten Willen nichts ein, was sie ihrer Mutter hätte sagen können. Also verließen sie ohne ein Wort den Raum.

»Was sollen wir denn jetzt machen?«, fragte Clara, sobald sie ihr Zimmer betreten hatten.

Bertram zuckte mit den Schultern.

»Vielleicht wäre es ja wirklich besser, wenn wir erst mal nach Hause fahren würden. Dann kann sich hier alles einspielen und wir sind nicht ständig im Weg. Hm, was meinst du?«

Bertram war zu Clara ans Fenster getreten und hielt sie von hinten eng umschlungen. Müde legte Clara ihren Kopf an seine Brust. Trotz aller Schwierigkeiten, hatten sie auch schon glückliche Tage hier verbracht. Sie erinnerte sich noch, als Bertram das erste Mal mit zu ihren Eltern gekommen war. Sie war aufgeregt wie ein kleines Mädchen vor dem Weihnachtsfest. Schließlich hatte sie vorher noch nie einen Mann mit nach Hause gebracht.

Lächelnd ließ sie ihre Gedanken zum Grünten, ihrem Hausberg, wandern. Die erste Tour mit Bertram dorthin endete in einem Wolkenbruch. Bloß gut, dass Bertram nicht zimperlich war. Ohne zu murren warteten sie im Grüntenhaus, tranken Buttermilch und aßen einen deftigen Eintopf, bis es nur noch tröpfelte und sie sich durch den schlammigen Geröllboden nach unten kämpfen konnten. Dabei rutschten sie so manches Mal auf den Wiesenflächen aus, immer in der Hoffnung, keinen Kuhfladen erwischt zu haben. Sie hatte selten so viel gelacht wie an diesem Nachmittag.

»Was hältst du davon, wenn wir die Kinder mitnehmen? Ich könnte auch bei meiner Schwester anfragen, ob wir das Haus auf dem Darß beziehen können. Vielleicht haben wir Glück und sie hat in der nächsten Zeit keine Feier dort geplant.«

Bertram legte seine Hände auf Claras Schultern und drehte sie langsam um, sodass sie sich ansehen konnten.

»Was würde ich nur ohne dich tun?«, fragte Clara und küsste Bertram zärtlich auf den Mund.

Sofort schloss er sie in die Arme.

»Du hast mir in den letzten Tagen gefehlt«, flüsterte Bertram und vergrub sein Gesicht in ihren Haaren.

»Du mir auch«, hauchte Clara zurück.

Sie atmete tief durch und schob Bertram leicht von sich.

»Du hast recht! Wahrscheinlich ist es gut, wenn wir erst mal wieder nach Berlin fahren. Und die Idee, die Kinder mitzunehmen, ist toll! Das beruhigt ein bisschen mein schlechtes Gewissen, dass ich Theresia und Mutter hier im Stich lasse. Und die Kinder kommen auch mal raus. Wenn es mit dem Darß klappen würde, das wäre klasse.«

Clara spürte, wie sich allmählich wieder die gewohnte Energie in ihr breitmachte. Obwohl es ihr Zuhause war, hatte sie immer das Gefühl gehabt, im Weg zu stehen. Die Landarbeit war nun mal nicht ihr Ding, auch wenn sie Theresia in der Käserei gerne zur Hand gegangen war. Vor allem hatte sie gehofft, dass sich mit dem Tod des Vaters die Gemüter beruhigen würden. Aber sie musste Theresia recht geben: es war allem Anschein nach ihre Mutter, die das Sagen hatte. Auch wenn sie es ihnen oft anders verkauft hatte.

»Okay, wenn du magst, kannst du ja schon anfangen zu packen«, sagte sie zu Bertram. »Ich suche Theresia und hoffe, dass sie sich darauf einlässt. Und vor allem hoffe ich auch, dass die Kinder Lust haben.«

Mit einem mulmigen Gefühl legte Clara den Weg vom Wohnhaus zur Käserei zurück. Würde Theresia überhaupt mit ihr sprechen wollen?

Sie hatte ihre Schwester noch nie so erlebt. Normalerweise ertrug sie immer alles mit Ruhe und schien viele Dinge mit sich auszumachen. Schon so manches Mal hatte sich Clara Sorgen um sie gemacht, wenn sie spürte, dass Theresia ungerecht behandelt wurde. Aber sie war auch nie eingeschritten. Wenn sie es sich recht überlegte, hatten Ferdinand und sie Theresia irgendwie im Stich gelassen. Auch wenn sie noch Kinder waren und ihren Eltern selten Widerworte gaben, hätten sie vielleicht für Theresia einstehen sollen. Es musste ja irgendwann so kommen.

Vorsichtig öffnete Clara die Tür zur Käserei, aber hier herrschte tiefe Stille. Auch im angrenzenden Laden entdeckte sie nur Hannah, die in ein Kundengespräch vertieft war. Keine Spur von Theresia.

Nachdem Clara auch im Stall und hinter dem Haus auf ihren Kletterbaum nachgesehen hatte, fing sie allmählich an, sich Sorgen zu machen. Theresia war doch wohl nicht abgehauen? Aber wohin sollte sie denn? Und die Kinder?

Erst ein Blick in Theresias Zimmer beruhigte Clara für einen Moment. Ihre Schwester lag bäuchlings auf dem Bett und hatte den Kopf auf die Arme gelegt.

Auf Zehenspitzen schlich Clara sich an Theresias Bett. Falls sie vor Erschöpfung eingeschlafen war, wollte sie ihre Schwester auf keinen Fall wecken.

Als Clara nahe ans Bett trat, sah sie, dass Theresias Augen offen waren. Ein kurzer Schreck durchfuhr sie. Wie immer, wenn sie jemanden mit starrem Blick sah. Dabei kam sofort die Erinnerung an einen Mann, der vor ihrem Geschäft in Berlin zusammengebrochen war und nicht mehr geatmet hatte, hoch. Obwohl sie direkt mit der Ersten Hilfe begonnen hatte, war alles zu spät gewesen. Der Mann hatte nur noch dagelegen und mit starren Augen in den Himmel geschaut. Diesen Blick würde sie nie mehr vergessen.

Gott sei Dank blinzelte Theresia kurz und drehte Clara den Kopf zu.

»Was ist?«, fragte sie tonlos.

Umständlich setzte sich Clara auf die Bettkante und legte ihre Hand auf Theresias Rücken. Theresia ließ es ohne eine Reaktion geschehen.

»Ich wollte dir nur sagen, dass ich viel lieber hier bleiben und dir unter die Arme greifen würde«, begann Clara leise. »Aber das funktioniert wohl im Moment nicht so richtig.«

Clara suchte nach den richtigen Worten. Vielleicht konnte sie Theresia ja doch noch irgendwie helfen.

»Sag mal, wie lange ist denn der Quirin noch oben auf der Alpe? Kann er nicht eher runter kommen und ihr schickt ausnahmsweise mal jemand anderen hoch? Da findet sich doch bestimmt irgendwer?«

Schon als sie es ausgesprochen hatte, spürte Clara, dass sich Theresia niemals darauf einlassen würde.

Theresia setzte sich auf und schüttelte Claras Hand von ihrem Rücken ab. Sie lehnte sich an die Wand und schaute aus dem Fenster. Dabei bewegte sie den Kopf genervt hin und her.

»Wie stellst du dir das vor? Soll jetzt irgendein Bauer hoch auf die Alpe und Vaters Arbeit übernehmen? Der Einzige, der das kann, ist Quirin. Er ist sowieso der beste Käser, jetzt muss er halt auch noch als Senn herhalten.«

Theresia vermied es noch immer, ihre Schwester anzuschauen.

»Kannst du dann nicht wenigstens hier unten weniger Milch annehmen? Dann müssen die Bauern ihre Milch eben vorübergehend woanders hinbringen«, versuchte es Clara wieder.

»Damit wir unsere Stammkunden auch noch verlieren? Wir sind darauf angewiesen! Das ist unsere Arbeit und wir leben davon. Da müssen wir jetzt durch!«

Theresia rutschte mit einem Ruck bis vor zur Bettkante und schaute Clara nun doch an.

»Ihr könnt ruhig fahren. Ich komme hier gut zurecht. In einem Monat ist der Quirin wieder da und dann ...«

Sie stockte und fuhr sich mit der Hand kurz über die Stirn. Dann sprang sie auf und begann das oberste T-Shirt von einem großen Wäscheberg zusammenzulegen.

»Was ist los?«, hakte Clara nach. »Ist was mit Quirin und dir?«

Theresia schüttelte unwirsch den Kopf.

»Was soll schon sein? Geht doch allen so.«

»Was geht allen so?«

Theresia seufzte.

Clara spürte, dass sie kurz davor war, ihrer Schwester ein Stück ihrer Sorgen zu entlocken. Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass es mit Quirin zusammenhängen könnte.

»Habt ihr euch gestritten?«, fragte sie und trat neben Theresia.

Theresia unterbrach ihre Arbeit kurz und hob langsam den Kopf. Clara sah die Verzweiflung in ihren Augen. Vorsichtig legte sie ihrer Schwester die Hand an den Oberarm und kniff leicht zu.

»Theresia, du kannst mir alles erzählen, das weißt du doch, oder? Sollen wir uns heute einen gemütlichen Abend machen und mal wieder wie früher quatschen?«

Clara verstärkte den Druck ihrer Hand. Am liebsten hätte sie Theresia in den Arm genommen. Aber sie wollte den Moment nicht zerstören und wusste nicht, ob ihre Schwester dafür schon bereit war.

Theresias atmete tief ein und aus. Ihr Gesicht wurde weicher und Clara glaubte schon, dass sie zustimmen würde.

Doch plötzlich klingelte Theresias Handy. Wie aus einem tiefen Traum schrak sie zusammen. Hastig zog sie es aus der Hosentasche und schaute auf das Display.

»Ich muss los, Hannah ablösen. Sie hat ja nachmittags frei.«

Theresia murmelte eine Entschuldigung ins Handy und warf den eben zusammengelegten Pulli wieder achtlos auf den Stapel. Sie schob Clara beiseite.

»Mach dir wegen mir keine Sorgen. Ist schon alles gut! Kommt ihr euch noch verabschieden?«

Damit ließ Theresia die Tür ins Schloss fallen und Clara allein im Zimmer stehen.

Enttäuscht sank sie auf das Bett. Sie war sich sicher, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte. Und vor allem, dass Theresia sich öffnen wollte. Und dann kam dieser blöde Anruf.

Was sollte sie jetzt tun? Vielleicht doch hierbleiben? Allein? Aber sie wollte Bertram nicht wegschicken. Womöglich noch mit den Kindern. Wahrscheinlich war es gut, wenn sie sich für eine Weile aus dem Staub machten. Sie konnte ja am Ende der Ferien noch einmal nach Theresia schauen, wenn sie die Kinder wieder nach Hause brachte.

Clara zweifelte selbst daran, dass das die beste Alternative war, hatte aber auch das Gefühl, dass ihr nichts anderes übrig blieb. Traurig machte sie sich auf den Weg, um die Kinder zu suchen. Sie hoffte, dass sie bei den beiden mehr Glück hatte.


M.

Früher ...

Seit fast einer Stunde saß sie schon auf der kleinen Mauer vor ihrem gemieteten Haus, das für einige Zeit ihr Zuhause war, und wartete auf den Postboten. Auf Rudi war Verlass. Jedenfalls darauf, dass er kam, sie wusste nur nie wann.

Eigentlich hatte ihr das bisher nichts ausgemacht, sie konnte geduldig sein. Schließlich hatte sie das in den letzten Jahren gelernt. Aber die Zeiten hatten sich geändert, ihre Gefühle hatten sich verändert. Oder besser, sie waren wieder da. So viele Jahre hatte sie sie erfolgreich verdrängen können, aber nun krochen sie durch jede Faser in ihrem Körper an die Oberfläche. Sie konnte nichts dagegen tun. Und ja, seit einiger Zeit wollte sie sich auch nicht mehr dagegen wehren. Jetzt würde doch noch alles gut werden. Jedenfalls für sie. Und hoffentlich auch für ihn und den kleinen Sonnenschein.

Sie schaute auf die Uhr. Mittlerweile war Rudi aber wirklich überfällig. Mit einem Satz sprang sie von der Mauer und stellte sich auf die wenig befahrene Straße. Mit der Hand schützte sie die Augen gegen die Sonne. So weit sie sehen konnte, war die Straße leer. Sie wusste nie, ob Rudi mit dem Auto oder dem Fahrrad kam, aber so oder so war er nirgends zu sehen.

Langsam ging sie zu dem winzigen Bauernhaus zurück. Sollte er wieder nicht geschrieben haben? Sie konnte es sich nicht vorstellen. Eigentlich hatte sie angenommen, sofort eine Antwort auf ihren Brief zu bekommen. Alles hatte sich so angefühlt, als würde er nur darauf warten.

Auch wenn sie sich nur über geschriebene Worte nahe sein konnten, in Gedanken spürte sie die Wärme seines Körpers, atmete den Duft seiner Haut und lauschte seiner sonoren Stimme. Wie hatte sie nur all die Jahre ohne ihn leben können? Und vor allem ohne ihr Juniglück! Aber das sollte jetzt alles anders werden.

Lange hatten sie davon geträumt, wohin sie gemeinsam gehen konnten. Natürlich wusste sie, dass er ein Mensch der Berge war. Aber es gab so viele schöne Flecken auf der Erde, die sie ihm alle zeigen wollte. Ganz sicher würde es ihm in Kanada gefallen oder in Neuseeland. Vielleicht auch in Mittelamerika. Überall hatte sie wunderbare Menschen kennengelernt, die Natur genossen, Erfahrungen mit fremden Kulturen gesammelt oder auch interessante kulinarische Erlebnisse gehabt. All das würde sie noch einmal mit ihm und ihrem Schatz erleben, bevor sie sich ein neues Zuhause suchen würden.

Dass sie sich nach all den Jahren begegnen würden, davon hatte sie nie zu träumen gewagt. Doch! Geträumt hatte sie, aber die Hoffnung aufgegeben.

Es war ein Junitag, als er sie entdeckte. Mitten in einer Menschenmenge drehte er sich plötzlich um und sah sie an. So als wären sie verabredet gewesen. Sie war gerade erst ein paar Tage zuvor von einer ausgedehnten Afrikareise zurückgekehrt und suchte nach einer neuen Bleibe für einige Zeit. Auch wenn sie sich überall in der Welt wohlfühlte, brauchte sie doch ab und an Heimatgefühle, um sie nicht ganz zu vergessen. Natürlich konnte sie nie wirklich in ihre Heimat zurückkehren. Sie suchte sich immer eine Bleibe in der Nähe und versuchte unauffällig, nach ihr zu schauen. Sie wollte nur wissen, ob es ihr gut ging, und war jedes Mal froh, wenn sie ihn dabei nicht entdeckte. Sie wusste nicht, ob ihr Herz das verkraften würde, ihn vor sich zu sehen.

Obwohl sie immer wieder Bilder von ihr bekam, wofür sie sich extra ein Postfach in der Stadt gemietet hatte, überrollte sie jedes Mal ein Glücksgefühl, wenn sie sie durch die Wiesen rennen oder auf einen Baum klettern sah. Dann konnte sie die Tränen nicht mehr aufhalten. Aber sie konnte auch nicht über ihren Schatten springen. Sie hatte es versprochen und musste sich nun daran halten.

Und dann war da plötzlich sein Blick inmitten der Menschen. Danach war die Welt für sie stehen geblieben. Sie hörte ihren Atem, spürte das Verlangen und verlor sich in seinen Augen. Sie konnte nicht mehr sagen, was dann passiert war. Wie lange hatten sie eng umschlungen auf dem Platz gestanden? Wann waren sie, ohne sich voneinander zu lösen, zu einer Parkbank gegangen? Wer hatte den Bann gebrochen und das erste Wort gesprochen?

Alles war ihr damals so unwirklich vorgekommen. Und doch hatte er genau vor ihr gesessen und ihr die schönsten Worte zugeflüstert.

Von da an hatten sie sich viele Briefe geschrieben. Sie hatte sich so manches Mal gefragt, was er tun würde, wenn Traudl die Briefe abfangen würde. Aber er schien darin keine Gefahr zu sehen.

Immer wieder im Juni kehrte sie zurück, um ihn zu treffen. Es war der Geburtsmonat ihres Sonnenscheins. Diese Stunden mit ihm waren zum Sinn ihres Lebens geworden. Und obwohl sie nie wagten, es anzusprechen, wussten doch beide, dass sie sich nichts sehnlicher wünschten, als für immer zusammen sein zu können.

Und dann kam eines Tages ein Brief von ihm, in dem er ihr seinen Entschluss, alles hinter sich zu lassen, mitgeteilt hatte. Sie war völlig aus dem Häuschen. Konnte das wirklich wahr sein? Er wollte wirklich sein ganzes Leben ändern und mit ihr zusammensein? Immer und immer wieder hatte sie seinen Brief gelesen, hinter jedes Wort gefühlt. Und sie hatte seine Zerrissenheit gespürt. Schließlich hing nicht nur sein Leben von dieser Entscheidung ab. Nie hätte sie ihn dazu gezwungen, aber nun war er von selbst den nächsten Schritt gegangen. So gerne sie ihn bei sich gehabt hätte, er musste sich ganz sicher sein. Also hatte sie ihm einen langen Brief geschrieben und ihn darum gebeten, noch einmal darüber nachzudenken. Nur wenn er sich ganz sicher war, sollte er ihr ein letztes Mal schreiben und dann würden sie für immer zusammenbleiben. Und seitdem wartete sie auf seine Antwort.

Sie seufzte, als sie sich auf die kleine Holzbank vor ihrem Haus setzte. Konnte es sein, dass er ihren Brief nicht bekommen hatte? Bisher hatten ihn doch alle Briefe erreicht.

Noch konnte sie sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass er sich doch anders entschieden hatte. Sie wollte ihm noch Zeit lassen, wusste aber auch, dass sie irgendwann wieder damit beginnen musste, sich selbst zu schützen.

Traurig legte sie die Hände vor das Gesicht. Noch zwei Wochen, dann würde sie ihre Koffer packen und verschwinden. Ohne die Aussicht darauf, mit ihren beiden liebsten Menschen zusammenleben zu können, wollte sie auch nicht mehr in ihrer Nähe bleiben.


Quirin

Über den Bergkamm zogen graue Wolken und brachten den ersten Regen des Tages. Obwohl noch bis eben die Sonne vom blauen Himmel schien, war es mit den Temperaturen auf 1.500 Meter Höhe nicht weit her an diesem Tag.

Quirin zog sich seine Fleecejacke über und machte es sich mit einem starken Kaffee auf der schiefen Holzbank, so gut es ging, bequem. Der tiefe Dachüberstand schützte ihn vor dem leichten Schauer. Bertl war noch in der Küche zugange und versuchte aus den Resten ein Frühstück zu zaubern. Sie mussten unbedingt Nachschub holen.

Aber vorerst wollte Quirin Kraft tanken. Er war zwar daran gewöhnt, jeden Tag bei den Kühen im Stall und in der Käserei zu verbringen, aber die harte Arbeit hier auf der Alpe war doch noch etwas ganz anderes. Im Stillen zog er den Hut vor seinem Schwiegervater, der das jedes Jahr aufs Neue gestemmt hatte. Kein Wunder, dass ihm das hier zum Verhängnis geworden war.

Schnell schüttelte Quirin den Kopf. Was waren denn das für Gedanken? Er wusste doch überhaupt nicht, ob es an der harten Arbeit gelegen hatte oder warum Georg einem Herzleiden erlegen war.

Bertl trat zur Tür hinaus und setzte sich neben Quirin. Ohne ein Wort zu sagen, reichte er ihm ein Holzbrett mit Brot, Käse und Wurst. Dazu gab es Tomaten und Oliven.

»Mehr war nicht mehr da«, murmelte Bertl nun doch und biss herzhaft in die dicke Brotscheibe.

»Ist schon in Ordnung, ich muss sowieso mal wieder absteigen«, antwortete Quirin. Genüsslich schob er sich ein Stück Tomate in den Mund.

Er schaute ins Tal und genoss, wie jeden Tag, die Aussicht. Über saftige Wiesen mit Felsen und Geröll konnte er zur Linken bis zu einem Waldstück schauen. Rechts reichte der Blick weiter hinunter, bis er sich in den Bäumen verlor. Von beiden Seiten führte ein schmaler, steiniger Weg bis zur Alpe. Ein tiefer Einschnitt in der Mitte gab den Blick bis ins Tal frei.

Ab und zu klopften Wanderer bei ihnen an und fragten nach einer Brotzeit. Aber da sie keine bewirtschaftete Alpe waren, schickten sie sie nach einem Glas Milch weiter zur nächsten Alpe. Quirin ertappte sich manchmal dabei, dass er den Austausch mit den Wanderern genoss, obwohl er gerade die Ruhe hier oben liebte. Bertl war ein stiller Geselle, der fleißig arbeiten konnte, aber nichts von Smalltalk und schon gar nicht von tiefgründigen Gesprächen hielt.

Während Quirin noch sein halbes Brot liegen hatte, sprang Bertl schon auf und wischte die Krumen von seinem Brett.

»Ich schaue nach der Milch. Ist bestimmt bald warm genug«, grummelte er.

Quirin nickte. Wie jeden Morgen waren sie mit den ersten Sonnenstrahlen aufgestanden und hatten die Milchkühe eingetrieben. Wobei die oft schon von selbst kamen, je höher die Sonne stieg. Dann suchten sie von ganz allein den schattigen Stall auf. Jedes Jahr hatten sie im Frühsommer die Schumpen der umliegenden Bauern auf die Alpe getrieben und ihre eigenen Milchkühe dazu. Dann war auf dem eigenen Hof mehr Ruhe und sie konnten hier oben den würzigen Bergkäse herstellen, während Theresia im Tal Emmentaler und Schnittkäse produzierte.

Nachdem sie am Morgen endlich alle Kühe gemolken hatten, musste die Milch in einem riesigen Bottich auf 33 Grad hochgeheizt werden. Bertl war jetzt gerade dabei, die speziellen Milchsäurekulturen beizumischen. Das würde sicher wieder einen kräftigen Bergkäse geben.

Quirin nahm den letzten Schluck Kaffee und schaute noch einmal ins Tal. Was seine Familie wohl machte? Er war sich nicht sicher, ob Theresia ihn vermisste, aber die Kinder sicherlich. Trotzdem war er froh gewesen, nicht zur Beerdigung seines Schwiegervaters hinuntersteigen zu müssen. Schließlich konnte Bertl nicht die ganze Arbeit allein erledigen. Und da war auch noch etwas anderes. Das Verhältnis zu Georg war nicht immer einfach gewesen. In letzter Zeit hatte Quirin sogar das Gefühl, dass Theresia in Georgs Fußstapfen trat. Sie wurde immer unzufriedener. An manchen Tagen konnte er kaum noch mit ihr sprechen, ohne dass sie gehetzt Anweisungen gab oder genervt mit dem Kopf schüttelte. Er wusste ja, dass sie viel zu viel zu tun hatte. Und vor allem, dass sie viel lieber etwas anderes machen wollte. Zum Beispiel eigene Käsesorten kreieren. Besondere Käse, die es noch nirgends gab. Und er verstand nicht, warum sie das nicht tat. Schließlich würde er ihr viel lieber noch mehr Arbeit abnehmen. Stattdessen kontrollierte sie alles und jeden auf dem Hof und schaffte dabei ihr Tagwerk kaum.

Genauso hatte er sich immer mit Georg gefühlt. Er war zwar auch auf einem Hof aufgewachsen, aber da gab es Hühner, Ziegen und Schafe. Das Braunvieh ging dem Georg über alles. Deshalb hatte er auch kein Vertrauen in Quirins Fähigkeiten. Aber er hatte sich doch wirklich schnell eingearbeitet und alles gemacht, was der alte Herr wollte. Trotzdem schien es nie genug gewesen zu sein. Obwohl er das auch nicht genau sagen konnte, da Georg ja lieber schwieg und ihn mit stechenden Augen musterte, als dass er irgendetwas gesagt hätte. Das hatte Quirin oft zur Weißglut gebracht.

Er seufzte. Widerstrebend riss er sich vom Talblick los und machte sich auf, dem Bertl zur Hand zu gehen. Schließlich musste jetzt bald die Gallerte mit der Harfe gebrochen werden. Später wollte er noch ins Tal, um den Einkauf zu erledigen. Bei der Gelegenheit konnte er bei Theresia anrufen. Hier oben war der Empfang miserabel.


Traudl

»Und? Geht’s dir jetzt besser, wo die Kinder auch noch aus dem Haus sind? Den Quirin hast du ja schon fortgetrieben.«

Nach dem schweigsamen Frühstück hatte sich Traudl wieder auf ihren Platz am Fenster gesetzt. Sie wollte noch ein bisschen verdauen, bevor sie sich auf den Weg zum Friedhof machte. Die Stille machte sie ganz wahnsinnig. Sonst hatten wenigstens die Kinder rumgeplappert, aber Theresia sagte schon seit ein paar Tagen nichts mehr. Nach dem Essen ging sie sofort in die Käserei oder verzog sich in ihr Zimmer. Angeblich, um sich um die Buchhaltung zu kümmern. Aber dafür hatten sie doch schon vor einiger Zeit einen Steuerberater beauftragt.

»So wie du immer den Vater? Oder was meinst du, Mutter?«, antwortete Theresia grantig, ohne vom Spülbecken aufzuschauen.

Traudl schnaubte. War ja klar, dass diese Antwort kam. Als ob sie den Quirin mit ihrem Vater vergleichen konnte. Der Quirin war ein ehrlicher und fleißiger Mann. Und dass er so ruhig war, machte ihn für Traudl noch sympathischer. Sie konnte keine Dummschwätzer leiden, die sich den ganzen Tag lang aufbliesen. Dann lieber einen, der nur was sagte, wenn es etwas zu sagen gab.

»Ach was, dein Vater war schon immer im Sommer auf der Alpe gewesen. Aber dass der Quirin ohne mit der Wimper zu zucken noch am selben Tag raufgestiegen ist, war doch schon komisch. Habt ihr euch überhaupt verabschiedet?«, hakte Traudl nach und drehte dabei den Kopf ganz leicht in Theresias Richtung. Sie wollte die Reaktion ihrer Tochter sehen.

Theresia hielt kurz inne, schaute aber nicht auf. Sie atmete hörbar ein und aus.

»Wer hätte es denn sonst tun sollen? Hätte ich hochgehen sollen, oder was? Wir können den Bertl ja schlecht alleine lassen.«

»Ich mein ja nur. Ihr werdet euch ja in den nächsten Tagen bis zum Viehscheid nicht sehen. Und von den Kindern hat er sich verabschiedet. Weiß ja nicht, was bei euch so los ist ...«

Theresia pfefferte den Schwamm ins Spülbecken und fuhr herum.

»Was soll denn bei uns los sein, hä? Was stellst du denn für dumme Fragen? Wir haben den ganzen Tag nur Stress, der Vater stirbt, was noch mehr Stress bedeutet und du machst dir Gedanken um unser Eheleben?«

Einige Haarsträhnen rutschten aus Theresias Haarknoten. Schnell löste sie den Gummi und drehte sich die Haare wieder am Hinterkopf zusammen.

»Ich verstehe dich nicht, Mutter! Du hast doch das gleiche Leben geführt, wie ich es jetzt führe. Was ist denn bei mir so falsch daran? Ihr wolltet doch, dass ich den Hof übernehme.«

Traudl wiegte den Kopf hin und her.

»Ja, das wollten wir. Damit wenigstens ein Kind auf dem Hof bleibt. Ich denke ja nur, dass du den Quirin besser behandeln musst, sonst ...«

Sie ließ den Rest des Satzes offen. Was hätte sie auch sagen sollen? Sonst geht es dir wie mir? Und dann?

»Sonst was?«, hakte Theresia irritiert nach.

»Ach nichts, ist schon gut.«

Traudl schaute auf die Uhr.

»Wird Zeit, dass du in die Käserei kommst, sonst muss die Bille wieder alleine anfangen.«

Theresia sah ihre Mutter verständnislos an und schüttelte mit dem Kopf. Ohne ein Wort zu sagen, verließ sie die Küche.

Als Traudl einige Zeit später am Grab ihres Mannes ankam, rann ihr der Schweiß am Rücken hinunter. Ungläubig schaute sie auf den noch immer im Gras stehenden Stuhl und zog ihn ein Stück näher an das welkende Blumenmeer heran. Sie hatte es bisher nicht übers Herz gebracht, den großen Kranz zu entsorgen. Langsam wurde es wohl Zeit dafür.

Während sie sich sitzend erholte, ließ sie ihren Blick schweifen. Leider war weit und breit niemand zu sehen, der sie hätte wahrnehmen können. Vielleicht sollte sie ihren Friedhofsbesuch doch besser auf den Abend verlagern. Wobei sie sich nicht vorstellen konnte, dass die anderen alten Damen erst so spät zum Gießen kämen. Schließlich hatten die ja auch den ganzen Tag lang nichts zu tun. Vielleicht war sie heute einfach zu spät dran.

Mürrisch schaute sie auf das kleine Bild ihres Mannes, das den Grabstein zierte. Theresia hatte darauf bestanden, es in den Schriftzug zu integrieren. Ihr selbst hätte der Namenszug gereicht. Schließlich würde sie ja auch irgendwann dort liegen und hatte nicht das Bedürfnis, als schlechte Kopie auf dem Grabstein zu erscheinen.

»Diese Stille macht mich ganz wahnsinnig, weißt du das?«, begann sie schließlich doch, sich mit Schorsch zu unterhalten.

»Die Kinder sind bei Clara und die Resi sagt kein Wort. Überhaupt ist die Resi nur am Schuften. Aber das kennst du ja noch. Trotzdem wird sie immer mürrischer, fast schon wie du. Man merkt eben, wer der Vater ist.«

Traudl rutschte auf dem Stuhl hin und her, bis sie eine bessere Sitzposition gefunden hatte.

»Und? Hast du mal drüber nachgedacht, was ich jetzt machen soll - apropos Vater? Du kannst mir doch irgendein Zeichen geben von da oben. Schick mir ein Gewitter, wenn ich es erzählen soll. Aber heute noch, sonst weiß ich nicht, ob es von dir ist. Wenn nicht, dann habe ich mir was überlegt. Vielleicht sollte ich die Lenerl ausfindig machen. Ja, da staunst du, was? Das würde ich machen, wenn ich wüsste, wie ich das anstellen sollte.«

Sie kaute eine Weile auf ihrer Lippe herum. Dann stand sie so plötzlich auf, dass die Vögel in den Baumkronen davonflogen.

»Aber ich weiß nicht, ob es gut ist. Was soll das bringen? Kannst du mir wenigstens die Frage beantworten? Ach nein, der Herr war sich ja schon immer zu fein, wenn es schwierig wurde. Da musste ich die Entscheidungen treffen, stimmt ja.«

Traudl klappten den Stuhl zusammen und legte ihn unauffällig ins Gras. Sie hoffte, dass er so weniger wahrgenommen würde und sie ihn auch weiterhin nutzen konnte. Schließlich konnte es ja sein, dass ihn irgendwann jemand wegschnappen oder aufräumen wollte.

Als sie schon auf dem Weg zum Ausgang war, drehte sie sich noch einmal um.

»Schorsch, ich nehme dir das echt übel! Lässt mich mit den Sorgen hier allein. Denk an das Gewitter! Wenigstens das kannst du noch für mich tun.«

Die Drehung zurück wurde Traudl zum Verhängnis. Sie übersah die Wurzel einer großen Fichte, die sich aus dem Erdreich gewunden hatte und quer über den Weg verlief. Schon im Fallen tauchte nur ein einziger Gedanke auf: Das hat der Schorsch mit Absicht gemacht! Und dann kam der Schmerz.


Theresia

Mit einem kleinen Weidenkörbchen in der Hand schlenderte Theresia durch ihren Kräutergarten. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass sie nur hier sie selbst sein konnte.

Den halben Vormittag hatten Bille, Hannah und sie die Milch der Bauern verarbeitet. Eigentlich eine Männerarbeit, aber es gab nun mal im Moment keine Männer hier. Glücklicherweise hatte sich Hannah bereit erklärt, die Kinder bei ihrer Mutter zu lassen und in den nächsten Tagen Vollzeit arbeiten zu kommen. Nach dem Wochenende war der Quirin wieder da und alles ging hoffentlich wieder seinen gewohnten Gang.

Immer wieder musste Theresia an die Warnung ihrer Mutter denken. Was sie wohl damit gemeint haben könnte, dass sie Quirin besser behandeln sollte? Hatte ihre Mutter ihren Vater schlecht behandelt? Aber warum? Gut, sie konnte es sich schon vorstellen, schließlich hatte sie an allem rumzumeckern und war zu niemandem wirklich nett. Aber sollte das Konsequenzen gehabt haben? War ihr Vater deshalb so ruhig und in sich gekehrt gewesen? Was konnte denn der Auslöser gewesen sein?

Theresia schüttelte die Gedanken ab. Das brachte jetzt auch nichts, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Allerdings wollte sie ihre Mutter nicht noch einmal danach fragen. Sie wusste selbst, dass ihre Ehe nicht zum Besten stand. Aber wie auch? Sie hatten ja kaum Zeit füreinander. Da waren die Kühe, die Käserei, die Senneralpe und natürlich der Hof und die Kinder. Im Grunde war sie sehr froh gewesen, als Clara ihr angeboten hatte, die Kinder mit nach Berlin zu nehmen. Sonst wären die beiden wieder nicht vom Hof gekommen. So war es ihnen damals in ihrer Kindheit auch gegangen. Nur dass Clara und Ferdinand wenigstens zu ihren Freunden durften. Im Gegensatz zu ihr. Sie musste immer erst die Arbeit erledigen.

Theresia hob den Kopf und schaute über ihren Kräutergarten hinweg ins Tal. Wo hätte sie auch hingehen sollen? So richtig gute Freundinnen gab es für sie nicht. Sie hatte sich in der Schule mit einigen angefreundet, aber je älter sie wurden, umso mehr ging es darum, auch mal nach Sonthofen zu fahren oder noch weiter weg. Die Mädels brauchten das ab und zu. Auch Theresia wäre gern mal dabei gewesen. Shoppen, Eis essen, ins Kino gehen, das hätte ihr gut getan. Hatte sie sich auch an jedem Geburtstag gewünscht. Aber es wurde nie etwas daraus. Und die Freundinnen wurden immer weniger. Schon damals hatte Theresia nicht verstehen können, warum ihr Leben so vorbestimmt war, wohingegen Clara die Welt erobern konnte.

Traurig setzte sie sich auf den alten Holzstuhl, der zwischen Lavendel und Schafgarbe stand.

Und dann hatte sie Quirin auf einem Dorffest kennengelernt. Er war mit ein paar Freunden zufällig beim Burgberger Dorffest gelandet und Theresia sofort aufgefallen. Ihrer Meinung nach konnte sich auf der Tanzfläche niemand so gut bewegen wie er. Immer wieder schaute sie ihm gebannt zu, wie er den Takt der Musik zu genießen schien.

Obwohl sie schon damals das Gefühl hatte, dass er ein zurückhaltender Mensch war, hatte er eine Art an sich, die sie magisch anzog. Mit einer Schulkameradin war sie in die Nähe von Quirin und seinen Freunden geschlendert und ihre Freundin hatte ein zwangloses Gespräch begonnen. Da der Alkoholpegel schon recht hoch war, nahmen die jungen Männer die beiden Freundinnen direkt in ihre Mitte und drängten sie auf die Tanzfläche. Theresia hatte sich auf der Tanzbühne schon immer unwohl gefühlt. Sofort hatte sie das Gefühl, von allen angestarrt zu werden. Wie ein Fremdkörper bewegte sie sich zwischen den grölenden Massen, bis sie sanft am Arm berührt wurde und Quirin sie lächelnd mit sich zog. Mit einem Mal war Theresia der Rest der Welt egal. Erst dachte sie, dass er mit ihr die Tanzbühne verlassen wollte, aber stattdessen nahm er sie in den Arm und drehte eine Tanzrunde nach der anderen mit ihr. Theresia wurde schwindelig. Nur konnte sie nicht sagen, ob es an den Drehungen oder ihren Gefühlen lag. Später tranken sie ein Bier zusammen und noch später brachte er Theresia nach Hause. Noch nie hatte sie sich gewünscht, dass der Weg zum Hof unendlich lang wäre. Sonst verfluchte sie die weite Strecke den Berg hinauf. Aber an diesem Abend wäre sie ewig so weiter gelaufen.

Erst als sie an der Einfahrt ankamen, fiel ihr auf, wie spät es schon war. In der Küche brannte noch Licht, was bedeutete, dass ihre Mutter auf sie wartete. Schnell verabschiedete sie sich von Quirin, ohne ihn zu küssen. Und eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass er sich nie wieder melden würde. Aber am nächsten Tag, einem Sonntag, stand er mit Blumen vor der Tür. Theresia hatte damals nicht gewusst, was sie sagen sollte, bis ihre Mutter ihn hereinbat und Kaffee und Kuchen servierte. Und seitdem gehörte Quirin zur Familie. Auch wenn sie noch immer die Schmetterlinge spürte, wenn sie an damals dachte, kam trotzdem die Wehmut auf. Gerne hätte sie die Phase der Verliebtheit hinausgezogen, länger genossen. Wie so vieles in ihrem Leben nahm auch ihre Beziehung einen ordentlichen und vorgezeichneten Weg. Und Theresia hatte es zugelassen. Schon deshalb, weil sie Quirin nicht verlieren wollte. Ihm schien die Normalität in ihrer Beziehung nichts auszumachen. Also, warum sollte sie ihm jetzt etwas ausmachen? Warum sollte Theresia nach Traudls Meinung auf den Quirin aufpassen? Was sollte schon passieren?

Theresia raffte sich auf. Ihr Rücken schmerzte und das seit Tagen anhaltende Kopfweh ließ sich einfach nicht mehr ignorieren. Ich muss mehr schlafen, dachte sie. Sie strich mit den Fingern zwischen den Lavendelblüten, die sie in diesem Jahr schon ein zweites Mal beglückten, hindurch. Genüsslich atmete sie den würzigen Duft ein und ein Lächeln legte sich über ihr Gesicht. Immer wenn sie Sorgen hatte, nachdenken musste oder einfach nur ein paar Minuten allein sein wollte, suchte sie ihren Kräutergarten auf. Es hatte sie einiges an Überredungskunst gekostet, bis ihr Vater eingewilligt hatte, das kleine Stück Garten hinter dem Wohnhaus herzugeben. Als ob sie nicht genug Land hatten. Aber natürlich steckte hinter seinem Zögern Theresias Idee, Kräuter für neue Käsesorten anzupflanzen. In vielen anderen Käsereien waren sie schon darauf gekommen, dass die Kunden für ausgefallene Käsesorten offen waren. Nur ihr Vater wollte lieber bei seinen eingetretenen Pfaden bleiben. Emmentaler, Bergkäse und einfacher Schnittkäse taten es auch. Dabei wollte sie das vorhandene Sortiment doch gar nicht abschaffen, nur hier und da etwas Neues ausprobieren.

Theresia schaute zum Himmel.

»Entschuldige, Papa, aber ich muss das jetzt machen. Du wirst sehen, die Leute werden uns die neuen Sorten aus der Kühltheke reißen. Und wenn alles gut läuft, werde ich auch mit einem Onlineshop starten. Wie oft fragen die Kunden danach! Und warum sollen sie nach einem Urlaub nicht die Möglichkeit bekommen, trotzdem noch unsere Spezialitäten genießen zu können? Alles besser, bevor sie wieder im Supermarkt das abgepackte Zeug essen müssen.«

Entschlossen zog sie eine kleine Schere aus der hinteren Hosentasche und beugte sich über den Lavendel. Heute wollte sie eine Mischung aus den lilafarbenen Blüten und den zarten rosafarbenen Blättern einer Teerose probieren. Schon wenn sie daran dachte, explodierten Duftwolken in ihrer Nase. Sie war sich sicher, dass diese Kreation auch im Käse zu schmecken war. Sie hatte sich dafür extra ein paar Heumilchkäse mit Rotschmiere zur Seite gelegt. Voller Vorfreude nahm sie das kleine Körbchen wie einen Schatz auf und presste ihn an ihre Brust. Sie konnte es kaum erwarten, die Blüten zu einer feinen Mischung zu verarbeiten. Lächelnd trat sie aus dem Kräutergarten und ging um das Wohnhaus herum. Aus den Augenwinkeln nahm sie eine wankende Gestalt wahr.

»Mutter? Was ist passiert?«

Entsetzt ließ sie ihr Körbchen fallen und rannte quer über den Hof auf ihre Mutter zu.


Clara

Als Mia und Linus in ihren Betten lagen und lasen oder Musik hörten, gesellte sich Clara zu Bertram auf die Terrasse.

»Theresias Kinder sind viel zu brav«, begann sie nachdenklich. Bertram hatte ihr ein Glas Rotwein in die Hand gedrückt und Clara nippte kurz daran.

»Zu brav? Wie meinst du das?«, fragte Bertram.

»Na ja, sie wirken nicht so frei wie andere Kinder in ihrem Alter. Mia könnte doch schon heftig pubertieren, aber sie nimmt jede Veränderung hin und macht alles mit, was wir vorschlagen. Das erinnert mich stark an ihre Mutter.«

Clara griff in die Box mit den Salzstangen. Knabbernd schaute sie über den wunderschönen Garten Richtung Bodden.

Als Bertram vor ein paar Tagen bei seiner Schwester Anne angerufen hatte, war sie hocherfreut über ihren Besuch gewesen. Anne hatte ein kleines Häuschen in Bliesenrade auf dem Darß geerbt. Da sie mit ihrem Mann Raul und zwei Kindern ein Haus in Ahrenshoop bewohnte, hatte sie sich entschlossen, das kleine Darßhaus für Veranstaltungen zur Verfügung zu stellen. Und natürlich durfte die Verwandtschaft auf Besuch darin wohnen. So hatten Bertram und Clara schon einige erholsame Urlaube oder Wochenenden hier verbracht. Umso mehr freute es sie, dass es auch diesmal geklappt hatte.

Clara riss ihren Blick von dem verschlafenen Bodden los. Der Himmel hatte sich über dem Meer, dass hinter dem Wäldchen lag, rot eingefärbt und die Vögel zwitscherten lauthals ihr Abendkonzert.

»Theresia war als Kind auch oft verschlossen gewesen«, sprach sie weiter. »Manchmal waren wir die dicksten Freundinnen, aber dann legte sich wieder ein trauriger Schleier über ihr Gesicht. In solchen Momenten kam ich einfach nicht an sie heran. Natürlich kann das alles damit zusammenhängen, dass ich anders behandelt wurde. Aber was hätte ich denn als Kind tun sollen? Meinen Eltern sagen, dass sie mich jetzt auch so hart rannehmen sollen?«

Clara wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Seit dem Tod ihres Vaters machte sie sich wieder viel mehr Gedanken um ihre Familie. Und sie spürte, dass ihr das nicht guttat. Im Grunde war sie froh gewesen, dass sie so ein freies Leben hatte führen können. Sie wollte schon immer die Welt erobern, fremde Länder sehen, Menschen kennenlernen und sich irgendwo etwas Eigenes aufbauen. Nur nicht auf dem Bauernhof bleiben. Obwohl sie es sich nicht erklären konnte, hatte sie sich nur in Gegenwart ihres Vaters richtig wohlgefühlt. Wenn sie jetzt so darüber nachdachte, kam ihr das sehr seltsam vor, da sie ja kaum miteinander sprachen. Aber irgendetwas hatte in seinem Blick gelegen, das in ihr ein Gefühl der Geborgenheit hervorrief.

Wieder glitten ihre Gedanken zu Theresia. Hatte sie ihre Schwester über ihre eigenen Lebensideen vergessen, sie im Stich gelassen?

»Wie hättest du Theresia denn helfen wollen?«, fragte Bertram leise nach. Dabei legte er Claras Hand in seine und fuhr mit seinem Daumen kleine Kreise über ihren Handrücken.

Clara schloss kurz die Augen. Was hatte sie nur für ein Glück mit diesem Mann! Sie lächelte Bertram an.

»Lass uns vor ans Wasser gehen«, sagte sie und zog Bertram von seinem Stuhl hoch. »Der Garten duftet einfach so herrlich. Und dann die salzige Luft und die kühle Brise am Bodden. Ich könnte ewig hierbleiben.«

Als sie durch das Blumenparadies schritten, musste Clara daran denken, wie Anne es geschafft hatte, innerhalb von ein paar Monaten aus einer öden Wiese so eine Blütenpracht zu schaffen. Sie erinnerte sich an die Hochzeit von Annes Freundin Caro, die mittlerweile mit ihrem Mann Johannes einen kleinen Sohn hatte. Und auch Stine, die dritte Freundin im Bunde, erwartete Nachwuchs. Sie und Ben durften sich auf Zwillinge freuen. Da Stine seit einiger Zeit Hilfe in ihrem kleinen Büchercafé in Ahrenshoop hatte, trübte nichts mehr die Vorfreude auf das Familienglück. Clara freute sich schon darauf, am nächsten Tag alle wiederzusehen und bei einem ausgedehnten Brunch Neuigkeiten auszutauschen.

»Ich mache mir Sorgen um Theresia«, sagte Clara, als sie an Bertram gelehnt über den dunkler werdenden Bodden schaute. »Sie wirkt immer unzufriedener. Und rausgeworfen hat sie mich auch noch nie.«

»Vielleicht wollte sie wirklich einfach mehr Ruhe haben, schließlich war gerade euer Vater gestorben und Quirin musste auf den Berg«, gab Bertram zu bedenken. Er legte seine Arme beschützend um Claras zierlichen Körper.

Clara nickte vage.

»Trotzdem hat mich irgendwas an ihr irritiert. Ich habe sie noch nie so dünnhäutig erlebt. Und mit Quirin scheint es auch nicht so gut zu laufen. Sie hat ihn kaum erwähnt in der ganzen Zeit. Vielleicht hatte sie sich doch gewünscht, dass er wenigstens zur Beerdigung kommt?«

»Das war doch aber alles so abgesprochen. Bertl sollte nicht allein auf dem Berg sein. Schließlich war dein Vater ja gerade erst da oben zusammengebrochen. Ich glaube, dass Quirin einfach Angst hatte, dass so etwas wieder passieren könnte. Und dann wäre niemand da gewesen.«

Wieder nickte Clara.

»Du hast wahrscheinlich recht. So, und jetzt genießen wir unseren Urlaub! Ich nehme mir fest vor, noch einmal mit Theresia zu sprechen, wenn ich die Kinder nach Hause bringe. Vielleicht geht es ihr dann auch schon besser.«

Lächelnd drehte sich Clara Bertram zu und legte ihre Arme um seinen Hals. Sie sah, wie seine ganze Liebe in seinem Blick lag. Um nichts in der Welt würde sie diesen Mann wieder hergeben. Langsam schob sie sich auf Zehenspitzen und legte ihre Lippen auf seine. In diesen Momenten vergaß sie alle Probleme ringsherum.


Quirin

Der harte Arbeitsalltag tat Quirin gut. Er liebte es, Hand in Hand mit anderen zu arbeiten, ohne groß herumzureden. Und das konnte er mit Bertl hervorragend.

Sie hatten heute den letzten Käse hergestellt und zum Pressen abgefüllt. In zwanzig Stunden würden auch diese Laibe nach einem Salzbad zur Reifung auf die Holzbretter kommen. Quirin hatte das gute Gefühl, dass auch dieser Bergkäse seinem Namen wieder alle Ehre machen würde.

Schon in ein paar Tagen stand der Viehscheid an. Dann war es vorbei mit der Ruhe. Das Braunvieh würde mit einigen Helfern ins Tal getrieben und der Käse mit der Seilbahn hinunter und zur Käserei transportiert werden.

Lange hatten Quirin und Bertl überlegt, ob sie eine Kuh mit einem Kranz schmücken sollten. Schließlich führt die Kranzkuh die Herde ins Tal zum Viehscheid an. Aber eben nur dann, wenn es in dem Sommer keine Verluste zu beklagen gab. Braunvieh war keines zu Schaden gekommen, aber der Schorsch hatte sein Leben gelassen. Letztendlich hatten sie sich dafür entschieden, es durchzuziehen, da es dem Schorsch sicher gefallen hätte.

Nun saß der Bertl in der Küche und arbeitete an dem aufwändigen Kopfschmuck aus Zweigen, Blüten, Gräsern und Bändern.

Quirin war noch einmal vor die Hütte getreten und schaute ins Tal hinab. Zweimal war er in den letzten Tagen ein Stück abgestiegen, um mit Theresia zu telefonieren. Aber nie hatte er sie erwischt. Allmählich beunruhigte es ihn, dass weder Traudl noch die Kinder abnahmen. Sicher hatte Theresia viel zu tun, aber irgendjemand sollte doch in der Nähe des Telefons sein.

Allmählich kroch die Dunkelheit über die Wiesen. Der Blick ins Tal wurde diffuser. Sollte er noch einmal hinabsteigen und probieren, seine Frau zu erreichen? Allerdings müsste er dann im Dunkeln wieder rauf, und das gefiel ihm gar nicht.

Quirin versuchte, sich vorzustellen, was wohl gerade zu Hause los sein könnte. Wahrscheinlich saßen sie alle in der Küche, Theresia hatte das Abendbrot bereitet, die Kindern plauderten durcheinander und Traudl meckerte an allem herum. Er lächelte bei diesem Gedanken. Auch wenn Familienidylle anders aussah, ihm gefiel die Vorstellung, bald wieder dabei zu sein.

Ein Seufzer entfuhr ihm. Nur Theresia machte ihm Sorgen. Er konnte nicht genau sagen, woran es lag. Sie war ja schon immer recht in sich gekehrt. Aber in den letzten Monaten, oder waren es schon Jahre, war sie immer ruhiger geworden. Als würde sie nur noch funktionieren. Als würde ihr etwas fehlen. Aber was? Sie waren doch glücklich miteinander, hatten zwei tolle Kinder und mit der Käserei ein gutes Auskommen. Natürlich war die Arbeit auf dem Bauernhof und in der Käserei schwer. Aber das hatte sie doch gewusst, schließlich hatten schon ihre Eltern so gelebt. Und sie selbst hatte sich für dieses Leben entschieden. Quirin hätte es auch eine Nummer kleiner gereicht. Ziegen statt Kühe, die Milch an eine externe Käserei geben, statt Käse selbst zu produzieren.

Wenn er es sich jetzt so recht überlegte, hatten sie nie wirklich darüber gesprochen. Alles sollte so laufen und dann lief es eben auch so. Aber hätte Theresia nicht irgendetwas gesagt, wenn sie das alles nicht gewollt hätte? Wie oft hatte sie sich über Clara beschwert, die in der Weltgeschichte herumgereist war. Das konnte es also nicht sein, das Theresia lieber gemacht hätte. Und auch dass Ferdinand nach Bremen gegangen war, um Meeresbiologie zu studieren, konnte sie nicht nachvollziehen. Im Grunde hatte Quirin immer wieder Schorsch und Traudl aus Theresias Worten herausgehört. Deshalb hatte er auch angenommen, dass sie mit ihrem Leben zufrieden war. Nur wirkte sie alles andere als das.

Quirin schüttelte den Kopf, um die Gedanken loszuwerden. Vielleicht dachte er ja einfach zuviel darüber nach und eigentlich war gar nichts dran an seiner Theorie. Sicher war Theresia einfach überlastet. Vielleicht konnte er sie nach dem Viehscheid mit einem kurzen Urlaub überraschen. Dann müsste allerdings jemand auf dem Hof nach dem Vieh sehen. Der Schorsch war ja nun nicht mehr da. Eventuell konnte jemand von den benachbarten Höfen aushelfen. Bille konnte sicher ein paar Tage die Käserei übernehmen.

Froh über diese Idee, gesellte sich Quirin wieder zu Bertl und schaute ihm beim Flechten des Kranzes zu.


Traudl

Kopfschüttelnd starrte Traudl auf den Mann im weißen Kittel, der neben ihrem Bett stand und geduldig auf sie einredete.

»Nein, nein und nochmals nein!«, wiederholte Traudl immer wieder.

»Aber Sie können mit einem gebrochenen Handgelenk zuhause überhaupt nichts ausrichten«, versuchte es der Arzt erneut.

»Da ist meine Tochter, die wird sich schon um mich kümmern«, beharrte Traudl auf ihrer Meinung.

»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, ist im Moment sonst aus der Familie niemand weiter da und Ihre Tochter hat mit dem Hof genug zu tun. Aber gut, es ist Ihre Entscheidung. Ich kann Sie nicht aufhalten. Die Schwester macht Ihnen dann den Entlassungsschein auf Ihre eigene Verantwortung fertig.«

Damit rauschte der Arzt aus dem Zimmer.

Traudl ärgerte sich, dass sie gestern so redselig gewesen war und aus ihrem Leben geplaudert hatte. Eigentlich hatte sie ja nur ein bisschen Mitleid erhaschen wollen. Schließlich war ihr Mann vor Kurzem gestorben, der Schwiegersohn auf der Alpe, die Kinder in den Ferien und nur ihre schweigende Tochter zuhause. Wenn sie es sich recht überlegte, waren das wirklich keine guten Aussichten, um sich selbst aus dem Krankenhaus zu entlassen. Aber hier wurde sie noch richtig krank. Sie hatte es noch nie leiden können, diese sterilen Häuser zu betreten. Alles roch nach Desinfektionsmitteln, Krankheit, Einsamkeit und auf manchen Stationen auch nach Tod. Das hielt sie einfach nicht mehr aus.

Nachdem sie auf dem Friedhof die Baumwurzel übersehen und einen filmreifen Sturz hingelegt hatte, war sie eine Weile liegen geblieben und hatte darauf gewartet, zu ihrem Schorsch in den Himmel aufzusteigen. Die Schmerzen hatten ihr den Atem genommen. Keuchend lag sie wie ein Käfer auf dem Rücken und hatte die Blätter über sich betrachtet. Aber nachdem sie nach einer Weile feststellen musste, dass das gleißende Licht am Ende des Tunnels, von dem die Nahtoderfahrenen erzählten, einfach nur die Sonne war, die sie blendete, versuchte sie doch wieder auf die Beine zu kommen. Leider ging das nur, indem sie sich über die linke Seite rollte, denn rechts schaute ein Knochen aus ihrem Arm. Der Schreck über die Missbildung ihres Unterarms fuhr ihr tief in die Glieder. Sie schrie um Hilfe, aber nichts rührte sich. Klar, sie hatte ja schon vorher festgestellt, dass sich niemand sonst auf dem Friedhof befand.

Fluchend schaffte sie es, sich hinzusetzen und an den Baum zu lehnen. Die Beine schienen in Ordnung zu sein, nur im Gesicht klebte Blut. Von wo das kam, konnte sie nicht so genau sagen.

»Da hast du mich ja wieder in eine schöne Lage gebracht, Schorsch! Ist das deine Art, mir ein Zeichen zu geben? Wenn du schon nicht mehr da sein kannst, soll ich auch hinübergehen, oder was?«

So brabbelte sie noch eine ganze Weile vor sich hin, bis ihr klar wurde, dass ihr hier niemand helfen würde. Denen war ja selbst nicht mehr zu helfen.

Traudl rappelte sich auf, was eine ganze Zeit in Anspruch nahm, weil sie nur die eine Hand zum Abstützen benutzen konnte. Als sie endlich stand, hielt sie sich noch einen Moment am Stamm der Kastanie fest und probierte dann die ersten Schritte Richtung Ausgang.

Sie konnte nicht mehr genau sagen, wie sie nach Hause gekommen war. Den verletzten Arm hielt sie mit der anderen Hand fest und wunderte sich immer wieder, dass sich der Schmerz in Grenzen hielt. Später sagte der Arzt dazu, dass sie wohl noch unter Schock gestanden haben musste.

Erst als Theresia endlich auf sie aufmerksam geworden war, wurde ihr schwarz vor Augen. Und dann war sie im Krankenhaus aufgewacht und musste sich nun mit einem schweren Gipsarm abmühen.

Theresia war seitdem jeden Tag ins Krankenhaus gekommen, hatte ihr Käse und Süßes gebracht und war nach einer knappen halben Stunde wieder abgerauscht. Gesprochen hatten sie in der Zeit auch kaum. Nur belanglose Sachen über den Hof. Den Kindern ging es gut bei Clara und von Quirin hatte sie nichts mehr gehört. Aber der würde ja am Wochenende endlich wieder ins Tal und nach Hause kommen.

Zweimal war Traudl nahe dran gewesen, Theresia ins Gewissen zu reden. Sie hätte es doch selbst probieren können, den Quirin mal anzurufen. Nachher war der gar nicht auf der Alpe. Aber das konnte sie ihrer Tochter nicht so sagen, sonst fing sie noch an, Fragen zu stellen.

Ach, wie es Traudl drehte und wendete, sie kam keinen Schritt weiter. Es war aber auch zu dumm, dass diese ganze Geschichte jetzt an ihr hängen blieb. Sie musste wieder mal eine Entscheidung treffen, die sie nicht treffen wollte.

Traudl kaute an ihrer Unterlippe. Die Schwester hatte mittlerweile bei Theresia angerufen, damit sie sie endlich abholen kam. Das Entlassungsprotokoll hatte sie mit der linken Hand unterschrieben, was gruselig aussah und keinerlei Ähnlichkeit mit ihrer Unterschrift hatte. Vielleicht war das aber auch ganz gut so, denn wenn man dem Inhalt des Protokolls glauben wollte, würde sie, sobald sie das Krankenhaus verließ, sterben. Jedenfalls hatten die drohenden Sätze so auf sie gewirkt. Traudl wusste natürlich, dass sich die Ärzte damit nur absichern wollten, aber sie fand es dennoch befremdlich.

Endlich öffnete sich die Tür und Theresia trat verschwitzt herein. »Du entlässt dich selbst? Warum?«, fragte sie, ohne ihre Mutter zu begrüßen.

»Ich wünsche dir auch einen schönen Tag«, antwortete Traudl beleidigt. »Meine Hand pflegen kann ich auch zuhause, dafür muss ich nicht hier herumliegen.«

»Du deine Hand schon, aber wer soll dich pflegen?«, fragte Theresia gereizt.

»Ach Resi, du natürlich! Du bist doch da! Und was brauche ich schon den ganzen Tag? Was zu essen und sonst nichts.«

»Du sollst nicht mehr Resi zu mir sagen«, knurrte Theresia und packte Traudls Sachen in ihre Tasche. »Und wer zieht dich abends aus und morgens an? Wer geht mit dir aufs Klo? Wer hilft dir beim Schuhe zubinden? Kannst du das plötzlich alles mit einer Hand und dann auch noch mit links?«

Traudl setzte sich in ihrem Bett auf und schwang die Beine über die Bettkante. »Ich kann mir ja auch Hilfe von der Krankenkasse holen, wenn das meine eigene Tochter nicht schafft«, sagte sie verschnupft.

»Ist schon klar, Mutter. Und du stellst natürlich auch den Antrag bei der Krankenkasse und die haben auch sofort jemanden da, den sie dir noch heute Abend schicken.«

Theresia half ihrer Mutter aus dem Bett und dabei, das Nachthemd aus- und frische Sachen anzuziehen. Beide Frauen sprachen bei der Zeremonie kein Wort.

Auch auf dem Nachhauseweg blieb es ruhig im Auto.

»Wann gibt es Abendbrot?«, brach Traudl schließlich das Schweigen, als sie sich in der Küche ächzend auf ihren Lieblingsstuhl am Fenster fallen ließ.

»Ich muss erst noch kurz in die Käserei, schließlich war Bille den halben Nachmittag allein mit der Arbeit«, sagte Theresia. Sie schaute auf die Uhr. »Es ist noch nicht mal sechs«, murmelte sie. Trotzdem holte sie einen Teller und eine Gabel aus dem Schrank, legte zwei Scheiben Brot, Käsewürfel und Cocktailtomaten dazu und goss ein Glas Apfelschorle ein. Dann stellte sie alles auf den Tisch. Traudl hatte sich in der ganzen Zeit nicht gerührt.

Da keine Reaktion ihrer Mutter kam, ging Theresia zur Tür. Unschlüssig drehte sie sich noch einmal um.

»Ähm, brauchst du noch irgendwas?«, fragte sie schließlich.

Als Traudl huldvoll den Kopf schüttelte, eilte Theresia hinaus.


Theresia

Fröstelnd schnappte sich Theresia ihre uralte Strickjacke vom Haken. Obwohl es draußen immer noch mild war, durchfuhr sie ein Schauer. Wie sollte das bloß alles werden? Wie sollte sie die nächsten Tage überstehen? Allein mit ihrer Mutter, die auf ihre Hilfe angewiesen war. Allein mit der Verantwortung für die Käserei und den Laden. Allein mit ihren unerfüllten Träumen.

Seit Tagen hatte sie einen großen Bogen um die vertrockneten Blüten im Hof gemacht. Jetzt war sie doch daran vorbei gelaufen. Lilafarbene Lavendelblüten, die schon grau schimmerten und welke Rosenblüten lagen verstreut auf dem Boden. Sie konnte sich kaum noch daran erinnern, mit welcher Vorfreude sie die Blüten gepflückt hatte. Vielleicht sollte es ja alles nicht sein? Wahrscheinlich sollte sie beim Anblick ihrer Mutter daran erinnert werden, dass es hier um wichtigere Dinge ging als um die Veredelung eines Käses, der den Menschen auch ohne Blüten schmeckte.

Immer wieder tauchte vor ihrem inneren Auge das Bild auf, als sie ihre Mutter blutverschmiert und kraftlos an der Hofeinfahrt sitzen sah. Wie lange sie dort schon auf ihre Hilfe gewartet hatte, konnte Theresia nicht sagen. Aber das schlechte Gewissen, nicht gespürt zu haben, dass ihrer Mutter etwas zugestoßen war, nagte ständig an ihr. Stattdessen hatte sie sich ihren idiotischen Träumen hingegeben, den besten Käse der Gegend herzustellen. Mit Kräutern und Schmieren zu experimentieren, was noch keiner gewagt hatte. Sie hatte dafür extra Reportagen aus Frankreich und der Schweiz angeschaut, bei denen über solche Käsekünstler berichtet wurde. Immer und immer wieder hatte sie andächtig den Ideen ihrer Kollegen gelauscht und die einzelnen Handgriffe nachvollzogen. Ob es nun um den Käse oder die verschiedenen Kräuter ging, all das, was diese Menschen produzierten, war für sie Kunst, nicht nur Käserei.

Das sollte wohl nicht sein. Wer war sie schon, dass sie sich mit diesen Käsern messen wollte! Hier ging es darum, die Familie zu ernähren und den Hof zu erhalten. Wie wichtig das war, wurde ihr beim Anblick ihrer Mutter wieder einmal bewusst. Den Vater hatte sie nun schon verloren, die Mutter ins Krankenhaus gebracht, die Kinder genossen ihren Urlaub, den sie eigentlich gemeinsam verbringen sollten, mit ihrer Tante und ihr Ehemann musste die Stellung auf der Alpe halten. Also, wie kam sie auf die hirnrissige Idee, auszubrechen und sich um ihre Wünsche zu kümmern? Da musste sie wohl auf das nächste Leben warten, in diesem war kein Platz dafür.

Unendlich müde nahm sie den alten Besen zur Hand und fegte die Blüten zur Seite. Eine Träne stahl sich in ihren Augenwinkel. Sie versuchte sie wegzuzwinkern, aber die nächsten drückten schon nach. Unwirsch fuhr sie sich mit dem Ärmel ihrer Strickjacke über die Augen. Weinen konnte sie, wenn gar nichts mehr ging. Noch war sie schließlich in der Lage, alles zu meistern.

Als sie endlich die Käserei betrat, war Bille längst in ihren wohlverdienten Feierabend entschwunden. Natürlich hatte sie das gewusst, als sie die Küche verlassen hatte, aber in diesem Moment konnte sie es nicht länger mit ihrer Mutter aushalten. Überhaupt wusste sie nicht, wie schon allein das Abendbrot ablaufen sollte. Worüber könnte sie mit Traudl sprechen, ohne eine Rüge oder Murren zu ernten? Lieber blieb sie noch eine Weile in der Käserei und holte nach, wozu sie nachmittags nicht mehr gekommen war.

Schnell schlüpfte sie in die vorgeschriebene Schutzkleidung und begab sich in den Kühlkeller. Mit Bille hatte sie vereinbart, ein Zeichen am Regal zu hinterlassen. Nun nahm sie den nächsten schweren Käse vom Holzbrett und legte ihn auf die saubere Ablage in der Mitte des Raumes. Fast zärtlich begann sie den Käse mit der Salzlake einzureiben. Wenn diese Arbeit nicht so mühsam wäre, hätte sie sie als meditativ bezeichnet. Theresia liebte die Ruhe, die in den Räumen herrschte. Sie fühlte in jedem einzelnen Laib den Weg der Milch von der Kuh bis zur vollen Käsereife. Und sie atmete die würzige, saure Luft. Bei Führungen durch die Käserei wurden einigen Besuchern regelmäßig schlecht von dem Geruch. Aber Theresia mochte es, die Unterschiede zu entdecken. Zum Beispiel fand sie, dass der Emmentaler in der Reife ein bisschen süßlicher roch als der Bergkäse. Aber da gingen die Meinungen auseinander. Wie oft hatte sie mit ihrem Vater darüber philosophiert. Wenn er auch sonst kaum ein Wort sagte, in der Käserei überließ er nichts dem Zufall. Alles, was sie über die Herstellung der verschiedenen Käsesorten wusste, hatte sie von ihm. Manchmal sah sie ihn vor sich, wie er mit höchster Konzentration Kulturen und Lab zur Rohmilch hinzufügte, als ob er damit den Geschmack noch mehr beeinflussen könnte.

In ihren Anfangsjahren, als sie sich dazu entschieden hatte, den Hof eines Tages zu übernehmen, gab es Momente zwischen ihnen beiden, die nur ihnen gehörten. Sie hatte sich ihrem Vater selten so nahe gefühlt. Das war noch in einer Zeit, bevor sie die Produktionsstätte modernisiert hatten. Damals wurde noch alles mit der Hand gemacht. Jeden Morgen traten sie gemeinsam in die Käserei und Theresia schaute ihrem Vater über die Schulter. Später durfte sie selbst Hand anlegen, aber er war wie ein Schatten immer zur Stelle und gab ihr Tipps oder kontrollierte ihre Arbeit. Trotzdem hatte es sich für sie nie unangenehm angefühlt. Es wurde zur einvernehmlichen Routine.

In den ersten Jahren fieberte sie angstvoll der Zeit entgegen, in der ihr Vater die Monate auf der Alpe verbrachte. Dann waren die damaligen Mitarbeiter und sie auf sich allein gestellt. Was keinem außer ihr etwas auszumachen schien, schließlich taten sie das seit Jahren. Später freute sie sich auf diese Zeit, dann konnte sie nach getaner Arbeit mit Rinden und Schmierungen experimentieren. Die Mitarbeiter ließen sie werkeln, denn spätestens wenn ihr Vater wieder das Zepter übernahm, lief alles wieder seinen gewohnten Gang. In manchen Jahren konnte sie es kaum erwarten, dass ihr Vater den Hof verließ. Trotzdem freute sie sich, wenn er wieder da war. Sobald sie jedoch die Käserei verließen, wurde er unnahbar für sie. So wie für ihre Geschwister auch.

Erst jetzt, als sie darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass sie sich nie gefragt hatte, ob es für ihre Geschwister auch solche Vatermomente gegeben haben könnte.

Als ihr Blick die große Wanduhr streifte, erschrak sie. Es war schon nach Mitternacht. Sie hatte ganz vergessen, nach ihrer Mutter zu schauen.

Schnell hievte sie den letzten Käse ins Regal. Schon in ein paar Stunden ging die Prozedur von vorn los. Erschöpft kontrollierte sie noch einmal, ob alle Türen der Kühlräume geschlossen waren, entledigte sich der Schutzkleidung und schlurfte über den Hof. Das Wohnhaus lag im Dunkeln, also musste ihre Mutter es wohl irgendwie ins Bett geschafft haben. Vorsichtig öffnete sie die Haustür. Da die Küche leer war, schlich sie zu Traudls Zimmer. Die Dielen knackten dabei unter ihren Füßen. Eigentlich mochte sie dieses Geräusch, zeigte es doch, dass auch ihr Haus lebte und keine tote Steinmasse war. Aber im Moment wäre sie lieber zum Schlafraum ihrer Mutter geflogen. Auf keinen Fall wollte sie sie aufwecken. Für irgendwelche Auseinandersetzungen war sie viel zu müde.

Leise drückte sie die Klinke herunter und versuchte sich im Innern des Raumes zu orientieren. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckte sie ihre Mutter im Bett. Sie hatte zwar noch die Bluse vom Tag an, aber der Rock, den sie getragen hatte, lag auf dem Stuhl neben dem Bett. Theresia konnte sich vorstellen, wie zuwider es ihrer Mutter gewesen sein musste, dass sie sich zum Schlafengehen nicht ordentlich hatte fertigmachen können. Irgendwie hatte sie ja auch recht. Aber Theresia konnte sich nun mal nicht teilen. Es schien ja sonst alles gut gegangen zu sein.

Als sie das Zimmer wieder verlassen wollte, überfiel Theresia ein leichter Schwindel. Es wurde Zeit, dass auch sie ins Bett kam. Essen konnte sie morgen früh wieder.


Ferdinand

Er hatte sich für den Nightjet Richtung Innsbruck entschieden. So konnte Ferdinand die Nacht von Hamburg aus bis nach Augsburg im Schlafwagen verbringen, bekam ein ordentliches Frühstück und war mit der anschließenden Regionalbahn schon kurz nach acht in Hindelang.

Eigentlich hatte er in diesem Jahr nicht vorgehabt, zum Viehscheid nach Hause zu fahren. Aber als er von seiner Mutter erfahren hatte, dass sie mit einem gebrochenen Arm den ganzen Tag herumsaß und Theresia keine Zeit hatte, sich um sie zu kümmern, war er doch aufgebrochen.

Im Moment hielt ihn auch nichts in Bremen oder Wilhelmshaven. Sonja war mit Kollegen und Kolleginnen auf dem Forschungsschiff »Senckenberg« unterwegs. Leider gehörte er nicht zu den Doktoranden des Senckenberg Forschungsinstituts. Noch nicht jedenfalls. Aber er kannte sie alle, die in Sonjas Schlepptau hingen, allerdings kannte niemand ihn. Jedenfalls nicht so, wie er sich das gewünscht hätte. Er war ein kleines Licht, ein Student, der an verschiedenen Projekten teilnahm. Natürlich an denen, die Sonja leitete oder unterstützte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739452050
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Mai)
Schlagworte
Familienroman Allgäu Sommer Alpen wandern Urlaub Liebe Berge Sonne Alpsee Humor

Autor

  • Frida Luise Sommerkorn (Autor:in)

Frida Luise Sommerkorn alias Jana Thiem schreibt Liebes-, Familien- und Kriminalromane. Dabei sind ihre Geschichten in jedem Genre mit Herz, Humor und Spannung gespickt. Da sie selbst viel in der Welt herumgekommen ist, kennt sie die Schauplätze ihrer Romane und kann sich voll und ganz in ihre Protagonisten hineinfühlen. Ob am Ostseestrand, im fernen Neuseeland oder in ihrer Heimat, dem Zittauer Gebirge, überall holt sich die Autorin neue Inspirationen, um ihre LeserInnen verzaubern zu können.
Zurück

Titel: Sehnsuchtstrilogie: Die Sehnsuchts-Trilogie in einem Band