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Humboldt und der tiefe Fall

von Jana Thiem (Autor:in)
317 Seiten

Zusammenfassung

Wenn die eine innere Stimme verzweifelt um Hilfe schreit, muss die andere dem Wahnsinn ein Ende bereiten!

Ein spitzer Schrei holt Kriminalhauptkommissar Humboldt aus seiner ambivalenten Gedankenwelt. Hat er den Ausflug mit der nervigen Journalistin Christin Weißenburg nun genossen? Oder kann er sich auf keine Frau mehr einlassen?
Erleichtert stürzt er sich in seinen neuen Fall. Die schöne Frau am Fuße des Felsens ist die bekannte Diva des Zittauer Theaters. Nun ist sie tot, ein junger Schauspieler wird vermisst und der eifrige Bürgerpolizist Karl Neumann ermittelt erfolgreich auf eigene Faust. Humboldt und sein Team tappen lange im Dunkeln, bis sich eine Spur zu ähnlichen ungeklärten Fällen auftut und ausgerechnet Christin Weißenburg das letzte Puzzleteil findet.
Während der Kommissar und die Journalistin dem Täter immer näher kommen, steckt dieser bereits mitten in seinem großen Finale. Erschütternde Entdeckungen erwarten die beiden ...

Der Romane der Reihe:
"Humboldt und der weiße Tod" - Band 1
"Humboldt und der tiefe Fall" - Band 2
"Humboldt und der tiefe See" - Band 3
"Humboldt und der letzte Lauf" - Band 4 (erscheint im Juni 2021)

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Prolog

In der Lausitz unfern der böhmischen Grenze ragt ein steiler Felsen, Oybin genannt, hervor, auf dem man den Jungfernsprung zu zeigen und davon zu erzählen pflegt:
Vorzeiten sei eine Jungfrau in das jetzt zertrümmerte Bergkloster zum Besuch gekommen. Ein Bruder sollte sie herumführen und ihr die Gänge und Wunder der Felsengegend zeigen; da weckte ihre Schönheit sündhafte Lust in ihm, und sträflich streckte er seine Arme nach ihr aus. Sie aber floh und flüchtete, von dem Mönche verfolgt, den verschlungenen Pfad entlang; plötzlich stand sie vor einer tiefen Kluft des Berges und sprang keusch und mutig in den Abgrund. Engel des Herrn faßten und trugen sie sanft ohne einigen Schaden hinab.


Andere behaupten:

Ein Jäger habe auf dem Oybin ein schönes Bauermädchen wandeln sehen und sei auf sie losgeeilt. Wie ein gejagtes Reh stürzte sie durch die Felsengänge, die Schlucht öffnete sich vor ihren Augen, und sie sprang unversehrt nieder bis auf den Boden.


Noch andere berichten:

Es habe ein rasches Mädchen mit ihren Gespielinnen gewettet, über die Kluft wegzuspringen. Im Sprung aber glitschte ihr Fuß aus dem glatten Pantoffel, und sie wäre zerschmettert worden, wo sie nicht glücklicherweise ihr Reifrock allenthalben geschützt und ganz sanft bis in die Tiefe hinuntergebracht hätte.

Brüder Grimm, Deutsche Sagen, Erster Band, Nr. 321: Der Jungfernsprung

Quelle: literaturnetz.org

Drei Wochen vor der Tat

»Immer wieder falle ich auf diesen Typ herein!«

Wütend schob Katharina die Schublade des Schreibtisches wieder zu. Kurz erstarrte sie. Sie musste leise sein, durfte sich nicht erwischen lassen. Doch der Ärger ließ sich nicht überlisten.

»Was denkt der sich eigentlich! Sitzt gemütlich in Görlitz in der Sonne und schlürft einen Cappuccino, und ich muss hier die Drecksarbeit erledigen!«

Sie schaute weiter durch sämtliche Fächer und Ablagen, von denen es in diesem Raum jede Menge gab. Ein Schmunzeln huschte über ihr Gesicht. Es war schon immer wieder erstaunlich, wie die Hierarchien in solchen Ämtern funktionierten.

Normalerweise kam man nicht so leicht in die heiligen Hallen des Chefs. Von beiden Seiten des Raumes gingen Türen ab. Die eine führte zur Chefsekretärin, die andere zur Assistentin. Anscheinend hatte er sich für die Assistentin entschieden, denn Katharina war heute über diesen Weg in seine Räumlichkeiten gelangt. Sie fragte sich, ob die Dame eingeweiht war. Aber konnte so eine wichtige Persönlichkeit seiner Assistentin erzählen, dass er eine Affäre hatte? Zumal Katharina keine Unbekannte war. Oft wurde sie in den hiesigen Zeitungen abgedruckt. Am besten hatte ihr immer die Überschrift »Katharina, die Große« gefallen.

Das Schmunzeln machte einem breiten Grinsen Platz. Sie trat kurz ans Fenster und sah auf den Marktplatz hinaus. Ja, sie konnte sich gut vorstellen, wie die Herrscher in früheren Tagen huldvoll aus dem Fenster gewunken hatten. Im Moment stellte sie sich eine Herrscherin vor. Sie würde sehr viel geben, um eines Tages Katharina die Große spielen zu können. Ihre Statur, ihre Ausstrahlung, alles würde sie perfekt inszenieren.

Seufzend nahm Katharina die Suche wieder auf. Viele Möglichkeiten blieben nicht mehr. Kurz stutzte sie. Endlich hatte sie etwas entdeckt, was sich zu kopieren lohnte. Aber das Richtige war noch nicht dabei.

»Warum hat er eigentlich keinen Tresor?«, wunderte sie sich grummelnd. »Oder sollte er die Papiere doch nicht hier aufbewahren? Vielleicht zuhause?«

Das konnte sich Katharina allerdings nicht vorstellen. Irgendwie war er trotz aller Intrigen ein einfältiger Mann. Und da sprach sie aus Erfahrung. Wer, wenn nicht sie, kannte solche Gestalten. Machtgierig, aber leicht zu überlisten. Jedenfalls hier in der Provinz. Alles Dilettanten.

Abrupt hielt sie inne. Sie konnte kaum glauben, was sie sah. In einer roten Klarsichthülle zwischen vielen anderen Papieren lagen die Originalverträge. Das heißt, die Vorverträge. Noch wusste die Öffentlichkeit nichts davon. Das war ja ihr Glück.

»Wie kann man so bescheuert sein!«

Mit einem kurzen Blick auf die Uhr vergewisserte sie sich, dass ihr noch Zeit blieb. Schnell kopierte sie die wichtigsten Seiten. Die, die sie als Beweismittel nutzen konnten.

Sie stopfte alles in ihre große Tasche und verstaute die Unterlagen wieder ordnungsgemäß im Schrank.

Mit dem Schließen der Schranktür öffnete sich die Bürotür und ein großgewachsener, leicht übergewichtiger Mann betrat den Raum.

Katharina schluckte. Hatte er etwas bemerkt? Sie fühlte sich verschwitzt und ausgelaugt. Aber jetzt musste sie das Spiel zu Ende bringen. Das war ja ihre Spezialität. Lasziv lächelnd ging sie auf ihn zu.

»Na, mein Held, konntest du wieder alle großen Probleme dieser Stadt lösen?«

Der heiße Kuss, den sie ihm auf die Wange drückte, verfehlte seine Wirkung nicht. Trotzdem hatte sie das Gefühl, dass er sie anders anschaute als sonst. Misstrauisch sah er sich im Zimmer um.

Jetzt musste sie sich mehr ins Zeug legen. Langsam ließ sie ihre Fingernägel über seinen Rücken gleiten und schnurrte wie eine Katze.

Ihr Gegenüber schnaufte tief durch und vergrub dann sein Gesicht in ihren Haaren. Dabei nahm er sie zärtlich in den Arm, was sie wiederum verwunderte. Sie hatte damit gerechnet, dass er scharf auf sie wurde, dass sie einen Treffpunkt vereinbaren würden, so wie sie es immer getan hatten. Aber er verharrte in dieser Haltung und löste sich mit einem leichten Seufzen.

»Wir werden uns heute nicht mehr sehen«, sagte er.

Argwöhnisch nickte sie.

»Du hast zu tun?«

Eigentlich war ihr das ganz recht. Schließlich musste sie die Kopien noch nach Görlitz bringen. Und abends hatte sie den nächsten Auftritt. Alles war schon sehr knapp bemessen. Trotzdem ... Irgendetwas war komisch.

»Dann mache ich mich besser gleich auf den Weg?«

Zwei Fragen, doch sie bekam keine Antwort.

Verwirrt drückte sie die Tasche, die ihr von der Schulter zu rutschen drohte, fest an ihren Körper. Sie suchte in seinen Augen nach einem Hinweis. Wenn alles wie immer wäre, hätte er versucht, sie auf der Stelle zu nehmen. Und sie hätte ihn sacht in seinen Bürostuhl gedrückt, ihn ein bisschen bezirzt und sich dann aus dem Staub gemacht.

Er jedoch streichelte nur zärtlich ihre Wange, drückte ihr sanft einen Kuss auf den Mund und schob sie behutsam, aber mit Nachdruck aus dem Zimmer.

Ein paar Sekunden verharrte sie vor seiner Tür, unfähig, sich zu bewegen. So etwas war ihr noch nie passiert. Und dann ausgerechnet jetzt.

Allmählich setzte sich ein Gedanke in ihrem Kopf fest. Abschied! Es fühlte sich an, als hätte er soeben Lebewohl gesagt. Für immer. Sie schluckte. Was hatte das zu bedeuten?

Das Schlagen einer Tür riss sie aus ihren Gedanken. Natürlich, die Assistentin. Die hatte Katharina ja ganz vergessen. Sie wappnete sich für ein paar spitze Bemerkungen, aber die Dame zog es vor, Katharina einfach zu ignorieren. Umso besser.

Noch einmal schaute sie auf die Uhr. Sie musste sich beeilen.

Katharina rannte die Treppe hinunter, hastete über den Innenhof durch das Tor und stand keuchend auf dem Marktplatz.

Wo hatte sie nur ihr Auto geparkt? Sie drehte sich einmal im Kreis und erinnerte sich. Breite Straße. Dort war die Chance immer groß, einen Parkplatz zu bekommen. Und sie musste nur noch ein kleines Stück den Ring entlang fahren, um die Ausfahrt nach Görlitz nehmen zu können.

Sie überquerte den Marktplatz linker Hand bis zum Filmpalast und bog wiederum durch einen Torbogen in die Baderstraße ein. Das alte Kopfsteinpflaster führte sie den Berg hinab. Noch einmal rechts um die Ecke und das rettende Auto stand vor ihr.

Mit zitternden Händen versuchte sie, die Autotür zu öffnen. Als es ihr endlich gelungen war, warf sie ihre Tasche in den Wagen und ließ sich stöhnend auf den Fahrersitz fallen. Tief durchatmen. Ein paar Sekunden gönnte sie sich und legte den Kopf auf dem Lenkrad ab. Erst jetzt spürte sie die Angst, die allmählich von ihrem Körper Besitz ergriffen hatte.

»Das ist diesmal eine Nummer zu groß«, flüsterte sie. »Ausgerechnet hier. Hier in diesem Kaff. Wir haben doch schon ganz andere Dinger durchgezogen.«

Der Klingelton ihres Handys schreckte sie aus ihren Gedanken. Sie steckte es in die Halterung und klemmte den Ohrbügel lose unter die Haare.

Noch einmal atmete sie tief durch.

»Was ist?«, blaffte sie in den Hörer. »Ich bin unterwegs.«

Selbstbewusst, als wäre nie etwas gewesen, wendete sie ihren Wagen und fuhr Richtung Theodor-Körner-Allee. In einer knappen Stunde konnte sie den ganzen Kram übergeben. Und am liebsten wäre es ihr gewesen, wenn sie danach nichts mehr damit zu tun gehabt hätte.


Eine Woche vor der Tat

Timo Zueckner schaute von seiner kleinen Wohnung aus direkt auf die Johanniskirche. Die Beleuchtungen der Stadt waren schon längst ausgegangen. Es musste nach Mitternacht sein. Trotzdem konnte er nicht schlafen. Nicht nach diesem Gespräch.

Direkt nach der Aufführung, er wollte gerade Katharina abpassen, hatte sich ihm eine schwere Hand auf die Schulter gelegt. Generalintendant Fred H. Hilgendorf stand plötzlich hinter ihm und bat ihn um ein Gespräch.

Timo hatten sofort die Knie geschlottert. Hatte es etwas mit der Aufführung zu tun? Fieberhaft hatte er überlegt, während er den kurzen Gang bis zu seinem Umkleideraum gegangen war, was an dem Abend schief gelaufen sein konnte. Ihm war nichts aufgefallen, auch seinen Text hatte er ohne Souffleuse dem Publikum entgegengebracht.

Timo hatte sich die Perücke vom Kopf gerissen und mit dem Abschminken begonnen. Wenn er sein Versprechen, in einer halben Stunde beim Chef zu sein, einhalten wollte, musste er sich beeilen. Er war sauer, so verpasste er Katharina und wusste dann auch nicht, wohin sie heute Abend noch gehen wollten. Oder ob sie überhaupt noch was trinken gehen wollten.

Diese Abende nach den Vorführungen waren die Highlights in seinem Leben. Dann war er Katharina so nah, konnte hoffen, dass er direkt neben ihr sitzen würde, dass sie ihn anschauen, mit ihm sprechen, ihn berühren würde.

Er hasste das Getuschel hinter ihrem Rücken. Vor allem, wenn die Worte Nutte oder Flittchen fielen. Dann igelte er sich ein. Partei zu ergreifen hatte er sich abgewöhnt. Dann wurde er nur belächelt. Er, der Kleine, der Jüngste. Aber was wussten die anderen schon! Ja, er, der Kleinste, hatte sie auch schon gehabt. Und nur er hatte sie richtig verstanden. Er wusste nicht, warum sie sich allen Männern an den Hals schmiss. Er wusste auch nicht, warum sie überhaupt noch verheiratet war. Mit ihm war es doch perfekt. Er, Timo Zueckner, würde sie auf Händen tragen. Er könnte sich einen anderen Job suchen, einen Hilfsjob. Solche Arbeiten würde er in jeder Stadt bekommen. Dann hätten sie genug Geld und sie könnte sich ihre Rollen aussuchen. Dann würden endlich auch die großen Schauspielhäuser ihr Talent entdecken. Berlin und Hamburg, für den Anfang. Später vielleicht London und natürlich New York.

Er sah sie vor sich. Schillernd. Timo würde sie unterstützen, wo er nur konnte. Und nach den Aufführungen würden sie zusammen nach Hause gehen und sich lieben.

Lautes Kreischen hatte Timo wieder in die kleine Zittauer Theaterwelt zurückkehren lassen. Mürrisch hatte er seine Jacke genommen, das Licht gelöscht und vorsichtig an Hilgendorfs Tür geklopft.

Und nun stand er am Fenster und konnte nicht glauben, was dieser ihm vorhin erzählt hatte. Nein, er wollte es nicht glauben. Das hatte er dem Intendanten auch gesagt. Katharina war nicht so, wie alle von ihr dachten. Und plötzlich hatte Hilgendorf umgeschwenkt. Er wolle Timo helfen. Vielleicht gäbe es da eine Möglichkeit, wie er seiner Angebeteten näher kommen konnte. Noch immer versuchte Timo, den Haken an der Sache zu finden. Aber da gab es scheinbar keinen. Wenn der große Chef es so wollte, dann würde sich auch Katharina fügen müssen. Und er, Timo, würde alles daran setzen, dass es ein unvergleichliches Erlebnis für sie werden würde. Der Rahmen war ideal. Und er würde es perfekt inszenieren.


Zwei Tage vor der Tat - Freitag

Die letzten Meter bis zur Bergbaude wurden immer beschwerlicher. Sein Wagen ächzte unter dem Gewicht und Kriminalhauptkommissar Humboldt hoffte inständig, dass sie nicht aufsetzen würden. Fünf Personen inklusive Gepäck und Klettersachen, das war eindeutig zuviel für den nicht mehr ganz jungen Kombi. Noch dazu auf einem Waldweg.

Während Humboldt vorsichtig jedem Schlagloch und jeder Wurzel auszuweichen versuchte, machte sich in ihm Bewunderung für die Leute breit, die hier jeden Tag rauf- und runter mussten. Oder gingen die immer zu Fuß? Aber wie kam dann der Proviant zur Baude? Und Christin mit ihrem knallgelben 500er Fiat? Oder hatte sie sich zwischenzeitlich ein Allradfahrzeug zugelegt? Das konnte er sich bei der umweltbewussten Journalistin nicht vorstellen. Jetzt spürte er wieder dieses mulmige Gefühl, das sich jedes Mal bei dem Gedanken an das bevorstehende Treffen breitmachte. Aber noch waren sie nicht oben. Und noch konnte er das Gefühl unterdrücken. Stattdessen versuchte er, seine Aufmerksamkeit der Umgebung zu schenken. Der Wald bestand hauptsächlich aus Fichten und Kiefern, aber es gab auch einige Laubbäume darunter. Am Boden wuchsen Farne und Moose und überhaupt hatte man das Gefühl, hier durch ein Stückchen unberührte Natur zu fahren. Humboldt liebte das Natürliche. Die letzten Reste, in die der Mensch noch nicht eingegriffen hatte. Wahrscheinlich ging er deshalb auch so leidenschaftlich gern klettern. Auf dem Gipfel war er eins mit Himmel und Erde. Der Felsen und er.

Ein plötzlicher Schlag am Unterboden holte ihn in die Gegenwart zurück. Doch aufgesetzt! Vielleicht sollte er seine Kollegen besser aussteigen und den Rest laufen lassen. Diese jedoch schienen sich prächtig zu amüsieren. Lara König sang inbrünstig: »Eine Seefahrt, die ist lustig ...«. Und Marc Vierhaus versuchte es mit: »Sattelt die Hühner, wir reiten nach Texas«.

Selbst sein Freund Frank Stein, der neben ihm auf dem Beifahrersitz saß, konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Humboldt war nicht wohl bei dieser Ausfahrt. Eine Einladung der Journalistin Christin Weißenburg, die hier im Zittauer Gebirge die Bergbaude ihrer Großeltern wieder in Schuss gebracht hatte. Und nun sollte Einweihung gefeiert werden. Selbst Polizeipräsident Klaus-Dieter Noack wollte an dem Brigadeausflug, wie er es augenzwinkernd nannte, teilnehmen. Eine Familienangelegenheit war ihm jedoch kurzfristig dazwischen gekommen. Blieben also noch Lilly Weis, die Kommissariatsassistentin, Lara König und Marc Vierhaus, die beiden jungen Polizeikommissare, und Polizeioberkommissar Frank Stein. Stein war selbst gebürtig aus der Oberlausitz, konnte aber nach einem Beinschuss nicht mehr Auto fahren.

»Falls wir irgendwie heil oben ankommen wollen, wäre es besser, ihr würdet ruhig sitzen«, knurrte Humboldt, ohne den Kopf zu drehen. »Oder aussteigen.« Kann denen sicher sowieso nicht schaden, so aufgedreht, wie die sind, dachte er.

»Oh ja, das machen wir. Sie müssen deswegen auch nicht erst anhalten. Bei diesem Schneckentempo können wir raushüpfen.«

Lilly öffnete schon kichernd die Tür und ließ sich elegant aus dem Wagen gleiten.

Instinktiv trat Humboldt auf die Bremse. Dabei knallte die Autotür an Vierhaus‘ Kopf, der ebenfalls auf dem Weg nach draußen war.

»Aua, Lara, schieb nicht so. Ich habe keine Lust, kopfüber die Karre zu verlassen.«

Glucksend schob Lara König noch einmal nach. Der Wagen stand nun fast still und die beiden Kommissare ließen sich lachend ins Gras fallen.

Humboldt verdrehte die Augen. Das konnte ja heiter werden. Wenn die jungen Leute jetzt schon so aufgedreht waren, wie würde er dann erst das Wochenende überstehen? Mit seinen 44 Jahren war er ja nicht wirklich alt, aber manchmal hatte er das Gefühl, einer anderen Generation anzugehören.

Beim Anfahren gab der Octavia undefinierbare Geräusche von sich. Grölend schoben die drei Kollegen das Auto an. Als Humboldt endlich wieder etwas Fahrt aufgenommen hatte, schaute er Stein genervt an.

»Waren wir auch so? Ich meine, vor 10 Jahren?«

Stein grinste: »Waren wir!«

»Hm ...«, Humboldt versuchte, sich zu erinnern.

»Du bist nur in letzter Zeit immer so angespannt. Eigentlich schon seit deiner Scheidung.«

Stein versuchte, eine bessere Sitzposition mit seinem kaputten Bein zu finden.

»Aber mir scheint auch, dass es heute besonders ausgeprägt ist.«

Die Falten auf Humboldts Stirn wurden noch tiefer.

»Was ist heute besonders ausgeprägt?«, hakte er nach.

Stein bekam das Schmunzeln nicht mehr aus dem Gesicht. »Kann es sein, dass du ein bisschen nervös bist?«

Humboldt schüttelte irritiert den Kopf.

»Wieso denn das? Warum sollte ich nervös sein?«

»Ach, ich dachte ja nur so. Schließlich steht da oben Frau Weißenburg und erwartet uns. Dich!«

Wie auf Kommando holperten sie um die letzte Kurve und sahen das imposante Gebäude vor sich.

Während Humboldt den Wagen auf dem kleinen Platz vor dem Haus parkte, auf dem sonst der Gebirgsexpress, eine Ausflugsbahn auf Rädern, wendete, ärgerte er sich über Steins Äußerung. So ein Quatsch. Wäre er nur zuhause geblieben und stattdessen mit seinem Freund Toni klettern gegangen. Schließlich hatte ihn diese Journalistin einmal erpresst und tauchte seitdem ständig bei seinen Ermittlungen auf. Wie sollte er sich da auf diese Person freuen? Erst als sie ihn mit einer Kletterpartie am Berg Oybin gelockt hatte, war er auf ihre Einladung eingegangen. Bei seinem letzten großen Fall hatte Humboldt im Büro von Christin Weißenburg einige Bilder entdeckt, auf denen sie eine gute Figur beim Klettern abzugeben schien. Er musste sich eingestehen, dass er darauf besonders gespannt war.

Frank Stein war mühevoll aus dem Wagen gestiegen und zog an seiner Gehhilfe. Dabei schaute Humboldt an.

»Willst du mit reinkommen? Oder übernachtest du sicherheitshalber im Auto?«

Die Antwort wartete er nicht mehr ab. Humpelnd nahm er die kurze Strecke bis zur Eingangstür, aus der soeben Christin Weißenburg getreten war, auf sich.

Humboldt verharrte noch ein paar Sekunden. Er schaute sich das rustikale Gebäude an. Von außen schien alles noch in Schuss zu sein. Der größte Teil des Gebäudes war aus Holz, rotbraun gebeizt. Das Dach war mit grauen Schieferplatten neu gedeckt und die großen Fenster weiß gestrichen. Alles in allem hatte er es sich nicht so eindrucksvoll vorgestellt. Nun war er doch ein wenig auf die Innenausstattung gespannt.

Als Humboldt seine Tasche aus dem Wagen holte, hörte er von weitem das Gekicher seiner jungen Kollegen. Vielleicht sollte er jetzt tatsächlich mal Fünfe grade sein lassen und das Wochenende genießen. So einen Kurzurlaub hatte er schon lange nicht mehr gehabt. Die Aussicht auf Wanderungen und Klettertouren ließen seine Laune merklich steigen. Er schnappte sich noch Steins Rucksack und ging mit einem Lächeln Christin Weißenburg entgegen.


Ein Tag vor der Tat - Samstag

Christin war als Erste auf den Beinen. Es war noch früh am Morgen, aber bei dem Arbeitspensum der letzten Monate hatte sie sich das Ausschlafen abgewöhnt. Noch immer wusste sie nicht so recht, was sie mit der Baude ihrer Großeltern anfangen wollte. Bewirtschaftung kam im Moment nicht infrage. Schließlich hatte sie einen Vollzeitjob als Journalistin. Und das in Dresden. Aber verkaufen wollte sie das gute Stück auf keinen Fall. Also blieb es vorerst ihr Rückzugsort. So wie früher, als ihre Großmutter noch lebte. Auch da war sie oft die knapp zwei Stunden von Dresden nach Oybin gefahren und hatte sich von ihrer Oma bemuttern lassen. Die Momente, in denen sie gemeinsam am Stammtisch im Gastraum saßen, ganz allein, und sie den Erzählungen aus alten Zeiten lauschte, gehörten zu den schönsten ihres Lebens. Das war in ihrer Kindheit so und das durfte sie auch als Erwachsene oft erleben.

Lächelnd öffnete Christin die Eingangstür. Eine kühle Brise blies ihr entgegen. Hier oben ging immer ein kleines Lüftchen, manchmal auch mehr. Sie band ihre Laufschuhe zu und wollte gerade den Weg Richtung Felsengasse einschlagen, als sie ein Geräusch hörte. Vorsichtig lugte sie um die Hausecke und traute ihren Augen kaum.

»Herr Humboldt, was machen Sie so früh auf den Beinen?«

Der Angesprochene zuckte erschrocken zusammen.

»Sind Sie wahnsinnig?« Er atmete tief ein und aus.

»Hätte ich gewusst, dass ein Kommissar so schreckhaft ist, hätte ich mich vorsichtiger angeschlichen«, grinste Christin.

»Wie sieht’s aus? Gehen Sie eine Runde mit mir laufen?«, fragte sie.

Christin sah Humboldt die Unentschlossenheit an. Wahrscheinlich hatte er große Lust dazu, konnte sich aber nicht durchringen, ausgerechnet mit ihr zu joggen.

Sie versuchte es noch einmal. »Kommen Sie, ich halte mich auch zurück und hänge Sie nicht ab.«

Da sie Humboldt mittlerweile schon ganz gut kannte, wusste Christin, dass er jetzt nicht mehr über seinen Schatten springen würde. Andere hätten sich vielleicht herausgefordert gefühlt. Aber nicht Humboldt. Der igelte sich bei so etwas lieber ein. Deshalb winkte sie ihm kurz lächelnd zu und lief leichtfüßig zwischen den Felsen davon.

Der gestrige Abend war kurios verlaufen. Nachdem auch die Jugend der Dresdner Kriminalpolizei den Berg erklommen hatte, verzogen sich erst einmal alle in ihre Zimmer. Allmählich trudelten auch die einheimischen Gäste ein. Es hatte sich anscheinend herumgesprochen, dass die alte Baude der Weißenburgs wieder bewohnt war. Jedenfalls hatte Christin nicht mit so vielen Gästen gerechnet. Sie war heilfroh, dass sie sich doch für eine Küchenmannschaft entschieden hatte. Der Koch zauberte einfache einheimische Gerichte und sie selbst stand hinterm Tresen und bediente. Natürlich lief nicht alles glatt. Da gingen schon einige Gläser zu Bruch. Nicht allein deswegen, weil sie zum Kellnern nicht geschaffen war. Aber das war egal. Die Stimmung war einfach fantastisch. Die Dreiercombo hatte jede Menge Partyhits auf Lager. Es wurde getanzt und als weit nach Mitternacht sogar eine Polonäse durch den Saal zog, ging sie schnell in Deckung. Derlei Spielchen waren nichts für sie.

Christin war überglücklich. Wenn das ihre Großeltern gesehen hätten! Stolz hatte sie gegen drei die letzten Gläser von den Tischen geräumt, als sie aus der hintersten Ecke des Gastraumes ein leises Stöhnen vernahm. Vorsichtig schlich sie sich an. Bei genauerem Hinsehen erkannte sie Lara König und Marc Vierhaus, die eng umschlungen auf der Eckbank lagen und Schmatzgeräusche von sich gaben. Sie überlegte kurz, ob sie die beiden ins Bett schicken sollte. Aber schließlich war sie auch mal so jung gewesen. Ein bisschen Spaß musste sein. Sie hoffte nur, dass danach niemand etwas bereuen musste.

Schweißgebadet hockte er auf dem Fußboden. Seine Knie schmerzten, die Füße waren ihm eingeschlafen und seinen Rücken spürte er kaum noch. In der Hand hielt er ein vergilbtes Foto. Tätschelte es blind, drückte es inbrünstig an seine Brust. Murmelnde Laute kamen unablässig über seine Lippen. Die Augen hielt er geschlossen. Alles war wie früher. Alles war so, wie er es kannte. Und schon bald konnte sie wieder stolz auf ihn sein. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er öffnete die Augen und schaute sich um. Fremd kam ihm dieses Zimmer vor. Doch sie war da. Und das gab ihm Sicherheit. In sicherer Entfernung ließ er alles noch einen Moment auf sich wirken, dann endlich war er bereit. Leichtfüßig stand er auf, legte die Fotografie achtlos beiseite und verließ pfeifend den Raum.

Die erste Aufführung im Klosterhof hatten sie am Vorabend bravourös hinter sich gebracht. In diesem Jahr gaben sie das Stück »Maria Stuart«. Timo spielte dabei einen Ritter. Immerhin der Hüter Marias. Zu gerne hätte er Mortimer oder wenigstens den Graf von Leicester gespielt, die beide Maria liebten, aber für solche Rollen waren natürlich die arrivierten Schauspieler vorgesehen. Nun lag er nach einer kurzen Nacht erschöpft in seinem Bett und las zum hundertsten Mal die Legende über eine Frau auf dem Oybin. Immer wieder war er fasziniert davon, dass er Katharina mit der Figur in der Geschichte in Verbindung brachte. Zu der Sage gab es eigentlich drei Geschichten und in allen dreien fand er seine Angebetete wieder. Er war sich jedoch nicht sicher, wie er Katharina am Abend nach der Aufführung erklären sollte, warum er gerade diese Geschichte auserkoren hatte, um ihr noch einmal seine Liebe zu gestehen. Er hoffte nur, dass sie die Zusammenhänge genauso erkannte. Schließlich waren auch hinter ihr alle her. Männer, die er verachtete. Männer, die sie ausnutzten. Männer, die ihr niemals das geben würden, was er zu geben bereit war.

Als Hilgendorf mit der Idee kam, dass Timo Katharina den neuen Spielort auf dem Oybin zeigen könnte, nahm die Aufregung sofort Besitz von ihm. Er war schon einige Male dort gewesen, hatte aber den Aufbau der Bühne und der Zuschauerränge noch nicht gesehen.

Bisher hatten sie im Sommer entweder im Klosterhof in Zittau oder auf der Waldbühne in Jonsdorf gespielt. Beide Spielstätten boten eindrucksvolle Kulissen.

Der Klosterhof war seitlich von aufgereihten Grüften umgeben, die in eine Art Kreuzgang übergingen. Allabendlich, wenn der Vorhang fiel, waren sie beleuchtet und auch der angrenzende Hefterbau erstrahlte majestätisch.

Die Waldbühne, mit ihren Felswänden und dem alten Baumbestand, eignete sich bestens für Indianerspektakel oder Robin Hood-Aufführungen. Timo liebte die Auftritte dort.

Er legte das Sagenbuch beiseite und schaute mit verschränkten Armen an die Decke. Ob sie am Ende des Sommers noch ein Stück auf dem Oybin aufführen konnten, hing von einigen Faktoren ab: Dem Fortschritt der Aufbaumaßnahmen, dem Wetter im Spätsommer und nicht zuletzt davon, ob sie sich endlich auf ein Stück einigen konnten. Dabei hatte er nichts zu sagen. Aber die, die Entscheidungen treffen mussten, waren wie so oft völlig verschiedener Meinung. Manchmal verstand Timo die Theaterwelt nicht mehr. Ging es nicht darum, den Leuten Unterhaltung zu bieten? Dass Schauspieler und Zuschauer Spaß dabei hatten? Nein, mittlerweile waren Faktoren wie Gewinn und Effektivität die bestimmenden Punkte. Wo blieb da die Qualität? Da konnte sich Schauspielintendantin Alma Sorin noch so ins Zeug legen - gegen die Sparmaßnahmen konnte auch sie nicht viel ausrichten. Timo erschien es bei der Resonanz der Bevölkerung völlig unpassend, ständig den Gürtel enger zu schnallen. Es gab die Theaterfreunde, die Theaterstiftung und jede Menge Sponsoren. Denen musste doch was geboten werden.

Im letzten Jahr hatten sie den »Diener zweier Herren« im Klosterhof gegeben. Das war ein voller Erfolg gewesen. Und es hatte Spaß gemacht. Er hoffte, dass das neue Stück ähnlichen Anklang finden würde.

Timo drehte sich zur Seite und schaute auf das Bild, das seinen Nachtschrank zierte. Es zeigte die alte Theatertruppe. Katharina stand leuchtend in der Mitte, angestrahlt von vielen Scheinwerfern. Alle anderen waren Beiwerk. So empfand er es. Stöhnend zog Timo das Kopfkissen über sein Gesicht. Wie sollte er bloß die nächsten Stunden überstehen? Und was würde er tun, wenn Katharina nach der Vorstellung keine Lust mehr hatte, mit ihm auf den Oybin zu fahren? Darüber solle er sich keine Sorgen machen, hatte ihn Hilgendorf beruhigt.

Timos Blick fiel auf den gepackten Rucksack. Zwei Fackeln, Streichhölzer, der Schlüssel, um sich Einlass zur Burgruine zu verschaffen, ein Sitzkissen für seine Angebetete, eine Flasche Sekt und zwei Plastiksektgläser hatte er vorsorglich eingepackt. Dieser Ausflug würde Katharina gefallen, davon war er überzeugt. Schließlich hatte er vor, sie auf Händen zu tragen. Und obwohl es ihm oft ein Stich versetzte, wenn Katharina im Mittelpunkt stand, war ihre Welt in Ordnung.

Die Vorfreude ließ ihn einfach nicht zur Ruhe kommen. Noch einmal malte er sich das Treffen mit Katharina in den schönsten Farben aus. Dabei spürte er, wie eine Welle der Erregung seinen Körper durchflutete. Er atmete schwer unter dem Kissen. Sein Körper fing an zu zucken. Er wollte das nicht, hatte das Gefühl, er würde Katharina damit beschmutzen. Aber die Wollust ließ ihn nicht mehr aus ihren Krallen. Mit einem erstickten Schrei ergab er sich seinem Schicksal. Wie so oft. Allein.


Tag der Tat - Sonntag

Obwohl es erst mitten am Vormittag war, schien die Sonne schon glühend heiß vom Himmel. Humboldt war froh, dass er im Schatten der Bäume stand. Am Felsen oberhalb hörte er ein Ächzen.

"Seil!", rief Christin schnaufend nach unten. "Bisschen mehr Konzentration bitte, Herr Hauptkommissar! Wo sind Sie denn mit Ihren Gedanken?"

Ertappt gab Humboldt Seil nach und grinste nach oben. "Ach, die Aussicht ist nicht schlecht", gab er schelmisch von sich. Erschrocken biss er sich auf die Lippe. Es stimmte ja, es war eine Augenweide, Christin beim Klettern zuzuschauen. Konzentriert und zielstrebig bewegte sie sich leichtfüßig Meter um Meter den Felsen nach oben. Trotzdem musste sie nicht merken, dass er sein Bild von ihr allmählich revidierte.

Das Wochenende war bisher einfach traumhaft gewesen. Und er hatte das Gefühl, dass Christin es extra für ihn so durchorganisiert hatte. Nach der Feier am Freitagabend hatten sich am Samstag alle gegen Mittag auf eine Wanderung begeben. Vorher hatte Humboldt Stein noch zu seinen Eltern gefahren. Schon allein die Fahrt durch das Zittauer Gebirge hatte in ihm Urlaubsgefühle aufkommen lassen.

Während der Wandertour durch die Felsengasse, an den Kelchsteinen vorbei bis hinauf zur Hochwaldbaude hatte sich Christin als perfekte Reiseführerin gegeben. Humboldt war beeindruckt von ihrem Wissen um die Geschichte des Dorfes im Allgemeinen und die der Felsen im Speziellen. Trotz der Verträumtheit hatte es in diesem Landstrich schon immer viel Interessantes zu erleben gegeben. Selbst ein echter Großmufti aus Jerusalem hatte einmal sein Domizil in Oybin aufgeschlagen.

"Alles klar!", rief Christin von oben. "Sie sind dran!"

Erstaunt trat Humboldt an den Felsen. Durch seine Träumerei hatte er die letzten Meter von ihr verpasst.

Ein Kribbeln machte sich in seinem Magen breit. Wie immer, wenn er am Fuße eines schönen Weges stand. Nach einigem Hin und Her hatten sie sich darauf geeinigt, erst einmal einen Weg mit der Schwierigkeit VI zu gehen. Schließlich mussten sie erst schauen, wie sie harmonieren würden. Und Herausforderungen gab es sicher genug, denn die Wege waren hier mit Reibungs- und Risskletterei ausgeschrieben.

Fast zärtlich berührte Humboldt den Stein und setzte seinen Fuß auf den kleinen Vorsprung. Das Gestein war fest und hart und er spürte sofort, dass er diesen Berg lieben würde. Vielleicht konnte er demnächst mit seinen Kletterfreunden aus Dresden noch einmal hierherkommen. Sonst waren sie meist in der Sächsischen Schweiz unterwegs.

Auf einem sicheren Tritt verschnaufte Humboldt kurz und schaute sich um. Die Baumkronen hatte er unter sich gelassen und wenn er nach oben blickte, konnte er Christin in der Sonne sitzen sehen. Es fühlte sich perfekt an!

Ein markerschütternder Schrei erreichte Humboldt gerade in dem Moment, als er den Fuß über die Bergkuppe setzte. Erschrocken hielt er inne. Auch Christin lauschte angestrengt in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war.

»Was war das denn?«, flüsterte sie.

Humboldt zuckte mit den Schultern. Auch in ihm hatte der Schrei Unbehagen ausgelöst. Zweifelsohne kam er von einer Frau.

»Wie weit entfernt wird sie sein?«, fragte er.

Vorsichtig stand Christin auf und spähte seitlich am Berg hinab. »Wir müssen nicht bis ganz runter klettern. Eigentlich ist es ja verboten, aber ein paar Meter unter uns gibt es einen Einstieg in den Ringweg, der sich um die Kuppe des Oybin schlängelt.«

Sie deutete die Richtung an.

Kurzentschlossen nickte Humboldt. »Wir sollten nachschauen gehen!«

Wenige Minuten später befreiten sie sich von den Klettersachen und ließen sie zurück. Christin würde sie später holen. Nur um die teuren Kletterschuhe an seinen Füßen machte sich Humboldt Sorgen. Schließlich waren sie nicht gemacht für normales Gehen.

Froh, wieder im Schatten der Bäume zu sein, folgten sie aufmerksam dem Pfad.

»In welche Richtung gehen wir? Kam der Schrei nicht von weiter unten?«, hakte Humboldt bei Christin nach.

»Tja, wie gesagt, der Weg führt wie ein Ring um den Berg herum. Wenn hier etwas passiert ist, sollten wir es mitbekommen.«

»Itze beruhign se sich doch irscht amol, Frau Krause. Sie kinn doch nischt derfür.« Bürgerpolizist Karl Neumann legte seine Hand ungelenk auf Frau Krauses Schulter. Hilfesuchend schaute er sich um. Erleichtert sah er eine Kollegin der schockierten Frau den Berg herauf stürmen. Beide Damen arbeiteten im Andenkenladen der Klosteranlage, dem ehemaligen Gesindehaus. Ohne große Worte gab er der tief schnaufenden Kollegin ein Zeichen, Frau Krause ins Haus zu bringen und einen Notarzt zu rufen.

Im selben Moment tauchten Humboldt und Christin einige Meter höher auf dem Ringweg auf und blieben oberhalb auf einer Brücke stehen. Erschrocken griff Karl Neumann zu seinem Waffenhalter am Rücken. Leer! Mist! Dann eben ohne.

»Halt! Stiehnbleibm und de Hände uffs Geländer lähn!«, schrie er mit wichtiger Stimme nach oben. Wie hatte er auf diesen Moment gewartet! Seit Jahren schon hoffte er, einmal wenigstens unerlaubten Grenzgängern über den Weg zu laufen und sie festzunehmen. Aber nichts. Nicht, dass es die nicht gab. Ganz im Gegenteil, der Flüchtlingsstrom über die grüne Grenze hier in der Oberlausitz war ungebrochen. Nur hatte er noch nie auch nur einen Einzigen aufgestöbert. Bisher hatte er sich immer damit beruhigt, dass er ja nur ein kleiner Bürgerpolizist sei und für das allgemeine Wohl der Bevölkerung zur Verfügung stehen müsse. Da fielen eben nur kleine Delikte an. Hier im beschaulichen Oybin sowieso. Aber jetzt! Endlich konnte er sich beweisen.

Da sich Karl Neumann ohne seine Waffe nackt fühlte, machte er zwei große Schritte auf den Berg zu und presste sich an den Felsen.

»Machn Se keene Dummheetn, sunst ...« Ja, was sonst? Mensch, im Fernsehen sah das doch immer so leicht aus. Die Tatortkommissare hatten immer die richtigen Worte parat. Was waren das noch für Ausdrücke?

In der Höhe hörte er Gemurmel. Das war ja die Höhe! Er hatte doch gesagt ...

»Kripo Dresden, Humboldt mein Name«, rief Humboldt von oben herab und beugte sich weit über das Geländer, um Karl Neumann zu entdecken.

Ja, das waren die richtigen Worte, dachte dieser. Moment, Kripo? Wo kamen die denn jetzt so schnell her? Und wenn das eine Falle war?

Vorsichtig lugte er unter dem überhängenden Fels hervor. Tatsächlich entdeckte er die sächsische Polizeimarke und ihren ungehaltenen Besitzer.

»Wer sind Sie? Und was ist mit dieser Frau passiert?«, hakte Humboldt nach und suchte mit den Augen eine Möglichkeit, einen kürzeren Abstieg zu finden, als den Rest des Ringweges, dann durch das Burgkloster und durch eines der Burgtore gehen zu müssen.

Christin schüttelte den Kopf und zeigte den offiziellen Weg entlang. Genervt schaute Humboldt noch einmal nach unten.

»Sie bleiben, wo Sie sind! Und passen Sie auf, dass niemand den Tatort betritt!« Damit machten sich Humboldt und Christin eilig auf den Weg.

Na ja, damit konnte Karl Neumann leben. Diese Aufgabe war schließlich auch wichtig. Mit ernster Miene postierte er sich vor der Toten.

Auf dem Weg den Berg hinab ging Humboldt in Gedanken durch, was er gesehen hatte. Eine Frau saß in einer Art Felsspalte am Fuße des Oybin. Ob sie noch lebte, war nicht zu erkennen. Es hatte ausgesehen, als habe sie ein Kostüm getragen. Merkwürdig. Und dann dieser Mann. Untersetzt, verschwitzt. Ein Polizist? Wieso war er so schnell am Tatort?

Humboldt legte noch einen Zahn zu. Wenn das der Täter gewesen war, dann war er jetzt über alle Berge. Hätte er allerdings auch schon längst sein können, bevor sie aufgetaucht waren.

Genervt schob er alle Gedanken beiseite, um wieder einen klaren Blick für das Geschehen zu haben. Noch eine letzte Kurve und dann stürmte er den grob befestigten Weg hinunter.

»Polizeiobermeister, Neumann Koarle«, stellte sich Karl Neumann mit rollendem R vor. »Und Sie sann noch amol?«

Humboldt schnaufte tief durch. »Kriminalhauptkommissar Humboldt von der Kripo Dresden.« Er schüttelte seinem Kollegen die Hand.

»Wie senn Sie denn su schnell hier ruff gekumm?« Ungläubig schaute Karl Neumann Humboldt an.

Humboldt ignorierte die Frage. Er wollte jetzt endlich wissen, was hier passiert war.

»Haben Sie schon die hiesige Polizei gerufen?«, fragte er nach.

Karl Neumann erwachte aus seiner Grübelei und nickte eifrig. »Senn schunn underwaigs.«

Gut! Endlich konnte sich Humboldt seiner eigentlichen Arbeit widmen. Christin stand schon eine Weile an der Kante der Felsspalte und starrte nach unten.

»Das ist die Bardola, wenn mich nicht alles täuscht«, sagte sie.

Humboldt zuckte mit den Schultern. »Bardola? Wer ist das?«

»Katharina Bardola. Die Diva am Zittauer Gerhart-Hauptmann-Theater. Eine ganz talentierte Schauspielerin. Wohl ein bisschen egozentrisch, aber auch beliebt.«

»Finden denn hier auf dem Oybin auch Aufführungen statt?«, wollte Humboldt wissen.

»Soweit ich weiß nicht«, antwortete Christin gedankenverloren. »Ist schon unheimlich, wie sie hier so in ihrem schwarzen Rokoko-Kostüm sitzt. Sieht aus wie Katharina die Große. Und der Rock um sie ausgebreitet, als solle er sie beschützen.«

Humboldt nickte. »Da hat auf jeden Fall jemand nachgeholfen. So kann man nicht runterfallen.«

»Nur der rote Seidenschal passt irgendwie nicht«, sprach Christin weiter. »Also, zu ihr schon, aber nicht zum Kostüm.«

Karl Neumann war dazu getreten. »Wissn Se egentlich, wo se itze gerode stiehn?«, fragte er.

Erwartungsvoll sah ihn Humboldt an.

»Nu, doas is der Jungfernsprung«, antwortete Karl Neumann flüsternd mit großen Augen. »Kenne Se die Soage ne?«

Humboldt schüttelte den Kopf. »Sie werden Sie mir gleich erzählen, oder? Aber bitte die Kurzfassung und möglichst verständlich.«

Irritiert schaute ihn Karl Neumann an, bevor er begann.

»Nu ja, do gibts egentlich drei Soagen. Alle drähn sich um a schie Madl, die vu ann Verfulgr fliehn muss. Entwedr woarsch a Jäger, a Mönch oder se wullte vu ganz alleene iebr de Kluft durt oben huppm.« Er zeigte auf die Brücke, die genau über ihnen war. »Die goab‘s domoals noch ne. Jednfoalls is se a allen drei Fälln hier rundr gehuppt und dr weite Reifrock hoat se soanft landn lussn.« Verträumt segelte Karl Neumann den Weg von der Brücke bis zu ihren Füßen mit den Augen herab.

»Na, das hat in ihrem Fall ja wohl nicht funktioniert«, murmelte Humboldt vor sich hin.

»Wenn se wulln, koannch Ihnen doas Soagenbichl, wu de Soage vunn Jungfernsprunge hinne stieht, amol ausleihn«, bot Karl Neumann an.

Humboldt nickte und machte sich eine Notiz.

»Kommen wir jetzt mal zur Sache, Herr Neumann: Wieso waren Sie so schnell zur Stelle? Und wer hat hier vorhin geschrien?«

Als eine Frau mit kurzen schwarzen Haaren, einem sehr markanten Gesicht und einem Ausweis in der Hand den Berg herauf eilte, hatte Humboldt so eine Vorahnung, dass es anstrengend werden könnte. In seinen Kletterklamotten fühlte er sich fehl am Platz. Nicht, dass er sonst im feinen Zwirn gehen würde, aber mit Jeans und T-Shirt hätte er es passender gefunden. Immerhin gab ihm seine Polizeimarke, die er geistesgegenwärtig in seiner Kletterhose verstaut hatte, eine gewisse Sicherheit.

»Linde Mahler, Kriminalhauptkommissarin, Polizeidirektion Görlitz, Dezernat ‚Leben und Gesundheit‘«, stellte sich die Frau um Luft ringend vor. »Wer sind Sie? Und was machen Sie hier?«

So muss es vorhin für Herrn Neumann gewesen sein, als ich ihm genauso schnaufend und vorwurfsvoll die gleichen Fragen gestellt habe, dachte Humboldt. Er zückte seine Marke. »Humboldt, Kripo Dresden. Ich war zufällig in der Nähe.« Auch die Antworten kamen ihm bekannt vor.

»Zufällig? Aus Dresden, oder was?« Linde Mahler studierte eingehend seinen Ausweis.

Humboldt zuckte mit den Schultern. »Ist nicht wichtig ...«

Er deutete auf die Felsspalte unterhalb des Jungfernsprungs. Linde Mahler trat näher.

»Oh, die Frau Bardola. Da kann ich ja meine Theaterkarten für nächsten Samstag entsorgen.«

Irritiert schaute Humboldt sie von der Seite an. Hatte er genau das von ihr erwartet? Anscheinend konnte er sich noch immer auf seine Menschenkenntnis verlassen.

Während Linde Mahler den Tatort inspizierte, trafen die Kriminaltechniker ein.

Humboldt schaute sich um und entdeckte Christin, wie sie im Schatten eines Felsvorsprungs telefonierte. Sicher mit der Redaktion des Elbflorenz, ihrem Arbeitgeber.

Karl Neumann sperrte wichtig den Aufgang zum Oybin ab und erzählte jedem enttäuschten Besucher, dass die Ermittlungen liefen und er leider zum Fortgang nichts sagen könne. Humboldt hatte das Gefühl, als wäre Neumann in den letzten Minuten ein Stück gewachsen.

Er drehte sich zurück zum Tatort. Alle schienen etwas zu tun zu haben, nur er fühlte sich überflüssig. Linde Mahler hatte ihn kurz zum bisherigen Geschehen befragt und sich danach Herrn Neumann und Frau Krause gewidmet.

Gerade als Humboldt überlegt hatte, sich zurückzuziehen, kam Linde Mahler mit saurer Miene auf ihn zu.

»Der Oberstaatsanwalt möchte sie sprechen«, sagte sie kurz und übergab ihm das Smartphone.

Seine Knie schmerzten. Aber genau das sollten sie. Leise wimmernd rutschte er Stück für Stück vorwärts, bis er an dem großen hölzernen Stuhl angekommen war. Er nahm ihre Füße in die Hand und küsste sie unablässig. Das Wimmern erstarb. Vorsichtig hob er den Kopf. Er erwartete einen Schlag, aber es kam keiner. Zaghaft nahm er ihre Hand und legte sie auf seinen Kopf. Ja! So war es gut. Er spürte, wie sich sein Herzschlag beruhigte. Seine Atmung verlangsamte sich. Endlich wagte er es, sich ein wenig aufzurichten. Während er sein Haupt in ihren Schoß bettete, sorgte er dafür, dass ihre Hand nicht von seinem Kopf wich. Nur noch ein paar Minuten Stille. Ein wenig ausruhen und ihre Anerkennung fühlen, bevor wieder alles anders wurde. Bevor er wieder unter Hieben gehorchen musste. Bevor sie wieder zum Dämon wurde und ihn erniedrigte.

Ruckartig hob er den Kopf. Die Veränderung suchte sich langsam ihren Weg durch seinen Körper. Als er sich sicherer fühlte, stand er auf, klopfte seine Kleider sauber und verließ ohne eine Regung das Zimmer.

Im Besprechungssaal des Zittauer Polizeireviers herrschte reges Treiben. Schreibtische wurden gerückt, Kabel verlegt, Telefone geschaltet und Computer installiert. Humboldt stand am Fenster und schaute auf den Haberkornplatz. Das im neugotischen Tudorstil errichtete Polizeigebäude hatte ihn schon von außen mächtig beeindruckt. Und auch der Blick Richtung Bautzener Straße, Töpferberg oder Theaterring stand dem in nichts nach. Rings um Zittaus Altstadt zog sich ein Grüngürtel, der mit altem Baumbestand bewachsen war. Das saftige Grün der Bäume, die historischen Gebäude und die schlendernden Menschen mit ihren Eistüten in den Händen erinnerten ihn wehmütig daran, dass sein letzter Urlaub schon sehr lange zurücklag. Und dass es doch ganz in seiner Nähe so schöne Landstriche gab, bei denen seiner Meinung nach keine Seychellen oder Malediven mithalten konnten.

Gerade wollte er sich von diesem verträumten Anblick losreißen, als zwei ihm bekannte Menschen in sein Blickfeld liefen. Allerdings passte das, was er da sah, so gar nicht zu dem, was er bisher von den beiden wusste. Lara König und Marc Vierhaus schlenderten Hand in Hand an der alten Post vorbei und blieben an einer Ampel stehen. Fehlte noch, dass sie sich jetzt küssen, dachte Humboldt mit großem Unbehagen. Bevor er irritiert seinen Blick abwenden konnte, war es auch schon geschehen.

Humboldt zog die Stirn kraus. Wann war das denn passiert? Auf der gestrigen Wanderung hatten die beiden zwar viel Spaß miteinander gehabt und waren öfter kreischend davon gerannt, aber hatten sie auch Händchen gehalten? Er konnte sich nicht erinnern. Oder war auch er nicht so ganz konzentriert gewesen? Hatte er sich von Christins begeisterten Ausführungen ablenken lassen? Als sie heute Morgen das Haus zum Klettern verlassen hatten, war noch alles ruhig gewesen.

Humboldt schnaufte tief durch. Na das konnte er jetzt gerade noch gebrauchen. Eine externe Kollegin, die ihn lieber von hinten sah, eine Journalistin, die viel zu neugierig war und zwei seiner besten Mitarbeiter frisch verliebt. Zum Glück ging in diesem Moment die Tür des Besprechungsraumes auf und Frank Stein humpelte herein. Erleichtert lief ihm Humboldt entgegen.

»Ich bin Kriminalhauptkommissarin Linde Mahler und leite die Soko Jungfernsprung. Da ich noch in einem anderen Mordfall ermittle, hat Herr Oberstaatsanwalt Volkening Herrn Kriminalhauptkommissar Humboldt und sein Team gebeten, uns bei der Ermittlung zu unterstützen. Das heißt, wir leiten die Ermittlung beide gemeinsam. Bin ich nicht anwesend, wird Herr Humboldt Ansprechpartner für Sie alle sein.«

Die ganze Zeit über hatte Linde Mahler mit dem Rücken zum Fenster gestanden und ihren Text mit zerknirschtem Gesicht heruntergeleiert. Jetzt holte sie tief Luft und setzte sich an den großen Besprechungstisch, auf dem ihr Laptop stand.

»Ich möchte Ihnen meinen Kollegen vorstellen: Kriminalkommissar Thomas Franz. Wenn ich nicht da bin, wird er voraussichtlich auch nicht anwesend sein.«

Erst jetzt hob Linde Mahler den Kopf. »Herr Humboldt, würden Sie uns bitte Ihr Team vorstellen?«

Mit einem zackigen Nicken übergab sie Humboldt das Wort. Er räusperte sich. In seinem Team hatte es auch mal die eine oder andere Rangelei um diverse Posten gegeben, aber hier schien die Hierarchie klar zu sein. Nicht, dass er nicht mit Frauen arbeiten konnte, aber er mochte es doch verbindlicher. Im Schnelldurchlauf nannte er Namen und Positionen seiner Kollegen und wollte direkt auf den Fall zu sprechen kommen, als ihm Linde Mahler ins Wort fiel.

Sie hatte in der Zwischenzeit das interaktive Whiteboard aktiviert und öffnete wieselflink einige Dateien und Bilder, um diese dann auf dem Board so anzuordnen, dass die Konstruktion des Tathergangs sofort eingefügt werden konnte. Humboldt staunte nicht schlecht. In Dresden hatten sie für solche Zwecke immer noch die gute alte Pinnwand. Und außer seinem Kollegen Marc Vierhaus, der seit Neuestem bei jeder Gelegenheit sein Tablet dabei hatte, war der veraltete Standard noch niemandem aufgestoßen.

Ein roter Punkt huschte über das Whiteboard, für den Linde Mahler offensichtlich zuständig war. Sie sah ihren Kollegen Thomas Franz auffordernd an.

»Kurze Zusammenfassung, bitte!«

Karl Neumann wischte sich genüsslich den Schaum vom Mund. Dass er in der Baude der alten Weißenburgs nochmal ein Bierchen trinken würde, hätte er nicht gedacht.

Nachdem am Fundort der Leiche für ihn keine Verwendung mehr gewesen war, hatte er sich langsam an den Abstieg des Oybin gemacht. Gerade als er sich in der schattigen Ritterschlucht eine kleine Auszeit gönnte und mit dem Rücken an der kühlen Felswand lehnte, kam ihm Christin Weißenburg hinterhergehüpft. Jedenfalls sah es für ihn so aus. Wie konnte man sich bei diesen Temperaturen noch so leichtfüßig bewegen! Ihm fiel es, je höher die Sonne stieg, immer schwerer. Natürlich waren da die überschüssigen Kilos schuld. Aber wann sollte er denn in seinem anstrengenden Job auch noch Sport machen?

Jedenfalls kam ihm das angebotene Bier von Christin gerade recht. Wie sollte die junge Frau auch sonst mit dem ganzen Klettergedöns wieder auf der anderen Seite des Tals den Aufstieg schaffen? Also hatte er gewartet, bis sie die Rucksäcke und Seile vom Kraxelausflug zu seinem Auto geschleppt hatte, und sie dann zur Weißenburgschen Baude gefahren.

»Kannten Sie die Bardola persönlich?«, schreckte Christin ihn jetzt aus seinen Gedanken.

»Nuja, woas heeßt perseenlich. Iech hutte da die eene oder andre Sache mitgekriegt und schunn amol a Profil iebr se oageläht. Kleenes Hobby vu mir.«

Er nahm einen großen Schluck und brummte wissend vor sich hin.

»Doas kunnte ne gutt giehn mit dar. Su, wie die mit dan Männern gespielt hoat, doas musste a schlechtes Ende nahm. Nu isse woahrscheinlich amol a een Foalschn geroatn.«

Er seufzte tief. »Trutzdem schoade. Gespielt hoatt se gutt.«

Christin hatte sich ihren Notizblock geholt und hörte aufmerksam zu.

»Welche Männer meinen Sie denn? War da jemand Bekanntes dabei?«, fragte sie vorsichtig nach.

Neumann wog ab, was er Christin alles sagen konnte. Er hatte sie schon gekannt, als sie noch ein kleines Mädchen und bei den Großeltern zu Besuch war. Eine kesse Motte. Und nun eine tolle junge Frau, aber eben auch eine Journalistin. Und er war Polizist und musste zu seinesgleichen halten. So sehr es ihn auch reizte, bei der Mordermittlung selbst mitzumachen. Aber ihm war unmissverständlich zu verstehen gegeben worden, dass er sich lediglich zu Nachfragen zur Verfügung halten sollte. Nicht mal zur Besprechung, die jetzt in seinem Polizeirevier lief, durfte er dabei sein. Da war es doch gut, noch ein paar wichtige Informationen in der Hinterhand zu haben. Spätestens morgen wollte er damit rausrücken und so vielleicht doch noch ins Team rutschen.

»Nee, iech hutte do oh keen konkreten Noamn. Bloß su Theoaterleute. De meesten senn schunn goar nimmi do.«

Enttäuscht ließ Christin ihren Block wieder sinken. An ihrem Blick erkannte Neumann aber, dass sie ihm nicht ganz traute. Er musste auf der Hut sein, wenn er sich nicht selbst aus dem Spiel kicken wollte.

»Recht schinn Dank for doas Bier, Christin!«, sagte er und nahm seine Autoschlüssel vom Tisch. Noch einmal schaute er in die Runde. Die Einweihungsfeier war eine willkommene Abwechslung für die Dorfbewohner gewesen. Die Freude darüber, dass nicht die nächste Ruine entstehen würde, war groß. Anerkennend nickte er Christin zu.

»Wenn de sunst irgendwie amol Hilfe brauchst, du weeßt ja, wu de miech findst.«

Er tippte sich zum Abschied mit dem Finger an die Mütze und ging eilig hinaus.

Das Telefonklingeln riss Humboldt aus seinen Gedanken. Obwohl er näher am Gerät saß, war Linde Mahler eher am Hörer. Ihr Revier! Selbst in einiger Entfernung hörte man den Anrufer schreien. Linde Mahler wechselte ihre Gesichtsfarbe von Weiß auf Rot und wieder zurück. Endlich rief sie dazwischen:

»Moment ...!« Sie schaute in die Runde.

»Hat denn niemand im Theater Bescheid gegeben?«, zischte sie.

Einheitliches Kopfschütteln und Schulterzucken war die Antwort. Auch Humboldt war genervt. Seit über einer Stunde saßen sie nun schon in diesem Besprechungsraum fest und versuchten, Aufgaben zweier verschiedener Teams unter einen Hut zu bringen. Am liebsten hätte er sich seine Leute geschnappt und endlich angefangen zu ermitteln.

Natürlich war die Zusammenfassung von Kollege Thomas Franz ganz korrekt und zufriedenstellend für seine Chefin.

Es gab schon erste Ergebnisse des Erkennungsdienstes. Auf dem Plateau neben dem Jungfernsprung waren jede Menge Spuren gesichert worden. Noch gab es keine richtigen Zusammenhänge, aber es hatte ganz sicher ein Kampf stattgefunden. Ob die Tote daran beteiligt gewesen war, musste noch festgestellt werden. Allerdings hatten die Kollegen auch Kerzenwachsreste und fein säuberlich kleingerissene Papierschnipsel gefunden. Was diese Utensilien dort zu suchen hatten, konnte noch keiner sagen.

Von seinem Chef Klaus-Dieter Noack hatte Humboldt erfahren, dass Gerichtsmediziner Dr. Lorenz Richter schon von Dresden aus auf dem Weg sei, um sich morgen den Tatort noch einmal genauer zu betrachten und um die Tote mit nach Dresden zu nehmen. Das hatte Humboldt seiner Kollegin Linde Mahler noch nicht weitergegeben und behielt es auch vorerst für sich. Zuerst wollte er mit Richter allein sprechen.

Endlich schien das Telefongespräch mit der schreienden Person des Zittauer Theaters beendet zu sein. Linde Mahler hatte den Hörer in die Station geknallt und sich nur noch einmal kurz umgeschaut.

»Es wissen alle Bescheid, was zu tun ist. Morgen früh möchte ich pünktlich acht Uhr Ergebnisse hören!« Damit flog die Tür des Besprechungsraumes zu.

Genüsslich nippte Humboldt an seinem Weinglas. Der Rotwein lief tröstlich durch den Rachen die Speiseröhre hinab. Vorsichtig schob er den leeren Teller von sich. Die Böhmische Knoblauchsuppe, verfeinert mit Schinken- und Käsestreifen sowie Röstbrotwürfeln, war einfach köstlich gewesen. Eine Spezialität des Hauses.

Nachdem sie alle Aufträge von Kriminalhauptkommissarin Linde Mahler erledigt hatten, brauchte er so schnell wie möglich einen Rückzugsort. Bei diesen Ermittlungen war nichts so, wie er es kannte. Er hatte nichts zu sagen, er kannte sich nicht aus und er konnte nicht mal in seinem eigenen Bett schlafen. Auch das entspannende Bouldern an der Kletterwand in seiner Wohnung fehlte ihm.

Frank Stein wohnte bei seinen Eltern in Hörnitz. Lilly Weis war im Laufe des Tages mit dem Zug nach Dresden gefahren und Lara König und Marc Vierhaus hatten die Einladung von Christin Weißenburg angenommen und sich bei ihr in der Baude einquartiert. Sie schienen auch nicht wirklich traurig gewesen zu sein, als Humboldt die Einladung abgelehnt hatte und sich stattdessen bei Stein nach einem Hotel am anderen Ende des kleinen Gebirges erkundigt hatte. Jetzt war er in der Sonnebergbaude in Waltersdorf, am Fuße des höchsten Berges des Zittauer Gebirges direkt gegenüber der Liftstation gelandet.

Humboldt lehnte sich zurück und schloss die Augen. Die gemütliche Atmosphäre des Landgasthauses und die murmelnden Gespräche an den Nachbartischen machten ihn schläfrig. Aber an Schlaf durfte er jetzt nicht denken. Seufzend holte er einen Notizblock aus der Tasche und dachte über den Tag nach. Erst das verheißungsvolle Klettern, dann der Fund der Leiche, der urige Dorfpolizist, die autoritäre Kommissarin aus Görlitz und zu guter Letzt seine beiden verliebten Mitarbeiter. Humboldt hatte das Gefühl, dass es den ganzen Tag über kaum um Ermittlungen ging. Wenigstens konnten sie am Abend noch mit dem Generalintendanten des Zittauer Gerhart-Hauptmann-Theaters, Fred H. Hilgendorf, sprechen. Auch wenn dieses Gespräch mit großen Vorwürfen begann. Natürlich hätte irgendjemand direkt im Theater Bescheid geben müssen. Schließlich sollte am Abend eine Aufführung sein, die jetzt kurzfristig und zum Ärger vieler Besucher abgesagt werden musste. Es gab zwar eine Zweitbesetzung, aber keiner der Schauspieler wollte nach dem Todesfall der Kollegin auf die Bühne gehen.

Dieser Hilgendorf schien auch ein eigenwilliger Kauz zu sein. Vielleicht musste man das in dieser Branche auch. Humboldt konnte ihn überhaupt nicht richtig einschätzen. Seine Mimik hatte während des Gesprächs ein paar Mal gewechselt. Wenn er in einem Moment lächelnd und leicht abwesend schaute, konnte Hilgendorf im nächsten Augenblick zornig blicken. Ohne erkennbaren Grund. Aber natürlich, er hatte seine beste Schauspielerin verloren. Die Diva des Theaters. Und nach Schilderung von Hilgendorf bei allen beliebt. Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass die Bardola Feinde gehabt haben sollte.

Humboldt lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Zu gern würde er jetzt eine Runde laufen gehen. Aber ein Blick aus dem Fenster zeigte ihm, dass die Dämmerung schon längst eingesetzt hatte. Und da er sich hier nicht auskannte ... Hoffentlich brachte Linde Mahler morgen mehr Informationen mit. Sie war am Abend noch in das Görlitzer Theater gefahren, um mit dem Ehemann der Bardola zu sprechen. Soweit Humboldt das mitbekommen hatte, gehörten die beiden Theater zusammen. Aber die Eheleute wollten nicht zusammen auf der Bühne stehen. Also ging er nach Görlitz und sie blieb in Zittau. Und jeder hatte eine eigene Wohnung, obwohl die beiden Städte nur etwa 35 Kilometer auseinander lagen. Humboldt wollte sich kein Urteil erlauben, schließlich war auch seine Ehe gescheitert. Aber er fand es doch merkwürdig.

Gerade, als er seine Unterlagen zusammengepackt hatte, öffnete sich schwungvoll die Restauranttür. Humboldts Vorahnungen beim Hochblicken wurden bestätigt. Eine strahlende Christin Weißenburg sah sich kurz im Gastraum um und kam dann auf seinen Tisch zu.

»Na, da haben Sie sich ja die zweitschönste Baude des Zittauer Gebirges ausgesucht«, scherzte sie und nahm ihm gegenüber Platz. »Haben Sie schon gegessen?«

Noch ehe Humboldt nicken konnte, hatte sie einen kurzen Blick auf die verschiedenen Speisekarten geworfen und sich dann für die Windbeutelspezialitäten entschieden. Vorbei ist es mit der Ruhe, dachte er.

»Ich wollte gerade nach oben gehen. War ein langer Tag!«, unternahm Humboldt einen lahmen Versuch, die Journalistin loszuwerden. Im Grunde wusste er aber, dass das zwecklos war. Ihre Körpersprache sagte alles. Sie wollte einen dieser leckeren Windbeutel essen. Schon hob sie die Hand, um eine Servicekraft heranzuwinken.

Nach ausführlicher Diskussion, welchen Windbeutel die Kellnerin empfehlen könnte, entschied sich Christin für den Espressotraum mit Espresso-Krokant-Eis, Sahne und Karamellsoße, wie Humboldt jetzt auch wusste.

»Was tun Sie um diese Uhrzeit hier?«, rang sich Humboldt endlich zur Nachfrage durch. Er wusste, wenn er sie herausforderte, konnte das eine lange Nacht werden. Andererseits ... Vielleicht fehlte diesem ereignisreichen Tag noch ein krönender Abschluss. Und bis zu diesem Mordfall und der Tatsache, dass beide wieder ihrer professionellen Arbeit nachgingen, die nicht wirklich zueinander passte, waren sie sich ja sympathisch gewesen.

Ein schelmisches Grinsen lag auf Christins Gesicht. »Ich habe Ihnen nur Ihre Klettersachen gebracht«, sagte sie mit unschuldigem Blick. »Außerdem waren die beiden jungen Kommissare ganz froh, ein paar Minuten in meiner Baude allein zu sein.«

Stimmt, dachte Humboldt. Das hatte er ja ganz verdrängt. Seine innere Stimme sagte ihm, dass das nicht gut gehen konnte mit Lara König und Marc Vierhaus. Sie waren so verschieden. Gegensätze ziehen sich an? Sein Blick huschte hinüber zu Christin. Das war wohl in ihrem Fall auch irgendwie so. Nur anders. Mit mehr Distanz. Fand er das gut? Wollte er mehr? So richtig wohl fühlte er sich nicht bei dieser Selbstreflexion. So viele Gedanken an weibliche Nähe hatte er seit Jahren, im Grunde seit seiner Scheidung, nicht mehr zugelassen. Also warum jetzt?

Eine Weile starrte er vor sich hin, bemerkte dann aber Christins intensiven Blick. Jetzt keine spitzen Bemerkungen, sonst würde er es sich noch anders überlegen.

Als der riesige Windbeutel serviert wurde, bestellte Humboldt noch eine Flasche Rotwein und ein zweites Glas.


Tag 1 nach der Tat - Montag

Noch vor dem Weckerklingeln saß Linde Mahler beim ersten Kaffee in ihrer kleinen Küche in der Görlitzer Altbauwohnung. Schon seit Jahren war für sie um fünf Uhr die Nacht zu Ende. Auch dann, wenn sie frei hatte. Sie hatte aufgehört, sich darüber zu ärgern. Den Wecker stellte sie sich aus Gewohnheit, wusste aber gleichzeitig, dass sie es nie verschlafen würde.

Nach ihrem allmorgendlichen Frühsport, ein zwanzigminütiges Stepptraining mit Gewichten, hatte sie lange unter der warmen Dusche gestanden, um sich am Ende mit eiskaltem Wasser zu erfrischen. Sie liebte die Extreme. Heiß und kalt. Hell und dunkel. Hoch und tief. Sie genoss tagsüber die heiße Sonne und nachts die kühle Dunkelheit. Sie war schon auf dem höchsten Berg Europas genauso wie in tiefen Höhlen überall auf der Welt gewesen.

Auch jetzt blätterte sie voller Spannung in einem Extremsportreiseprospekt, um die dort angegebenen Ziele auf sich wirken zu lassen. Wenn ihr etwas ins Auge stach, notierte sie fein säuberlich Seitenzahl und Reiseort, damit sie später irgendwann überprüfen konnte, ob ihre Reiselust auf diesen Ort noch immer anhielt.

Als ihr Blick auf die große Wanduhr fiel, stand sie widerwillig von ihrem Stuhl auf, nahm ihre Kaffeetasse und ging in das angrenzende Zimmer. Es war der größte Raum in der Wohnung. Auch wenn ihre Freunde sie für verrückt hielten, sie brauchte den Platz für ihre Arbeit. Der rustikale Schreibtisch, ein Erbstück ihres Großvaters, nahm schon fast die komplette Fensterfront ein. Gegenüber thronte ein riesiges Bücherregal, das sie von ihrem Vater an dem Tag geschenkt bekommen hatte, als sie mit ihrem Polizeistudium begonnen hatte. Das hatte Tradition in ihrer Familie. Alle Männer waren Polizisten in verschiedensten Sparten. Da es in ihrer Generation keine männlichen Nachkommen gab, wurde kurzerhand entschieden, dass sie in die Fußstapfen ihrer Vorfahren treten sollte. Bisher hatte sie die Entscheidung noch nicht bereut, obwohl ihre Cousinen in schicken Büros arbeiteten und schon Familien gegründet hatten. Dafür hatte sie keine Zeit. Und ihr Beruf machte ihr Spaß! Eigentlich ... Wenn sie von den vielen Toten, die sie in den letzten Jahren gesehen hatte, mal absah, hatte sie eine abwechslungsreiche Arbeit, bei der sie denken und kombinieren musste. Der einzige Wermutstropfen war das ständige Zeigen von Stärke. Besonders als Frau durfte sie sich keinen Fehler leisten. Wie oft hatte sie schon gegen das Argument, dass die Kriminalistik eine Männerdomäne sei, ankämpfen und sich beweisen müssen. Im Fernsehen waren weibliche Ermittlerinnen eine Selbstverständlichkeit. Aber hier in der Provinz? Schon häufig hatte sie kurz vor dem Entschluss gestanden, sich auf eine andere Stelle in einem anderen Bundesland zu bewerben. Und immer wieder kam sie zu dem Schluss, dass sie nicht weggehen konnte. Görlitz war ihre Heimatstadt, hier waren ihre Freunde, ihre Familie, hier konnte sie so sein, wie sie war. Konnte ihren Dialekt sprechen, ohne sich verstellen zu müssen. Oder noch schlimmer, ohne ausgelacht zu werden. Also blieb ihr nichts anderes übrig, denn als Frau weiterhin ihren Mann zu stehen.

Zustimmend nickend nahm sie ihre Notizen vom Vorabend zur Hand und ging das Gespräch mit Markus Morgenthaler, dem Ehemann der Toten, noch einmal durch.

Schon beim Eintreten in die riesige Wohnung hatten sämtliche Alarmglocken geläutet. Morgenthaler hatte selbst die Tür geöffnet und sie und Kollege Franz hineingebeten. Im weitläufigen Wohnzimmer lungerten zwei junge Männer nur in Unterhosen bekleidet herum. Mit einem Handzeichen deutete Morgenthaler ihnen an, dass sie verschwinden sollten. Nachdem die beiden verschreckt in einem anderen Zimmer verschwunden waren, setzte er sich, bot den Ermittlern aber keinen Platz an. Linde Mahler war das ganz recht gewesen. Sie konnte im Stehen sowieso besser denken.

Schon vom ersten Moment an spürte sie, dass Morgenthaler nicht echt war. Erst diese klischeehafte Szene mit den Jüngelchen, dann die gespielte Traurigkeit über den Tod seiner Frau. Wenn es ihn doch so mitgenommen hatte, warum war er nicht nach Zittau gekommen, um sie zu sehen, oder sich wenigstens nach den Ursachen des Todes zu erkundigen? Stattdessen hockte er in dieser Hochglanzprospektwohnung und ließ sich die Füße küssen.

Auch seine Antworten auf Linde Mahlers Fragen waren allgemein und ausweichend. Ihr war nichts anderes übrig geblieben, als ihn für den nächsten Tag in das Zittauer Polizeirevier einzuladen. Morgenthalers verärgerte Reaktion darüber schien die erste wahre Regung während des Gespräches gewesen zu sein.

Noch immer kopfschüttelnd packte Linde Mahler ihre Notizen zusammen, nahm den Autoschlüssel und machte sich auf den Weg nach Zittau.

Spärlich schien das Sonnenlicht durch die Ritzen der Rollläden. Und mit ihm die sich ankündigende Hitze des kommenden Tages. Verwundert schaute er sich im Zimmer um. Die Verwüstung danach kannte er ja schon. Doch heute war es anders. Sämtliche Sachen aus dem riesigen Kleiderschrank lagen verteilt auf dem Fußboden herum. Er selbst steckte in einem viel zu großen Rock und einer Rüschenbluse. Angeekelt betrachtete er sich im Spiegel. Erst jetzt nahm er den verschmierten Lippenstift in seinem Gesicht wahr. Wütend fuhr er mit der Hand darüber, mit dem Ergebnis, dass alles nur noch schlimmer wurde.

Er riss sich die Kleider vom Leib. Feinstrumpfhosen. Die hatte er schon immer gehasst. Voller Panik zerrte er solange daran, bis die Laufmaschen überhandnahmen und er sich endlich befreien konnte.

Wie konnte das passieren? Schon seit Jahren vermied er es, diesen Schrank zu öffnen. Selbst bei Umzügen überließ er es der Umzugsfirma, den Inhalt in Kisten zu verpacken und am Zielort wieder einzuräumen. Und jetzt das! Wann war er hier hereingekommen? Und warum der Schrank? Wurde es wieder schlimmer? Ließ die Wirkung der Medikamente nach?

Er musste hier raus. Hastig griff er nach seiner Hose und seinem T-Shirt und verließ fluchtartig den Raum. Von außen verriegelte er die Tür. Vielleicht reichte die Dreifachabsicherung doch nicht aus. Was musste er sich denn noch einfallen lassen?

Die plötzlich einsetzende Ruhe in seinem Innern ließ ihn taumeln. Er stützte sich an der Wand ab und rutschte langsam in die Knie. Zusammengekauert blieb er sitzen und atmete tief ein und aus. Endlich! Es war vorbei! Als er aufschaute, war sein Blick klar. Gefasst kam er auf die Beine, holte sich in der Küche ein Glas Wasser und schluckte verschiedene Pillen.

»Guten Morgen!«

Die säuselnde Stimme holte Humboldt aus einem traumlosen Schlaf. Mühsam öffnete er die Augen. Sein Schädel brummte. Vorsichtig hob er den Kopf, um sich zu orientieren. Es war gleißend hell in dem Zimmer, was ihm zusätzliche Kopfschmerzen bereitete.

Allmählich kam die Erinnerung wieder. Der Mordfall am Oybin, das Abendessen in der Baude, Christin Weißenburg ... Erschrocken schaute er sich um. Lächelnd saß Christin an dem kleinen Tisch und tippte auf ihrem Handy herum.

Humboldt schluckte. Sie war noch da! Sein Blick glitt vorsichtig an seinem Körper herab. Kein Oberteil! Er schluckte und hob ohne ein Laut die Bettdecke hoch. Erleichtert sank er in das Kissen zurück. Die Unterhose war da, wo sie hingehörte.

»Na? Wie fanden Sie unsere erste Nacht?«, fragte Christin grinsend, ohne aufzuschauen.

Humboldt räusperte sich umständlich. Was sollte er darauf antworten? Er konnte sich an keine gemeinsame Nacht erinnern. Und er hoffte ganz stark, dass es die auch nicht gegeben hatte.

»Hm ...«, versuchte er es mit einer vagen Antwort.

Jetzt hob Christin den Kopf und setzte eine Schmollmund auf.

»Ich höre Ihre Begeisterung ...«

Humboldt stöhnte innerlich. Das durfte doch alles nicht wahr sein. Dieser Ausflug in die Oberlausitz entwickelte sich zu einem wahren Desaster. Die anderen Umstände reichten doch schon aus. Jetzt hatte er sich auch noch auf diese Journalistin eingelassen. Das würde er nicht mehr loswerden. Nun hatte sie ihn komplett in der Hand.

Das schallende Gelächter riss ihn aus seinen Gedanken.

»Herr Kommissar«, versuchte sich Christin zusammenzureißen. »Glauben Sie mir, wenn Sie mit mir eine Nacht verbracht hätten, würden Sie sich daran erinnern. Hoffe ich jedenfalls.«

Sie schnappte nach Luft, prustete aber sofort wieder los. »Sie müssten Ihr Gesicht sehen ... Keine Angst! Es ist nichts passiert. Nach zwei Flaschen Wein konnte ich nur nicht mehr nach Hause fahren. Und dann haben Sie mir Ihre zweite Betthälfte angeboten.«

Christin wischte sich die Lachtränen von den Wangen und nahm ihre Tasche.

»Wahrscheinlich hätten Sie das im nüchternen Zustand nicht getan.« Sie hatte sich wieder gefangen. Lächelnd öffnete sie die Tür. »Ich komme wegen ein paar mehr Informationen zu unserem Fall auf Sie zu.« Sie schickte ihm eine Kusshand und verließ lachend das Zimmer.

Wahrscheinlich? Ganz sicher hätte ich das im nüchternen Zustand nicht getan, dachte Humboldt. Und es war ganz sicher nicht unser Fall. Sollte sie doch sehen, wie sie an ihre Informationen kam. Von ihm bekam sie jedenfalls keine.

Noch einmal zog er sich die Bettdecke bis zum Kinn hoch. Er fröstelte trotz der Hitze, die schon in dem kleinen Eckzimmer lag. Wie konnte ihm das nur passieren! Ob mit oder ohne Hose, er wollte gar nicht neben einer Christin Weißenburg liegen. Was bildete sie sich denn ein? Verzweifelt suchte er nach Erinnerung in seinem Hirn. Bruchstücke tauchten auf, verschwanden wieder. Der Windbeutel, drei Flaschen Rotwein, die Bedienung, die vorsichtig darauf aufmerksam gemacht hatte, dass Feierabend sei und ... Christin, nur mit Slip und BH bekleidet ...

Humboldt stöhnte auf und zog sich die Decke über den Kopf.

Es herrschte Stille im Besprechungsraum des Zittauer Polizeireviers. Jeder hing seinen Gedanken nach und versuchte, das soeben Gehörte einzuordnen.

Linde Mahler klappte mit lautem Knall das Oberlausitzer Sagenbuch zu und schaute in die Runde.

»Tja, da hätten wir drei verschiedene Versionen zur Sage um den Jungfernsprung. Worauf konzentrieren wir uns?« Linde Mahler bewegte ihr Knie ungeduldig auf und ab, so dass der ganze Tisch wackelte. »Herr Humboldt? Wie würden Sie vorgehen?«

Humboldt schaute irritiert auf. Er hatte erwartet, dass Linde Mahler wieder das Kommando übernehmen würde. Die direkte Frage überraschte ihn. Aber natürlich hatte er sich schon seine Gedanken gemacht. Der Dame, die damals den Felsen unversehrt hinabgesegelt sein sollte, wurden drei Geschichten angedichtet. Entweder war sie vor einem geistlichen Bruder geflohen, wurde von einem Jäger verfolgt oder war als freizügiges Mädchen auf dem Oybin unterwegs und beim Versuch, eine Felsspalte zu überspringen, ausgerutscht.

»Gibt es denn noch Mönche auf dem Oybin?«, fragte er.

Ein breites Grinsen lag auf Linde Mahlers Gesicht. Sie schüttelte den Kopf.

»Aber ich vermute mal, dass es ein paar Jäger hier in der Gegend gibt«, hakte er nach. »Denen könnte man ja mal auf den Zahn fühlen.«

Humboldt sah zu, wie sich Linde Mahler Notizen machte. Sofort fühlte er sich an Schulreferate erinnert. Mittlerweile wusste er nicht mehr, ob es ihm vielleicht doch lieber gewesen wäre, sie hätte wieder die Chefrolle eingenommen. Er holte tief Luft. Reiß dich zusammen, schalt er sich. Konzentriert arbeiten, wie immer.

Humboldt spürte einen leichten Tritt an seinem Fuß. Lara König schaute ihn mit großen Augen an. Ihr Kopfnicken ermunterte ihn, weiter zu machen.

Er räusperte sich. »Ob sie ein rasches Mädchen war, wie es in der Sage heißt, werden wir im Theater sicher herausfinden.«

Jawohl, jetzt noch die Arbeit aufteilen und zu alter Stärke auflaufen. Wäre doch gelacht, wenn er mit seiner dominanten Kollegin nicht fertig werden würde.

»Ich denke, wir sollten uns in drei Teams aufteilen. Lara, Sie gehen mit Thomas Franz und fragen sich durch die Jagdszene.«

Humboldt spürte, wie er endlich wieder Fahrt aufnahm. »Marc, schauen Sie sich bitte noch einmal am Tatort sowie im Souvenirshop um. Vielleicht hat jemand was gesehen. Gibt es irgendwo eine Kamera usw.«

Marc Vierhaus nickte unglücklich und schaute sehnsüchtig in Laras Richtung. Humboldt hatte schon zur Kenntnis genommen, dass der Verliebtheit heute Morgen die Luft ausgegangen zu sein schien. Das war ein kurzer Flirt gewesen. Ihm sollte es nur recht sein. Allerdings, wenn er sich Vierhaus‘ Gesicht besah, schien das Ende des Techtelmechtels nur einseitig gewollt zu sein. Einen Mitarbeiter mit Liebeskummer konnte er auch nicht wirklich gebrauchen.

Humboldt sah, wie Linde Mahler den Mund öffnete, um etwas zu entgegnen. Schnell sprach er weiter. »Und wir, Frau Kollegin, nehmen noch einmal die Schauspieler unter die Lupe.«

Linde Mahler hatte den Mund wieder zugeklappt und schaute zerknirscht.

»Frank, du koordinierst wie immer die Teams von hier aus. Ich möchte, dass wir bis heute Abend erste Ergebnisse haben!«

Damit erhob er sich, nickte Linde Mahler entschlossen zu und stürmte zur Tür hinaus.

Es herrschte eine gespenstische Stille im Zittauer Theater. Von irgendwoher hörte Humboldt Absätze auf dem Fliesenboden näher kommen. Die spontane Erinnerung an Christin Weißenburg, die auf Absatzschuhe stand, und den gestrigen Abend mit ihr schob er mit einem unangenehmen Gefühl beiseite.

Linde Mahler schaute ebenso gespannt wie Humboldt auf die Dame, die ihnen jetzt in dem schlichten, eleganten Foyer entgegentrat.

»Alma Sorin, Schauspielintendantin«, stellte sich die attraktive Frau mittleren Alters mit leichtem Akzent vor. »Haben Sie ihn gefunden?«

Sie starrte die beiden Ermittler aus geröteten Augen an.

»Ihn? Wen meinen Sie?«, fragte Humboldt vorsichtig nach.

»Na, Timo Zueckner, einer unserer jungen Schauspieler, ist verschwunden. Seit gestern!«

Irritiert schüttelte Alma Sorin den Kopf.

»Hat Herr Hilgendorf Ihnen nicht Bescheid gegeben?«

Humboldt hob ebenso verwirrt die Schultern.

»Wir sind hier, weil wir noch ein paar Fragen zum Tötungsdelikt von Frau Bardola haben«, mischte sich Linde Mahler ein. »Können wir irgendwo ungestört reden?«

Alma Sorin nickte und drehte sich abrupt auf ihren Absätzen herum. Mit eiligen Schritten verschwand sie im hinteren Teil des Theaters.

»Wieso machen Sie sich so große Sorgen um Herrn Zueckner? Gestern war doch keine Aufführung«, fragte Humboldt nach, als sie das schmale Büro betreten hatten.

»Ja eben«, murmelte Alma Sorin gedankenverloren. »Er hätte doch erst hier erfahren können, dass die Vorstellung ausfällt. Außerdem wäre er sicher untröstlich gewesen.«

Sie schnäuzte sich in ein Taschentuch.

»Timo ist sehr sensibel. Aber genau das macht auch sein Spiel aus.«

Sie lächelte zaghaft.

»Und was hat Timo mit der Bardola zu tun?«, hakte Linde Mahler nach.

»Na ja, wie soll ich sagen ... Alle Männer waren irgendwie verschossen in die Grande Dame. Aber Timo eben besonders. Obwohl jeder wusste, wie die Bardola sein kann, nahm er sie immer wieder in Schutz. Die anderen zogen ihn schon damit auf.«

Humboldt schaute von seinem Notizblock auf.

»Kann es sein, dass Timo Zueckner ebenfalls auf dem Oybin war?« Ihm schwante nichts Gutes. Hoffentlich gab es keinen Mord aus Eifersucht. Wie er diese Verbrechen hasste! Als ob sich erwachsene Menschen nicht unterhalten konnten.

»Auf dem Oybin? Warum sollte er dort gewesen sein?«, schüttelte Alma Sorin den Kopf.

»Hm, der junge Verliebte sucht ein romantisches Plätzchen, um seiner Angebeteten die Liebe zu gestehen.« Linde Mahler schnaufte tief durch. »Ein bisschen kitschig, aber durchaus möglich.«

»Frau Sorin, was hat Frau Bardola vorgestern auf dem Oybin gemacht? Haben Sie eine Ahnung? Wenn es etwas mit dem Theater zu tun gehabt haben sollte, dann müssten doch Sie oder Herr Hilgendorf etwas wissen«, hakte Humboldt nach.

Alma Sorin schaute ungläubig. »Haben Sie Herrn Hilgendorf schon befragt? Ich bin mir ganz sicher, dass er es weiß, da er jeden Schritt seiner Diva verfolgt.«

»Entweder weiß er es wirklich nicht, oder er hat sich gestern sehr bedeckt gehalten. Wo können wir ihn denn jetzt erreichen?«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739383071
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (April)
Schlagworte
Theater Zittau Dresden Ermittler Sachsen Krimi Polizei Regionalkrimi Oberlausitz Kletterkrimi Psychothriller

Autor

  • Jana Thiem (Autor:in)

Jana Thiem, in Görlitz geboren und im Zittauer Gebirge aufgewachsen, war schon immer von ihrer Lieblingsstadt Dresden fasziniert. Kein Wunder also, dass hier ihre schriftstellerischen Wurzeln liegen. Nach 20 Jahren kehrt sie nun wieder in ihre Heimat zurück, auch, um den Verbrechen um Humboldt und Co. noch näher auf der Spur sein zu können. Wenn sie nicht schreibt, arbeitet sie als selbstständige Webdesignerin.
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Titel: Humboldt und der tiefe Fall