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Humboldt und der kalte See

von Jana Thiem (Autor:in)
301 Seiten

Zusammenfassung

Als der Postbote tot im Straßengraben sitzt, ahnt Humboldt noch nicht, dass die Sache viel verzwickter ist. Denn erst kurz darauf erfährt er, dass die im Vorjahr aus dem Olbersdorfer See geborgene Leiche ein ehemaliger Schulfreund des Postboten war. Und dass die beiden zu einer unzertrennlichen Viererclique in den Achtzigern gehörten. Hat es der Mörder auf dieses Kleeblatt abgesehen? Aber warum verleugnen die beiden verbliebenen Mitglieder die Freundschaft von damals?

Zu allem Übel gefährdet die neue Kollegin, Fallanalytikerin Ziska Engel, die beschauliche Zusammenarbeit in Humboldts Team. Und dann quälen den Hauptkommissar schreckliche Gewissensbisse. Hat er sich doch nach einer gemeinsamen Nacht mit der Journalistin Christin Weißenburg nicht wieder bei ihr gemeldet.

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Bücher aus der Humboldt-Reihe

Humboldt und der weiße Tod: Teil 1
Humboldt und der tiefe Fall: Teil 2
Humboldt und der kalte See: Teil 3
Humboldt und der letzte Lauf: Teil 4

Die Romane sind abgeschlossene Handlungen. Es erhöht jedoch das Lesevergnügen, wenn Sie der Reihe nach gelesen werden.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Prolog

Freitag, 18. Januar 2019

Die Hitze war unerträglich. Allmählich schien sein Körper im eigenen Saft zu schwimmen. Unauffällig lupfte Humboldt seine Maske, um wenigstens für ein paar Sekunden Luft an eine Stelle seines Körpers zu lassen. Doch selbst die spürte er kaum. Es mussten über 30 Grad in der Küche herrschen.

„Will noch jemand einen Glühwein oder Grog?“, fragte die fröhliche Gastgeberin und goss, ohne auf Antwort zu warten, die Tassen und Gläser wieder voll. Antworten würde ihr hier sowieso niemand. Jedenfalls so lange nicht, bis sie herausbekommen hatte, wer sich hinter der Verkleidung verbarg.

Humboldt schnaufte leise, was ihm direkt einen Tritt seiner Nachbarin einbrachte. Christin hatte ihn zu diesem Oberlausitzer Brauch eingeladen. Allerdings hatte er nicht gewusst, worauf er sich da einlassen würde.

Die Gruppe hatte sich in der Baude, die Christin von Zeit zu Zeit bewohnte, getroffen. Nach dem ersten Drink waren plötzlich alle dazu übergegangen, sich in die verschiedensten Kleidungsstücke zu hüllen. Anfangs hatte sich Humboldt noch köstlich über die Vogelscheuchen amüsiert, die da vor ihm standen, bis Christin ihm einen Berg Klamotten reichte und ihn aufforderte, sich endlich fertigzumachen. Erst da war ihm bewusst geworden, was sie mit Verkleiden gemeint hatte, als sie ihn eingeladen hatte. Allerdings war ihm noch immer nicht klar gewesen, was diese vermummten Gestalten vorhatten. Er hatte sich einen riesigen Mantel, der nach Mottenkugeln roch, umgelegt, eine Teufelsmaske und Handschuhe übergestreift und war in ein Paar Arbeitsstiefel geschlüpft, die ihm drei Nummern zu groß waren. Diesmal hatte er die Lacher auf seiner Seite. Fröhlich waren alle ins Tal aufgebrochen und hatten vor einem für diese Gegend typischen Umgebindehaus Halt gemacht.

Mittlerweile hatte Humboldt erfahren, dass es sich um das Lichtengehen handelte. Dabei meldete sich eine Gruppe anonym bei den Gastgebern an, die sich entsprechend auf den Besuch vorbereiteten. Das Zimmer wurde mit allem, was zur Verfügung stand, aufgeheizt, es gab heiße Getränke und scharfes Essen. In ihrem Fall hatte es sich der Gastgeber nicht nehmen lassen, ein feuriges ungarisches Kesselgulasch zu servieren. Das Spiel ging so lange, bis die Gastgeber herausgefunden hatten, wer sich hinter der Verkleidung verbarg. Diejenigen, die erraten waren, durften sich endlich entkleiden und befreit feiern. Die anderen mussten weiterschmoren.

Nachdem nun die ersten ihre Hüllen hatten fallen lassen, versuchte Humboldt, in Christins Augen zu schauen. Noch steckte auch sie in ihrer Verkleidung fest. Doch auch ohne das Gesicht zu sehen, erkannte Humboldt in ihren Augen ein amüsiertes Grinsen. Er ahnte, dass er es lange würde aushalten müssen, denn schließlich kannte ihn kaum jemand in Oybin. Und auch wenn er Andrea, die heutige Gastgeberin und Christins Freundin, schon einmal gesehen hatte - konnte sie ahnen, dass er extra für diesen Schabernack aus Dresden gekommen war?

Als die nächste Gestalt unter lautem Gelächter entlarvt war, klingelte es an der Tür.

„Huch, habt ihr jemanden vergessen?“, fragte Andrea. Sie schaute in die verschwitzten Gesichter ihrer Gäste.

„Wir sind alle da. Das lässt sich doch keiner entgehen und kommt so spät noch“, antwortete ein Entkleideter aus der Runde.

Andrea schlüpfte schnell zur Küchentür hinaus, um ja nicht so viel Wärme aus dem Raum entweichen zu lassen. Wenig später stand sie mit einem vermummten Gast in der Tür.

„Tja, da habt ihr wohl nicht richtig nachgezählt. Hier ist euer Nachzügler“, lachte Andrea in die Runde.

„Setz dich. Getränk kommt sofort“, sagte sie und schob den verspäteten Gast zu einem leeren Stuhl. Dabei lächelte sie ihren Mann an. „Entweder ist er ein guter Schauspieler oder er war noch nie hier. Jedenfalls wusste er nicht, wo unsere Küche ist.“

„Na, das kann ja heiter werden. Ich weiß jetzt schon nicht mehr, wer die anderen sind. Und nun auch noch ein Nachzügler, von dem keiner weiß“, raunte Andreas Mann und goss Glühwein in eine Tasse.

„Aber ich glaube, ich weiß, wer sich hier dahinter verbirgt“, sagte Andrea lauter. „Den Duft habe ich doch schon mal irgendwo gerochen.“ Grinsend legte sie ihre Hände auf Christins Schultern, die erschrocken zusammenzuckte.

„Eigentlich habe ich dich schon direkt an der Haustür erkannt. So zielsicher, wie du die Schuhe in der Garderobe abgestellt hast und direkt in die Küche marschiert bist, das konnte nur eine sein. Aber ich dachte, ich lasse dich einfach noch ein bisschen schmoren. Du willst ja auch was von dem schönen Abend haben, oder?“

Seufzend zog Christin sich die Maske vom Kopf.

„Da habe ich mir solche Mühe gegeben und extra Klamotten von Freunden in Dresden geborgt, damit du mich ja nicht so schnell erkennst, und dann tappe ich gleich in die erste Falle und benehme mich, als wäre ich hier zuhause.“

Lachend umarmte sie Andrea.

„Tja, du bist eben Journalistin und keine Schauspielerin. Aber an deinem Parfüm hätte ich dich trotzdem erkannt. Nimm beim nächsten Mal am besten einen Männerduft. Apropos ...“

Andrea hielt inne. Sie beugte sich leicht vor und war nun mit ihrem Gesicht genau vor Humboldts Maske. Christin hatte die Sehschlitze noch weiter zugenäht, sodass sein Sichtfeld stark eingeschränkt war.

Humboldt zuckte zusammen, als er plötzlich Andreas Gesicht vor sich sah. Er hielt den Atem an, um sich nicht weiter zu verraten. Am Parfüm würde ihn Andrea sicher nicht erkennen, dafür kannten sie sich zu wenig. Und an seinem normalen Körpergeruch sicher auch nicht, denn er fühlte sich, als hätte sein Körper literweise Flüssigkeit verloren, was den Mantel noch schwerer erschienen ließ.

„Wenn mich diese Augen nicht täuschen, gehören sie zu einem Dresdner Kommissar, oder?“, lachte Andrea.

Humboldt hielt eine Weile ihrem Blick stand. Alle im Raum warteten gespannt auf seine Reaktion. Endlich entspannte er sich und zog sich erleichtert die Haube vom Kopf.

„Danke, dass du mich gleich mit hast schmoren lassen“, sagte er grinsend und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann umarmte er Andrea herzlich.

Als er sich aus seinem Mantel geschält hatte und ein kaltes Bier vor ihm auf dem Tisch stand, schaute er Christin an. Das war wirklich ein witziger Brauch, von dem er bisher noch nie etwas gehört hatte. Nur die armen Schweine, die jetzt noch verkleidet abwarten mussten, taten ihm leid. Es waren nur noch drei Leute übrig. Zwei aus ihrer Gruppe, von denen Humboldt wusste, dass sie ein Paar waren, und die Gestalt, die als Letzte erschienen war.

Eben jene hatte die ganze Zeit über ordentlich zugeschlagen. Natürlich bei der Suppe, aber auch beim Glühwein. Und, was Humboldt die ganze Zeit über schon beobachtet hatte, immer wieder holte sich die Gestalt Häppchen von einem der Teller und schob sie unauffällig in ihre altmodische Tasche.

Mittlerweile war schon eine Stunde vergangen, seitdem der letzte Gast gekommen war. Noch immer rätselten Andrea und ihr Mann, wer die verbliebenen Gestalten sein könnten. Plötzlich erhob sich der letzte Gast, nickte kurz und machte sich auf den Weg Richtung Flur.

„Musst du aufs Klo?“, fragte Andrea. Sie stürzte hinter ihm her, um ihm den Weg zu zeigen. Aber der Gast zog in Ruhe seine Stiefel an und verließ das Haus ohne ein Wort.

Noch spät am Abend, als endlich alle mit leichter Kleidung bei kühlen Getränken saßen und die Gespräche immer fröhlicher wurden, rätselten sie, wer das wohl gewesen sein mochte.

„Mir hat letzte Woche schon einmal jemand erzählt, dass sie so einen Gast beim Lichtengehen hatten, der kam, aß und wieder ging“, sagte einer von Christins Freunden.

„Ist ja komisch. Wer soll denn davon wissen? Normalerweise meldet man sich doch einfach mit einer Postkarte bei den Gastgebern an. Das erfährt doch niemand, oder?“, fragte Christin.

„Nun aber genug mit der Grübelei. Jetzt wird gefeiert!“, lachte Andrea. Sie hob ihr Glas und alle taten es ihr gleich.

Spät in der Nacht machten sich Christin und Humboldt auf den Heimweg. Der Pfad zurück zu Christins Baude führte stetig bergan. Nicht selten stolperte Humboldt über eine der Wurzeln, die in den Waldweg ragten, oder rutschte auf einem glatten Stein aus. Christin schien das alles nichts auszumachen. Sie hatte an ihrem Handy die Taschenlampe aktiviert. Ständig sprang der Lichtpunkt zwischen Felsen, Bäumen und Weg hin und her.

„Wie wäre es, wenn Sie mal nur den Weg beleuchten würden? Dann könnte ich auch erkennen, wo ich hintreten kann.“ Humboldt hatte Christins Arm geschnappt und hielt ihn so, dass vor ihnen ein großer Lichtkegel entstand.

Christin entzog sich ihm und leuchtete wieder ins Unterholz. „Aber das hier sieht viel imposanter aus als ein Waldweg. Schauen Sie mal!“

Humboldt folgte dem Licht und zog die Luft scharf ein. Tatsächlich war ihm bisher nicht aufgefallen, wie anders die Bäume im Dunkeln beschienen wirkten. Der Raureif hatte alle Zweige in ein weißes Kleid gehüllt und verlieh ihnen ein zauberhaftes Aussehen. Selbst die Felsen glitzerten durch die Kälte. Beim Losgehen war es ihm gar nicht so kalt erschienen, aber hier im Wald durchdrang die Winterluft auch den alten Mantel.

Er nickte anerkennend und rieb seine Hände aneinander. Beim Aufbruch hatte er seine Handschuhe liegenlassen, das rächte sich jetzt.

„Sehr schön“, antwortete er kurz angebunden. „Können wir trotzdem weitergehen?“

Christin leuchtete ihm mitten ins Gesicht.

„Sind Sie ein Warmduscher? Ich dachte, Sie gehen auch eisklettern? Gibt es das jetzt schon in einer warmen Halle?“

Lachend drehte sie sich um und stiefelte ihm voran, den Lichtkegel immer auf den Weg haltend.

Ärgerlich stapfte Humboldt hinterher. Von wegen Warmduscher. Er war nur nicht darauf vorbereitet gewesen, mitten in der Nacht durch den Winterwald stapfen zu müssen. Laut Christins Aussage würde sowieso kein Taxi hier hochfahren. Er war sich aber nicht so sicher, ob das stimmte oder ob sie einfach laufen wollte. Und überhaupt, wenn er eisklettern ging, dann hatte er entsprechende Kleidung an. Und nicht diesen alten Wollmantel, der dazu immer noch leicht schweißfeucht war.

Als sie endlich die Baude erblickten, war sein Ärger fast verflogen. Eigentlich musste er Christin ja zustimmen. Die Kulisse um ihn herum sah einfach atemberaubend aus. Auch jetzt, als sie vor der beleuchteten Baude standen und sich noch einmal umsahen, spürte er den Zauber, der so einem Winterwald innewohnte.

„Noch Lust auf ein Glas Rotwein“, fragte Christin leise. Ihre Augen leuchteten vom Laternenschein und ihr Gesicht schien zu glühen. Strahlend stand sie vor ihm und wartete auf eine Antwort.

Etwas regte sich in Humboldt. Ein Gefühl, das er schon sehr lange nicht mehr gespürt hatte. Er schluckte, obwohl sein trockener Mund es kaum zuließ. Jetzt begann auch noch sein Herz zu pochen. Christins Blick wurde immer fragender und irgendwie tiefer. Noch konnte er nein sagen und sich in sein Zimmer zurückziehen. Aber irgendetwas ließ ihn verharren. Noch einmal schluckte er.

„Gerne! Ich meine, wir können gerne noch einen Rotwein trinken“, sagte er mit rauer Stimme.

Christin lächelte, dann nickte sie leicht und schloss die Haustür auf.


Mittwoch, 20. Februar 2019

Als er den mächtigen Felsen sah, musste er unweigerlich an die Theaterschauspielerin denken, die vor etwa zwei Jahren unfreiwillig am Jungfernsprung des Oybin herabgesegelt und später auf seinem Tisch gelandet war. Das war wieder einer der Fälle gewesen, die ihn besonders herausgefordert hatten und bei denen er mit Humboldt Hand in Hand arbeiten musste, um dem Täter das Handwerk zu legen.

Rechtsmediziner Dr. Lorenz Richter bremste den Wagen ab und rollte langsam durch den Ort. Dabei schob er seinen Kopf weit bis an die Frontscheibe heran, um den imposanten Berg näher betrachten zu können. Im Winter sah es hier völlig anders, aber nicht weniger interessant aus. Waren bis eben noch auf dem Gipfel die Ruinen des Klosters und der Burg zu sehen gewesen, erkannte Richter jetzt die bienenkorbähnliche Gestalt des Felsens. Fast hätte er es verpasst, seinem Navi zu folgen und rechts in die Hauptstraße einzubiegen. Kurz darauf kam er an einem der Aufstiege auf den Oybin vorbei, der auch zur kleinen Bergkirche führte, die sich eng an den Felsen schmiegte. Wäre er in Stimmung gewesen, hätte er sicherlich nach seiner Arbeit noch einen kleinen Spaziergang unternommen. Aber im Moment war er einfach zu gespannt, was ihn hier erwarten würde. Und vor allem, ob es wirklich notwendig war, dass er sich von Dresden aus die eineinhalb Stunden auf den Weg gemacht hatte.

Schon von Weitem sah er das Einsatzfahrzeug stehen. Ein Beamter sprach mit einer wild gestikulierenden Person, die in einem blauen BMW saß und anscheinend in die gesperrte Straße einfahren wollte. Ein anderer kam auf ihn zu. Richter ließ die Scheibe herunter und sofort drang die eisige Kälte hinein.

„Hier können Sie gerade nicht durch“, sagte der Beamte und legte grüßend den Zeigefinger einer Hand an seine Dienstmütze. Sein Atem wirbelte weiße Wolken auf.

„Ich denke doch“, sagte Richter. „Dr. Lorenz Richter, Rechtsmediziner. Ich werde erwartet.“ Er zeigte seinen Ausweis.

„Na dann, ab in die Hölle“, antwortete der Beamte schief grinsend. Wieder hob er grüßend die Hand und winkte Richter durch.

Die Gesten des BMW-Fahrers wurden noch wilder, als Richter auch den zweiten Beamten passierte und schräg rechts abbog.

Aus den Augenwinkeln nahm er ein Straßenschild mit der Aufschrift Hölleweg wahr. Daher also der schräge Kommentar des Beamten.

Als die Straße immer schmaler wurde, ließ Richter das Auto an einer Gabelung stehen. Er war sich nicht sicher, ob er am Ende des Weges wenden musste oder doch durchfahren konnte.

Er schnappte sich seine Tasche und wählte den rechten Weg, der noch weiter in den Wald hineinführte. Die kleinen Umgebindehäuser wechselten sich hier mit modernen Holzhäusern ab. Aus den Schornsteinen stieg Rauch auf, der sich noch lange im Blau des Himmels abzeichnete. Eine zarte Schneedecke schien sich schützend über alles gelegt zu haben und glitzerte in der Sonne. Zu seiner Linken ragte im Hintergrund ein hoher Berg mit einem Turm auf. Das ist alles viel zu idyllisch, um hier jemanden umzubringen, dachte Richter. Mit Sicherheit war der Mann gestürzt und hatte sich dann ausruhen wollen. Solche Szenarien kannte er schon aus vergangenen Jahren. Die meisten der verletzten Opfer waren mit Erfrierungen davongekommen. Aber diesen hier schien es schlimmer erwischt zu haben. Das hatte ihm Kriminalhauptkommissarin Mahler schon am Telefon mitgeteilt.

Als er einen kleinen Felsen umrundet hatte, stand er direkt vor der Kommissarin, die wild auf ihrem Handy herumtippte.

„Frau Mahler, wie schön, Sie mal wieder zu sehen“, sagte Richter ohne wirkliche Freude in der Stimme.

Linde Mahler, Kriminalhauptkommissarin der Polizeiinspektion Görlitz, nickte kurz. Auch ihre Begeisterung über das Wiedersehen schien sich in Grenzen zu halten. „Ja, schön, dass Sie es einrichten konnten!“, sagte sie und zeigte mit dem Kopf Richtung Wald.

Der Mann, den der Rechtsmediziner Dr. Lorenz Richter im Schnee sitzen sah, trug die typische blau-gelbe Jacke eines Zustellers der Deutschen Post. Auf den ersten Blick hätte man denken können, dass er sich nur ein wenig hatte ausruhen wollen, um sich dann wieder auf den weiteren Weg zu machen. Das gelbe Fahrrad mit den großen Taschen stand ordnungsgemäß auf dem Ständer aufgebockt neben ihm. Nur der Schmutz an seiner Kleidung und die blutverschmierte Wunde an seinem Kopf deuteten darauf hin, dass er nicht nur friedlich eingeschlafen war.

„Können Sie direkt irgendetwas zu unserem Toten sagen? Falls er nur erfroren ist, würde ich mich verabschieden. Ein dringender Fall wartet“, begann Linde Mahler ohne Umschweife.

Richters Miene verschloss sich schlagartig. Er nahm die eckige schwarze Brille vom Kopf und schob sie sich auf die Nase. „Ich muss ihn mir erst anschauen, bevor ich dazu etwas sagen kann. So viel sollten Sie in Ihrer beruflichen Karriere schon mitbekommen haben.“

Linde Mahler zuckte missmutig mit den Schultern und schaute demonstrativ auf die Uhr.

Leise murmelnd beugte sich Richter zu dem Toten hinunter. Er hatte ein Diktiergerät aus der Jacke gezogen und hielt es nahe vor seinen Mund.

„Hämatom im rechten oberen Stirnbereich, könnte von einem Sturz herrühren, da auch die Kleidung verschmutzt ist.“

Er richtete sich auf und sah sich um, entdeckte aber nichts Auffälliges.

„Ist er hier irgendwo gestürzt? Oder gibt es am Fahrrad Spuren, die darauf hindeuten, dass er sich zum Beispiel am Lenker verletzt haben könnte?“, fragte er in Linde Mahlers Richtung, ohne sie dabei direkt anzuschauen.

„Nichts dergleichen. Das haben die Kollegen der KTU natürlich direkt untersucht, nachdem wir den Fundort gesichert hatten.“

Die Ungeduld in ihrer Stimme ließ Richter schmunzeln. Natürlich hatte sie das veranlasst. Schließlich war sie keine Anfängerin.

„Außerdem stand das Rad ordnungsgemäß am Straßenrand. Wenn er gestürzt wäre und sich lebensgefährlich verletzt hätte, hätte er das Rad einfach liegen lassen, oder?“, legte Linde Mahler nach.

Er wandte sich wieder dem toten Postboten zu.

„Die Erfrierungen im Gesichtsbereich und hellrote Livores, also Totenflecken, weisen auf Erfrierungstod hin.“

Er zog sich einen Schutzhandschuh über und berührte den Toten. „Totenflecken noch relativ leicht wegwischbar, Eintritt des Todes vor mindestens vier Stunden.“

Wieder richtete er sich auf.

„Es ist gut möglich, dass er sich einfach hier hingesetzt hat und erfroren ist“, sagte er und zog sich den Handschuh aus. „Aber ich glaube nicht daran. Irgendetwas muss ihn ja veranlasst haben, sein Rad ordentlich abzustellen und sich niederzulassen. Außerdem fehlt mir die Kälteidiotie. Dabei kommt es zu einer Minderdurchblutung im thalamischen Vasomotorenzentrum. Die Großhirnrinde übermittelt die fehlerhafte Information einer viel zu hohen Körpertemperatur und der Unterkühlte beginnt sich zu auszuziehen.“

Jetzt sah Richter Linde Mahler direkt an. „Wenn Sie mich fragen, würde ich sagen, die Kopfverletzung kann zum Tod geführt haben, die Erfrierung auch oder irgendetwas, was wir noch nicht sehen. Mehr kann ich Ihnen sagen, wenn er auf meinem Tisch liegt.“

Linde Mahler seufzte. „Da sind wir ja genauso schlau wie vorher.“ Wieder schaute sie auf die Uhr. „Okay, ich veranlasse, dass er zu Ihnen nach Dresden kommt, und erwarte Ihren Bericht.“

Wieder nickte sie kurz, drehte sich um und stürmte zu ihrem Wagen.


Donnerstag, 21. Februar 2019

„Warum sollen wir den Fall übernehmen?“, fragte Humboldt. „Die Mahler war doch vor Ort und hat schon mit Richter gesprochen.“ Er stellte das Telefon laut, damit er den Hörer beiseitelegen konnte. Dann zog er seine Schuhe aus und schob die Beine auf den gegenüberliegenden Stuhl. Es war ja nicht so, dass ihn ein Fall im Zittauer Gebirge nicht reizen würde, aber sie hatten hier auch alle Hände voll zu tun. In einer Wohnung im Stadtteil Löbtau hatte nach übermäßigem Gestank ein Nachbar einen Mann gefunden, der gewaltsam zu Tode gekommen war. Tatverdächtige waren schnell gefunden, die gerade vernommen wurden. Für Humboldt war es unerklärlich, dass den Toten niemand sonst vermisst hatte. Wie oft war das schon vorgekommen! Außerdem war bei einem Brand in Dippoldiswalde eine Rentnerin zu Tode gekommen, deren Zimmertür verschlossen war. Hier ermittelten sie im Umfeld der Toten, hatten aber noch keine Spur. Niemand aus der Familie konnte sich erklären, warum die Tür verriegelt gewesen war.

„Ja, ich weiß, Sie sind auch beschäftigt. Aber die Görlitzer Kollegen sind an einem grenzübergreifenden Fall beteiligt. Die können die polnischen Kollegen jetzt nicht im Stich lassen. Außerdem ...“ Dienststellenleiter Klaus-Dieter Noack machte eine Pause, bevor er sich räusperte und weitersprach. „... außerdem bekommen Sie Verstärkung. Ziska Engel wird ab sofort zu Ihrem Team gehören.“

Humboldt zog die Füße vom Stuhl und schlüpfte in seine Schuhe. Diese Sache konnte er nicht so entspannt besprechen.

„Hatte ich nach Verstärkung geschrien?“, fragte er, als er kerzengerade auf seinem Stuhl saß.

„Das eine oder andere Mal schon“, antwortete Noack. „Aber Kollegin Engel hat besondere Qualifikationen und kann Ihr Team ergänzen. Ich bin mir sicher, dass Sie sich gut mit ihr arrangieren werden. So, ich muss jetzt auch los. Also, Richter erwartet Ihren Besuch, dann entscheiden Sie, wie es weiter geht.“

Humboldt ließ die Schultern wieder locker. Er hatte wenigstens noch nachfragen wollen, wann die neue Kollegin erscheinen würde. Aber das würde er schon mitbekommen. Und auch, welche besonderen Qualitäten das waren, von denen Noack gesprochen hatte. Er schnappte sich seine Jacke und machte sich auf den Weg in Richters heilige Hallen der Forensik. Vielleicht erledigte sich der Fall für sie schneller als gedacht.

Als er jedoch die Rechtsmedizin betrat, wusste er sofort, dass er sich getäuscht haben würde. Dr. Lorenz Richter lehnte an der Kante seines Schreibtisches, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und lächelte ihn süffisant an.

„Der Herr Kriminalhauptkommissar persönlich, schön, dich zu sehen“, sagte er, stieß sich von der Tischplatte ab und deutete auf einen der Tische, auf dem ein Körper mit einem weißen Tuch bedeckt lag.

Humboldt stöhnte innerlich. Wenn Richter ihn so begrüßte, hatte er erstens eine Entdeckung gemacht, die auf keinen natürlichen Tod hinwies und zweitens würde Humboldt jetzt wieder Rätsel lösen dürfen. Seit Jahren betrieb Richter diese Spielchen, bei denen er Humboldt selbst auf die Lösung aller Fragen kommen lassen wollte. Jedenfalls bezeichnete er das ungleiche Frage-Antwort-Spiel so.

„Lorenz, können wir nicht direkt zur Sache kommen?“, fragte Humboldt, wohl wissend, dass das sicher nicht der Fall sein würde.

„Tun wir doch, Humboldt, tun wir doch sofort!“

Erstaunt nahm Humboldt wahr, dass der Rechtsmediziner diesmal das Tuch nicht sofort zurückschlug, um ihn auf irgendwelche Flecken oder Einstiche am Körper des toten Postboten aufmerksam zu machen. Er blieb am Kopfende stehen und nahm seine typische Denkerhaltung ein: Den Ellenbogen des rechten Arms hatte er in die linke Hand gestützt, den linken Unterarm quer vor den Bauch geführt, hielt ihn jedoch unnatürlich weit ab vom Oberkörper. Die rechte Hand stützte das Kinn und ein breites Grinsen beherrschte sein Gesicht.

„Du hast doch sicher schon einmal etwas über Z-Drogen gehört, oder?“, begann Richter mit der Rätselstunde.

Humboldt schaute ihn irritiert an. Er hatte zwar immer häufiger mit den Kollegen der Drogenfahndung zu tun, aber wie diese unheilbringenden Mittel im Detail hießen, hatte er sich nicht merken wollen.

„Es hat nichts mit der Drogenfahndung zu tun, falls du dazu etwas sagen wolltest“, redete Richter erheitert weiter.

Genervt wand sich Humboldt innerlich. Konnte dieser Mensch jetzt auch schon Gedanken lesen? Z-Droge? Z-Drugs? Doch! Irgendetwas tauchte aus den Tiefen von Humboldts Gedächtnis auf. Aber was war das bloß?

Seine Schwester huschte ebenfalls durch das innere Bild. Was hatte Monique damit zu tun? Sollte es etwas mit dem Prostituiertenfall von vor einigen Jahren zu tun haben, in den auch seine Schwester reingerutscht war?

„Nächster Tipp!“, brummte Humboldt. Er wusste, dass ihm Richter die Antwort sowieso nicht so schnell präsentieren würde.

„Du kannst dich doch sicher noch an die Kleine aus dem Etablissement deiner Freundin Walli erinnern. Eines Morgens hatte man sie völlig verstört auf dem Dach gefunden. Lebend! Im Gegensatz zu diesem armen Kerl hier.“

Bei den letzten Worten schlug Richter das Tuch zurück.

Humboldt hielt kurz die Luft an. Man wusste nie, was einen erwartete. Schließlich war er nicht am Fundort der Leiche gewesen. Allerdings konnte er in diesem Fall entspannter bleiben, wenn man das in der Rechtsmedizin überhaupt sein konnte. Bis auf den typischen Y-Schnitt, den der Forensiker vorgenommen hatte, um die innere Untersuchung vorzunehmen, sah Humboldt die Kopfverletzung und schwach ausgebildete Totenflecken.

„Z-Drogen! Schlaftabletten also?“, fragte er schließlich. Natürlich war ihm sofort eingefallen, was damals in Wallis Lokal losgewesen war. Gott sei Dank konnte die junge Dame gerettet werden. Sie hatte eine extreme Zoplicon-Abhängigkeit entwickelt. Den meisten ihrer Kolleginnen und auch Walli war das damals nicht aufgefallen, da sie schon immer sehr aufgeweckt und überdreht war. Nur die Stimmungsschwankungen hatten Walli auf sie achtgeben lassen. Sie war es auch gewesen, die ihr Mädchen gefunden hatte.

Richter nickte nachdenklich und schob sich die Brille von der Stirn auf die Nase.

Erleichtert atmete Humboldt auf. Hiermit war das Rätselraten wohl beendet.

„Ich war mir anfangs auch nicht sicher, ob der arme Teufel nicht einfach erfroren ist“, begann Richter nun mit ernster Stimme. „Allerdings konnte ich mir nicht erklären, warum er sich einfach so in den Schnee setzt, um zu erfrieren. Macht keinen Sinn.“

Richter schaute kurz auf und sprach weiter, als Humboldt nickte.

„Was aber Sinn macht, ist, wenn der ganze Körper mit Stoffen vollgepumpt ist, die unter anderem sedierend wirken. Wenn dann noch Alkohol ins Spiel kommt, wird es schwierig, den Heimweg zu finden.“

„Was heißt vollgepumpt? Du meinst, er hat eine Überdosis an Schlafmitteln genommen?“, fragte Humboldt.

Richter knurrte leise vor sich hin und schüttelte dann den Kopf.

„Ich denke, dass er sich über Jahre hin von diesem Zeug abhängig gemacht hat und sein Körper nun nicht mehr wollte. Es wurde allerdings kein Alkoholnachschub in seinen Sachen gefunden. Ich würde an deiner Stelle mal genauer hinsehen, woher er den leeren Spaßmacher hatte, den wir bei ihm gefunden haben. Viel war es nicht, das er getrunken hat. Aber es hat ausgereicht, um seinen Kreislauf zu entschleunigen. Die kalten Temperaturen haben dann ihr Übriges getan. Mich wundert sowieso, wie er noch pünktlich die Post austragen konnte. Er muss mindestens 20 Tabletten am Tag genommen haben. Der hatte sicher auch Halluzinationen. Ach ja, die Kopfverletzung war nicht tödlich. Er muss tatsächlich gestolpert sein und sich den Kopf irgendwo aufgeschlagen haben. Da können dir die Kollegen der KTU sicher weiterhelfen.“

Humboldts Handy begann in seiner Jackentasche zu vibrieren.

„Vielleicht ist alles natürlich verlaufen, vielleicht hat jemand nachgeholfen. Dein Job!“, sagte Richter kurz angebunden und drehte sich weg.

„Danke! War nett wie immer“, antwortete Humboldt, zückte sein Handy und schlüpfte durch die Tür hinaus.

Kurz darauf betrat er allerdings erneut Richters Räume.

„Die Frau unseres Opfers hier ist ebenfalls tot aufgefunden worden. Allerdings friedlich im Bett liegend. Der hiesige Arzt ist sich nicht sicher, ob eine natürliche Todesursache vorliegt. Bestimmt auch, weil wir ermitteln.“

Richter hob die Schultern. „Und?“

„Jetzt haben wir eine gemeinsame Fahrt ins schöne Zittauer Gebirge vor uns. Auf geht’s! Ich warte auf dem Parkplatz auf dich“, lachte Humboldt und verließ diesmal endgültig den Raum. Allerdings stellte sich direkt ein mulmiges Gefühl bei ihm ein. Christin! Ob sie gerade in Oybin war?

Humboldt fuhr über die Bahnschienen der Kleinbahn und parkte den Wagen auf einem kleinen Platz direkt an der Straße.

„Warum fährst du nicht in den Hof?“, fragte Richter irritiert.

„Das Stück schaffst du zu Fuß, oder?“, grinste Humboldt, während er ausstieg und sich eine Daunenjacke anzog. „Außerdem wollte ich mir ein Bild von der Gegend hier machen. Ich bin zwar schon öfter vorbeigefahren, habe aber noch nie genauer hingesehen. Wenn man von Olbersdorf aus kommt, blickt man von hier aus eher auf den Oybin als auf die kleinen Häuser am Straßenrand.“

Richter, der inzwischen den Kofferraum des Wagens geöffnet hatte und zügig seinen schwarzen Mantel eng um seinen Körper schlang, schaute sich um. „Da kann ich nichts dazu sagen. Ich war aber auch erst zweimal hier in der Gegend. Und jetzt das dritte Mal. Und immer nur wegen deiner Leichen“, frotzelte er.

„Dann kommst du wenigstens mal raus aus deinem Keller. Sei doch froh, dass wir ab und an in dieser schönen Gegend ermitteln dürfen.“ Humboldt verschloss den Wagen, als Richter seinen Koffer herausgehoben hatte. Dann sah er sich um. Wie immer fiel sein Blick zuallererst auf den imposanten Berg Oybin, den er nun schon einige Male kletternd bezwungen hatte. Bei strahlend blauem Himmel lag der Raureif schwer auf Bäumen und Felsen. Alles sah friedvoll und idyllisch aus.

Zwangsläufig dachte er an Christin, mit der er im Sommer die meisten Klettertouren unternommen hatte. Allerdings hatten sie seit dem Wochenende im Januar keinen Kontakt mehr gehabt. Ob sie doch zu weit gegangen waren? Ein kribbeliges Gefühl machte sich in seinem Unterleib breit, wenn er an die Nacht dachte, die sie allein in Christins Baude verbracht hatten. Humboldt holte tief Luft. Daran durfte er jetzt nicht denken, er brauchte einen kühlen Kopf.

Das Umgebindehaus lag noch im Schatten der Berge und wirkte verlassen. Hier hatte wohl schon ewig niemand mehr Hand angelegt. Statt eines Zaunes verband ein Seil die Pfosten. In wahllosen Abständen baumelten rot-weiße Absperrbänder herum, als ob hier früher eine Baustelle gewesen wäre. Immerhin schien das Dach gut in Schuss zu sein und auch die Bausubstanz des Gebäudes machte keinen schlechten Eindruck. Trotzdem sah alles verwahrlost aus.

Als sie die niedrige Holztür öffneten, kam ihnen ein älterer Herr entgegen.

„Sieh oack, der Herr Humboldt, schiene Se wiedr zu sahn!“, rief er schon, bevor er Humboldt erreicht hatte. „Koarle Neumann, Se erinnern sich doch noa a miech?“

„Herr Neumann, wie könnte ich Sie vergessen?“, antwortete Humboldt lächelnd. Bei seinem letzten Fall um die abgestürzte Diva des Zittauer Theaters hatte Bürgerpolizist Karl Neumann maßgeblich an der Aufklärung mitgewirkt. Auf seine ganz eigene Art und Weise. Humboldt musste schmunzeln, als er an eine Kletteraktion am Oybin dachte, bei der Neumann ihm vom Ringweg des Berges aus Anweisungen gegeben hatte, wo er einen verdächtigen Müllsack finden konnte, während Christin ihn von unten gesichert hatte. Wieder tauchte sie vor seinem inneren Auge auf. Und wieder stellten sich Gefühle ein, die er schon lange nicht mehr gespürt hatte.

„Doas is schunn a schlimmes Ding mit dan Silvio, woas?“, holte ihn Neumann aus seinen Gedanken.

„Silvio?“, fragte er irritiert.

„Na unser Pustbote, der Sterz, Silvio! Dar Tote, dan se a der Hölle gefunn hoann!“, antwortete Neumann.

Erst jetzt fiel Humboldt auf, dass er sich bisher kaum mit dem Fall beschäftigt hatte, da er noch nicht einmal den Namen des Toten wusste. Jetzt war Schluss mit den vielen Gedanken, er musste sich konzentrieren. Besonders auch auf Karl Neumann, der den typischen Oberlausitzer Dialekt mit einem rollenden R sprach.

„Ach so, ja! Kennen Sie die Familie näher?“, fragte Humboldt. Langsam ging er weiter durch den Flur. Er hörte Richter in der Blockstube mit jemandem reden und wollte nichts verpassen.

„Nu kloar, mir sann hier oalle vum Durfe! Dan Silvio kenn iech schunn vu der Schule.“ Übereifrig schob Neumann die Tür zur Blockstube auf, damit Humboldt hindurchtreten konnte.

Es roch muffig, als Humboldt sich an Neumann vorbeiquetschte und den dunklen Raum betrat. Immerhin hatte anscheinend vor kurzem jemand gelüftet, denn er hatte mit einem schlimmeren Geruch gerechnet, dem der Toten. Und es war eisig kalt in der Stube.

Zu seiner Linken befand sich ein grüner Kachelofen, um den Bänke aus dunklem Holz standen. Rechts versperrte ein mächtiger Bauernschrank die Sicht auf den dahinter liegenden Teil des Zimmers. Neben einer Couch, zwei Stühlen und einem Tisch stand nur noch das Krankenbett der Toten im Raum. Gerade schloss ein Mann hastig die Fenster, die rund um das Bett geöffnet waren. Humboldt ahnte schon, wer ihn mürrisch darauf hingewiesen hatte.

Murmelnd hatte sich Richter bereits über die Tote gebeugt.

„Wie heißt die Frau?“, fragte Humboldt Neumann, der ihm nicht von der Seite wich.

„Doas is de Sterz, Hilde, die Froe vum Silvio.“, antwortete Neumann leise. Diesmal schien er mit seinen Gedanken weit weg zu sein.

„Lassen Sie uns woanders hingehen“, sagte Humboldt und schob Neumann wieder zurück in den Flur und dann weiter in die angrenzende Küche. Auch hier wirkte alles dunkel. Durch die zwei kleinen Fenster drang nicht viel Tageslicht herein. Und auch die niedrigen Decken mit den Balken taten ihr Übriges. So schön wie die Häuser von außen aussahen, so erdrückend erschienen sie ihm im Innern. Schon allein wegen seiner stattlichen Größe von 1,90 m würde er nie in so einem Haus wohnen können.

Der Blick aus dem Fenster entschädigte ein bisschen. Hinter dem Haus floss ein schmaler Bach. Dahinter schlängelte sich ein Wanderweg, der im Wald verschwand.

„Sie sind also mit unserem Toten gemeinsam in die Schule gegangen“, begann Humboldt unvermittelt.

Karl Neumann hatte sich bereits an den Tisch gesetzt und den Kopf in die Hände gestützt. Humboldt blieb weiter am Fenster stehen.

„De Hilde kenn iech natürlich och, aber die woar a ganz poar Jahr jünger. Aber gebracht hoats ihr nischt. Die woar schunn seit Jahr‘n krank. Und der Silvio hoat se gepflajgt, ganz oalleene. Kindr huttn se keene“, begann Neumann zu erzählen.

„Welche Krankheit hatte sie?“, fragte Humboldt.

Neumann zuckte mit den Schultern. „Kraabs! Aber welchn, weeßsch ne. Iech weeß oack, doas se keene Chemo wollte. Die wollte derheeme bleibm zun Starbm. Doas doas aber no su lange giehn täte, doas hatte wull kenner gedacht. Der Silvio kunnte kaum noch schloofm, weil die immer su gejoammert hoat. Und de Schmerztoablettn hoann oh ne mieh vill gehulfm. Moanchmoal hoat er ihr Schlooftoablettn gegahn, dermit er oh amol schloofm kunnte.“

Humboldt schob sich vom Fenster weg. Schlaftabletten war sein Stichwort. „Ich schau mich mal oben um. Bleiben Sie ruhig hier sitzen. Ich bin gleich wieder da, dann können Sie weitererzählen.“

Er stieg die schmale Treppe ins Obergeschoss hinauf. Humboldt hatte das Gefühl, dass hier alles noch düsterer wirkte und die Kälte in jede Ritze vordrang. Die kleinen Fenster waren voll mit Eisblumen, was darauf schließen ließ, dass sie weder mehrfach verglast noch dicht waren.

Gleich die erste Tür, die er öffnete, führte ins Schlafzimmer. Es roch säuerlich nach Körperausdünstungen. Da die Fensterläden geschlossen waren, knipste er das Licht an. Eine einzelne Glühbirne baumelte von der Decke. Auch sonst war das Zimmer karg eingerichtet. Ein altes Doppelbett aus dunklem Holz und der dazu passende Schrank waren, neben zwei kleinen Nachttischen, alles, was den Raum füllte. Im Grunde reichte das für ein Schlafzimmer, wenn es nur nicht so traurig wirken würde. Er hätte hier nicht eine Nacht erholsam schlafen können.

Humboldt zog sich die Einmalhandschuhe über und öffnete vorsichtig eine Nachttischschublade. Aber außer einer Packung Taschentücher befand sich nichts darin. Auch im unteren Teil und im zweiten Nachttisch entdeckte er keine Medikamente. Eine Zeitschrift, die laut Datum schon über zehn Jahre alt war, und ein gerahmtes Foto des Ehepaares Sterz, das ebenfalls schon älteren Datums war, waren die einzigen persönlichen Dinge, die Humboldt fand.

Er warf noch einen kurzen Blick in den Schrank, der erwartungsgemäß nur wenige Kleidungsstücke enthielt, und trat wieder hinaus auf den Flur. Plötzlich flammte eine Erinnerung auf. Er ging noch einmal zum Schrank und öffnete ihn. Sofort fiel ihm wieder die Damenhandtasche auf, die auf den wenigen gefalteten Pullovern lag. An was erinnerte die ihn? Aber sein Gedächtnis ließ ihn im Stich. Grübelnd verließ er den Raum.

Das Licht des Schlafzimmers erhellte den Gang. Deshalb konnte Humboldt erkennen, wo das Bad sein musste. Auf dem kurzen Stück dorthin wirkte der Läufer wesentlich ausgetretener als im Rest des Flures.

Ein 70er-Jahre-Bad, in braunen Tönen gehalten, genauso hatte sich Humboldt das Badezimmer vorgestellt. Auf dem schmalen Sims vor dem Spiegel stand ein Zahnputzbecher mit zwei Zahnbürsten, eine zusammengerollte Zahnpastatube, ein Rasierpinsel und Rasierschaum in der Tube, ebenfalls sorgfältig eingerollt, um auch den letzten Rest noch herauspressen zu können.

Zu gerne hätte Humboldt daran geglaubt, dass Silvio Sterz ein pedantischer Zeitgenosse gewesen war. Vielleicht war das auch so. Aber je länger Humboldt durchs Haus ging, umso mehr erdrückte ihn die Armut, die alles beherrschte. Sicherlich war der Verdienst eines Postboten nicht besonders hoch. Trotzdem hatte Humboldt das Gefühl, dass hier noch etwas anderes eine Rolle gespielt hatte.

Gerade wollte er das Bad wieder verlassen, als ihm einfiel, weswegen er eigentlich nach oben gegangen war. Ein unscheinbarer weißer Schrank mit einem roten Kreuz hing in einer Ecke neben der Badewanne. Diesmal wurde Humboldt fündig. Der ganze Schrank war mit Tablettenschachteln vollgestopft. Vorsichtig zog er eine davon heraus.

„Zoplicon“, las er nachdenklich. „Dasselbe Schlafmittel wie bei dem Fall in Dresden.“

Von unten hörte er Stimmen. Eilig verließ er das Bad und ging die Treppe hinab. Nicht, dass ihm Neumann noch verschwand, bevor sie weitersprechen konnten.

Im Flur traf er allerdings auf Richter, der schon alles zusammengepackt hatte.

„Ich dachte, du hättest dich schon aus dem Staub gemacht“, motzte Richter. „Vielleicht hätte ich da ja was für dich gehabt.“

Hm, oder mich wieder ein Rätsel lösen lassen, dachte Humboldt innerlich grinsend.

„Hättest oder hast du was für mich?“, fragte er, ohne seine Gedanken laut zu äußern.

Richter schob die Brille hoch auf die Stirn. „Wenn ich das so genau wüsste. Sieht nach einem natürlichen Tod aus. Der Todeszeitpunkt ist allerdings schon bedenklich. Auf der einen Seite vom Ort stirbt der Mann an einer Überdosis Schlaftabletten und gleichzeitig schläft seine Frau hier einfach so ein?“ Er wackelte nachdenklich mit dem Kopf.

Auch Humboldt kam das sehr verdächtig vor. Andererseits hatte er so etwas schon häufiger erlebt.

„Das heißt?“, fragte er.

„Ich nehme sie mit und schaue mir alles in Ruhe an“, antwortete Richter. Dabei schlug er den Kragen seines Mantels hoch. „Außerdem kann ich im Warmen eindeutig besser arbeiten.“

Humboldt nickte. „Ach so, kannst du dir das oben noch anschauen? Der ganze Schrank ist voll von dem Zeug.“ Er reichte Richter die Schachtel.

„Na, da haben wir es doch! Würde mich nicht wundern, wenn wir davon auch etwas in ihrem Magen finden würden“, sagte Richter und zeigte mit dem Daumen über seine Schulter in Richtung der Toten.

„Okay, du schaust oben nach, ich fahre mit Neumann zum Fundort der Leiche und wir treffen uns dann im Café Balzer. Einfach dem Talweg folgen, der führt dich zum Bahnhof. Gleich nebenan ist das Café.“

Richter schien nicht begeistert, nickte aber.

Bereits eine Stunde später saßen sie gemeinsam bei Tee und Kaffee im Café Balzer und wärmten sich auf.

„Der Fundort gibt keine neuen Erkenntnisse her. Die Kriminaltechniker hatten zwar die Stelle ausfindig machen können, wo Sterz mit dem Kopf aufgeschlagen war, aber das bringt uns auch nicht weiter“, sagte Humboldt. Nachdenklich rührte er in seinem Pott Kaffee. „Interessant war nur, dass eine Frau, der unser Toter noch die Post gebracht hat, sich an dem Tag schon gewundert hatte, wo er geblieben war. Anscheinend war er drei Stunden später als sonst dort, um die Post auszutragen. Sie meinte, sich auch zu erinnern, dass er eine Entschuldigung genuschelt hatte und irgendetwas, das wie „Straße vergessen, extra noch mal hergekommen“ geklungen haben könnte. Sie hatte ihn auch hereingebeten, da er sichtlich angeschlagen schien, aber er wollte schnellstmöglich nach Hause. Von ihr hat er übrigens den Spaßmacher bekommen. Dass er dann nur ein paar Schritte weitergekommen war, um dort zu sterben, hat sie ziemlich erschüttert.“

Richter pustete in seinen Tee. Dampfwolken stiegen auf und beschlugen die Brillengläser. Schnell schob er die Brille wieder auf die Stirn.

„Dann kann es natürlich doch sein, dass er seinem Leben selbst ein Ende setzen wollte“, begann Richter schließlich. Vorsichtig nippte er an der Tasse. „Vielleicht hat er in dieser Ecke von Oybin, der Hölle, wirklich vergessen, die Post auszutragen, weil er in Gedanken schon bei seinem Vorhaben war. Ist er denn sehr pflichtbewusst gewesen?“, fragte er an Neumann gewandt.

Der schreckte aus seinen Gedanken. „Nu, doas woar er uff jedn Foalle. Doas isser schunn immer gewaast. Schunn a der Schule“, antwortete Neumann leise.

„Na, dann passt das doch. Obwohl er den Cocktail schon geschluckt hatte, ist er wahrscheinlich noch mal los, um die restliche Post auszutragen. Da hat er wohl nicht damit gerechnet, dass das Zeug so schnell wirkt“, sagte Richter kopfschüttelnd.

„Doas is izte schunn der vierte Kloassnkameroade, dar doas Zeitliche gesegnet hoat. Und mir sann no ne amol sechtsch. Irscht de Zwillinge, die mit een Flugzeuge ims Labm gekumm senn und dann der Kai-Uwe, dan se letztes Jahr aus`m Ulberschdurfer See gefischt hoann.“

Humboldt wurde hellhörig. „Aus dem O-See? Ist er ertrunken?“

„Naja, doas weeß kenner su richtsch. Die Tauchschule, hoat doch vor Jahr`n su anne Underwoasserwalt uffbaun lussn. Doamit de Taucher woas zu guckn hoann, wenn se durt unten senn. Aolle hoann siech gewundert, doas der Kai-Uwe oh tauchn gieht. Mit`m Sport stoand er uff Kriegsfuß. Aber dar woar ja goar ne tauchn. Dar steckte a een underirdisch`n Soarge. Durt is nämlich a klenner Friedhof uffgebaut. Woas die Leute sich ne oalles eifoalln lassn, woas?“

„Und was war dabei herausgekommen?“, hakte Humboldt nach.

„Nischt“, antwortete Neumann.

„Wie, nichts? Wie ist er denn in den Sarg gekommen?“ Humboldt wurde ungeduldig.

„Doas is ja doas Rätsl. Der Kai-Uwe woar ohne Tauchausrüstung durt unten. Die kunnt`n ne feststelln, wie er doa reigekumm woar. Doas woar ja sicher Mord. Nu, wie sull er denn sunst a dan Soarg gekumm senn?“

„Der Mann ist ganz sicher ermordet worden“, meldete sich jetzt Richter zu Wort. „Ich erinnere mich daran, dass Frau Mahler ihn mir geschickt hat.“

Während Humboldt und Neumann gespannt lauschten, nippte Richter genüsslich an seinem Tee und schien den Wissensvorsprung zu genießen. Hauptsache, er erzählt einfach weiter und fängt nicht wieder an, geheimnisvoll auszuholen, dachte Humboldt.

„Das war nicht so einfach“, sprach Richter endlich weiter. Humboldt atmete erleichtert auf. „Der Mann lag schon einige Jahre da unten. Eventuell kannst du dir vorstellen, wie er ausgesehen hat?“

Richter wandte sich an Humboldt.

Humboldt nickte vage. Was sollte er darauf antworten? Natürlich hat er schon einige Wasserleichen gesehen, aber woher sollte er wissen, worauf Richter hinauswollte?

Richter schien unentschlossen zu sein, sprach dann aber doch weiter, ohne Humboldt zu nerven.

„Nein, kannst du nicht! Er wies keine Merkmale einer typischen Wasserleiche auf. Wir hatten es hier mit einer klassischen Wachsleiche zu tun. Bei Ausschluss von Sauerstoff bricht der Verwesungsprozess ab und Leichenlipid entsteht.“

Als Richter nicht weitersprach, hob Humboldt beide Hände zum Zeichen, dass er nicht wusste, wovon Richter redete. Der Rechtsmediziner lächelte huldvoll.

„Also, wenn die Zersetzung im Fäulnisstadium abbricht, verseift das Körperfett und wird zu einer wachsähnlichen Schutzschicht. Du hast sicher schon mal davon gehört, dass Leichen fast vollständig erhalten nach Jahrzehnten aus Gräbern geborgen wurden, die in extrem lehmigen Böden lagen.“ Er zwinkerte. „Und jetzt kommt’s. Da selbst seine Organe noch fast vollständig erhalten waren, konnte ich genauere Untersuchungen vornehmen. Ich konnte also einen Herzinfarkt ausschließen. Nur seine Nieren hatten beträchtlichen Schaden davongetragen. Der war sicher Alkoholiker.“

„Sie sagten, Frau Mahler hat die Untersuchung geleitet?“, wandte sich Humboldt an Neumann.

Neumann nickte. Er war in den letzten Minuten ziemlich blass geworden. Ihm schienen Richters Erklärungen nicht gut bekommen zu sein.

„Okay, dann lass uns aufbrechen“, wandte sich Humboldt an Richter und gab der Kellnerin das Zeichen zur Bezahlung. Er konnte nicht genau sagen, warum ihn das Gefühl beschlichen hatte, dass es zwischen den beiden Opfern einen Zusammenhang geben könnte. Vielleicht einfach deswegen, weil sie sich gekannt hatten. Ansonsten gab es keinerlei Parallelen. Aber es konnte sicher nicht schaden, Linde Mahler dazu zu befragen.


Freitag, 22. Februar 2019

Christin massierte mit der rechten Hand ihren schmerzenden Nacken. Mit der linken umklammerte sie eine Tasse Kaffee. Seit Tagen saß sie vor ihrem Laptop und tat nichts anderes, als sich durch Schulsysteme anderer europäischer Länder zu klicken. Eigentlich sollte sie einen längeren Bericht über die Vor- und Nachteile des deutschen Schulsystems schreiben. Aber je mehr Informationen sie gesammelt hatte, umso klarer war ihr geworden, dass sie sich auf ein Gebiet beschränken sollte. Da war ihr die jüngste Entscheidung des Bundes zum Digitalpakt und Sachsens Entscheidung, sofort zu investieren, gerade recht gekommen. Ihren Chef konnte Christin ebenfalls davon überzeugen, neben den Unterschieden in den Schulsystemen auch die Digitalisierung und ihre Folgen für sächsische Schulen unter die Lupe zu nehmen.

Anfangs war Christin begeistert an die Arbeit gegangen. Nachdem sie sich immerhin aus dem Gesellschaftsressort in die Wirtschaft vorgearbeitet hatte, wobei Politik ihr noch lieber gewesen wäre, waren ihr die kleinen Sparten im Wirtschaftsblatt sicher gewesen. Aber sie hatte mehr gewollt. Recherche gehörte zu ihren Leidenschaften, also konnte sie sich auch in eine Geschichte verbeißen.

Die Euphorie hatte allerdings schnell nachgelassen, als sie Karsten Schmitt, einen erfahrenen Kollegen, zur Seite gestellt bekommen hatte. Als ob sie dieses Thema nicht alleine hätte stemmen können. Sie hatte schon davon gehört, dass ihr Chef noch Ansichten der alten Schule hatte, aber bisher nicht zu spüren bekommen, dass er Frauen weniger zutraute. Nun war es also so und sie musste sich damit abfinden. Was ihr sehr schwer fiel. Es hatte schon damit begonnen, dass Schmitt zu einem Interviewtermin nach Hamburg geflogen war, bei dem er einen Lehrer aus Dänemark getroffen hatte. Sie hatte diesen Lehrer ausfindig gemacht und mit ihm alles Nötige im Vorfeld besprochen und Schmitt war schließlich geflogen. Das hatte sie gewurmt. Deshalb wollte sie unbedingt ihren Teil der Geschichte perfekt recherchiert beitragen. Wenigstens durfte sie sich mit einer Lehrerin aus Dresden treffen, ohne dass Schmitt dazwischen grätschte.

Christin nahm einen Schluck aus ihrer Tasse und verzog das Gesicht. Kalter Kaffee ging gar nicht. Seufzend erhob sie sich und trat ans Fenster. Der Blick aus ihrem Dresdner Büro auf die Waisenhausstraße Richtung Einkaufszentrum hob auch nicht gerade ihre Laune. Die Menschen hasteten auf dem Gehweg entlang, um dem Nieselregen zu entkommen, der schon den ganzen Tag anhielt. Ob es im Zittauer Gebirge schneite? Wenn hier in der Stadt drei Grad plus waren, konnten es im Gebirge gut Minusgrade sein. Vielleicht sollte sie am Wochenende mal wieder in ihre Baude in Oybin fahren und ausspannen.

Bei diesem Gedanken stolperte ihr Herz heftig. Sie war schon mindestens vier Wochen nicht dort gewesen. Und sie wusste auch warum. Die Erinnerung an ihren letzten Aufenthalt bescherte ihr noch immer regelmäßig Gänsehaut. Eigentlich hatte sie damals das Wochenende mit Freunden verbringen wollen. Aber dann hatte einer nach dem anderen abgesagt und übrig geblieben war nur noch Humboldt. Sie konnte es noch immer nicht glauben, dass sie ihn überhaupt eingeladen hatte. Alles hatte mit der Idee, bei Freunden in Oybin Lichten zu gehen, begonnen. Sie hatte wohl gedacht, dass Humboldt sich darunter sicher nichts vorstellen konnte und ihm kurzerhand davon erzählt. Natürlich hatte er mitgewollt, schließlich kannte er die Tradition nicht. Tja, und am Ende waren sie zu zweit mit einer Handvoll Oybiner Freunden in voller Maskerade den Berg hinabgestiegen und hatten den lustigen Abend genossen.

An den Aufstieg zur Baude konnte sie sich nur vage erinnern. Die Heißgetränke hatten Wirkung gezeigt. Auch bei Humboldt. Und so waren sie ab und an schon Arm in Arm den Berg hinaufgeschwankt. Jedenfalls in ihrer Erinnerung. Als sie dann vor der Haustür standen, hatte sie plötzlich die Sehnsucht nach Zweisamkeit überkommen. Sie konnte sich bis heute nicht erklären, was sie da geritten hatte.

Christin stöhnte. Im Nachhinein wirkte es kitschig wie in einem Sonntagabendfilm, aber als sie selbst in dieser Situation gesteckt hatte, war ihr Verstand irgendwie verschwunden gewesen. Als sie endlich im Warmen waren, bedurfte es nicht vieler Worte. Sie hatte Humboldts Hand auf ihrem Rücken gespürt. Oder war es tiefer gewesen? Mit leichtem Druck hatte er sie in ihr Zimmer geschoben. Das Gefühlskarussell hatte überhaupt nicht mehr aufgehört, sich zu drehen. Konnte sie denn mit Humboldt eine Affäre haben? Der Mann, der ihr in den letzten Jahren das Leben manchmal zur Hölle gemacht hatte? Andererseits hatte er es nicht getan, weil er sie hasste, sondern aus beruflichen Gründen. Und warum war er eigentlich an dem Wochenende mitgekommen, wo er doch wusste, dass sie allein sein würden? Gerade als sich ihre Gedanken halbwegs sortiert hatten, hatte sie Humboldts Lippen in ihrem Nacken gespürt. Ein ganzer Ameisenhaufen musste sich aufgelöst und über ihren Körper verteilt haben. Sie hatte die Augen geschlossen, sich langsam zu ihm umgedreht und versucht, in seinen Augen zu lesen. Aber noch ehe sie zu einem Ergebnis gekommen war, hatte er sie einfach hochgehoben und auf dem Bett abgelegt. Alles Weitere war in einer Flut aus Gefühlsexplosionen und Ungläubigkeit versunken. Sie konnte sich noch erinnern, dass er unverschämt gut gerochen hatte, ein zärtlicher Liebhaber war und nicht geschnarcht hatte, als sie den Rest der Nacht eng umschlungen nebeneinander gelegen hatten.

Am Morgen war dann die Ernüchterung gekommen. Wortkarg hatten sie am Frühstückstisch gesessen und beide nicht gewusst, wie sie mit der Situation umgehen sollten. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass jeder seiner Wege ging und sie schon sehen würden, wie es weitergehen konnte.

Mühsam löste sich Christin vom Fenster. Sie hatte genau gewusst, wenn sie die Gedanken an Humboldt und die Nacht mit ihm zulassen würde, wäre es vorbei mit der Konzentration. Deshalb hatte sie sich Tag für Tag verboten, an ihn zu denken. Obwohl er nur ein paar Minuten entfernt in seinem Büro saß und sicher wieder irgendeinen Fall zu lösen hatte. Sie ballte die Faust und seufzte noch einmal aus tiefster Seele. Was sollte sie denn jetzt tun? Schließlich hatten sie seit diesem Wochenende keinen Kontakt mehr. Dann hieß das wohl, dass er alles bereute und sie nicht mehr sehen wollte. Andererseits hatte auch sie sich nicht bei ihm gemeldet. Vielleicht dachte er genauso wie sie?

Christin schüttelte den Kopf. Schluss jetzt! Sie hatte genug zu tun. Mit ihrem Bericht und damit, ihrem Chef zu beweisen, dass sie eigenständig arbeiten konnte. Da hatten Gefühlsduseleien keinen Platz.

Entschlossen schnappte sie sich ihre Kaffeetasse, um in der Küche Nachschub des heißen Getränks zu holen.

+++

Ungeduldig wartete Humboldt, dass das Zeichen für eine eingehende E-Mail erklang. Er saß am Schreibtisch in seinem Büro und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte herum.

Das Telefonat mit Linde Mahler war wenig auskunftsreich gewesen. Nachdem die Leiche des Kioskbesitzers Kai-Uwe Albrecht im letzten Sommer in den Tiefen des O-Sees gefunden worden war, hatte sie kaum Ermittlungsansätze gehabt.

Endlich hörte er ein Pling und öffnete die Mail. Als er den Inhalt der Nachricht ausgedruckt hatte und in den Händen hielt, legte er die Füße auf die Tischplatte und lehnte sich in seinem Stuhl weit zurück. Vielleicht sollte er demnächst einen Liegestuhl beantragen. Irgendwie konnte er besser denken, wenn er nicht so steif am Schreibtisch sitzen musste.

Kai-Uwe Albrecht war 1965 in Zittau geboren und in Oybin aufgewachsen. Die Schule hatte er nach acht Jahren, erst in Oybin, später in Olbersdorf, verlassen, danach eine Lehre zum Kraftfahrzeugschlosser angefangen und später beim Robur gearbeitet. Bis dahin schien in seinem Leben noch alles normal gelaufen zu sein. In den Achtzigerjahren begann dann seine kriminelle Karriere. Neben Diebstahl war er wegen Körperverletzung und Erpressung verurteilt worden, aber nie ins Gefängnis gekommen. Mitte der Achtzigerjahre wurde es plötzlich ruhig um ihn. Noch vor der Wende übernahm er den Bahnhofskiosk und blieb Besitzer bis zu seinem Tod.

„Chef?“, schreckte ihn eine Stimme auf. Lilly Fischer, die Kommissariatsassistentin, stand in der halb geöffneten Tür. „Die anderen warten.“ Sie lächelte entschuldigend.

„Ich komme sofort“, antwortete Humboldt. Er schaute auf die Uhr seines Handys. Auf 10 Uhr hatte er eine Besprechung angesetzt, um mit den Kollegen die beiden Fälle durchzugehen. Da die Unterlagen nicht mehr viel hergaben, steckte er die losen Zettel in eine Mappe und überlegte sich auf dem Weg, wie er gleich beginnen würde.

Gerade als er die Tür des Besprechungsraumes öffnen wollte, hörte er den Dienststellenleiter seinen Namen rufen. An seiner Stimme erkannte Humboldt schon, dass ihn etwas Besonderes erwartete. Wenn Noack so säuselte, fuhr Humboldt direkt alle Antennen aus. Vorsichtig drehte er sich um und eine böse Vorahnung befiel ihn.

„Herr Humboldt, gut, dass ich Sie noch treffe, bevor Sie loslegen. Darf ich Ihnen Ziska Engel vorstellen? Ich hatte Ihnen ja angekündigt, dass Sie Verstärkung bekommen.“ Er strahlte dabei, als wolle er Humboldt ein Weihnachtsgeschenk überreichen.

Die Frau, die Humboldt jetzt gegenüberstand, machte auf den ersten Blick den Eindruck, als hätte Noack sie gerade eben verhaftet. So stellte sich Humboldt eine klassische Rockerbraut vor. Abgesehen von einer Tätowierung, die sich von ihrem hinteren Hals in den offenherzigen Ausschnitt des schwarzen Pullis schlängelte, schmückten eine ganze Reihe von Ringen ihre Ohren und Finger. Die kurzen schwarzen Haare standen wild vom Kopf ab. Darunter musterten ihn zwei dunkle Augen skeptisch.

„Sind Sie fertig?“, fragte sie jetzt mit einer warmen Stimme, die Humboldt direkt in die Wirklichkeit zurück katapultierte. Dieser Ton passte so gar nicht zu ihrem Äußeren.

„Äh ja, Entschuldigung!“ Er streckte Ziska Engel die Hand entgegen. „Humboldt, willkommen im Team!“

Wie er nicht anders erwartet hatte, erwiderte Ziska Engel seine Begrüßung mit kräftigem Händedruck.

„Schauen wir mal“, antwortete sie kurz und nickte.

Irritiert nickte auch Humboldt. Irgendwie überfiel ihn eine Ahnung, dass es nicht leicht werden würde, Ziska Engel ins Team zu integrieren.

„Sie können sich ja gleich selbst vorstellen. Ich weiß nämlich noch nichts über Ihre Vorgeschichte“, sagte Humboldt und öffnete endlich die Tür. Dabei schaute er Noack kurz an und betrat hinter seiner neuen Kollegin den Raum. Noack folgte ihm.

„Entschuldigt, Kollegen, ich bin aufgehalten worden. Darf ich euch vorstellen: Ziska Engel - unsere neue Kollegin“, fiel Humboldt direkt mit der Tür ins Haus. An der Stille im Raum konnte er erkennen, dass sein Team mindestens genauso überrascht war wie er. „Suchen Sie sich einen Platz“, bedeutete er Ziska Engel. „Dann können Sie uns ja gleich erzählen, was Sie zu uns verschlagen hat. Ich darf Ihnen vorstellen: Frank Stein, Mitarbeiter im Innendienst, Lara König, unsere Expertin in Sachen Vernehmung, Mark Vierhaus, IT-Spezialist und Lilly Fischer, Kommissariatsassistentin.“

Ziska Engel entledigte sich zweier Jacken, die sie übereinander getragen hatte, hängte sie über den Stuhl und nahm Platz. Stumm schaute sie von einem zum nächsten, bis ihr Blick bei Humboldt hängen blieb.

„Ziska Engel, 38, wohnhaft in Dresden oder wo auch immer, bisher beim LKA, jetzt hier“, sagte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. Mit einem leichten Lächeln nickte sie Humboldt zu.

„LKA?“, platzte es aus Mark Vierhaus heraus. „Wie cool! Und was machen Sie dann jetzt hier bei uns?“

Ziska Engel hob kurz eine Schulter, ohne Mark Vierhaus dabei anzuschauen.

„Ähm, ja, Frau Engel hatte um Versetzung gebeten. Und da wir ja doch Verstärkung brauchen, dachte ich, sie könnte unser Team bereichern. Als Profilerin, quasi.“ Noack räusperte sich und lächelte dabei unsicher, als Ziska Engel sich langsam zu ihm umdrehte und ihn mit abschätzendem Blick musterte. „So, ich muss dann auch mal weiter. Also, viel Erfolg!“ Mit den letzten Worten war er auch schon zur Tür hinaus.

„Profilerin? Also OFA?“, fragte Frank Stein in die unangenehme Stille hinein.

Ziska Engel nickte.

„Das wird ja immer spannender! Operative Fallanalyse beim LKA? Warum um alles in der Welt haben Sie sich hierher versetzen lassen?“, fragte Mark Vierhaus ungläubig. „Was würde ich darum geben, dort einsteigen zu können!“ Er schaute mit großen Augen in die Runde, so als erwarte er Unterstützung. Erst ein Tritt von Lara König gegen sein Schienbein ließ ihn seine Begeisterung zurückfahren.

„Jemand Kaffee?“ Lilly Fischer war aufgesprungen. „Und natürlich gibt’s Eierschecke und Prasselkuchen.“

„Au ja, ich bin dabei“, antwortete Lara König betont fröhlich.

„Kuchen? Zum Frühstück?“, fragte Ziska Engel. „Nein, danke. Aber Kaffee geht.“

Nachdem die Stimmung im Raum wieder allmählich lockerer wurde, stand Humboldt auf, um die Kollegen auf den neuesten Stand zu bringen.

„Ich weiß, ihr hättet es gerne auf dem Whiteboard, aber ich habe die Unterlagen gerade erst aus Görlitz bekommen. Frank, du kannst ja später gerne alles in den PC hämmern“, begann Humboldt entschuldigend.

Frank Stein lächelte amüsiert.

„Also, wir haben auf der einen Seite den Postboten, Silvio Sterz, Tod durch jahrelangen Medikamentenmissbrauch, nach einem Schwächeanfall oder Suizid erfroren. Und dann haben wir hier noch Kai-Uwe Albrecht, letzten Sommer aus dem Olbersdorfer See gefischt. Gefunden hat ihn ein Taucher. Es gibt im See eine unterirdische Stadt mit Häusern, einer Kirche, einem Friedhof und was weiß ich noch alles. Ein Tummelplatz für alle Taucher. Albrecht hat wohl in einem Sarg gelegen, der auf dem Friedhof steht. Der Taucher hat ihn nur deshalb entdeckt, weil sie die Unterwassergebäude warten sollten und der Deckel des Sarges nicht richtig auflag. Warum ihnen das nicht schon vorher aufgefallen ist, konnte keiner beantworten. Laut Richter hat Albrecht schon ein paar Jahre dort gelegen. Aber welcher Taucher rechnet schon damit, dass auf dem Friedhof da unten eine echte Leiche liegt.“

Humboldt hängte Bilder der beiden Toten an die herkömmliche Pinnwand. Auf zwei Zettel schrieb er die Namen der Toten und pinnte sie darunter. Da der untere Teil der Pinnwand beschreibbar war, notierte er die Todesursachen und verband beide Seiten durch Pfeile. Dann drehte er sich wieder seinen Kollegen zu.

„Was wir bisher wissen, ist, dass die beiden Schulkameraden waren. Übrigens ebenso wie Bürgerpolizist Karl Neumann, wer sich noch an ihn erinnert.“

Humboldt wartete das Nicken seiner Kollegen ab und fuhr fort. „Der Fall Albrecht ist zu den Akten gelegt worden, da die Görlitzer nicht mehr weitergekommen sind. Jetzt haben wir einen neuen Anhaltspunkt und werden dem nachgehen. Lara, Sie suchen bitte raus, wann die beiden in welche Schule gegangen sind und wer die restlichen Klassenkameraden waren. Waren die beiden näher befreundet? Mit wem sonst noch? Sie können auch Karl Neumann zurate ziehen, der ist sicher sehr auskunftsfreudig. Frank, recherchiere du mal bitte, wann die Tauchschule am O-See gegründet wurde und was es mit dieser unterirdischen Stadt auf sich hat. Wer geht dort tauchen, wer hat Zugang zur Tauchausrüstung und so weiter.“

Unschlüssig drehte er sich Mark Vierhaus und Ziska Engel zu. „Kann jemand von euch tauchen? Nur für den Notfall, dass wir doch noch mal runter gehen müssen“, fragte er schließlich.

Mark Vierhaus schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. „Ich bevorzuge festen Boden unter meinen Füßen“, sagte er gepresst.

Humboldt erinnerte sich daran, dass sein Kollege mit Höhenangst zu tun hatte.

„Klar, kein Problem! Und Sie?“, hörte er Ziska Engel fragen.

Humboldt nickte. „Ja, ich habe einen Tauchschein.“ In Gedanken war er schon auf dem Weg zum O-See. Dann fiel ihm sein letzter Tauchurlaub in Ägypten ein, der schon Jahre zurücklag. Dort war es wahrscheinlich wesentlich angenehmer, als im Februar in einem See im Gebirge abzutauchen.

Kurz bevor er den Raum verließ, hielt Humboldt inne und drehte sich noch einmal zu Ziska Engel um.

„Willkommen im Team“, sagte er und nickte. „Lilly, zeigen Sie Frau Engel alles?“ Dann schloss er eilig die Tür.


Samstag, 23. Februar 2019

Als Christin erwachte, stand die Sonne schon ziemlich hoch am Himmel. Verschlafen schaute sie auf ihr Handy. Gleich 11 Uhr! Ruckartig setzte sie sich auf. Sofort signalisierte ihr Kopf, dass das keine gute Idee gewesen war. Vorsichtig schob sie die Beine aus dem Bett. Wann hatte sie das letzte Mal so lange geschlafen?

Nachdem sie am Nachmittag einen Anruf ihrer Freundin Andrea bekommen hatte, ob sie denn am Wochenende in Oybin sei, hatte sie kurzerhand ihren Laptop und ein paar Klamotten eingepackt und sich auf den Weg in ihre Baude gemacht.

Allerdings war ihr das Schreiben hier schwergefallen. Erst hatte sie es noch mit einem Glas Rotwein probiert, aber als sich die Gedanken nicht mehr vertreiben ließen, hatte sie den Laptop zugeklappt und war ins Bett gegangen.

Natürlich waren auch hier die Erinnerungen an die gemeinsame Nacht mit Humboldt nicht ausgeblieben. Fast hatte sie gemeint, seinen Duft und die zärtlichen Berührungen auf ihrer Haut zu spüren. Erst das dritte Glas Rotwein hatte Wirkung gezeigt und sie in einen traumlosen Schlaf fallen lassen.

Christin tappte ins Bad, ohne ihren Kopf zu sehr bewegen zu müssen. Sie ließ ihr Nachthemd auf den Boden fallen und schlüpfte unter die Dusche. Das kalte Wasser stach zwar wie Nadelstiche auf ihrer Haut, war aber das Einzige, was sie wach werden ließ.

Als sie sich angekleidet und ein leichtes Make-up aufgelegt hatte, ging sie in die Küche und schaltete den Kaffeeautomaten an. Sie musste Andrea anrufen und ihr beichten, dass sie sich verspäten würde. Aber sie wusste, dass ihre Freundin nicht sauer sein würde. Schließlich konnten sie auch noch eine halbe Stunde später brunchen. Erst brauchte sie eine Kopfschmerztablette und einen Kaffee, dann würde die Welt sicher wieder anders aussehen.

„Oh, du siehst aus, als hättest du eine spannende Nacht hinter dir“, begrüßte Andrea sie lachend, als Christin wenig später in einen dicken Schal gehüllt vor ihrer Tür stand.

„Sehr lustig“, murmelte Christin. „Und nein, du musst nicht nach Männern Ausschau halten. Ich bin allein hier. Das war ich auch letzte Nacht.“ Sie schob ihre Freundin ins Haus, die mit langem Hals den Weg Richtung Christins Auto abgesucht hatte.

„Ich habe auch nicht nach Männern Ausschau gehalten, höchstens nach einem ganz bestimmten, wie du dir denken kannst“, lachte Andrea.

Christin seufzte. „Genau der war der Grund für meine schlaflose Nacht.“

„Oh, also doch spannend! Ich will alles wissen! Geh schon mal ins Esszimmer, ich hole schnell den Kaffee“, sagte Andrea und verschwand in der Küche.

„Da gibt’s nicht viel zu erzählen“, begann Christin schließlich. Sie hatte sich eine Roggensemmel mit Käse belegt und knabberte daran herum. „Wir haben uns seit unserem Besuch bei dir und der Nacht danach nicht mehr gesehen. Und davon weißt du ja schon alles.“

„Er hat sich nicht ein einziges Mal gemeldet?“, fragte Andrea mitfühlend.

Christin schüttelte den Kopf.

„Und dienstlich seid ihr euch auch nicht über den Weg gelaufen?“, hakte sie nach.

„Das ist ja dann wohl eindeutig. Ich komme mir nur so bescheuert vor. Warum bin ich denn auf den Typ hereingefallen? Es war doch alles gut, als wir uns eher an die Gurgel gehen wollten als miteinander ins Bett.“ Christin feuerte die Serviette neben ihren Teller.

„Du würdest also gerne wieder mit ihm in der Kiste verschwinden?“ Andrea grinste schelmisch, als sie ihre Kaffeetasse zum Mund führte.

„So habe ich das nicht gesagt“, brauste Christin auf, bremste sich aber direkt wieder, als sie Andreas Grinsen sah. „Ich weiß nur nicht, was ich jetzt machen soll.“

„Würdest du ihn denn gerne sehen wollen?“, fragte Andrea. Das Schmunzeln war einem ernsten Ausdruck gewichen.

Christin hob die Schultern an. „Ich würde wenigstens mal mit ihm über die Nacht reden wollen. Und vielleicht darüber, was das jetzt mit uns ist. Normalerweise springe ich nicht mit jemandem ins Bett und habe danach keinen Kontakt mehr.“

„Wie wäre es dann, wenn du ihn einfach mal zum Essen einlädst?“, fragte Andrea. Sie schenkte Christin Kaffee nach.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739469232
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (September)
Schlagworte
Zittau Lichten Olbersdorfer See Kirche Winterkrimi Zittauer Gebirge Sachsen Oberlausitzkrimi Oybin Regionalkrimi Krimi Ermittler Thriller Spannung

Autor

  • Jana Thiem (Autor:in)

Jana Thiem, in Görlitz geboren und im Zittauer Gebirge aufgewachsen, war schon immer von ihrer Lieblingsstadt Dresden fasziniert. Kein Wunder also, dass hier ihre schriftstellerischen Wurzeln liegen. Nach 20 Jahren kehrt sie nun wieder in ihre Heimat zurück, auch, um den Verbrechen um Humboldt und Co. noch näher auf der Spur sein zu können. Wenn sie nicht schreibt, arbeitet sie als selbstständige Webdesignerin.
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Titel: Humboldt und der kalte See