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INSELrot

Syltroman

von Stina Jensen (Autor:in)
330 Seiten
Reihe: INSELfarben-Reihe, Band 7

Zusammenfassung

Gerade als Sandras Beförderung in der Kanzlei ansteht, wird sie auf die Nordseeinsel ihrer Kindheit gerufen. Auf Sylt wartet das baufällige Haus ihres Großvaters. Und eine Hochzeitseinladung von Lars. Ausgerechnet.
Schon denkt sie zurück an die Sommertage, an denen sie mit Lars und Ole im alten Leuchtturm Verstecken gespielt hat. Damals hat Sandra gehofft, dass Lars auch in sie verliebt ist. Aber der hatte nur Augen für eine andere. Schließlich brach alles auseinander.
Jetzt kehrt Sandra zurück, und sie spürt, dass sich der Wind gedreht hat. Lars' Liebesleben scheint gar nicht so märchenhaft, wie er vorgibt. Und Ole ist von einem schüchternen Jungen zu einem gestandenen Mann geworden. Während zu Hause die Wogen in der Kanzlei hochschlagen, denkt Sandra über einen Neuanfang auf ihrer geliebten Insel nach. Damit bringt sie nicht nur Lars‘ Hochzeitspläne ins Wanken. Auch Ole macht ihr behutsam klar, dass er nicht mehr nur Verstecken spielen will …

Die Romane der INSELfarben- und GIPFELfarben-Reihe sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.

Die chronologische Reihenfolge der Romane:
Inselblau (Svea, Langeoog und Mallorca), Inselgrün (Wiebke, Irland), Inselgelb (Claire, Island), Inselpink (Ida, Mallorca), Inselgold (Amanda, Rügen), Gipfelblau (Annika, Zermatt), Gipfelgold (Mona, Bad Gastein), Gipfelrot (Valerie, Schottland), Inseltürkis (Terry, Sardinien), Inselrot (Sandra, Sylt), Gipfelpink (Susa, Teneriffa), Inselhimmelblau (Svea, Langeoog), Gipfelglühen (Sebastian, Allgäu)

Außerdem:
»Plätzchen, Tee und Winterwünsche«, »Misteln, Schnee und Winterwunder«, »Sterne, Zimt und Winterträume«, »Muscheln, Gold und Winterglück«, »Vanille, Punsch und Winterzauber«, »Mondschein, Flan und Winterherzen«, »Engel, Blues und Winterfunkeln«, »Sommertraum mit Happy End«, »Stürmisch verliebt«

Spannung und Gefühl vor bedrückender Küstenkulisse. Die Levke-Sönkamp-Reihe – Privatermittlerin mit stolperndem Herzen: Möwentrauer, Möwenschuld, Möwenzorn

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum

Erstausgabe: April 2020

© Stina Jensen

Robert-Bosch-Straße 48

61184 Karben

info@stina-jensen.de

www.stina-jensen.de

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung der Verfasserin urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werkes sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten zu existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Lektorat: Ricarda Oertel www.lektorat-oertel.de

Korrektorat: Ruth Pöß www.das-kleine-korrektorat.de

Covergestaltung © Traumstoff Buchdesign by Claudia Toman

Covermotive © Benno Hoff und 24Novembers shutterstock.com

Das gesamte Programm von Stina Jensen findest du hier.

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Über die Autorin

STINA JENSEN schreibt Insel- und Gipfelromane, romantische Komödien und Krimis. Sie liebt das Reisen und saugt neue Umgebungen in sich auf wie ein Schwamm.

Meist kommen dabei wie von selbst die Figuren in ihren Kopf und ringen dort um die Hauptrolle in ihrem nächsten Roman. Wenn sie nicht verreist, lebt die Autorin mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt am Main.

Stina Jensen

Das Buch

Gerade als Sandras Beförderung in der Kanzlei ansteht, wird sie auf die Nordseeinsel ihrer Kindheit gerufen. Auf Sylt wartet das baufällige Haus ihres Großvaters. Und eine Hochzeitseinladung von Lars. Ausgerechnet. 

Schon denkt sie zurück an die Sommertage, an denen sie mit Lars und Ole im alten Leuchtturm Verstecken gespielt hat. Damals hat Sandra gehofft, dass Lars auch in sie verliebt ist. Aber der hatte nur Augen für eine andere. Schließlich brach alles auseinander. 

Jetzt kehrt Sandra zurück, und sie spürt, dass sich der Wind gedreht hat. Lars’ Liebesleben scheint gar nicht so märchenhaft, wie er vorgibt. Und Ole ist von einem schüchternen Jungen zu einem gestandenen Mann geworden.

Während zu Hause die Wogen in der Kanzlei hochschlagen, denkt Sandra über einen Neuanfang auf ihrer geliebten Insel nach. Damit bringt sie nicht nur Lars’ Hochzeitspläne ins Wanken. Auch Ole macht ihr behutsam klar, dass er nicht mehr nur Verstecken spielen will …

Ein Roman, mitreißend, wie ein Sommersturm an der Nordsee …

Vorwort

Liebe Leserinnen und liebe Leser,

obwohl ich mir immer die größte Mühe gebe, bei den Ortsbeschreibungen so exakt wie möglich zu bleiben, komme ich nicht darum herum, die örtlichen Gegebenheiten teilweise den Erfordernissen der Handlung anzupassen. So habe ich den Namen des Lokals »Windrose« frei erfunden und auch ein paar Details um den Hörnumer Leuchtturm und in Kampen angepasst. Die Handlung sowie die Personen dieses Romans sind rein fiktiv; Ähnlichkeiten zu realen Persönlichkeiten oder Ereignissen wären rein zufällig.

Nun wünsche ich euch viel Freude mit Sandra auf Sylt!

Logo

PROLOG

Der Hörnumer Leuchtturm steht auf einer sechzehn Meter hohen Düne am südlichsten Zipfel von Sylt. Als ich das Auto in Richtung des kleinen Küstenortes lenkte, war seine rot-weiß-gestreifte Fassade schon von weitem zu erkennen.

Direkt hinter der Crêpebude am Oststrand fand ich einen Parkplatz und stieg mit wackligen Beinen aus. Mein linkes Knie zierte ein Pflaster. Ich zog meine Handtasche vom Beifahrersitz und stakste los. Allein.

Auf dem Weg den Hügel hinauf legte ich den Kopf in den Nacken und blickte nach oben zur Leuchtturmspitze. Das Rot in den Streifen des Turms zeichnete sich wunderschön vor dem Blau des Himmels ab. Wahrscheinlich genauso wie mein nagelneuer roter Hut, den ich auf dem Kopf trug.

Auf dem Plateau angekommen, entdeckte ich Inga vor dem Eingang zum Turm, umringt von der Schar ihrer Hochzeitsgäste. Sie sah blass um die Nase aus; ihr weißes Brautkleid hielt sie knöchelhoch, damit es am Saum nicht schmutzig wurde.

Angeblich war es ihr Wunsch gewesen, sich hier trauen zu lassen. Nicht der von Lars. So ganz konnte ich das zwar nicht glauben. Aber als ich ihn danach fragte, hatte er es geschworen.

Ich schätzte die Anzahl der Gäste auf um die siebzig. Da das Trauzimmer in der Spitze des Leuchtturms nur Platz für das Brautpaar, die Trauzeugen, den Standesbeamten und sieben weitere Personen bot, würden wir hier unten warten und Inga und Lars nach ihrer Heirat einen lautstarken Empfang bereiten, wenn sie den Leuchtturm wieder verließen. Allerdings hatte ich nicht vor mitzujubeln. Das wäre zu heuchlerisch gewesen.

Inga sah auf ihre zierliche, goldene Armbanduhr. Bestimmt war sie wahnsinnig nervös.

Wo war eigentlich Lars?

Wieder blickte ich zum Himmel und hoffte, dass das Wetter hielt. Ich trug nur ein leichtes, cremefarbenes Kleid und den roten Hut, den ich mit Klammern so befestigt hatte, dass er mir nicht vom Kopf wehen würde. Ingas hochgesteckte blonde Locken waren an den Schläfen zu Korkenzieherlöckchen gekräuselt und wehten ihr ins Gesicht.

Ich winkte ihr zaghaft zu, bewegte mich aber nicht von der Stelle. Vielleicht wünschte sie sich, dass ich zu ihr kommen und mit ihr zusammen nach Lars Ausschau halten würde, der sich offenbar verspätete. Genauso wie Ingas Trauzeugin Tessa, die auch noch nirgends zu sehen war.

Ingas Mutter trug ein türkisfarbenes Kostüm mit passendem Hut; eben raunte sie ihrer Tochter etwas ins Ohr. Inga faltete kopfschüttelnd die Hände.

In meinem Bauch rumorte es. Lars’ Zuspätkommen hatte doch nichts mit mir zu tun?

»Hey«, sagte plötzlich Ole neben mir.

»Auch ›hey‹«, murmelte ich und ließ mir nichts anmerken. Ich hatte ihn jetzt seit fast einer Woche nicht gesehen, und dass er hier mit einem Mal neben mir stand, trug nicht gerade zu meiner inneren Ausgeglichenheit bei.

»Was ist mit deinem Knie passiert?« Er deutete auf das Pflaster.

»Ach«, winkte ich klopfenden Herzens ab, »das ist nichts.«

Verstohlen musterte ich ihn. An seinen Anblick im festlichen dunkelblauen Anzug hatte ich mich noch immer nicht gewöhnt. Ich kannte diesen hochgewachsenen Mann nun schon seit Kindertagen, in denen er stets eine blaue Latzhose getragen hatte. Allerdings war aus dieser Zeit nur sein verschmitztes Lächeln übriggeblieben. Spielerisch stieß er mich in die Seite und zwinkerte mir zu. »Entspann dich, Sandra.«

Schnell schaute ich fort. Ole sollte auf keinen Fall ahnen, was in mir vorging. Und er konnte auch nicht wissen, dass ich langsam fürchtete, in letzter Sekunde einen Eklat ausgelöst zu haben. Eben kam ein bärtiger Mann in taubenblauem Anzug und reichte Inga ein Handy.

Die Braut presste das Gerät ans Ohr und lauschte. Der Wind fuhr unter ihr Kleid und bauschte es auf. Sie drückte den Stoff nach unten und verzog gleichzeitig in unendlichem Kummer das Gesicht. »Was sagst du?«, rief sie gegen die Brise an. »Wie kannst du mir das antun?« Sie ließ das Telefon sinken. Sah aus, als wollte sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen.

Ihr Blick schweifte zu mir. Sie fixierte mich. Dann musterte sie mit zusammengekniffenen Augen das Pflaster auf meinem Knie. O nein. Hatte sie etwa soeben von dem neuesten Eintrag in Lars’ Eroberungs-Karteikasten erfahren?

In diesem Moment bereute ich aus tiefstem Herzen, dass ich mich gestern Abend auf den Weg zur Windrose, dem Restaurant von Lars’ Vater, begeben hatte. Oder nein. Ich hätte schon vor fünf Monaten ein paar ganz andere Entscheidungen treffen sollen.

1

Am dritten Januar nahm alles seinen Anfang. Ich saß meinem Chef Bruno Hesselbach in seinem Büro gegenüber. Er war Gründungsmitglied der Frankfurter Rechtsanwaltskanzlei Hesselbach & Associates und zeigte auf den nagelneuen Ring an meinem Finger. »Was haben wir denn da?«

Verlegen nestelte ich an der Perle. »Henning hat mir einen Antrag gemacht«, erwiderte ich und betrachtete das hübsche Schmuckstück, wie ich es in den letzten Tagen oft getan hatte. Die Goldschmiedin, bei der Henning den Ring hatte anfertigen lassen, hatte die zartschimmernde Kostbarkeit in einen Knoten eingebunden, als läge sie in einem Nest. Ich hatte das Stück sofort geliebt und zu Hennings Antrag an Silvester »Ja« gesagt. Zwar verlor man als Fachanwältin für Familienrecht manchmal den Glauben an die immerwährende Liebe. Aber vielleicht ging die Sache zwischen mir und meinem Verlobten ja gut. Bestimmt sogar.

Hesselbach zog bewundernd die Augenbrauen hoch. »Sehr schönes Stück. Wie lange kennen Henning und Sie sich jetzt eigentlich? Zwei Jahre? Seit wir zusammen bowlen waren, oder?«

Ich bejahte. Mein Zukünftiger und ich hatten uns auf einem kanzleiübergreifenden Event kennengelernt. Es war nicht gerade Liebe auf den ersten Blick gewesen, weil Henning sich ein bisschen zu sehr angestrengt hatte, mir zu gefallen. Aber gleichzeitig genoss ich sein Werben. Er war zuvorkommend und aufmerksam – das wünscht man sich doch von einem Mann. Henning war immer pünktlich und zuverlässig, außerdem auch noch ziemlich ordentlich und obendrein klug … ich konnte mir keinen besseren Partner an meiner Seite wünschen. Abgesehen davon war ja auch gar kein anderer in Sicht.

»Wo soll die Hochzeit stattfinden?«, bohrte Hesselbach weiter. »Auf dem Römer?«

»Das stellt Henning sich wohl so vor«, stimmte ich zu. »Ich hab mir darüber ehrlich gesagt noch nicht viele Gedanken gemacht.«

Zwar hatte ich als Kind einen konkreten Traum gehegt, aber das war lange her. Ich war jetzt vierunddreißig, da erwartete man nicht mehr, dass sich Kindheitsträume erfüllten. Und eine Hochzeit von Henning und mir auf dem Hörnumer Leuchtturm war auch irgendwie abwegig.

Hesselbachs Miene wurde ernst. »Sie sind aber nicht schwanger, oder?«

Mir entfuhr ein ungläubiges Schnauben. Das durfte er als mein Chef mich gar nicht fragen. »Machen Sie sich keine Sorgen, ich bleibe Ihnen noch lange erhalten«, antwortete ich sachlich. »Ich will hier ja noch viel erreichen.«

Erwartungsvoll sah ich Hesselbach an. Er hatte mich zum sogenannten Jahresendgespräch zu sich gerufen, obwohl das neue Jahr schon angebrochen war. Aber zwischen den Jahren hatten wir nicht mehr die Zeit dazu gefunden.

Hesselbach faltete die Hände auf dem Schreibtisch. »Das trifft sich gut, denn ich wollte Ihnen eigentlich ein Angebot machen.«

Gespannt setzte ich mich auf. Dachte an Henning, der in seiner Kanzlei vor nicht allzu langer Zeit zum Senior-Anwalt befördert worden war. Würde ich ab heute auch diesen Titel tragen? Bei uns nannte es sich Senior-Associate, Hesselbach hatte ein paar Semester in den USA studiert und die amerikanischen Bezeichnungen für seine Kanzlei übernommen.

»Aber jetzt habe ich es mir anders überlegt«, fuhr mein Chef fort.

»Oh?«

»Sie haben mir doch erzählt, dass Henning auf eine Partnerschaft bei Bachmann & Partner aus ist.«

Schweigend sah ich Hesselbach an. Das stimmte. Mein Verlobter hatte sich als Fachanwalt im Unternehmensrecht bewährt, und die Zeit war seiner Meinung nach reif für diesen ultimativen Karrieresprung. Worauf wollte Hesselbach jetzt hinaus?

»Bevor er Sie uns vor der Nase weg engagiert – als Partner könnte er Ihnen ja ohne Probleme ein Angebot unterbreiten – biete ich Ihnen eine Vollpartnerschaft in unserer Kanzlei an.«

Mir blieb der Mund offenstehen. Die Führungsriege von Hesselbach & Associates war durchweg männlich. Meines Wissens war noch nie eine Frau für eine Partnerschaft im Gespräch gewesen. Und auch kein Kollege hatte bisher den Sprung vom Junior Associate in die Partnerriege geschafft. Zuerst musste man sich als Senior ein paar Jahre bewiesen haben.

»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll«, stammelte ich verblüfft.

Hesselbach nickte mir aufmunternd zu. »Überlegen Sie es sich einfach in Ruhe. Denken Sie, eine Woche Bedenkzeit wäre genug?«

Ich krächzte eine Zustimmung, und bald verabschiedeten wir uns. Auf dem Weg zurück in mein Büro machte sich ein Kribbeln wie von einer Armee Ameisen auf meinen Armen breit. Wenn ich das Henning erzählte, er würde … er würde … Mit einem Mal war mein Mund trocken, ein leises Zittern erfasste mich. Das war so eine ungeliebte Marotte von mir: Sobald mich etwas verunsicherte, gab mein Körper dieses Echo. Unwillkürlich musste ich an die Scheidungssache denken, die ich kürzlich verhandelt hatte. Der Mann hatte es nicht ertragen können, dass seine Frau beruflich erfolgreicher war als er. Sie hatte von ihm erwartet, dass er sich im Haushalt und mit den Kindern mehr einbrachte, weil sie geschäftlich viel unterwegs war. Und obwohl seine Stelle das zugelassen hätte, war diese Rollenverteilung für ihn undenkbar. Zuerst betrog er seine Frau mit seiner Assistentin, dann reichte er die Scheidung ein. Wegen unüberbrückbarer Differenzen.

Mit weichen Knien ließ ich mich in meinem Zimmer auf den Schreibtischstuhl fallen. Bei Henning und mir würde das natürlich vollkommen anders werden, beruhigte ich mich. Vielleicht würde es kurz an ihm nagen, dass man mir vor ihm diesen Karriereschritt angeboten hatte. Aber er war Manns genug, das nicht persönlich zu nehmen. Ich würde ihm etwas von einer Frauenquote erzählen und ihm sagen, dass er diesen Posten genauso verdient hätte wie ich. Zwar flüsterte etwas in mir, dass ich mir nicht so viele Gedanken machen und dieses tolle Angebot einfach gebührend feiern sollte – so würde ich es auch jeder Mandantin raten. Aber die gelebte Praxis sah selbst im Alltag einer gewieften Anwältin anders aus. Ich wollte nicht, dass mein Freund sich klein fühlte. Wir beide lebten seit einem halben Jahr zusammen. Henning war zu mir in die Jugendstilwohnung im Frankfurter Westend gezogen, die meinem Vater gehörte. Mein Freund hatte lediglich sein schwarzes Ledersofa, die Ruderbank und einen Satz geschliffene Whiskygläser mitgebracht. Wir führten ein gleichberechtigtes Leben und versuchten liebevoll, dem anderen zu gefallen. Am Wochenende kaufte Henning, der eigentlich überzeugter Fleischesser war, mir zuliebe auch viel Gemüse und Rohkost ein. Abends aßen wir oft Salat, weil ich so spät nichts Schweres mehr zu mir nehmen wollte; das Grünzeug knabberten wir dann vor dem Fernseher, wo wir uns über die Angelegenheiten aus dem Büro unterhielten. Dabei waren wir nicht immer einer Meinung, hörten uns aber die Ansicht des anderen mit offenen Ohren an. Beispielsweise beschäftigte Henning eine Assistentin, eine junge alleinerziehende Mutter, die er nach meinem Empfinden nicht ganz fair behandelte. Er vertrat die Auffassung, man sollte auf private Umstände als Chef keine Rücksicht nehmen müssen, doch da war ich anderer Meinung. In Wahrheit waren Mütter besonders leistungsfähig, weil sie obendrein ihren Alltag mit den Kids organisieren und strukturieren mussten. Also hatte er ihr nach gutem Zureden einen Home-Office-Arbeitsplatz für den Notfall eingerichtet. Umgekehrt war Henning der perfekte Gesprächspartner, wenn es darum ging, in einem Verfahren das Beste für meine meist weiblichen Mandantinnen herauszuholen. Wir ergänzten uns perfekt.

Dennoch blieb das mulmige Gefühl in meiner Brust, als ich mich von der Kanzlei auf den Nachhauseweg begab. Wie würde Henning die Neuigkeit auffassen? Oder konnte ich hoffen, dass er demnächst auch am Ziel seiner Wünsche ankommen würde? Sein Jahresendgespräch stand nämlich auch noch aus.

Im Hausflur fischte ich aus dem Briefkasten einen cremefarbenen Umschlag, in dessen oberer linker Ecke die Zeichnung einer fliegenden Möwe zu sehen war. Darunter der geschwungene Schriftzug »Grüße von Sylt«. Meine Adresse war in einer fast kindlich anmutenden Schreibschrift geschrieben, die ich sofort erkannte. Sie stammte von Inga.

»Wow«, murmelte ich und öffnete noch im Hausflur den Falz. Wie lange hatten Inga und ich schon nichts voneinander gehört? Ich überlegte. Ziemlich genau zwölf Jahre. In jenem Sommer, als ich das letzte Mal die Ferien bei meinem Großvater auf Sylt verbracht hatte – bevor sich dort die Ereignisse überschlugen – hatte ich sie Lars vorgestellt, meiner damaligen heimlichen großen Liebe. Ich hatte meine Hamburger Freundin mitgenommen, weil sie sich gerade frisch von ihrem Freund getrennt hatte. Sie brauchte dringend eine Ablenkung. Die bekam sie dann auch.

»Du bist also der berühmte Herzensbrecher«, hatte Inga zu Lars gesagt und ihn dabei so frech angegrinst, dass er sich auf der Stelle in sie verguckte. Ich stand daneben und konnte nicht fassen, was sich da vor meinen Augen abspielte. Zum einen, weil sie verraten hatte, dass ich ihn als Herzensbrecher sah. Zum anderen, weil ihm damit doch klar sein musste, dass er auch meines gebrochen hatte. Und zwar unentwegt aufs Neue, wenn er mir im Laufe der Jahre, während aus uns Kindern Erwachsene geworden waren, bei meinen Besuchen auf der Insel eine Eroberung nach der anderen vorstellte.

Als wir jünger gewesen waren, hatte Lars mir sogar heimlich einen Karteikasten gezeigt, in dem er auf Kärtchen über seine neuen Flammen Buch führte. So kam er nicht durcheinander – weder bei den Kosenamen, die er sich für sie ausdachte, noch bei ihrem Sternzeichen oder den Eckpfeilern ihrer persönlichen Geschichte.

Klopfenden Herzens klappte ich die Karte auf, die mit den Worten »Hochzeitseinladung« tituliert war.

Inga Lürsen und Lars Benning trauen sich!

Am Freitag, dem 1. Mai um 11 Uhr geben sie sich auf dem Hörnumer Leuchtturm das Ja-Wort. Die anschließende Feier findet in der ›Windrose‹ statt.

Und du, liebe Sandra, bist herzlich eingeladen. Gern mit Begleitung!

Ich wendete die Einladung auf der Suche nach persönlichen Zeilen, doch da waren keine. Langsam ließ ich die Karte sinken.

Dass Lars sich eines Tages auf jemanden festlegen würde, hätte ich nie erwartet. Nicht zu fassen, dass Inga und er immer noch ein Paar waren und nun sogar heiraten wollten. Ich gab es nicht gerne zu, aber diese Tatsache versetzte mir einen Stich. Also war er doch ruhiger geworden. Und ausgerechnet bei Inga geblieben, die auch kein Kind von Traurigkeit gewesen war.

Als jüngere Kinder, bevor mein Herz jedes Mal aus dem Takt geriet, wenn ich ihn sah, waren Lars und ich beste Ferienfreunde gewesen. Ole, der drei Jahre jüngere Nachbarsjunge meiner Großeltern, war damals auch oft dabei. Wir hatten Verstecken und Fangen gespielt, waren zusammen schwimmen gegangen, und eines Tages hatte Lars die Idee, auf dem Hörnumer Leuchtturm mit Ringen aus Kaugummipapier in luftiger Höhe Oles und meine Trauung zu inszenieren. Er selbst spielte den Standesbeamten, und ich hatte mir insgeheim nichts mehr gewünscht, als dass er auf dem Bänkchen neben mir gesessen hätte. Und nicht Ole, der immerhin einen ganzen Kopf kleiner war als ich.

Ich musste Inga zugutehalten, dass sie nicht ahnte, wie sehr ich in Lars verliebt gewesen war und wie oft ich davon geträumt hatte, er und ich könnten uns dort oben eines Tages tatsächlich das Ja-Wort geben.

Welche Gedanken waren ihm wohl durch den Kopf gegangen, als er mich auf die Einladungsliste setzte? Wahrscheinlich lautete die bittere Wahrheit: gar keine.

Die Tatsache, dass Lars und Inga noch immer ein Paar waren, hätte mich nicht so sehr treffen dürfen. Meine damalige Liebe zu ihm war doch nichts als die Schwärmerei eines kleinen Mädchens gewesen. Obendrein hätten wir nie eine Chance gehabt – ich hatte in Hamburg Jura studiert, während Lars in das Szene-Lokal seines Vaters einsteigen sollte. Inga, die Touristik studiert hatte, passte viel besser zu ihm. Aber nur einmal angenommen, ich hätte Lars Inga niemals vorgestellt. Wäre meine Zukunft anders verlaufen? Hätte ich meinem Schwarm eines Tages meine Liebe gestanden? Und wenn ich es getan hätte und aus uns ein Paar geworden wäre, so wie ich es mir immer erträumt hatte – wären wir noch immer zusammen? Würde ich ein aufregenderes Leben führen als jetzt? Zugegeben, mein Alltag war von morgens bis abends durchgetaktet. Von In-den-Tag-hineinleben konnte nicht die Rede sein. Innerlich tippte ich mir an die Stirn. Es war doch alles perfekt, so wie es war. Ich liebte meinen Beruf und mein Leben in Frankfurt. Selbst Lars’ Vater hatte immer gesagt, ich sei so brav und rechtschaffen, dass es ihm schon fast unheimlich wäre.

Seufzend stopfte ich die Karte zurück in den Umschlag und verstaute ihn in meiner Handtasche. Ich hatte mit den beiden abgeschlossen, genauso wie mit Sylt. Zu viele schmerzhafte Erinnerungen hielten mich seit zwölf Jahren fern. Für diese waren längst nicht nur Inga und Lars verantwortlich. Ganz andere schreckliche Ereignisse hatten meine gesamte Familie ins Chaos gestürzt. Auch meine Eltern hatten seither keinen Fuß mehr auf die Insel gesetzt. Abgesehen davon hatten sie sich bald danach scheiden lassen. Ich schüttelte die Gedanken daran ab und stieg beklommen die ausgetretenen Holzstufen des Treppenhauses zu meiner Wohnung nach oben. Sagte mir, dass ich mich besser auf Henning freuen sollte, statt über Vergangenes zu grübeln. Mein Freund hatte mir eine Nachricht gesendet, er sei schon daheim und warte auf mich. Seit seinem Antrag an Silvester vor drei Tagen wirkte er noch verliebter.

Verstohlen betrachtete ich wieder den Ring an meinem Finger. Henning hatte damit so sehr meinen Geschmack getroffen. Ein warmes Gefühl breitete sich in meiner Brust aus, während ich die letzten Stufen zu unserer Wohnung nahm.

Als ich den Schlüssel ins Schloss steckte, hörte ich von drinnen Musik von Sade. Ich grinste in mich hinein. Manchmal hatte ich meinen Freund in Verdacht, dass er sich auf einschlägigen Onlineportalen darüber informierte, was Frauen gerne mochten. Oft entzündete er Kerzen und spielte gedämpfte Musik, mal gab es spicy Essen oder Eis mit heißen Himbeeren, das wir dann genüsslich auf der Zunge zergehen ließen. Einen Kamin hatte die Wohnung nicht, sonst hätte Henning bestimmt ein Schaffell davor ausgebreitet, um sich mit mir darauf zu aalen. Er war so süß. Wie hatte ich glauben können, dass er vielleicht an meinem Erfolg in der Kanzlei zu knabbern haben würde? Ich würde es ihm gleich einfach feierlich verkünden, und wir würden mit einem Sekt darauf anstoßen.

In der Diele schaltete ich das Licht ein, legte meine Jacke ab und zog die Stiefel aus, folgte dann dem Besteck-Geklapper, das aus der Küche drang. Und da stand er schon. Henning trug die schwarze Schürze mit dem Emblem eines Starkochs, bei dem wir vor Weihnachten einen Kochkurs besucht hatten, und summte vor sich hin. Der Tisch war festlich gedeckt. Es gab eine große Schüssel Salat mit gebratenem Rindfleisch, Granatapfelkernen und Quinoa. Dazu einen edlen Riesling.

Wenn mein Freund mir nicht bereits einen Antrag gemacht hätte – hier und heute hätte ich mir einen gewünscht. Nur wir beide, ohne dieses Getöse aus Böllern und Raketen an Silvester um uns herum.

»Gibt es was zu feiern?«, sagte ich doppeldeutig und trat erwartungsvoll hinter ihn. War ihm heute auch die Partnerschaft in der Kanzlei angeboten worden? Würde sein großer Traum, seinen Namen auf den Briefbögen und im Impressum bei Bachmann & Partner zu lesen, endlich wahr werden?

Henning wandte sich zu mir um und sah mich ergriffen an. »Das gibt es«, beantwortete er meine Frage. »Nämlich, dass ich dich habe. Dass du zu mir stehst, egal, was passiert. Das macht mich unendlich glücklich.«

Ich blinzelte überwältigt und schlang meine Arme um ihn. »Aber das ist doch klar. Wir sind doch zusammen.«

Henning führte mich an den gedeckten Tisch. »Setz dich«, bat er. Dann nahm er mir gegenüber Platz und legte beide Hände in den Schoss wie ein Mädchen an einer Geburtstagstafel. Er schaute mich ebenso schüchtern an, als würde er sich nicht trauen, mit einer Nachricht herauszurücken.

»Hat Bachmann dich heute gefragt wegen der Partnerschaft?«, platzte ich heraus. »Und du wirst nicht glauben, was Hesselbach für Neuigkeiten für mich hatte!«

Hennings Augen weiteten sich. »Was denn?«

»Du zuerst. Jetzt sag schon!«

Mein Freund kratzte sich am Kopf. »Es wird nichts aus der Beteiligung. Leider. Es wurde ein anderer nominiert. Alsfeld.«

Erschrocken fasste ich nach seinen Händen. »Aber du warst doch im Gespräch! Ich wusste nicht mal, dass es andere Anwärter gab.«

Hennings Lippen bildeten eine gerade Linie. »Ich auch nicht. Und ich war ja auch unter den Favoriten. Aber dann … wollten sie eben doch einen anderen.« Er entzog mir seine Finger und griff nach dem Besteck. »Lass uns essen, bevor es kalt wird.«

Meine Gedanken flogen. »Bekommst du Probleme mit der Anwaltskammer? Hast du irgendwelche Mandantengelder zu spät angewiesen?«

Henning schüttelte den Kopf. »Unsinn. Vergiss es einfach. Ich will da sowieso nicht mehr bleiben.« Er atmete tief durch. »Daher dachte ich, wir beide überlegen mal zusammen, ob ich nicht bei euch anfange. Und irgendwann gehöre ich dann eben bei euch zum Partnerkreis. Könnte doch gut sein. Ich weiß, dass Hesselbach viel von mir hält.«

Verlegen suchte ich nach Worten. Selbst wenn das so wäre – zunächst wäre ich als Partnerin seine Vorgesetzte. Wie sollte ich ihm das jetzt bloß beibringen? Mein Mund wurde wieder staubtrocken, ich trank einen Schluck Wasser.

»Aber du hast doch laufende Verfahren«, argumentierte ich gegen seinen Einfall und stellte das Glas wieder ab. »Wer soll die denn betreuen? Du kannst doch auf die Schnelle nicht alles an deine Kollegen übertragen.«

Henning griff nach der Flasche Weißwein und goss uns beiden ein. Dann stieß er mit seinem Glas gegen meines. »Klar, das geht alles. Was soll’s. Sind wir in Zukunft eben beide Associates bei Hesselbach. Im Grunde ist das doch ideal. Und durch unsere verschiedenen Spezialgebiete kommen wir uns auch nicht in die Quere.«

Wortlos trank ich einen Schluck und ließ den gut gekühlten Wein meine Kehle hinabrinnen. Dann stellte ich das Glas wieder ab und griff nach dem Besteck. Lächelte Henning verhalten zu. Spätestens jetzt wäre der Moment gewesen, meinem Verlobten von Hesselbachs Angebot zu erzählen. Doch ich ließ ihn verstreichen. Wie hätte ich so grausam sein können? Also deutete ich ein zaghaftes Nicken an und steckte mir ein Salatblatt in den Mund, begann zu kauen.

Zum Glück schien Henning auch vergessen zu haben, dass ich Neuigkeiten hatte, denn er hakte nicht mehr nach. Stattdessen streichelte er über meine Hand. »Danke für dein Verständnis, Liebling.« Feierlich hob er noch einmal das Glas. »Ich bin so froh, dass ich dich habe.«

2

Der nächste Tag war glücklicherweise ein Samstag. Das war gut so, denn noch war ich nicht einmal ganz sicher, ob ich Hesselbachs Angebot tatsächlich annehmen würde. Immerhin war der ganze Spaß mit einer Geldeinlage verbunden, und die war mit fünfzigtausend Euro beträchtlich. Ich würde vermutlich meinen Vater um einen Zuschuss bitten müssen, um nicht meine gesamten Ersparnisse aufzubrauchen. Papa hatte vor zwanzig Jahren ein Finanzdienstleistungsunternehmen gegründet, das als eines der wenigen die Finanzkrise in 2008 unbeschadet überstanden hatte. Seine Firma war danach sogar noch mehr gewachsen; die Fonds, die er verwaltete, erzielten meines Wissens hohe Renditen. Jedenfalls hatte er mir schon öfter finanziell unter die Arme gegriffen.

Wie samstags bei uns üblich, ging mein Freund einkaufen, fuhr den Wagen in die Waschanlage und beförderte unsere Hemden und Blusen zur Reinigung. Ich brachte derweil die Wohnung in Ordnung und wusch eine Maschine Wäsche. Diese klassische Arbeitsteilung hatte sich bewährt. Nachdem ich mit der Hausarbeit fertig war, setzte ich mich im Schlafzimmer an den Schreibtisch und erledigte ein paar Online-Überweisungen. Schließlich kehrte Henning mit den Einkäufen zurück und stellte den Korb im Flur ab. Bald trat er zu mir ins Zimmer und umarmte mich von hinten. Meine Handtasche, die über der Armlehne hing, fiel zu Boden. Der Umschlag mit der Hochzeitseinladung lugte hervor, das Emblem mit der Möwe stach Henning ins Auge.

Er griff nach dem Kuvert. »Sieh an, Post aus Sylt?«

Ich nahm meinem Verlobten den Umschlag aus der Hand und zog die Einladung heraus. Allein die Namen von Inga und Lars wieder so einträchtig nebeneinander zu lesen, versetzte mir abermals einen Stich.

»Freunde von dir?«, fragte Henning.

»Ich hab sie ewig nicht gesehen«, antwortete ich vage. »Und ich werde nicht hinfahren.«

Er nahm mir die Karte aus der Hand und studierte den Text. »Natürlich wirst du das«, widersprach er. »Und ich bin deine Begleitung.«

Ich lachte auf. »Du kennst sie erst recht nicht.«

»Dann werde ich sie eben kennenlernen.« Mein Freund tippte auf die Karte und nahm einen Stift vom Schreibtisch. »Komm«, forderte er, »schreib, dass dein Verlobter dich begleiten wird.« Noch einmal las er den Einladungstext. »Und die heiraten wirklich auf dem Leuchtturm? Passen da denn so viele Leute rein?«

Ich verneinte. »Die meisten warten draußen.«

»Windrose …«, murmelte Henning. »Ist das nicht dieser bekannte Schuppen, von dem alle Sylt-Urlauber reden?« Mein Freund sah mich fragend an.

»Genau der. Das Lokal ist eigentlich total bodenständig, keine Ahnung, warum so ein Bohei drum gemacht wird. Aber der Strand in Rantum, wo es liegt, ist einzigartig. Der schönste Sandstreifen der Insel, wenn du mich fragst. Dort war ich früher in den Ferien am liebsten.« Nun war ich doch ins Schwärmen geraten.

Henning lächelte liebevoll. »Wir verbinden das mit einem Urlaub. Vielleicht als einen letzten Trip als unverheiratetes Paar?«

Widerstrebend nahm ich den Stift entgegen, den Henning mir auffordernd entgegenhielt. Füllte die Rückantwort aus und klebte den Umschlag zu. Mein Freund schien mir anzusehen, dass ich längst nicht sicher war, ob das eine so gute Idee war. Er nahm mir das Rückkuvert ab. »Ich werf den ein, wenn ich nachher das Auto waschen gehe, okay?« Nun lehnte er sich mit dem Po an den Schreibtisch und legte den Kopf schräg. »Wann genau wollen wir eigentlich heiraten? Ich hatte damit gerechnet, dass du sofort Pläne machen würdest, aber du hältst dich erstaunlich zurück. Oder bist du auf der Suche nach einem Hochzeits-Planer?«

Ich schnaufte amüsiert über diese absurde Vorstellung. Ich war eher eine, die es schlicht mochte. »Du weißt schon, dass die Verlobungszeit ein Jahr beträgt?«, neckte ich. »Damit man sich auf Herz und Nieren prüfen kann.«

»Ein Jahr?« Henning schnalzte mit der Zunge. »In der Zeit kann alles Mögliche passieren. Ich hatte eigentlich den Juli im Auge. Das Wetter wird garantiert gut, wir könnten nach der Trauung in der Gerbermühle feiern. Und danach ab in die Flitterwochen. Was hältst du von New York und anschließend Hawaii?«

Ich ließ die Idee auf mich wirken. Stellte mir Henning und mich in der aufregendsten Stadt der Welt vor. Hupende gelbe Taxis, Wolkenkratzer bis zum Himmel, Broadwayshows, 5th Avenue … Und dann Hawaii mit seinen Traumstränden. Glasklares Wasser. Tauchen. Ich seufzte. Es wäre bestimmt wahnsinnig schön.

Henning tippte auf die Einladung. »Diese beiden alten Freunde von dir laden wir dann natürlich auch zu unserer Hochzeit ein.« Er sah mich nachdenklich an. »Und deine Eltern hoffentlich? Vater und Mutter meine ich. Es wäre doch wirklich seltsam, wenn sie nicht beide dabei wären.« Er wendete die Karte zwischen den Fingern. »Und deine Freundin Levke ist bis dahin vielleicht auch wieder besser drauf. Irgendwann muss sie den Verlust ihrer Familie doch verwunden haben?«

Seine Fragen holten mich aus Hawaii in die Wirklichkeit zurück. Lars und Inga auf meiner Hochzeit? Das konnte ich mir gar nicht vorstellen. Mama und Papa hingegen – puh. Mein Vater – klar. Uns verband ein enges Verhältnis, das zwar eher durch Sachlichkeit als durch Emotionen geprägt war, aber immerhin war auf ihn Verlass. Doch meine Mutter hatte Henning noch nicht mal kennengelernt, allein, weil sie und ich uns nur noch sehr selten sahen. Irgendwann hatten wir einfach nicht mehr miteinander reden können. Allzu oft hatte sie meine drängenden Fragen nach dem Tod meines Großvaters abgeblockt. Schließlich hatte ich es aufgegeben. Sollte Mama bei unserer Hochzeit dabei sein, würde ich davor ein Treffen vereinbaren müssen, damit sie ihren zukünftigen Schwiegersohn wenigstens kurz kennenlernte. Schon wand ich mich. So etwas brauchte mehr Zeit. Verstohlen wischte ich mir den Schweiß aus dem Nacken.

Und meine beste Freundin Levke schied wahrscheinlich eher aus, auch wenn Henning da anderer Meinung zu sein schien. Eine Hochzeit würde sie sich gewiss noch nicht antun. Konnte man das, was sie erlebt hatte, überhaupt je verwinden? In diesem Moment vermisste ich sie schrecklich. Früher hätte ich ihr von meinem Zwiespalt wegen des Angebots meines Chefs erzählen können. Wir kannten uns seit unserer Schulzeit in Hamburg, waren durch dick und dünn gegangen, hatten die ersten Lieben miteinander erlebt, und natürlich hatte sie auch von meiner Schwärmerei für Lars gewusst. Kurz vorm Abi hatte ich ihr bei der unschönen Trennung von ihrem ersten Freund zur Seite gestanden. Und dann lernte sie während eines gemeinsamen Mallorca-Urlaubs Max kennen, den sie später auch auf der Mittelmeerinsel heiratete. Tragischerweise war ihr Mann vor ziemlich genau einem Jahr bei einem Autounfall gestorben. Ebenso wie ihre beiden kleinen Zwillingstöchter. Es war entsetzlich. Seither war meine Freundin nicht mehr die alte. Sie ließ kaum jemanden an sich heran. Auch mich nicht.

Wieder dachte ich an Inga, die ich in Hamburg beim Sport kennengelernt hatte. Den Kontakt zu ihr hatte ich nach dem Sommer vor zwölf Jahren abgebrochen. Hatte vorgegeben, mein Studium und das Referendariat in der Kanzlei in Hamburg seien zu zeitraubend. Schließlich hatten wir uns aus den Augen verloren. So viel zu meinen Beziehungen zu Frauen. Und was die Männer betraf, sah es nicht besser aus.

Während der letzten Jahre in meiner Heimatstadt hatte ich zwar verschiedene Liebeleien gehabt, aber nie etwas Ernstes. Ich mochte mich nicht festlegen, hatte doch gar nicht gewusst, wo das Leben mich eines Tages beruflich hinführen würde. Vielleicht hätte es anders ausgesehen, wenn es im Bauch richtig gekribbelt hätte. Aber das war nach kurzer Zeit immer verflogen. So wie bei Lars war es jedenfalls nie mehr gewesen. Na ja, und nun war ich erwachsen, da war das ohnehin nicht mehr zu erwarten.

»Erde an Sandra.« Henning strich mir über die Wange. »Du musst nichts überstürzen mit deiner Mutter. Wenn du sie nicht dabeihaben möchtest – das ist natürlich deine Entscheidung.« Er sah mich fragend an. »Oder machst du dir Sorgen wegen meines Jobs?« Nun gab er mir einen herzhaften Kuss. »Mach dich nicht verrückt. Hesselbach wird mich lieber heute als morgen einstellen. Du wirst sehen.«

3

Die kommenden Tage bis Freitag betrieb ich die Kopf-in-den-Sand-Methode. Ich war eine Meisterin darin, unangenehme Dinge meines Privatlebens komplett auszublenden. Schon immer. Gewissermaßen hatte mir das auch vor zwölf Jahren den Verstand gerettet. Und so beschloss ich auch diesmal, einfach nicht mehr an diese verzwickte Situation mit Hesselbach und Hennings Bewerbung zu denken, bis es unvermeidlich sein würde, und konzentrierte mich stattdessen voll auf die Arbeit. Inzwischen war mein Entschluss gereift, Hesselbachs Angebot anzunehmen. Papa würde die Geldeinlage übernehmen, ich hatte mit ihm telefoniert. »Wenn du dich dafür entscheidest, zahle ich das natürlich komplett«, hatte er gesagt, »kein Ding.« So war mein Vater. Geld war nie ein Thema für ihn, er besaß es einfach.

An jenem Freitag auf dem Weg in die Kanzlei trug ich also nicht nur den Entschluss mit mir herum, Hesselbachs Angebot anzunehmen, sondern obendrein Hennings Bewerbungsmappe. Mein Freund hatte seinen Lebenslauf lediglich um die aktuelle Tätigkeit bei Bachmann & Partner ergänzen müssen und den CV ausgedruckt. Darüber hinaus hatte er ein Bewerbungsschreiben verfasst, in dem er Hesselbach & Associates in den höchsten Tönen lobte und nebenbei bemerkte, dass er sich nichts Schöneres vorstellen konnte, als in derselben Kanzlei wie seine Verlobte zu arbeiten. Diese »Synergie« käme sicher allen zugute.

Allein durch diese Formulierungen würde Hesselbach klar sein, dass ich Henning noch immer nichts von dessen Angebot erzählt hatte. Nachher waren wir verabredet, um den Vertrag zu unterzeichnen, in der Woche hatten wir noch ein paar Fragen dazu klären können. Natürlich wusste ich, dass diese Geheimnistuerei gegenüber Henning ein Fehler war. Aber je mehr Tage vergangen waren, desto mehr fehlten mir die Worte. Würde er es mir doch übelnehmen, dass ich ihn rechts überholte? In meinem Kopf spielte sich eine Art Tatort-Melodie ab, die unweigerlich darauf hindeutete, dass etwas Unschönes passieren könnte.

Ich betrat das Bürogebäude und schlug den Weg zu den Fahrstühlen ein, drückte auf den Fahrstuhlknopf und lauschte dem Surren der Anlage. Auf dem Flur begrüßte ich die Kollegen und holte mir in der Küche einen Kaffee. Kurz darauf lehnte ich in meinem Büro am Schreibtisch und sah aus dem Fenster zum Goetheplatz mit seinen Betonquadern und dem Dichterdenkmal. Nippte an meinem Getränk.

Das Gespräch mit Hesselbach stand mir bevor. Ich hätte in diesem Moment so gern jemanden um Rat gefragt und über meine Befürchtungen wegen Henning und meiner Partnerschaft geredet. Aber wer sollte das sein? Levke und Inga fielen als Freundinnen flach, und bei Papa drehte sich alles immer eher ums Geld, weniger um Gefühle.

Mama, dachte ich plötzlich. Sollte ich vielleicht doch endlich mal wieder den Kontakt zu ihr suchen? Ihr überhaupt erst mal von Henning und meiner bevorstehenden Hochzeit erzählen? Früher hätte ich das doch auch gekonnt. Als unsere Mutter-Tochter-Welt noch heil war.

Der Einfall, sie jetzt anzurufen, war verlockend. Das Thema Sylt konnten wir dabei ja einfach ausblenden. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war erst zehn vor neun, doch wenn ich sie jetzt nicht anrief, würde mir später der Mut dazu fehlen.

Entschlossen stellte ich die Tasse ab und griff zum Hörer. Die Nummer zu meinem Elternhaus im Hamburger Stadtteil Winterhude kannte ich noch auswendig.

Gerade als mich der Mut wieder verlassen wollte, hob sie ab. »Petersen.« Mama hatte nach der Scheidung ihren Mädchennamen wieder angenommen. Sie wirkte verschlafen.

»Habe ich dich geweckt?«

»Sandra, bist du das?« Mit einem Mal klang ihre Stimme hell und klar. Ich sah sie regelrecht vor mir, wie sie sich das Haar aus dem Gesicht strich und sich aufrichtete. Ob sie noch immer blond war oder inzwischen ergraut? Und ob ihr Telefon noch immer in der Diele auf dem Schränkchen unter dem Spiegel stand? Als ich meine Wohnung einrichtete, hatte ich mich dabei ertappt, wie ich mir genau so ein Eckchen herrichtete. Um dann festzustellen, dass ich gar keinen Festnetzapparat besaß.

Ich suchte nach Worten. »Ich wollte dir ein frohes neues Jahr wünschen. Dachte mir, ich melde mich mal wieder.«

»Das ist aber schön. Wie geht es dir?« Ich meinte, ein Zögern wahrzunehmen. Vielleicht erwartete sie fordernde Fragen. In der Vergangenheit hatte ich sie eben öfter in die Zange genommen. Hatte mich nicht mit ihren Ausflüchten zufriedengeben wollen. Warum Opa sie enterbt und stattdessen mir das Haus vermacht hatte, zum Beispiel. Den Grund dafür musste sie doch kennen!

»Na ja«, zwang ich mich zu ihrer Frage zurück. »Eigentlich ganz gut. Ich dachte nur, du könntest mir in einer Sache einen Rat geben. «

»Ich?«

»Früher hast du mir auch oft geholfen«, sagte ich schnell. »Und da dachte ich …«

Ich hörte, wie sie sich den Stuhl neben dem Telefontischchen heranzog. »Und ich dachte, du hättest dich vielleicht im Datum geirrt.«

»Im Datum?«

»Na ja, ich werde doch in drei Wochen sechzig. Und ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, ob du wohl daran denken wirst.«

Mir wurde heiß. Was für eine Tochter war ich, dass ich beinah den runden Geburtstag meiner Mutter vergessen hätte? Zwar stand er in meinem Kalender, und ich schrieb meist eine SMS. Aber zum Sechzigsten wäre etwas anderes fällig gewesen.

»Natürlich hätte ich daran gedacht«, log ich. »Aber es ist ja noch drei Wochen hin.« Ich legte ein Lächeln in meine Stimme, dabei kam ich mir auf einmal so schäbig vor. Hatte sie einen neuen Partner? War sie viel allein? Ich wusste gar nichts mehr von ihr und fiel jetzt mit meinem Problem über sie her.

»Erzähl schon, warum rufst du an? Was hast du für Sorgen?«

Mir wurde die Kehle eng. »Ich stehe vor einer wichtigen Entscheidung.« Eilig wollte ich zur Sache kommen. Als stünde ich bei Gericht, und als schweife der Blick des Richters bereits zur Saaluhr, weil die nächste Verhandlung anstand. »Die Sache ist die. Ich habe einen Freund, Mama. Und wir wollen heiraten.«

Mama sagte, dass sie das aufrichtig freue. Dann schwieg sie. Bestimmt wartete sie auf die Einladung zu den Feierlichkeiten.

»Die Details zur Hochzeit wissen wir noch gar nicht, es kann auch noch etwas dauern – aber was mich gerade beschäftigt, ist Folgendes …« Umständlich schilderte ich ihr die Misere meiner bevorstehenden Partnerschaft und Hennings Wunsch, ebenfalls bei Hesselbach zu arbeiten. »Und das geht dann ja nicht, Mama. Ich wäre praktisch seine Vorgesetzte. Weisungsbefugt!«

Mama sah die Sache erstaunlich pragmatisch. »Lass doch einfach ihn entscheiden, ob er das möchte oder nicht. Er kann sich ja genauso gut woanders bewerben. Dann bemüht er sich eben dort um eine Partnerschaft. Du kannst nichts dafür, dass du schneller am Ziel bist als er. So etwas ist wie bei einem Würfelspiel. Es hat auch mit Glück zu tun. Diesmal hattest du den Pasch.«

Verblüfft betrachtete ich den Hörer. Wie recht sie hatte. Vermutlich machte ich mir zu viele Gedanken.

»Heiratet ihr auf dem Hörnumer Leuchtturm?«, fragte Mama jetzt. »Das war doch immer dein Traum.«

Es lag mir auf der Zunge, sie zu fragen, ob sie etwa nicht wusste, wie lange ich nicht auf der Insel gewesen war. Dass der Hörnumer Leuchtturm für mich in etwa so fernlag wie eine andere Galaxie.

»Wie geht es dir denn eigentlich?«, überging ich ihre Frage.

»Mir?«

»Gesundheitlich. Oder was du so machst.«

»Das Übliche. Ein paar Probleme mit dem Knie. Hitzewallungen. Womit man eben so kämpft in meinem Alter.«

»Aber nichts Ernstes?«

»Nein, nein.« Ihre Stimme sagte das Gegenteil, aber ich mochte mich täuschen.

Die Tür sprang auf, und Hesselbach steckte den Kopf herein. »Können wir?«

Ich hob den Daumen. »Ich muss weiterarbeiten, Mama«, sprach ich schnell in den Hörer. »Aber wir bleiben in Kontakt, okay? Ich melde mich wieder bei dir. Vielleicht könnten wir mal … essen gehen.«

»Bist du denn demnächst in Hamburg?«

»Bisher nicht, aber …«

»Vielleicht passt es ja mal rein.« Sie klang hoffnungsvoll. Und verletzlich. Irgendwie alt. Hoffentlich war sie nicht doch krank. »Schön, dass du angerufen hast«, schickte sie hinterher.

»Gerne«, antwortete ich schnell. Und dann verabschiedeten wir uns, und ich folgte Hesselbach in sein Büro. Im Anschluss an unseren Termin hatte ich ein Gespräch mit einer Mandantin, das möglicherweise auch nicht besonders angenehm werden würde. Aber eins nach dem anderen.

Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen und vor seinem Schreibtisch Platz genommen, schob Hesselbach mir erwartungsvoll die Verträge entgegen. Die Unterschriften der anderen Equity-Partner waren alle schon geleistet. In der letzten Woche hatten mir alle noch mal persönlich gesagt, wie gern sie mich in ihrer Runde sehen würden.

»Mir ist zu Ohren gekommen, dass aus der Partnerschaft Ihres Verlobten nichts geworden ist.« Mein Chef setzte ein bedauerndes Gesicht auf und reichte mir einen Stift.

»Henning ist natürlich frustriert«, räumte ich ein und zog die Papiere zu mir heran. Den Inhalt kannte ich bereits, ich hatte ihn gründlich und mehrmals studiert. Während ich meine Signatur auf die Vereinbarungen setzte, dachte ich an Hennings Bewerbungsmappe. »Aber vielleicht könnte er ja hier anfangen, und –«

Hesselbach hob sofort beide Hände. »Keine gute Idee. Zum einen sieht so ein abrupter Wechsel nach beleidigter Leberwurst aus. Außerdem hätte er sicher die Erwartung, dass wir ihn zum Partner ernennen. Aber das geht auf keinen Fall. Ein Paar in der Partnerriege ist schon wegen der Stimmrechte indiskutabel.«

Das war natürlich verständlich. Und insgeheim erleichterte es mich auch. Somit war es wenigstens nicht meine Entscheidung.

Nun musste ich nur noch Henning schonend beibringen, was geschehen war. Und ihm gestehen, dass ich – ausgerechnet ich als taffe und gewiefte Anwältin – mich eine ganze Woche lang nicht getraut hatte, ihm von meiner Beförderung zu erzählen. Ihn nicht einmal mit in die Entscheidung einbezogen hatte. Hatte ich vielleicht insgeheim befürchtet, er könnte es mir ausreden, in die Partnerriege aufzusteigen?

Hesselbach streckte mir die Hand entgegen und schüttelte sie kräftig. »Na dann, Frau Kollegin«, sagte er feierlich, »auf eine gute Zusammenarbeit.«

4

Eine Viertelstunde später saß mir eine Mandantin in meinem Büro gegenüber. Nadine Wegener, eine brünette Frau mit weichen kinnlangen Haaren und grauen Kulleraugen knetete ihre Hände. Sie und ihr Ex-Mann hatten einen gemeinsamen Sohn, Tim. Das Kind war erst zweieinhalb. Die Krise der Eheleute hatte bereits in der Schwangerschaft begonnen; schon in dieser Zeit waren sie sich über wesentliche Verhaltensweisen des jeweils anderen nicht einig gewesen. Nach Frau Wegeners Auffassung hatte ihr Mann sich zu viel eingemischt und gleichzeitig zu wenig Interesse gezeigt. Trotzdem war es mir in dem Scheidungsprozess, den ich vor einigen Monaten für sie geführt hatte, gelungen, Frau Wegeners Vorwürfe plausibel in Worte zu fassen und darüber hinaus finanziell bei der Scheidung das Beste für sie herauszuholen. Tatsächlich schien sie auch sehr zufrieden mit allem, was ich erreicht hatte.

Dennoch war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis die Frau darauf pochen würde, das alleinige Sorgerecht für den Sohn auf sie zu übertragen. Ich hegte den Verdacht, dass Frau Wegener den Vater ihres Kindes liebend gern komplett aus ihrem Leben gestrichen hätte. Doch dafür musste schon etwas Gravierendes vorfallen.

Ich zückte den Stift, um stichpunktartig mitzuschreiben. »Was ist denn genau passiert?«

»Bernd ist total unzuverlässig.« Frau Wegener sah mich fest an und schlug die Beine übereinander. »Er hält sich nicht an unsere Vereinbarungen. Er versetzt uns andauernd, und ich glaube, es ist Absicht. Ich musste schon einige Wochenenden umgestalten, weil er nicht kam. Aber das ist nebensächlich. Viel wichtiger ist, dass Tim ihn heiß erwartet und dann total enttäuscht ist, wenn sein Vater nicht kommt.«

Das Kindeswohl stand natürlich an erster Stelle. Dafür hatten wir bei der Scheidung auch feste Umgangszeiten vereinbart, damit das Kind den Kontakt zum Vater nicht verlor. Das war ihm zumindest auch ein großes Anliegen gewesen.

»Vielleicht reden Sie erst mal mit Ihrem Ex-Mann? Womöglich weiß er gar nicht, wie enttäuscht Tim ist?«

Frau Wegener verdrehte die Augen. »Natürlich weiß er das. Ich habe ihm ja schon Bilder von meinem weinenden Kind geschickt. Jedes Mal gelobt er Besserung, aber dann passiert es wieder!«

»Okay.« Ich klickte mit dem Kugelschreiber. »Was gibt es noch? Bitte verstehen Sie, dass ich dem Richter etwas mehr bieten muss als das.«

Mein Gegenüber legte die Hand ans Kinn und sah in die Ferne. »Die Hälfte unserer Verabredungen hat er uns wie gesagt versetzt. Und wenn Bernd Tim dann tatsächlich abholt, vernachlässigt er den Kleinen.«

Ich notierte ein Stichwort und sah sie aufmerksam an. »Können Sie mir konkrete Daten nennen und beschreiben, was vorgefallen ist?«

»Glauben Sie etwa, ich hätte darüber Buch geführt?«

»Das sollten Sie in Zukunft auf jeden Fall tun. Und vielleicht fallen Ihnen ja Beispiele aus der Vergangenheit ein, die Sie nachtragen könnten.« Ich drehte den Kugelschreiber zwischen den Fingern. »Wir brauchen etwas Konkretes. Es wirkt sonst zu willkürlich.«

Ich war dafür bekannt, für meine Fälle alles zu geben. Meine Anträge waren fehlerfrei, ich übermittelte sie in vierfacher Ausfertigung ans Gericht – was jeden Richter freute, da er dann keine extra Kopien fürs Jugendamt anfertigen musste. Darüber hinaus führte ich glasklare Begründungen an, die jeder Überprüfung standhielten. Dafür verlangte ich einen hohen Honorarsatz, der von Mandantinnen wie Nadine Wegener kommentarlos akzeptiert wurde. Ansonsten hätte ich mich auch noch schwerer mit ihr getan. In meinem Privatleben hätte ich wahrscheinlich einen weiten Bogen um sie gemacht. Sie hatte so eine Ellenbogenmentalität, mit der ich nicht gut klarkam. Bei ihr waren immer die anderen schuld. Wenn ich mit ihr zusammen war, hatte mich schon mehr als einmal dieses untrügliche Zittern erfasst – so auch jetzt. Innerlich rief ich mich zur Raison.

Frau Wegener presste die Lippen aufeinander, dann zählte sie mit den Fingern auf. »Fangen wir an mit dem dritten Oktober. Bernd sollte Tim über den Feiertag abholen, er kam aber nicht.«

Während mir Nadine Wegener verschiedene Exempel von der Unzuverlässigkeit ihres Ex-Mannes schilderte, schrieb ich mit. Die erwähnten Vernachlässigungen bezogen sich hauptsächlich auf die Kleidung des Jungen. Frau Wegener gab immer Wechselwäsche fürs Wochenende mit, doch meist trug das Kind bei seiner Rückkehr noch immer dasselbe Outfit. Ein andermal hatte der Kleine einen wunden Po, und die Sache war vom Vater nicht versorgt worden. Eine Erkältung nach einem Schlittenausflug, eine Schramme nach dem Spielplatzbesuch. »Er verletzt seine Aufsichtspflicht«, schloss meine Mandantin.

In mir machte sich der Verdacht breit, sie suche nach Krümeln, um ihren Mann anzuschwärzen. Natürlich war das eine Unterstellung, und ich war die Letzte, die bei Anzeichen für Vernachlässigung von Kindern wegschauen wollte. Aber konnte man nicht die Hälfte aller Väter wegen so etwas anzeigen? Auch die, die mit der Mutter des Kindes zusammenlebten? Wenn ich an Max dachte zum Beispiel, Levkes verstorbenen Mann. Wie oft hatte sie sich beschwert, dass er nicht genügend mit anpackte. Oder mein eigener Vater. Wahrscheinlich hätte der noch nicht einmal gewusst, wie Windelwechseln überhaupt ging. Und wenn einer unzuverlässig gewesen war, dann er. Ständig kamen einem versprochenen Kinobesuch geschäftliche Termine dazwischen. Wie oft hatte ich mich auf eine Fahrradtour zu dritt gefreut, und dann war ich doch wieder allein mit Mama an der Alster entlanggeradelt.

»Das alles wird einen Richter möglicherweise noch nicht dazu bewegen, das alleinige Sorgerecht an Sie zu übertragen«, sagte ich vorsichtig. »Das Jugendamt wird sich obendrein der Prüfung annehmen, und dann wird entschieden. Aber ich sage es Ihnen ganz ehrlich, wenn wir nicht etwas haben, das das Kindeswohl gefährdet, dann –«

»Er trinkt«, unterbrach Frau Wegener meine Rede.

Überrascht sah ich auf.

»Wenn er Tim abholt, dann hat er oft eine Fahne.« Mein Gegenüber blinzelte. »Er riecht nach Alkohol.«

»Und Sie lassen Ihren Kleinen dann einfach so mitfahren?«

»Natürlich nicht! Wenn ich mitbekomme, dass er getrunken hat, schicke ich ihn wieder fort. Wenn ich einen Termin oder sowas habe, bringe ich den Kleinen dann bei meiner Nachbarin unter – vorausgesetzt, sie hat so spontan Zeit.«

Ich schrieb eilig mit. Das war ein Punkt, der den Richter hellhörig machen würde. »Kann Ihre Nachbarin das bestätigen?« Ich sah Frau Wegener forschend an.

Diese nickte zögernd. »Das würde sie bestimmt tun.«

»Sehr gut«, murmelte ich. »Noch etwas?«

»Er hat außerdem eine neue Freundin, und wenn ich Tim abhole, ist der erst mal drei Tage völlig durcheinander. Die Frau tut ihm nicht gut.«

Das klang eifersüchtig. Dabei hatte sie sich unbedingt trennen wollen. Strebte Nadine Wegener wirklich nur das Beste für ihr Kind an? Oder war der kleine Tim ein Spielball dafür, sich an ihrem Mann zu rächen, der so schamlos war, sich nach einer kostspieligen Scheidung von seiner Frau, einem neuen Glück zuzuwenden? Natürlich würde ich trotzdem einen Antrag formulieren. Danach würde alles seinen Lauf nehmen. Auch das Jugendamt würde Frau Wegener auf den Zahn fühlen.

Die Verabschiedung von meiner Mandantin fiel kühl aus, vielleicht spürte sie, dass ich ein wenig misstrauisch war, was ihre Motive betraf.

Seufzend lehnte ich mich in meinem Sessel zurück. Ich fühlte mich erschöpft. Und das Schlimmste stand mir noch bevor: Die Beichte an Henning, die ich ihm heute Abend eröffnen musste. O je.

Ich griff nach meinem Handy und scrollte gedankenverloren bis zu seinem Namenseintrag. Henning Thomas. Vielleicht erzählte ich ihm einfach am Telefon davon? Nein, das wäre unverzeihlich. Mein Blick schweifte zum vorherigen Eintrag. Levke Sönkamp. Wieder dachte ich an meine Freundin. Im Vergleich zu ihren Problemen waren meine wirklich lachhaft. Auch, wenn sie sich gelegentlich über Max beschwert hatte – sie hätte alles dafür gegeben, ihn wieder bei sich zu haben. Und ihre Mädchen natürlich. Ob ich sie vielleicht doch mal wieder anrufen sollte? Zuletzt hatten wir Weihnachten voneinander gehört. Vielleicht würde sie sich sogar freuen, wenn ich mich bei ihr meldete? Mehr als mich abblocken, wie sie es seit dem Unglück oft getan hatte, konnte sie mich ja nicht. Kurzentschlossen ließ ich den Daumen sinken und wählte ihren Anschluss.

»Hi«, sagte ich, als meine Freundin sich mit mattem Flüstern meldete. »Wollte nur mal hören, wie es dir geht. Was machst du so?«

»Nicht viel. Ich warte darauf, dass diese elendig dunklen Tage vergehen. Ich hasse den Winter.«

»Gehst du wieder arbeiten?«

»Dazu fehlt mir die Kraft.«

»Soll ich mal vorbeikommen?«, bot ich an. »Ich bringe Pizza mit, wir schauen einen Film, wir müssen ja nicht reden.«

»Danke, aber ich habe keinen Appetit.«

Sollte ich ihr von meiner großen Sorge um sie erzählen? Nein, das würde sie nur noch mehr unter Druck setzen. Ich wusste ja, dass jeder ihr riet, sie sollte wieder ins Leben zurückkehren. »Wie wäre es, wenn du in den Süden fährst? Sonne satt wäre vielleicht genau das Richtige.«

»Ach nein.«

Es dauerte nicht lange, und sie beendete das Gespräch. Das war immer so. Nach einer Weile wurde ihr selbst das Reden zu anstrengend. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, sie anzurufen.

Auf dem Nachhauseweg kämpfte ich mit meinem Gewissen. Hätte ich meine Freundin mit der Pizza überraschen sollen, ohne lange zu fragen? Gleichzeitig brannte mir aber auch das Gespräch mit Henning unter den Nägeln. Seine Bewerbungsmappe nahm ich wieder mit.

5

Als ich die Tür zu unserer Wohnung aufschloss, war es schon nach sieben und sehr still im Apartment. Nur aus dem Wohnzimmer leuchtete ein schwaches Licht in den Flur. Die Küche war dunkel.

»Huhu!« Ich schaltete das Licht im Flur an und befreite die Füße von den engen Stiefeletten, schlüpfte aus dem Mantel. Dann tappte ich ins Wohnzimmer. Im Türrahmen blieb ich stehen. Mir bot sich ein seltsames Bild.

Mein Freund lag mit geschlossenen Lidern halbnackt auf dem Sofa. Er trug lediglich blau-weiß gestreifte Boxershorts und schwarze Socken. Die Hände hielt er auf der Brust verschränkt.

Zögernd betrachtete ich ihn. Wollte er mich auf eine neue Art verführen? Mit Socken? Aber immerhin, auf der Couch hatten wir noch nie miteinander geschlafen.

»Wann genau hast du es mir eigentlich sagen wollen?«, fragte mein Freund in die Stille hinein.

Mein Herz sank.

Ich schaltete auch hier das Licht ein und setzte mich zu Henning auf die Couch. »Warum liegst du hier nur in Unterhose?« Mehr fiel mir nicht ein.

»Weil Alsfeld mir eine Nachricht geschrieben hat, als ich gerade dabei war, aus dem Anzug in was Bequemeres zu schlüpfen. Und da hat es mich regelrecht umgehauen.«

Ich griff nach seiner Hand, doch er zog sie fort.

»Ich hatte einen Konflikt«, suchte ich nach einer Erklärung. »Ich wusste doch, wie sehr du dir das wünschst. Und ich habe ja selbst nicht damit gerechnet. Ich musste das erst mal sacken lassen.«

Unsicher blinzelte er mich an. »Du hast dich nicht darum beworben?«

»Natürlich nicht. Du wärst zuerst an der Reihe gewesen. Ich hätte es dir wirklich von Herzen gegönnt.«

Mein Freund richtete sich auf den Ellbogen auf. »Ich komme mir ein bisschen blöd vor, weil ich dir meine Mappe mitgegeben habe. Ist ja wohl klar, dass ich nicht unter dir arbeiten kann.«

»Natürlich.«

Mein Freund stellte die Füße auf dem Boden ab. »Wenn du Partnerin bist und ich noch nicht, also …«

»Ja?«

»So lange würde ich gern noch mit der Hochzeit warten.«

Verständnislos blickte ich ihn an. Was hatte denn das eine mit dem anderen zu tun?

Henning legte den Kopf schräg. »Du hast ja selbst gesagt, wir warten vielleicht noch ein bisschen. Ein Jahr zur Probe. Das passt dann ja.«

»Und was passiert, wenn du in dieser Zeit nicht weiterkommst mit deinen Bemühungen? Dann platzt die Hochzeit?«

»Dass es bis dahin geklappt hat, ist doch gar keine Frage.«

Was ließ ihn sich da so sicher fühlen? Die Laufbahn in einer Kanzlei war mitunter lang und beschwerlich. Wenn Henning in eine andere Anwaltskanzlei wechselte, in der ihn niemand kannte, würde er es innerhalb eines Jahres niemals so weit bringen. Es sei denn, er brachte einen wirklich großen Kunden mit, aber in unseren Verträgen gab es Wettbewerbsklauseln. So einfach war das nicht.

»Ich höre mich jedenfalls mal um«, sprach Henning in meine Gedanken hinein und legte seine Hand auf mein Knie. »Du könntest vielleicht noch mal mit deinem Vater sprechen, ob er seine Rechtsberatung nicht an mich abtreten will. Wenn ich mich bei einer anderen Kanzlei bewerbe und ihn gleich mitbringe, erhöht das meine Chancen enorm.«

Das mochte stimmen. Papa verwaltete nicht nur eigene Fonds, er verdiente auch mit Beteiligungen einen Haufen Geld. Es gab nur einen Haken an der Sache. Als Henning und ich ihn an Weihnachten in München besuchten, hatte ich bei einem Glas Wein in der Küche vorsichtig nachgefragt, ob Papa sich vorstellen könnte, seine Verträge und auch seine sonstigen Rechtsangelegenheiten von Henning betreuen zu lassen. Und seine glasklare Aussage lautete »Nein«.

»Warum denn nicht?«, hatte ich erstaunt gefragt. Es gab meiner Meinung nach keinen anderen, der selbst die verschwurbeltsten, verklausuliert klingendsten Vertragstexte so gut auseinandernahm wie Henning. Er fand jeden Fallstrick.

»Weil man Privates und Berufliches trennen sollte«, hatte mein Vater die Ablehnung von Henning begründet.

Wie sollte ich meinem Verlobten das nun schon wieder beibringen? Und welchen Einfluss würde das auf unsere Eheversprechen nehmen? War Henning eigentlich noch ganz gescheit, wegen meiner Beförderung alles infrage zu stellen?

Allmählich wurde ich wütend. Ich hatte die ganze letzte Woche mit einem schlechten Gewissen zugebracht, und er knallte mir das so vor die Füße?

Ich wandte meinen Blick Henning zu. »Wenn du für meinen Vater arbeiten möchtest, dann rede besser selbst mit ihm. Und wenn du wegen meiner Beförderung lieber nicht heiraten möchtest, sag es einfach ganz ehrlich.«

Er sah mich niedergeschlagen an. »Versteh mich doch auch. Ich freu mich ja für dich. Aber gleichzeitig nagt es auch an mir. Ich bin doch der Mann.«

Ich verdrehte die Augen und stand auf. Jeder andere hätte erst mal mit mir angestoßen. Mir war zumindest nach einem Schluck Rotwein. Der Vormittag mit Frau Wegener hatte mir zugesetzt, dann das besorgniserregende Telefonat mit Levke, und jetzt das.

In der Küche goss ich mir ein Glas Chianti ein. Rief nach Henning, ob er auch eines wollte. Doch der stand wieder vollständig bekleidet im Türrahmen. »Ich muss noch mal weg.«

Ich stellte die Flasche auf der Anrichte ab. »Wohin denn?«

»Nur mal an die frische Luft.«

Ich nippte am Wein. »Okay.«

Nachdenklich lauschte ich dem Klappen der Tür. Mir fiel auf, dass wir uns noch nie richtig gestritten hatten. War das hier unser erster handfester Streit? Ich trat zum Fenster und sah nach unten auf die Straße. Eben trat mein Verlobter aus dem Haus. Er zog das Handy aus der Tasche und drückte ein paar Tasten, hielt es dann ans Ohr.

Ich musste zugeben, dass ich keine Ahnung hatte, wen Henning nach einem Streit mit seiner Freundin anrufen würde.

* * *

Angeblich geben Männer, die einen verlassen wollen, zumindest vor, Zigaretten holen zu gehen. Henning hatte gesagt, er müsste an die frische Luft, doch das war der einzige Unterschied. Dass er mir vorgegaukelt hatte, sich für mich zu freuen … vielleicht hatte er das in diesem Moment ja wirklich so gemeint. Womöglich hatte er die Minuten, in denen er nur in Boxershorts bekleidet auf dem Sofa gelegen hatte, gehofft, dass ihn ein Jahr Verlobungszeit darüber hinwegtrösten und er sein Ziel in dieser Zeit auch erreichen könnte. Bestimmt war ihm der Gedanke, mich zu verlassen, erst gekommen, als er schon längst durch die Straßen lief. Ich wollte nicht so belogen worden sein, wollte nicht wahrhaben, dass Henning so getan haben könnte, als ginge er nur an die frische Luft, und dabei bereits seinen absoluten Liebesrückzug plante.

Er schlief bei einem Kollegen. Textete mir sogar, er hätte ein bisschen was getrunken und käme morgen wieder. Das tat er auch. Doch während ich bereits auf dem Weg ins Büro war, schlüpfte er in die Wohnung und packte seine Sachen.

Das Sofa ließ er in der Woche darauf von einem studentischen Hilfsdienst abholen; zwei junge Kerle trugen das Ding tapfer die drei Stockwerke nach unten.

Immerhin schrieb Henning mir eine lange E-Mail. Er bedankte sich für die schöne Zeit und entschuldigte sich für sein Verhalten. Und wünschte mir Glück. Dahinter das Emoji eines vierblättrigen Kleeblattes. Seitdem herrschte Funkstille. Nicht einmal Post kam noch für ihn. Es war, als hätte es Henning nie an meiner Seite gegeben.

Tagelang war ich wie unter Schock. Erledigte mechanisch meine Arbeit, wohnte dem Umtrunk in der Kanzlei bei, bei dem offiziell meine Beteiligung an Hesselbach & Associates bekanntgegeben wurde. Auf der Feier trank ich zu viel Sekt, lachte zu laut und beantwortete alle Fragen nach Henning mit einem ausweichenden Abwinken.

An ihrem Geburtstag schickte ich Mama Blumen und rief sie an, berichtete ihr, dass mein Verlobter sich von mir getrennt hatte. Weinte, dass sich damit meine schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet hatten.

Zu meiner Überraschung sagte Mama, sie sei stolz auf mich. Und dass ich alles richtig gemacht hätte, es ein Fehler gewesen wäre, wenn ich gegen meine Überzeugung gehandelt hätte. »Du hast gezweifelt, aber du bist nicht eingeknickt. Du bleibst dir selbst treu, das freut mich so für dich.«

Es hätte der Anfang einer wunderbaren, neuen Mutter-Tochter-Beziehung werden können, doch danach meldete ich mich nicht wieder bei ihr, und sie tat es auch nicht. Stattdessen stürzte ich mich in die Arbeit. Die Wut auf Henning trieb mich an.

* * *

Es vergingen der Januar, der Februar und der März. Milde Monate, in denen ich ständig den Frühling erahnte, ohne dass er ausbrach. Aber dann, es war um den zwanzigsten herum, kletterte das Thermometer auf achtzehn Grad.

Mittlerweile hatte ich mich an meine neue Stellung in der Kanzlei gewöhnt. Es war schon etwas anderes, Equity-Partnerin zu sein, noch dazu die einzige Frau in der Partnerriege. Meine leise Befürchtung, ich könnte vielleicht tatsächlich nur der Quote wegen berufen worden sein, hatte sich nicht bewahrheitet. Auf Dauer hätte sich niemand so verstellen können. Jeder begegnete mir mit Respekt. Inzwischen liefen alle Partnermeetings routiniert ab, ich fühlte mich als Teil des Teams.

Meine erste Amtshandlung bestand darin, Hennings Assistentin Johanna Rathi zu uns zu holen. Als Partnerin stand mir eine eigene Assistentin zu, und mein Ex-Verlobter hatte sie nicht mehr behalten dürfen, nachdem klar war, dass er als Anwärter auf eine Partnerschaft ausschied. Johanna kam halbtags, durfte aber auch von zu Hause aus arbeiten; über das Intranet behielt sie auch von dort Einblick in alle Vorgänge. Wir kamen gut miteinander aus – über Henning sprachen wir glücklicherweise sehr selten. Vielleicht interessierte er sie ebenso wenig wie mich.

Inzwischen hatte mein Ex-Verlobter sich mehrere Male bei mir gemeldet und um ein Treffen gebeten. Zum Reden. Ich verspürte nicht die geringste Lust dazu.

Den Verlobungsring hatte ich an ihn zurückgeschickt.

6

Es war an einem Donnerstagabend Anfang April, ich trug den Korb mit dem Einkauf für das lange Osterwochenende die Treppe hinauf zu meiner Wohnung. Obenauf lag ein Briefumschlag, den ich aus dem Briefkasten gefischt hatte. Bei dem Absender handelte es sich um ein Unternehmen, das sich um das Haus und das Grundstück meines Großvaters auf Sylt kümmerte. Dass er es nach seinem Tod mir und nicht Mama vererbt hatte, war mir wirklich seither ein Rätsel. Das reetgedeckte Haus in Kampen war nun seit zwölf Jahren unbewohnt – ich hatte es nach Opas Beerdigung nie wieder betreten. Die Umstände, wie Mama ihn fand, waren einfach zu schrecklich. Zwar waren die Kosten für die Firma Dühnen immens – jeder vernünftige Mensch hätte das Haus wahrscheinlich vermietet. Doch dafür hätte ich es ausmisten und herrichten müssen, und das wollte ich nicht. Alles dort sollte ruhig so bleiben, wie es war.

Ich stellte die Einkäufe ab und öffnete das Kuvert, überflog die Zeilen. Zum einen enthielt Dühnens Post die Endabrechnung des letzten Jahres und darüber hinaus den Hinweis, dass das Reetdach dringend ausgewechselt werden müsse. Es sei so vermoost, dass die Nässe nicht mehr abfließen könne und das Wasser sich seinen Weg durchs Reet ins Innere des Hauses suchte. Mehrere Fotos zeugten davon. Das ganze Dach war grün überzogen. Es sah aus wie eine Mooslandschaft. Auf dem Dachboden hatte man Eimer aufgestellt, um den Regen aufzufangen. Die abschließende Frage in dem Schreiben lautete, ob ich nicht mal vorbeikommen könnte, um über die Instandhaltungsmaßnahmen zu sprechen. Eine Begehung wäre ratsam, schrieb Herr Dühnen, und dann verwies er auf den beiliegenden Bescheid des Denkmalschutzamts Sylt-Ost.

Ich faltete das andere Papier auseinander. In dem Amtsbrief wurde ich aufgefordert, für die Einhaltung des Gesamtbildes des Ortes Kampen zu sorgen. Man setzte mir eine Rückmeldungsfrist bis Ende kommender Woche.

»Was für ein Mist«, murmelte ich beklommen und zog mir einen Stuhl heran, umfasste meinen Oberkörper mit beiden Armen und rubbelte über die aufkommende Gänsehaut. Nach Sylt zu fahren – diese Idee gefiel mir überhaupt nicht. Und dann auch noch Opas Haus zu begehen? Auf den Dachboden, wo Herr Dühnen die Eimer aufgestellt hatte? Wie sollte ich das schaffen, ohne dass die Vergangenheit auf mich einströmen und schreckliche Bilder in mir wecken würde? Nein. Da würde ich mir etwas anderes einfallen lassen müssen.

Ich reckte den Hals vor und betrachtete noch einmal die Fotos. Man sah dem Gebäude den Leerstand an. Die Fenster waren schmutzig, der Klüngelkram wie Vasen mit getrockneten Blumen oder die zierlichen Stehlampen auf den Fensterbänken sahen verstaubt aus. Lag Fensterputzen nicht auch im Verantwortungsbereich der von mir beauftragten Firma? Staubwischen? Ich sollte wohl mal mit dem Herrn telefonieren. Seit Jahren kommunizierte ich nur schriftlich mit Herrn Dühnen. Mein Handy klingelte, und ich angelte gedankenverloren danach, freute mich, als ich Levkes Namen auf dem Display las. Eine willkommene Abwechslung.

»Hi!«, begrüßte ich sie erfreut. »Wie kommt –?«

»Kann ich mal eben bei dir vorbeikommen? Ich wollte … Tschüss sagen«, kam meine Freundin ohne Umschweife zur Sache.

»Tschüss?«, wiederholte ich überrascht. »Was hast du denn vor?«

Eine halbe Stunde später schellte sie an der Tür. Bei ihrem Anblick erschrak ich jedes Mal aufs Neue. Seit dem Tod ihrer Familie stach bei Levke jeder Knochen hervor, so dünn war sie geworden. Zwar hatte sie immer noch dieses sagenhaft dicke, strohblonde Haar. Aber unter ihren Augen lagen tiefe Schatten, als würde sie kaum schlafen.

Ich goss uns zwei Gläser Wein ein, und wir setzten uns aufs Sofa. Levke erkundigte sich nach meiner Arbeit, und ich fasste zusammen, was sich in der Kanzlei in den letzten Monaten zugetragen hatte. Auch die Trennung von Henning ließ ich nicht aus. Nur Dühnens Post ließ ich unerwähnt.

»Gewissermaßen bin ich also am Ziel meiner Träume angekommen. Zumindest beruflich«, beendete ich meinen Bericht.

»Irgendwie klingst du aber trotzdem nicht happy.«

»Na ja, wegen Henning.« Ich hatte ihr ja gerade von meinem Dilemma erzählt.

»Bist du sicher? Nur deswegen? Ich hab ja irgendwie nie verstanden, warum du dich in dieses Justizsystem hineinbegeben hast. Du wirkst manchmal wie besessen, willst jeden Fall gewinnen …«, sie griff nach einer Strähne ihres dicken Haares und drehte es zwischen den Fingern, »Namen von Menschen fallen da oft gar nicht, es geht immer nur um ›die Sache XY‹.«

»Da hast du recht.« Ich hob die Schultern. »Aber das ist nun mal unser Jargon.« Meine Freundin war Innenarchitektin, unsere Berufe hätten kaum unterschiedlicher sein können.

»Und du?«, fragte ich schließlich und griff nach ihrer Hand. »Wohin verabschiedest du dich denn? Willst du zurück nach Hamburg? Oder nach München?« Dort hatte sie studiert und auch eine Weile mit Max gelebt.

»Morgen früh fliege ich nach Mallorca.«

Erstaunt sah ich sie an. »Wirklich? Denkst du –?«

»Dass das das Richtige für mich ist?« Sie senkte die Augen. »Ich will Abschied nehmen. Von Max.«

»Weil ihr euch dort kennengelernt habt?«

Sie schaute wieder auf. »Genau. Du hast ja letztens vorgeschlagen, ob ich nicht mal in den Süden wollte, einen Tapetenwechsel … und dabei kam mir diese Idee. Mit Mallorca verbinde ich gute Zeiten.«

Es freute mich, dass sie nach vorn zu blicken schien. Ein Ziel hatte. Ein Abschied beinhaltete ja auch immer einen Neuanfang.

So ergriffen berichtete ich ihr nun auch von meinen Ängsten, nach Sylt fahren zu müssen, um nach Opas Haus zu schauen. »Eigentlich – vom Gefühl her – wäre das doch viel eher Mamas Aufgabe, oder?«

»Aber er hat dir das Haus vermacht und nicht ihr. Dafür wird er ja einen Grund gehabt haben.«

»Ein Grund, den ich leider nicht kenne!«, erwiderte ich aufgebracht. »Und wie du weißt, hat sie nicht gerade mit Offenheit geglänzt, was das alles angeht.«

Levke hob die Schultern. »Vielleicht versuchst du es einfach mal wieder. Du vermisst sie doch – das merke ich dir schon lange an. Womöglich würdest du wegen des Hauses auch wieder etwas mehr mit ihr zu tun haben – vielleicht verrät sie dir dann, was sie weiß, und weshalb dein Opa –« Plötzlich sah Levke aus, als wollte sie in Tränen ausbrechen. »Manchmal weiß man eben einfach nicht mehr weiter …«, flüsterte sie.

Vorsichtig legte ich meine Hand auf Levkes Rücken und streichelte sachte daran auf und ab. Bestimmt hatte sie auch schon mit dem Gedanken gespielt, allem ein Ende zu setzen. Dass sie mit ihrer geplanten Reise wieder nach vorn zu schauen schien, machte mich froh.

Beim Abschied schloss sie mich so fest in die Arme wie schon lange nicht mehr, und als sie die Treppe hinunterstieg und einen letzten Blick zurückwarf, schimmerten noch immer Tränen in ihren Augen. Wenigstens hatte sie mir versprochen, auf sich acht zu geben. Und sich zu melden.

Nachdem sie gegangen war, griff ich wieder nach dem Schreiben der Firma Dühnen.

Vielleicht hatte Levke recht, und es gehörte einfach dazu, sich auch mit Negativem aus der Vergangenheit zu beschäftigen. Und daran, dass ich hinmusste, führte wohl kein Weg vorbei. Das bevorstehende Osterwochenende bot sich außerdem geradezu an.

Zögernd griff ich nach meinem Handy und checkte den Kalender. Wenn ich gleich morgen früh einen Zug erwischen würde, könnte ich drei Tage auf Sylt bleiben und Ostermontag wieder zurückfahren. Hauptsache, ich war Dienstag wieder daheim, da musste ich einen Gerichtstermin wahrnehmen. Die Sache Wegener wurde nach fast drei Monaten endlich verhandelt. Meine Mandantin bestand nach wie vor auf das alleinige Sorgerecht für ihren Sohn.

Ich fasste all meinen Mut zusammen und gab Dühnens Nummer vom Briefbogen in mein Smartphone ein. Ein Anrufbeantworter sprang an.

Stockend hinterließ ich eine Nachricht, in der ich meinen Besuch am Wochenende ankündigte. Erklärte in knappen Worten, dass ich mir ein Bild von der Lage im Haus verschaffen wollte und dass ich mich freuen würde, wenn wir uns am Samstag treffen könnten. Natürlich sei mir bewusst, dass die Feiertage nicht günstig waren. Falls er verreist sei, müsste alles Weitere nächste Woche telefonisch gehen.

Erschöpft legte ich auf, lauschte in mich hinein. Was hatte ich getan? Ich fühlte mich wie in der Dunkelheit auf einem Zehnmeterbrett kurz vorm Absprung. Würde ich im Wasser aufkommen oder auf hartem Boden? Was würde geschehen, wenn ich das Haus betrat? Würden die alten Geister über mich herfallen? Doch tatsächlich mischte sich auch ein anderes Gefühl unter meine Befürchtungen. Freude nämlich. Fassungslos spürte ich dem aufgeregten Herzklopfen nach. Ich würde nach Sylt fahren. Über Ostern!

In diesem Moment klingelte wieder mein Handy. Es war Mama.

Überrascht griff ich nach dem Apparat. Konnte sie etwa Gedanken lesen? Augenblicklich verspürte ich ein schlechtes Gewissen. Viel zu viel Zeit war seit unserem letzten Telefonat verstrichen.

»Ich bin im Krankenhaus«, flüsterte Mama, nachdem ich sie begrüßt hatte. »Es geht mir nicht so gut. Könntest du eventuell vorbeikommen?«

Für ein paar Sekunden sah ich eine Art Film an mir vorüberziehen. Mama und ich bei unseren Radtouren an der Alster. Sie und ich in Opas Küche, vor uns zwei Tassen heiße Schokolade, in ihrem ein Schuss Rum, in meinem extra viel Zucker. Mama und ich am Weststrand mit Blick auf die See und Papa, der sich beim Windsurfen versuchte – in einem der wenigen Sommer, in denen er uns begleitete.

Mama mit vor Tränen verquollenem Gesicht bei der Beisetzung meines Großvaters. Ihre Weigerung, Papas Hand zu nehmen. Ihr verzweifelter, hilfesuchender Blick zu Thies und Ole, Opas Nachbarn, die etwas abseitsstanden.

»Was hast du denn?«, krächzte ich nun.

»Nichts Schlimmes.« Mama klang weinerlich. »Nur Schmerzen.«

Ehe ich weiterfragen konnte, ergänzte sie: »Ich habe mir die Brüste machen lassen. Eine Straffung, weißt du … das Bindegewebe lässt ja mit der Zeit schon sehr nach. Jedenfalls haben sie ziemlich viel weggenommen.«

»Eine Brust-OP? Im Ernst?« Mama hatte doch immer eine gute Figur gehabt, kein Grund zur Beschwerde.

»Ich wollte mir was Gutes tun. Und ich wusste auch, dass es schmerzhaft sein kann, aber doch nicht, dass es so arg werden würde! Da es eine ambulante Geschichte ist, dachte ich, ich schaffe den Rest allein. Aber so wie sich das anfühlt … und außerdem sagten sie mir eben, es sollte auf jeden Fall die nächsten Tage noch jemand bei mir sein, falls Komplikationen auftreten. Ganz davon abgesehen, kann ich mich noch nicht mal alleine an- und ausziehen, mich nicht waschen … kochen schon gar nicht.«

»Stellt die Krankenkasse dir keine Haushaltshilfe?«

»Es war ja kein medizinisch notwendiger Eingriff. Bitte. Wenn du es irgendwie einrichten könntest? Nur über die Feiertage. Ich hab sonst niemanden!«

Ich überlegte fieberhaft. Jetzt hatte ich doch gerade erst Herrn Dühnen über mein Kommen informiert. Wo mich das doch schon so viel Überwindung gekostet hatte. Und was war mit der Frist des Denkmalschutzes?

»Bist du noch dran?«, presste Mama schmerzerstickt hervor.

»In Ordnung, ich komme«, sagte ich endlich, »aber heute schaffe ich das nicht mehr. Könntest du die in der Klinik fragen, ob du auf private Rechnung noch eine Nacht bleiben kannst?« Mama legte ihr Telefon beiseite und besprach die Sache, offenbar war gerade eine Schwester anwesend. Tatsächlich ging alles klar. Sie würde gleich morgens ein Taxi von der Klinik nehmen und dann auf mich warten. Wir legten auf, und ich schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass wir uns vertragen würden. Ob ich ihr davon erzählen sollte, dass ich eigentlich vorgehabt hatte, nach Sylt zu fahren? Inzwischen hatte sich die Insel zu einem Tabuthema zwischen uns entwickelt.

Auf dem Handy betätigte ich die Wahlwiederholung und sprach eine neue Nachricht an Herrn Dühnen auf. Es täte mir leid, aber meine Pläne seien soeben über den Haufen geworfen worden. Leider wüsste ich gerade gar nicht, wann ich kommen könnte. »Bitte veranlassen Sie das Nötigste wegen des Dachs, ich melde mich nächste Woche wieder.«

Kaum hatte ich aufgelegt, klingelte mein Smartphone erneut. Diesmal war es Frau Rathi, meine Assistentin. Sie entschuldigte sich wortreich, dass sie jetzt noch störte, aber sie habe vergessen, mir von einem Anruf zu erzählen. Ein Ole Michelsen hätte mich mittags sprechen wollen.

»Ole?«, fragte ich überrascht.

»Sagt Ihnen der Name nichts?«

»Doch doch. Was wollte er denn?«

»Es geht wohl um ein Hochzeitsgeschenk. Für gemeinsame Freunde. Sie würden auf der Gästeliste stehen.«

»Ach du lieber Himmel.«

»Nicht gut?«

»Ich hatte diese Hochzeit nur gar nicht mehr auf dem Plan.« Wann war die noch? Wieder sah ich auf meinen Kalender. In knapp drei Wochen. Henning hatte mich ja damals gedrängt, zuzusagen und die Antwort losgeschickt. Das hatte ich völlig vergessen.

Frau Rathi klang amüsiert. »Ich habe die Nummer notiert, ich maile Sie Ihnen.«

Ich murmelte einen Dank und legte auf.

Ole. Wie mochte es ihm inzwischen ergangen sein? Auch für ihn war der Sommer vor zwölf Jahren nicht sehr angenehm verlaufen. Die Tischlerei seines Vaters war pleitegegangen, die beiden hatten obendrein ihr Haus verloren. Mein Großvater hatte bei Oles Vater in der Werkstatt ausgeholfen, wenn Not am Mann war – und wir Kinder immer dazwischen. Nach Opas Tod saß ich in der Schreinerei bei Ole und seinem Vater Thies, der selbst gerade erst erfahren hatte, dass seine Tischlerei am Ende war, und weinte mir die Augen aus dem Kopf. Dabei hätte auch Ole allen Grund dazu gehabt. Er hatte nach der Schule eine Tischlerausbildung im Betrieb seines Vaters absolviert und war fest entschlossen gewesen, die Firma zu übernehmen.

Ob er sich inzwischen trotz alledem selbstständig gemacht hatte? Oder war er nach der Pleite seines Vaters vom Unternehmertum geheilt? Ich beschloss, meinen Kindheitsfreund am nächsten Tag zurückzurufen.

Auf das Gespräch mit ihm freute ich mich sogar ein bisschen.

7

Der Zug nach Hamburg fuhr am anderen Morgen um kurz vor sieben. Es war Karfreitag und die Abteile entsprechend voll – vorsorglich hatte ich einen Platz in der ersten Klasse reserviert. In den knapp vier Stunden Fahrt arbeitete ich mich durch Fachartikel, die sich mit Schönheits-OPs und ihren Risiken beschäftigten. Zwar hätte sie einen solchen Eingriff nicht nötig gehabt, aber wenn man einsam war und viel Zeit hatte, über sich nachzudenken, dann griff man vielleicht zu diesen Mitteln? Wie wenig ich doch von ihr wusste.

Vor dem Fenster huschte die Landschaft vorüber. In Frankfurt standen schon viele Bäume in voller Blüte, je weiter nördlich ich kam, desto karger wurde es wieder. Und flacher.

Um kurz nach elf traf ich am Hamburger Hauptbahnhof ein und nahm die U1 nach Winterhude. Die Bäume waren höher als früher, die Vorgärten aber noch immer gepflegt; es waren nur wenige Menschen auf den Straßen unterwegs. In diesem Wohnviertel hatten früher Schulkameraden gewohnt, wie Leon, Levkes erste große Liebe. Deswegen konnte ich es kaum fassen, als genau dieser plötzlich auf dem Bürgersteig vor mir stand. Wir starrten uns an wie zwei Aliens. Zuletzt hatten wir nach dem Tod von Levkes Familie miteinander gesprochen. Auch jetzt erkundigte er sich besorgt nach ihr. Die Neuigkeit, dass sie heute nach Mallorca geflogen war, schien ihn – genau wie mich – zu erleichtern.

Wir tauschten noch ein paar Worte, ich hatte es ja ziemlich eilig, er schob mir eine Karte mit seinen Daten zu, wir versprachen, in Kontakt zu bleiben. Dann zog ich kopfschüttelnd weiter, fragte mich, ob Levke gut auf der Baleareninsel angekommen sein mochte. Und was sie dazu sagen würde, dass mir ausgerechnet Leon über den Weg gelaufen war.

Bald darauf war ich mit meinen Gedanken jedoch wieder im Hier und Jetzt. Der Klinker-Bungalow meiner Mutter lag inmitten eines von einem schmiedeeisernen Zaun umgebenen Grundstücks. Eine Lorbeerhecke schützte das Haus vor Blicken. Den Haustürschlüssel trug ich noch immer am Schlüsselbund.

»Hallo Mama, ich bin’s!«, rief ich, als ich die Diele betrat. Ich hatte Mama meine Ankunft per Messenger angekündigt, doch sie hatte nicht geantwortet. Wahrscheinlich schlief sie, so erschöpft, wie sie sich angehört hatte.

Und tatsächlich lag meine Mutter mit geschlossenen Augen im Bett. Ihre Lider flatterten, als ich das Schlafzimmer betrat. Selbst im Traum zog sie gequält die Augenbrauen zusammen. Schweigend betrachtete ich sie. In ihrem blondierten Haar war keine einzige graue Strähne zu entdecken, und für ihr Alter hatte sie wenige Falten. Die Bettdecke reichte ihr bis zum Kinn, von Verbänden war nichts zu sehen.

Leise verließ ich den Raum und durchquerte die Diele zum Wohnzimmer. Offenbar hatte Mama das Haus renoviert, bevor sie sich der Wiederherstellung ihres eigenen Körpers gewidmet hatte. Wo früher viel dunkles Holz vorgeherrscht hatte, erstrahlte nun alles hell und einladend in Weiß und Türkis. An der Wand hingen Fotos von mir aus Kindertagen. Die meisten zeigten mich allein – mal mit Zahnlücke, mal hing ich kopfüber von einem Baum, mein braunes Haar schleifte knapp über dem Boden. Ein anderes bildete mich mit Lars und Ole ab. Da waren Lars und ich ungefähr zehn und Ole sieben, und ich spürte erstmals Schmetterlinge im Bauch, als Lars mich so flankierte. Ole, einen Kopf kleiner als wir, sah nicht in die Kamera, sondern schielte zu mir. Seine Zunge ragte ein kleines Stück aus dem Mund, als hätte er gerade etwas sagen wollen. Wie immer trug er die obligatorische Latzhose. Ich hatte dieses Bild schon so lange nicht mehr gesehen.

Es gab auch eine Fotografie von Opa in der Werkstatt von Oles Vater Thies. Mein Großvater trug eine blaue Schirmmütze und einen Blaumann. Lächelte breit. Ein anderes zeigte Mama mit mir auf ihrem Schoß auf Opas Terrasse in Kampen.

Sylt. Von hier aus waren es weniger als vier Stunden bis auf die Insel. Manchmal waren Mama und ich früh morgens hin und abends spät wieder zurückgefahren, um einen Tag bei Opa und ein paar Stunden am Strand zu verbringen, um uns dort den Wind durchs Haar pusten zu lassen. Egal, ob Sommer oder Winter.

Von meinem Vater gab es kein einziges Foto. Dabei waren diese Wand und das Schränkchen früher voller Rahmen gewesen, deren Bilder eine glückliche Familie zeigten. Doch dann war alles zerbrochen, auch ihre Ehe. Der Tod ihres geliebten Vaters hatte Mama sehr sensibel gemacht – zu feinfühlig, Papas Meinung nach. Die Ereignisse auf Sylt hatten sie so sehr aus der Bahn geworfen, dass sie sich schließlich von ihm trennte. Mama war in Winterhude wohnen geblieben, er überschrieb ihr das Haus. Papa siedelte zurück nach München, wo er ursprünglich herkam. Und mich setzten sie lediglich in Kenntnis. Noch immer hatte ich an all dem zu knabbern. Genau genommen war so ziemlich alles auseinandergebrochen, an das ich jemals geglaubt hatte.

Ich setzte meinen Weg fort in die Küche, die noch so aussah wie früher. Eine weiße Einbauküche mit einer Arbeitsplatte aus Buche-Furnier. Nur der Herd mit Ofen war inzwischen hochtechnisiert. Ich setzte einen Kaffee auf und lauschte dem Blubbern der Maschine, griff nach meinem Handy und rief die Mail von Johanna Rathi auf, in der sie mir Oles Telefonnummer zugeschickt hatte. Die Ziffern waren blau unterlegt, ich war nur einen Klick von einem Anruf entfernt.

Entschlossen ließ ich den Finger sinken und lauschte dem Tuten in der Leitung.

»Moin! Tischlerei Michelsen hier, wie kann ich helfen?« Oles Sylter Singsang, den ich so lange nicht gehört hatte, warf mich aus dem Konzept.

»Hi«, versuchte ich mich an einem relaxten Unterton. »Hier ist Sandra. Du hattest angerufen …«

Ole klang erfreut. »Mensch, ich konnte kaum glauben, dass du eine eigene Sekretärin hast. Du hast es weit gebracht, hm?« Im Hintergrund war eine Kreissäge zu hören.

»Na ja, halb so wild«, antwortete ich. »Du, ich wollte dir eigentlich nur sagen, dass ich noch gar nicht sicher weiß, ob ich wirklich zur Hochzeit komme. Vielleicht schicke ich den beiden einfach ein Geschenk per Post, weißt du. Bei mir hat sich in letzter Zeit ein bisschen was verändert …« Ich wollte ihm eigentlich nicht sagen, dass mein Verlobter mich verlassen hatte und ich momentan wirklich nicht wusste, ob ich die Nervenstärke besaß, dieser Trauung ohne ihn beizuwohnen.

Ole schwieg. Dann entfernte sich seine Stimme, und er brüllte: »Machst du mal die Säge aus, Hein? Ich telefoniere!« Die Säge verstummte, und Ole fuhr fort: »Das kannst du jetzt aber nicht machen. Dass du kommst, ist gesetzt. Inga könnte ein bisschen Unterstützung gebrauchen, weißt du. Sie hat ja hier keine so guten Freunde. Du bist ihr einziger Lichtblick. Und außerdem: Wenn du nicht kommst, dann geh ich auch nicht hin.«

»So ein Blödsinn«, protestierte ich. »Ich hab seit Jahren nichts von Inga und Lars gehört, wir hatten überhaupt keinen Kontakt, genauso wenig wie wir beide!«

Wobei ich zugeben musste, dass ich Ole schon wieder so lebhaft vor mir sah, als wären wir noch immer befreundet. Vor dem geistigen Auge sah ich ihn in seiner Latzhose, in der Gesäßtasche steckte ein Zollstock. Er hatte mich mit seiner treuherzigen Art oft zum Lachen gebracht. Ole war so ein richtiger Typ zum Knuddeln. Wie ein kleiner Bruder.

»Eben, es wird doch endlich Zeit, dass wir uns mal wiedersehen.« Lockend sagte er: »Du solltest auch endlich mal nach dem Haus sehen. Es bekommt keinem Gebäude gut, wenn man es so lange sich selbst überlässt.«

Da war er derselben Meinung wie Dühnen. Dem Amt für Denkmalschutz ging es wohl eher ums örtliche Gesamtbild. Ob mein Hausverwalter und Ole miteinander geredet hatten? Die Sylter Welt war ja klein. Wo genau auf der Insel Ole jetzt wohl wohnte? Und wo mochte es den alten Thies hin verschlagen haben, nachdem er aus seinem Haus raus musste?

»Wie auch immer«, kam ich zum Thema zurück. »Ich bin zwar gerade in Hamburg bei meiner Mutter. Aber ich kann hier nicht weg. Und Montag muss ich wieder nach Frankfurt, ich hab dort einfach zu viel um die Ohren.«

Die Säge setzte wieder ein, und Ole sprach lauter. »Als bedeutende Rechtsanwältin bist du natürlich ein gefragter Typ. Aber vielleicht überlegst du es dir ja noch mal. Es lohnt sich, du hast viel zu viel verpasst!« Nun klang seine Stimme bedauernd. »Ich muss mal hier weitermachen, war toll, dass du dich so schnell gemeldet hast. Tschüüs!«

Schon war die Leitung unterbrochen.

Durch den Flur hörte ich aus dem Schlafzimmer ein Stöhnen zu mir vordringen. Schnell verstaute ich das Smartphone und eilte zu Mama. Sie sah richtig verschwitzt aus unter ihrer dicken Bettdecke.

»Ich hab dich gar nicht kommen hören«, murmelte sie.

Vorsichtig setzte ich mich auf die Bettkante. »Du siehst aus, als ob dir alles wehtut.«

Mama leckte sich über die trockenen Lippen. »Könntest du mir ein Glas Wasser bringen?«

Eilig erledigte ich, worum sie mich gebeten hatte. Zurück im Schlafzimmer hielt ich ihr das Getränk an den Mund, und sie nahm ein paar zaghafte Schlucke. Dann sank sie erschöpft in die Kissen. »Was hab ich mir nur dabei gedacht, mir das anzutun? Ich muss vollkommen verrückt sein.«

»Wer weiß«, neckte ich. »Wenn du dich in ein paar Wochen im Bikini an der Alster aalst und ein junger, hübscher Kerl dich anspricht, weil er dich für dreiundzwanzig hält …«

Mama verzog den Mund zu einem Grinsen und stöhnte sofort wieder auf. »Als ich vorhin ins Bett klettern wollte, bin ich abgerutscht. Das war wahrscheinlich nicht besonders förderlich für die Nähte.«

»Meinst du, dabei ist etwas –?«

»Nein, nein. Ich bin doch ganz fest verschnürt.«

Hoffentlich war es so. »Hast du Hunger?«, fragte ich schließlich. Ich hatte keine Ahnung, womit ich ihr helfen sollte.

Wieder verneinte sie. »Mir wird schnell schlecht. Vielleicht später.« Sie hob den Daumen. »Hauptsache, du bist da. Wenn du mir aufhilfst, wenn ich mal auf die Toilette muss, ist mir schon sehr geholfen. Und auch, weil …«

Ich sah sie fragend an.

Mama hustete und hob die Hand nach dem Wasserglas. Ich reichte es ihr und sie trank noch einmal. »Als ich letztens wegen dieser OP unterschreiben musste, dass ich mir über die Risiken bewusst bin … da fiel mir auf, dass ich dir noch nicht einmal irgendwelche Tagebucheinträge oder Briefe hinterlassen würde, durch die du –« Wieder wurde ihr Satz durch ein Husten unterbrochen.

Stirnrunzelnd fasste ich Mama ins Auge. Sie klang, als wollte sie ihr Testament machen. Oder wollte sie etwa endlich mit mir über Opa sprechen? Zeit wurde es. Ein aufgeregtes Flattern fuhr mir in den Bauch. Trotzdem tätschelte ich ihr beruhigend den Arm. »Die nächsten Tage haben wir ja ein bisschen Zeit. Dann erzählst du mir einfach alles, was in solchen Briefen stehen könnte.«

Schon wieder bellte sie, stärker diesmal, und bat mich, ihr Schmerzmittel aus der Handtasche im Flur zu holen. Und das Antibiotikum, das sie vorsorglich einnehmen sollte.

Ich eilte erneut davon, kehrte kurz darauf mit den gewünschten Tabletten zurück und drückte eine aus dem Blister. Mama nahm sie ein und schloss die Augen. »Es ist nicht zu fassen, wie fertig mich diese OP macht.«

»Ruh dich besser noch ein bisschen aus«, wisperte ich.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739486208
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (April)
Schlagworte
Reihe Liebesroman Inselroman Syltroman Reiseroman Nordseeroman Sylt Roman Urlaubsroman Sylt Romanreihe Humor

Autor

  • Stina Jensen (Autor:in)

STINA JENSEN schreibt Insel- und Gipfelromane, romantische Komödien und Krimis. Sie liebt das Reisen und saugt neue Umgebungen in sich auf wie ein Schwamm. Meist kommen dabei wie von selbst die Figuren in ihren Kopf und ringen dort um die Hauptrolle in ihrem nächsten Roman. Wenn sie nicht verreist, lebt die Autorin mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt am Main.
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Titel: INSELrot