Die Fahrt mit der bunten Inselbahn über die von Wiesen gesäumte Strecke war viel zu kurz. Den Weg durchs Dorf zur Spelunke nahmen wir zu Fuß. Mit uns waren etliche Touristen auf die Insel gekommen, die wie wir durch die Straßen liefen oder sich auf den beliebten Pferdefuhrwerken kutschieren ließen. Opa lotste uns durch den Ort. Er war noch immer gut zu Fuß und preschte im Gegensatz zu mir, die mit jedem Schritt langsamer wurde, voraus. Ob der Pächter über Mathildas Tod informiert war? Oder war er genauso ahnungslos wie ich vor zwei Tagen?
Die Kneipe entdeckte ich schon von weitem. Dass sie mir nie aufgefallen war, wunderte mich. Vielleicht deshalb, weil sich der Eingang mit einem kleinen Fenster daneben zwischen eine Bäckerei und eine Buchhandlung schmiegte. Falls ich schon einmal hier gewesen war, dann wegen dieser beiden Geschäfte.
Der Name Spelunke schien Programm zu sein. Das leicht heruntergekommene Häuschen erweckte den Eindruck, als werde es von den Nachbargebäuden aufrecht gehalten. Der weiße Schriftzug ›Die Spelunke‹ an der roten Tür blätterte an etlichen Stellen ab und harmonierte mit dem über der Haustür angebrachten rostigen Anker. Misstrauisch beäugte ich das Teil, während Tobi bereits auf die Tür zuhielt und nach der Klinke griff.
Ehe ich meinen Freund davon abhalten konnte, drückte er den Griff auch schon beherzt nach unten.
»Geschlossen«, sagte er nach einem kurzen Rütteln und ließ die Schultern hängen.
Erst in diesem Moment bemerkte ich, dass ich die Luft angehalten hatte und atmete hörbar aus.
Opa studierte den Aushang in einem winzigen Glaskasten neben der Tür. »Macht erst um achtzehn Uhr auf«, vermeldete er.
Natürlich hätten wir uns über die Öffnungszeiten erkundigen sollen, bevor wir aufbrachen. Zu dumm.
»Gehen wir eben zuerst zu Frauke«, erklärte Opa, »ist ja nicht mehr so lange hin.«
»Nur noch etwas über fünf Stunden«, murmelte ich und fummelte an meinem Halstuch. Ich war jetzt schon durchgefroren. Eine schöne Tasse Tee bei Frauke würde mir guttun. Ob sie wohl immer noch so eine leckere Sanddorntorte backte? Mit einem Mal fühlte ich mich völlig ausgehungert.
Gerade, als wir uns zum Gehen wandten, erschien ein etwa dreißigjähriger hochgewachsener Mann mit kurzem, rötlichem Bart auf einem Fahrrad und kam direkt vor der Spelunke zum Stehen. Er trug eine dunkelblaue wetterfeste Jacke und Gummistiefel. Eine ebenso blaue Wollmütze auf seinem Kopf knickte lässig nach hinten weg. Er musterte uns neugierig und schwang sportlich ein Bein über den Sattel. Das für die Jahreszeit erstaunlich braungebrannte Gesicht war zu einem breiten Lächeln verzogen. Das Grau seiner Iris konkurrierte mit dem Himmel über uns. Ich hatte mit einem Menschentyp à la ›Alter Seebär‹ gerechnet und nicht mit einem Benetton-Model. Sollte das der Pächter sein? Sein Name war Jan Tewes, wenn ich mich recht erinnerte.
»Moin«, grüßte er und hielt zwei Finger an die Mütze. »Wolltet ihr zu mir?«
Sein Fahrrad lehnte er an die Hauswand.
»Sind Sie Jan Tewes?«, sprach Tobi meine stille Frage in geschäftlichem Tonfall aus.
»Ganz recht, der bin ich.« Jan Tewes legte den Kopf schräg und betrachtete uns interessiert. »Und Sie sind …?«
»Wir müssten mol schnacken«, bemerkte Opa, ohne uns vorzustellen, und deutete auf die verschlossene Tür. »Am besten da drin.«
Ich sah meine beiden Begleiter irritiert an. Wir hatten doch erst mal schauen wollen, wie die Spelunke aussah, bevor wir uns zu erkennen gaben. Das hatte ich ihnen ausdrücklich erklärt. Und wieso war Opa so furchtbar unhöflich?
»Das hört sich ja spannend an«, erwiderte der Hüne und fischte einen Schlüssel aus der Hosentasche.
Ich starrte auf seinen Rücken, während er die Kneipe aufsperrte. Ahnte er etwas? Mit seinen letzten Worten war sein Lächeln verschwunden und eine steile Sorgenfalte zeichnete sich auf seiner Stirn ab, als er sich noch einmal zu uns umsah.
Ärgerlich warf ich Opa einen Blick zu. Zurückhaltung war nicht seine Stärke.
»Denn man rein in die gute Stube«, murmelte unser Gastgeber und führte uns in einen dunklen Raum. Ein Geruch nach kaltem, feuchtem Stein schlug uns entgegen, vermischt mit einem Hauch von Alkohol.
»Sie können sich sicher denken, weshalb wir hier sind«, begann Tobi, nachdem der Mann die Beleuchtung eingeschaltet hatte und ich endlich einen Blick aufs Interieur werfen konnte. Über dem Holztresen waren zierliche Korblampen angebracht und verbreiteten ein heimeliges Licht. Die Barhocker sahen wackelig aus, der Rest der Einrichtung bestand aus einfachen Holztischen und -stühlen. Die Wände waren übersät mit Regalen voller Flaschenboote. Offenbar war Jan Tewes ein Sammler.
Als wir alle in einem Halbkreis im Raum standen und unser Gegenüber »Dann woll’n wir mal« sagte, reckte ich ihm die Hand hin. Also gut. Anscheinend ließ es sich nicht vermeiden, dass wir uns bereits jetzt zu erkennen gaben.
»Svea Schepker«, stellte ich mich vor.
Er drückte kurz meine Hand, und wir ließen wieder los. »Ich habe von Mathilda Petersen die Spelunke ge…«, begann ich, doch Tobi schob mich sanft beiseite. »Frau Schepker ist die neue Eigentümerin dieser Gaststätte, und wir wollten gern mal ein paar Worte mit Ihnen reden«, unterbrach er meine Begrüßung.
Verblüfft sah ich Tobi von der Seite an.
Jan Tewes deutete auf einen Tisch, dessen Mitte ein Schild mit der Aufschrift ›Stammtisch‹ zierte. »Nur zu«, sagte er. »Ich hab allerdings nicht viel Zeit. Gleich kommt eine Lieferung, und es wäre gut, wenn wir bis dahin mit der Vorstellungsrunde durch wären. Nachher muss ich auch gleich wieder weg.«
Er war also im Bilde, dass Mathilda gestorben war. Vielleicht hatte er sogar längst auf eine Nachricht des neuen Eigentümers gewartet.
Unsere Schritte auf dem ausgetretenen Steinboden hallten leise wider. Und noch etwas bemerkte ich: Meine Blase war voll. Ich musste dringend aufs Klo. Das konnte ich allerdings unmöglich jetzt erledigen.
»Also«, begann ich noch einmal, nachdem wir alle Platz genommen hatten. »Was ich sagen wollte: Sie sind ja hier der Pächter …«
»Die Pacht ist festgeschrieben«, erklärte Jan Tewes und faltete die Hände. »Falls Sie die erhöhen wollten, meine ich.«
Ich lachte hilflos auf. Das ging mir alles viel zu schnell. »Nein, nein …«, winkte ich ab. »Eigentlich interessiert mich nur, was Sie hier so zum Essen anbieten. Oder ist es eine reine Getränkebar?«
Gutes Thema. Erst einmal sein Vertrauen gewinnen. Und ich wollte ja gar nicht die Pacht erhöhen! Ich wollte erst einmal sichergehen, ob ich das Erbe überhaupt antreten sollte.
»Der Pachtvertrag läuft meines Wissens nächstes Jahr aus«, hielt Tobi Jan Tewes von einer Antwort ab.
Mein Kopf flog überrascht zu meinem Freund herum. Woher wusste er das? Oder stand das im Kleingedruckten des Exposés, das mir der Nachlassverwalter übergeben hatte? Aber warum hatte Tobi das nicht mit mir besprochen – die Autofahrt war wirklich lang genug gewesen!
»Haben Sie eine Toilette?«, fragte Opa eben.
»Ich komme mit«, erklärte ich und warf Tobi einen warnenden Blick zu, mit dem ich ihm eigentlich zu verstehen geben wollte, uns zu begleiten. Keineswegs auf die Toilette, sondern ein paar Meter außer Hörweite von Herrn Tewes, damit er mir erklären konnte, welche Strategie er eigentlich verfolgte.
Doch Tobi nahm mein Zeichen nicht wahr.
Jan Tewes wies uns den Weg zu einer Schwingtür neben der Theke.
Ich ließ Opa den Vortritt und er verschwand direkt hinter der Tür zum Männerklo, während ich die andere wählte.
Bewundernd sah ich mich in dem Raum um. Es war blitzsauber und duftete nach Zitrone. Jan Tewes schien Frauen zu mögen, vielleicht aber hatte er auch eine Partnerin, die sich um diese Dinge kümmerte: Neben dem Waschbecken befand sich ein Regal mit Tampons und Slipeinlagen; Abschminktücher waren ebenfalls zu finden.
Ich inspizierte die vorbildlich geputzte Toilette und beeilte mich.
Kurz darauf stand ich wieder vor der Schwingtür und vernahm Tobis Stimme. Opa war nicht zu sehen, bei ihm dauerte es manchmal etwas länger.
»Meine Verlobte und ich werden aus diesem Schuppen ein In-Lokal machen, das hier auf der Insel seinesgleichen sucht«, hörte ich in diesem Moment meinen Freund sagen. »Mit exquisiter Küche und den besten Drinks Langeoogs.«
Ich sperrte den Mund auf und lauschte wie erstarrt.
Jan Tewes schnaubte – ob belustigt oder ärgerlich konnte ich nicht deuten. »Wohnen Sie hier?«, fragte er.
»Noch nicht. Aber wir besitzen hier ein Haus, das wir sobald wie möglich beziehen. Merken Sie sich meinen Namen, ich werde hier die erste Adresse, wenn es um Immobilien geht.«
Ungläubig sah ich Tobi durch die Ritze zwischen den beiden Schwingtüren dabei zu, wie er aus seiner Hosentasche ein silbernes Etui fischte und seine Karte übergab.
»Tobias Paulsen«, las Jan Tewes vor und kratzte sich seinen Bart. »Sie arbeiten in Oldenburg?«
»Ich werde hier eine Dependenz eröffnen.« Tobi machte eine Pause. »Sie könnten uns die Spelunke auch abkaufen, das wird allerdings nicht ganz billig.«
Uns?
»Schöne Toilette haben Sie«, sagte ich und trat kurzentschlossen durch die Schwingtür. Tobi warf ich einen säuerlichen Blick zu, den dieser jedoch nicht zu bemerken schien.
Ich ließ mich auf meinem Platz nieder und war nahe daran, Herrn Tewes’ Hand zu nehmen und sie liebevoll zu drücken. Der Arme sah ein bisschen blass um die Nase aus.
»Was ich vorhin ja schon wissen wollte: Was bieten Sie Ihren Gästen denn so an?«, fragte ich.
»Krabbenbrötchen«, antwortete Jan Tewes.
Tobi schnaubte belustigt. »Welch umfangreiche Karte.«
»Ich liebe Krabbenbrötchen«, bemerkte ich. »Haben Sie sonst noch etwas?«
Mein Gegenüber schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist es, was die Leute wollen.«
Eben kam Opa aus der Schwingtür. »Hier drin müsstest du aber ein bisschen renovieren, Svea«, sagte er. »Das Pissoir hat einen Sprung.«
In diesem Moment ließ Jan Tewes beide Hände mit einem Knall auf die Tischplatte fallen. »Könnten wir die Versammlung jetzt auflösen?«, fragte er. »Ich hab wirklich keine Zeit mehr für diesen Quatsch. Reichen Sie mir alles schriftlich rein, ja? Dann können wir weiterreden.«
Wenig später fanden wir drei uns vor der Tür der Spelunke wieder. Mir lag so vieles auf der Zunge, das ich Tobi sagen wollte. Wie kam er dazu, mich als seine Verlobte zu bezeichnen? Welcher Teufel hatte ihn geritten zu behaupten, wir würden die Spelunke zu einem In-Schuppen machen? Und vor allem, wie kam er zu dem Wörtchen wir? Vielleicht meinte er am Ende nicht uns beide, sondern Lürsen & Partner? Und von welchem Haus hatte er gesprochen, das wir hier angeblich besaßen?
Doch ich schwieg erst einmal. Erstens sah Opa neugierig von einem zum anderen – für miese Stimmungen hatte er ein sehr gutes Gespür. Zweitens musste ich schon wieder auf die Toilette. Das ist so ein Ding von mir: Wenn ich nervös bin, muss ich andauernd austreten. Gleichzeitig verspürte ich den Drang, meilenweit vor Tobi davonzulaufen. Mir schnürte es vor Empörung die Kehle zu. Wie konnte mein Freund mich so übergehen? Zornig sah ich ihn an. Einen Moment später fühlte ich mich schon wieder mies. Tobi hatte mir bestimmt nur helfen wollen. Vermutlich hatte er nur geblufft. Vielleicht wollte er Herrn Tewes rausekeln, damit ich so rasch wie möglich die Tapasbar in seiner Spelunke eröffnen konnte.
Ich warf einen Blick zur verschlossenen Tür des Lokals. Die Kneipe war wirklich süß. Geradezu ideal für eine Tapasbar. Außer … ja, außer, dass sie sich auf Langeoog und nicht auf Mallorca befand und die Jahresdurchschnittstemperatur bei 9 °Celsius lag.
»Ich muss noch mal aufs Klo«, sagte ich zu meinen beiden Begleitern und wandte mich wieder zur Eingangstür. »Bin gleich wieder da.«
Ich klopfte, bevor ich eintrat.
Jan Tewes stand hinter dem Tresen und wischte mit einem Lappen über die Oberfläche.
»Herr Tewes, es tut mir wirklich leid«, begann ich, »ich wollte Sie keineswegs so überfallen …«
Er schien sich ein Lächeln abzuringen. »Ich mag diesen Laden, weißt du«, duzte er mich unvermittelt. »Ich muss das nicht machen, aber es macht mir Spaß. Als ich sie damals von Mathilda Petersen gepachtet hab, nachdem sie jahrelang leer stand, hab ich gedacht, och, ich probier das mal aus. Vielleicht klappt das ja nebenher.«
»Nebenher?«
Er deute mit dem Kinn in Richtung Ausgang. »Ich bin Wattführer. Das hab ich schon als Jugendlicher gemacht. Immer an der frischen Luft und mit Leuten zusammen sein, die unsere Insel kennen lernen wollen. Das liegt mir.« Er legte die Hand auf den Tresen. »Aber das hier, die Spelunke, liegt mir auch. Und die Leute, die ich tagsüber durchs Watt führe, kommen abends wegen der Krabbenbrötchen hier vorbei.«
Ich sah ihn schweigend an. Eben fiel mir auf, dass ich ihn vom Sehen kannte. Möglicherweise hatte ich sogar schon eine seiner Wattführungen besucht. Früher hatte er keinen Bart gehabt. Eigentlich mochte ich gar keine Bärte. Der stand ihm aber vorzüglich.
Jan Tewes griff wieder zum Lappen und wischte weiter. »Langeoog hat genügend schicke Schuppen«, fuhr er fort, während er putzte. »Ist ja nicht so, dass ich nicht schon drüber nachgedacht hätte, was zu verändern. Aber die Leute wollen das nicht. Die wollen es genauso, wie es ist, deswegen kommen sie hierher.«
Ich rang nach Worten. »Eine Tapasbar auf Langeoog ist auch wirklich eine saudumme Idee«, platzte ich schließlich heraus.
»Eine Tapasbar?« Der Blick aus seinen grauen Augen, die hervorragend mit dem rötlichen Bart harmonierten, hätte nicht ungläubiger sein können. Oder war es Belustigung?
Ich sah betreten zu Boden. »Das wäre mein Traum. Allerdings nicht hier. Ich dachte eher an den Süden. Mallorca zum Beispiel. Mach dir also keine Sorgen.«
Hoffentlich hatte ich mich nun nicht zu weit aus dem Fenster gelehnt. Vielleicht änderte ich meine Meinung ja noch. Ich brauchte nur an die Entscheidung zu denken, niemals mehr einen Fuß auf Langeoog zu setzen. Aber jetzt war es zu spät.
»Hier auf Langeoog wärst du damit auch ’n bisschen zu spät dran, es gibt schon Tapas. Das Dazumal veranstaltet freitags einen Tapasabend.«
»Ach?«
»Du warst noch nie hier?«
»Doch, klar. Mein Opa lebt hier. Es ist aber ein paar Jahre her, dass ich zuletzt bei ihm war.«
»Hat sich einiges getan.«
Ich nickte und ließ den Gedanken sacken, dass es auf Langeoog schon Tapas gab. Irgendwie erleichterte mich das. Fast so, wie es mich befreit hatte, als Mama mir nach dem Abi offenbarte, sie sei an Multipler Sklerose erkrankt. Nein – das hatte mich natürlich nicht erleichtert. Aber ich war gerade im Begriff gewesen, meine Zukunft im Hinblick auf die Verwirklichung meines Traums zu planen. Ich hätte Tourismus studieren können oder eine Ausbildung im Hotelfach absolvieren. Doch nach ihrer Diagnose konnte ich nicht aus Oldenburg fort. Niemand wusste, wie rasch die Krankheit meiner Mutter fortschreiten würde – vielleicht wurde sie bald zum Pflegefall. Meine Eltern in dieser Situation im Stich zu lassen, war undenkbar. Und so entschied ich mich fürs Lehramt. Es schien das Vernünftigste zu sein: eine Arbeit mit Aussicht auf Verbeamtung. Und Kinder mochte ich auch.
»Darf ich kurz noch mal auf die Toilette?«, fragte ich. »Ich hab wohl unterwegs zu viel getrunken.«
»Klar«, bestätigte er und hob die Schultern.
Als ich zurückkam, sagte er: »Dein Verlobter hat zwar keine Tapas, dafür aber einen ›In-Schuppen‹ erwähnt, den er hier eröffnen wollte. Dabei ist es genau das hier, was die Leute suchen – sonst würden sie stattdessen in eins der In-Lokale gehen, die es hier schon gibt. Mit einem besseren Ausblick.«
Mir lag es auf der Zunge, klarzustellen, dass Tobi nicht mein Verlobter war, aber das führte vom Thema weg. Ich machte eine ausschweifende Handbewegung in die Kneipe hinein. »Du meinst also, dass dieses etwas verschrobene Ambiente deinen Gästen besonders gut gefällt?«
Er hob die Schultern. »Würd ich so meinen. Vor allem aber gefällt es mir, und die Gäste mögen mich.«
Ich wollte ihm gerade dazu gratulieren, dass er offenbar erfolgreich seine Nische gefunden hatte, als er lächelnd erklärte: »Ich habe übrigens einen Freund auf Mallorca. Der hat ne Tapasbar.«
Ich nickte versonnen. Tapasbars gab es einige auf Mallorca. Aber keine war so schön wie die in der Cala Santanya.
»Leider verdient er nicht viel damit«, ergänzte er in bedauerndem Tonfall.
Ich sah ihn erstaunt an. »Läuft sie nicht?«
»Doch, doch. Aber pro Bier bietet er einen Teller Tapas kostenlos an, weil er findet, das gehört dazu. Damit kann man natürlich nicht reich werden. Die Leute essen sich satt, ohne dafür zu bezahlen. Von seinen anderen Gerichten geht nicht mehr viel über die Theke. Xavi ist zu gut für diese Welt. Ein Junge mit einem goldenen Herzen, aber keine Ahnung von Betriebswirtschaft.«
Wie hübsch der Name seines Freundes klang. Xavi – mit ch am Anfang. Nachdenklich betrachtete ich Jan Tewes. Was hatte er eben noch erwähnt? Betriebswirtschaft. Auch so ein Stichwort. Bei meinem Lehramtsstudium war das nicht vorgekommen. Meine Träumereien waren eine Schnapsidee.
»Was machst du beruflich?«, unterbrach er meine Gedanken.
»Ich bin Grundschullehrerin.«
Jan Tewes lächelte mich anerkennend an. »Den Job stelle ich mir echt hart vor. Wenn du mal günstig Urlaub machen möchtest, kann ich dir den Kontakt zu Xavi vermitteln. Seine Mutter betreibt eine Pension in der Nähe der Bar, die führt sie mit fester Hand, und das Ding schnurrt wie ein Kätzchen. Wenn Xavi Lola nicht hätte, könnte er einpacken. Cala Santanya liegt im Osten der Insel. Überleg es dir, es ist wirklich traumhaft dort.«
Ich starrte ihn verblüfft an. »Sagtest du gerade Cala Santanya?«
»Kennst du den Ort?«
Ich nickte und knabberte an dieser Neuigkeit: Er kannte jemanden in der Bucht, in der ich als Teenager Urlaub gemacht hatte. Und dieser jemand besaß eine Tapasbar. Konnte es sein, dass es genau die …? Nein, das war doch unmöglich.
»Tja, Jan«, sagte ich heiser und streckte ihm noch einmal die Hand hin. »Ich muss mich jetzt leider verabschieden, meine Begleiter warten bestimmt schon auf mich.«
Er hielt meine Finger fest, bevor ich sie ihm entziehen konnte. Seine fühlten sich angenehm sanft und gleichzeitig kraftvoll an.
»Überleg dir gut, was du mit der Spelunke tust«, bat er eindringlich und ließ endlich meine Hand los. »Man sollte am besten immer eigene Entscheidungen treffen und nicht die anderer.«
Ich schluckte. »Wir sehen uns sicher noch. Oder wir telefonieren.«
Jan Tewes übergab mir eine Karte mit seinen Kontaktdaten. »Jedenfalls herzlichen Glückwunsch zum Erbe.« Immerhin schien er sich ein Lächeln abzuringen.
Erst in diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich tatsächlich Eigentümerin einer Bar auf Langeoog sein würde, wenn ich das Erbe nicht ausschlug.
Ich kritzelte meine Handynummer auf einen Zettel, damit auch er mich erreichen konnte, und verabschiedete mich, noch immer in Gedanken an die Cala Santanya versunken.