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Zum Glück Ostseestrand

Ferien Küste Kuckucksmänner

von Frida Luise Sommerkorn (Autor:in)
230 Seiten
Reihe: Fernwehromane, Band 1

Zusammenfassung

Prerow an der Ostsee ist das langersehnte Urlaubsziel von Jessica, ihren Zwillingen Jette und Timm sowie ihrer besten Freundin Teresa. Aber wie fährt man so ein riesiges Wohnmobil? Was machen, wenn der Durchmarsch die Mannschaft ereilt? Und wo ist die Grube, die sich auftut, wenn man als einzig bekleideter Mensch am FKK-Strand landet? Alles kein Problem! Mit viel Witz und Humor meistert die kleine Reisegruppe jede Hürde. Auch dann noch, als Knud (der Teresa den Kopf verdreht), Conrad (der eigentlich Haus und Hamster hüten soll) und Andreas (der Exmann mit zweifelhaften Liebesschwüren) das beschauliche Urlaubsleben durcheinander würfeln.

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Bisherige Veröffentlichungen:

Nordseeglück-Trilogie:
Insel wider Willen: Teil 1
Träume sind wie Wellen: Teil 2
Liebe dank Turbulenzen

Ostseeliebe-Reihe:
Kaffeeduft und Meeresluft: Teil 1
Sanddornpunsch und Herzenswunsch: Teil 2
Himbeerschaum und Dünentraum: Teil 3

Sehnsuchts-Trilogie:
Immer wieder im Juni: Teil 1
Manchmal ist das Glück ganz nah: Teil 2
Endlich schwingt die Liebe mit: Teil 3

Fernwehromane:
Zum Glück Ostseestrand: Ferien Küste Kuckucksmänner
Zum Glück Neuseeland: Kiwi gesucht
Zum Glück Costa Rica: Herzchaos im Gepäck

Ein Rauhnachtswunder

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Feriensamstag

Zufrieden überblickte Jessica das Chaos. Bei den Mengen an Klamotten, Schuhen, Küchenutensilien und Planschtieren, die sich im Hausflur stapelten, sollten sie an alles gedacht haben.

»Kinder, kann losgehen!«

Skeptisch angelte sie ein paar Stiefeletten ihrer Tochter aus dem Schuhkorb und packte sie kopfschüttelnd in den Schrank zurück. Die würden sie hoffentlich nicht brauchen. Schließlich fuhren sie in den Sommerurlaub. Endlich!

Seit der Trennung von ihrem Mann vor drei Jahren war bisher kein Geld für Urlaub übrig gewesen. Und eigentlich hoffte Jessica jetzt auch mehr, dass es reichen würde, als dass genug auf dem Konto war. Aber Urlaub musste mal wieder sein. Die Kinder waren total aus dem Häuschen gewesen, als sie ihnen die Prospekte vom Darß vorgelegt hatte.

Urlaub mit dem Wohnmobil war einfach das Größte! Alles einpacken, reinsetzen und losfahren. Das eigene Kopfkissen, die Lieblingskaffeetasse und jede Menge Bücher, die sie in das dafür vorgesehene Fach stapeln wollte, stellten für Jessica puren Luxus dar.

Aber im Moment wartete der Inhalt der Wäschekörbe und Einkaufskisten noch darauf, im Wohnmobil verstaut zu werden.

»Jette, Timm! Auf! Wir müssen langsam mal einräumen, wenn wir heute noch los wollen.«

Jette und Timm, Jessicas 10-jährige Zwillinge, hatten schon einen Berg an Dingen, die in einem Urlaub lebensnotwendig waren, zurechtgelegt. Jessica graute es vor den Diskussionen, die sie führen würden, wenn Mama wieder die Hälfte auspacken wollte.

Allmählich kam es ihr komisch vor, dass sich so gar nichts im Obergeschoss regte. Entweder hatten beide Kopfhörer auf den Ohren oder ... . Sie schielte zur Terrassentür. Offen! Na klar, da hätte sie auch gleich darauf kommen können. Wie so oft hatten sich die beiden hinten über die Terrasse rausgeschlichen, um den Nachbarskindern einen Besuch abzustatten. Timms Freund Vincent wohnte nur zwei Häuser weiter. Die beiden konnten jeden Nachmittag zusammen verbringen, ohne dass Langeweile aufkam. Entweder kickten sie in Vincents Garten, der ein ganzes Stück größer war als ihr eigener, oder sie zockten mit diversen elektronischen Geräten, bis die Augen tränten. Jessica hatte immer das Gefühl, dass der Aggressionspegel danach eindeutig höher lag. Deshalb trafen sie sich lieber bei Vincent. Hier im Haus gab es nämlich Zockerregeln. Eine Stunde pro Tag. Mehr war für Jessica nicht drin.

Jettes beste Freundin Carla wohnte am Ende der Straße. Die Mädchen tickten ganz anders. Ab und an schauten sie sich auf Carlas Tablet an, wie man Glibberschleim herstellen konnte oder was der neueste Schrei in Sachen Reitmode war. Den bekam Jessica dann auch immer gleich mit einer Wunschliste präsentiert. Natürlich blieben die meisten Wünsche offen. Jessica war froh, dass es Jette und Carla trotzdem hauptsächlich um die Pferde ging. Sie waren keine anspruchsvollen Mädchen. Noch steckte ganz viel Kind in ihnen und das machte vieles leichter. Zum Beispiel bei der Diskussion, ob Jette ein eigenes Pony haben könnte. Die »Wenn, dann«-Sätze funktionierten bis jetzt immer noch erstaunlich gut. Jessica war der pädagogische Wert solcher Sätze bewusst, allerdings erforderte der Alltag oftmals schnelle Ent-scheidungen. Und dann rutschten Sätze wie: »Wenn du dein Zimmer ordentlich hältst und der Hamsterstall nicht immer von mir sauber gemacht werden muss, dann können wir über eine Reitbeteiligung reden« schnell mal raus. Wobei ihr dann immer direkt bewusst wurde, wie sehr sie es gehasst hatte, wenn ihre Mutter mit solchen Androhungen kam. Aber ansonsten spielten die Mädchen tatsächlich manchmal noch mit Barbies oder entwarfen neue Kleider für die grazilen Puppen und nähten sie dann selbst.

Jessica drehte sich lächelnd dem Chaos im Flur zu. Ach, ihre Kinder waren schon in Ordnung. Wobei, und das Lächeln wurde zu einem Grinsen, mit der Ordnung hatten sie es nun nicht gerade.

»Okay, es hilft nichts. Muss ich eben alleine anfangen«, murmelte Jessica vor sich hin und griff nach dem ersten Korb.

* * *

Conrad Kramer durchforstete wie jeden Morgen das Internet nach neuen Stellen, auf die er sich bewerben konnte. Mittlerweile war er Profi darin und kannte sich auf den einschlägigen Jobwebseiten gut aus. Das alles half aber nichts, wenn es keine adäquaten Stellen für ihn gab. Marketingfachleute gab es wie Sand am Meer. Allerdings wusste er auch, dass wenigstens die Hälfte davon ihm nicht das Wasser reichen konnte. Schließlich hatte er internationales Management in Heidelberg studiert. Sponsored by Papa. Seine Eltern waren so stolz, als er erst den Bachelor und anschließend den Master mit Bravour bestanden hatte. Das Studium stellte sich auch als wirklicher Glücksfall heraus. Seine anfängliche Skepsis gegenüber seinen Kommilitonen hatte sich spätestens dann gewandelt, als ihm klar wurde, dass er es nicht nur mit verwöhnten Schnöseln, von Papa getrieben, zu tun hatte. Klar waren es Kinder reicher Eltern, wer sonst konnte sich solche hohen Studiengebühren leisten, aber die meisten waren in Ordnung. Und nachdem sein bester Kumpel nach dem Abi für ein Jahr nach Australien gegangen war, war es auch schon egal, wo er studierte. Dann nahm er eben das Angebot seiner Eltern an. So richtig spannend wurde es, als er die Möglichkeit bekam, ein Auslandssemester mit anschließender Praxisphase in London zu absolvieren. Dort hatte er sich wohl gefühlt. Vielleicht lag es aber auch daran, dass seine Eltern nicht mehr »eben mal« vorbei kommen konnten.

Conrad grinste und schaute verträumt aus seinem Arbeitszimmerfenster in den gepflegten Garten. Und dann war Linda aufgetaucht. Er würde den Moment, als diese fröhlich plappernde junge Frau das Großraumbüro der Agentur in London betrat, niemals vergessen. Was hatte er anfangs in ihrer Gegenwart rumgestammelt! Und sie? Sie hatte ihn milde lächelnd mit ihren wunderschönen braunen Augen angeschaut und darauf gewartet, dass er einen geraden Satz herausbrachte. Im Nachhinein betrachtet war sie wahrscheinlich daran gewöhnt, dass ihr die Männer zu Füßen lagen. Aber damals ... Damals war er sich sicher, dass sie nur ihn so ansah. Und es war auch gut, dass er das glaubte, da er sich sonst sicher nicht getraut hätte, weiter um sie zu buhlen. Irgendwann hatte sie einfach mal ja gesagt - zur gefühlten hundertsten Einladung zu einem Tee. Und dann Kaffee getrunken. Conrad konnte sein Glück damals kaum fassen.

Er riss seinen Blick von einem der formvollendeten Buchsbäume los und blickte wieder in die Gegenwart – ein Bildschirm voller Jobanzeigen, die er nicht annehmen konnte. Oder besser, nicht wollte.

Conrad klappte genervt seinen Laptop zu und tappte mit bloßen Füßen in die Küche. In England hatte er sich das Teetrinken angewöhnt. Wie klischeehaft, dachte er. Aber so ein Orange Tea, eine Ceylon-Darjeeling-Mischung mit Orangenschalen, brachte ihn jedes Mal in Schwung. Und er konnte wieder ein Stück Abstand zwischen sich und Linda bringen. Sie hasste Tee. Als Engländerin. Das sagte in seinen Augen alles.

Genüsslich lehnte er sich in seinem Lieblingssessel zurück und ließ das Aroma wirken. Mit geschlossenen Augen träumte er sich in ein anderes Leben. Ein Leben voller Liebe, Erfolg und schnellen Autos.

* * *

Stöhnend stellte Jessica den letzten Wäschekorb auf dem kleinen Tisch im Wohnmobil ab. Mittlerweile hatte sie fast alle Sachen verstaut. Und bis auf ein paar Kleinigkeiten hatte sie bei den Kinderkisten nichts ausgeräumt. Allerdings war sie kurz davor, ihre Meinung doch noch zu ändern, wenn Jette und Timm jetzt nicht langsam auftauchen würden. Und auch von ihrer Freundin Teresa, die unbedingt mit in den Urlaub wollte, hatte sie noch nichts gehört. Als ob nicht vereinbart gewesen wäre, dass es heute am späten Nachmittag losgehen sollte. Jessica ärgerte sich, dass sie nicht doch eine feste Uhrzeit ausgemacht hatten. Sie wusste doch, wie Teresa tickte. Wahrscheinlich konnte sie sich nicht entscheiden, in welchen Highheels sie die Strandpromenade auf und ab stöckeln wollte. Oder sie suchte mal wieder verzweifelt die Tasche, die als einzige zu ihrem neuen Haarband passte.

Grinsend pustete sich Jessica eine Haarsträhne aus der Stirn und räumte das Geschirr ein. Teresa, ihre beste Freundin. Sie hatten sich am Schönbuch-Gymnasium in Holzgerlingen kennengelernt und waren seitdem, von anfänglichen Schwierigkeiten mal abgesehen, ein Herz und eine Seele. Oder besser ein Kopp und ein Arsch? Die Rollen wurden wahlweise gewechselt. Sie waren so verschieden, dass Jessica selbst manchmal nicht glauben konnte, dass sie sich so gut verstanden. Aber so war es! Und Teresa war im Moment, neben ihren Kindern, der wichtigste Mensch in ihrem Leben.

Jessica quetschte sich zwischen Tisch und Bank und lehnte den Kopf gegen die Fensterscheibe. Verträumt schaute sie die Straße hinunter. Sie wünschte, Tessis Auto würde allmählich um die Ecke kommen. Tessi und Jessi, ein unzertrennliches Paar. In der Schule war alles wie ein Tanz für sie. Glücklicherweise mussten sie sich um ihre Noten keine Sorgen machen. Also konnten sie sich auf die wesentlichen Dinge konzentrieren. Jungs, Mode, der nächste Discobesuch. Sie selbst war nie so draufgängerisch wie Tessi, aber sie machte mit. Und ihre Freundin hatte ihr einige Kniffe gezeigt, wie sie die Jungs um den Finger wickeln konnte.

Jessica schmunzelte wieder. Das hatte bei ihr allerdings nie so gut funktioniert. Sie war eher der Kumpeltyp für die männlichen Wesen. Aber damit konnte sie gut leben. Letztendlich hatte sie im Studium ihren Exmann kennengelernt, später geheiratet und noch später Kinder bekommen. Bei Tessi hatte sie das Gefühl, dass immer noch alles ein Tanz für sie war. Keine festen Beziehungen, die Freiheit genießen und das Leben selbst bestimmen, das war ihre Devise. Vielleicht war ihr das ja schon in die Wiege gelegt worden. Selbst Tessis Eltern lebten ein freieres Leben, als Jessica das kannte. Sie unternahmen getrennte Urlaubsreisen, wenn es mal gerade nicht zusammenpasste, wohnten zeitweise nicht mal in einer Wohnung. Jeder hatte seinen Rückzugsort. Aber Jessica hatte sie nie mit einem anderen Partner gesehen. Sie hatte immer das Gefühl, dass Tessis Eltern eine Einheit waren und niemanden rundherum brauchten. Manchmal nicht mal ihre Tochter.

Das war bei Jessicas Eltern ganz anders. Möglicherwiese lag es daran, dass sie aus der DDR kamen. Da lebten die Familien oft unter einem Dach, von der Großmutter bis zum Enkel. Nach dem Studium oder der NVA zog es die meisten wieder zurück in die Heimat und dann war ein Umzug in ein anderes Haus im selben Ort schon ein Großereignis. Jedenfalls hatte sie es so in Erinnerung.

Jessica schloss die Augen. Sie war wohlbehütet aufgewachsen. Natürlich erinnerte sie sich an die täglichen Parolen, an das Einheitsleben. Aber es schien ihr alles viel unkomplizierter als jetzt gewesen zu sein. Womit sich ihre Kinder heutzutage rumschlagen mussten, das gab es früher nicht. Sie vermutete, in Ost wie West nicht.

Eines Tages eröffnete der Vater am Abendbrottisch, dass der Antrag endlich genehmigt worden war. Innerhalb von zwei Wochen sollten sie die DDR verlassen. Jessica war damals aus allen Wolken gefallen. Ausreiseantrag? Warum hatte ihr das denn niemand gesagt? Sicher hatte sie sich gewundert, warum ihr Vater auf Arbeit schikaniert wurde, manchmal sogar die Stelle wechseln musste. Eigentlich war er ein sehr umgänglicher Mensch. Aber als Kind machte man sich darum keine großen Gedanken.

An diesem Abend kreisten ihre Gedanken auch nur um ihre damalige beste Freundin. Wie sollte sie ohne Sylke im Westen weiterleben? Sie konnten ja nicht einmal Kontakt halten, schließlich hatte keiner ein Telefon. Tränenüberströmt war sie irgendwann eingeschlafen. Und dann ging alles ganz schnell. Sie konnten nur das Nötigste einpacken, das Haus wurde übereignet und schon saßen sie im Zug Richtung goldenem Westen. Jessica fürchtete sich vor dem neuen Leben. Sie war damals gerade 14 geworden. Hatte genug mit sich selbst zu tun.

»Juhu! Jessi!«

Jessica schrak hoch. War sie tatsächlich eingeschlafen? Oh Gott, wie spät war es mittlerweile? Sie wischte sich die feuchte Spur von ihrem Mundwinkel und schaute nach draußen.

»Sorry, Süße, es gab noch so viel zu organisieren. Und dann das Packen. Was nimmt man denn zu so einem Campingtrip alles mit?«

Teresa hievte einen überdimensional großen Koffer auf die erste Stufe der Wohnmobiltreppe.

»Wäre toll, wenn du mir mal helfen könntest«, schnaufte sie. »Was machst du eigentlich hier? Du siehst so vermatscht aus.«

Jessica atmete tief durch. Noch immer versuchte sie, ihr Halbschlafhirn wieder in Schwung zu bringen.

»Tessi, schön, dass du es auch geschafft hast.«

Sie schob sich umständlich aus der Bank und griff nach dem Koffer.

»Das ist nicht dein Ernst, oder? Was hast du da alles drin?«

Mühsam ziehend und schiebend schafften sie es schließlich, das Ungetüm auf den Tisch zu legen, der bedenklich schwankte.

Jessica öffnete den Reißverschluss und hob vorsichtig den Kofferdeckel an.

»Boah, Tessi, wir fahren nur eine Woche weg. An den Strand. Mit einem Wohnmobil. Wo soll der Kram denn hier hin?«

Mit einer ausladenden Geste zeigte sie auf die zwei Fächer über ihren Köpfen, die sie für Teresa reserviert hatte. Sie selbst hatte sich mit einem Fach begnügt. Also würden Tessis Sachen ja wohl dort reinpassen.

Ungläubig schaute Teresa nach oben.

»Das ist alles?«

Sie drehte sich einmal im Kreis, als suchte sie nach anderen Möglichkeiten. Ihre Miene hellte sich auf, als sie in den hinteren Bereich zeigte.

»Wenn du willst, dass Jette in deinen Sachen wühlt. Das ist das Kinderzimmer. Sozusagen.«

»Warum haben die Schätzchen so viel Platz und ich muss mein Hab und Gut in zwei Löcher stopfen?«

Beleidigt setzte sich Teresa.

Na das fing ja gut an, dachte Jessica. Vielleicht hätte sie doch besser allein mit den Kindern fahren sollen. Sie holte tief Luft. Ach Quatsch, jetzt war genug mit dem Gezanke.

»Komm mal her, du Mimose.« Jessica streckte Teresa die Hände entgegen. »Wir haben uns noch nicht einmal richtig begrüßt.«

Die Freundinnen fielen sich in die Arme. »Lass uns eine Urlaubsparole ausgeben, ja?« fragte Jessica.

»Dass ich ab heute gleichberechtigt behandelt werde?« schniefte Teresa immer noch ein bisschen beleidigt.

»Nein, dass wir immer erst bis zehn zählen, bevor wir unbedingt unsere Meinung durchdrücken müssen. Vielleicht ergibt sich in der Zeit ja ein Kompromiss. Okay?«

»Okay, Mami«, grinste Teresa versöhnlicher.

»Und jetzt komm, hinten ist noch ein Schrank für deine Blüschen und Jäckchen und was sonst noch aufgehängt werden muss.«

Lachend wich Jessica ihrer Freundin aus, die sich theatralisch auf sie stürzte.

* * *

Andreas Himmelstoß saß in einer gemütlichen Ferienwohnung und schaute sich die Prospekte der Gegend an. Nie im Leben hätte er gedacht, dass er mal auf dem Darß landen würde. Aber besondere Umstände erforderten besondere Maßnahmen. Und seitdem er von Jette erfahren hatte, dass Mama mit ihnen an die Ostsee fahren wollte, war in ihm der Plan gereift.

Eigentlich würde er jetzt viel lieber an einem Pool irgendwo im Süden liegen, Zeitung lesen und sich die Sonne auf den Bauch scheinen lassen. Er hatte schon immer das Luxushotelleben bevorzugt. All inclusive. Essen, schlafen, essen, in der Sonne dösen, essen – das war so seine Vorstellung von einem erholsamen Urlaub.

Bei seinem Job hatte er auch die pure Erholung nötig. Als Architekt konnte er sich keinen 8-Stunden-Tag leisten. Die Konkurrenz war groß. Ständig strömten neue, junge Leute nach. Mit tausend Ideen im Kopf, aber ohne eine Ahnung, wie sie umgesetzt und finanziert werden sollten. Das war dann wiederum sein Vorteil. Er hatte schon viele große Projekte geleitet, sich einen Namen in der Branche gemacht. Und er war sich sicher, dass er eines Tages die Firma von seinem Chef übergeben bekommen würde. Wer sonst sollte so eine verantwortungsvolle Aufgabe übernehmen? Außerdem hatte er die besten Kontakte zu den entsprechenden Entscheidungsträgern. Seit die Firma vor 20 Jahren von Holzgerlingen nach Stuttgart umgesiedelt war, ging es steil bergauf. Seitdem planten sie Projekte in ganz Deutschland.

Zufrieden lehnte sich Andreas im Sessel zurück und legte die Füße auf den kleinen Glastisch, der vor ihm stand.

Und dann war dieses Wahnsinnsangebot gekommen, dass er nicht abschlagen konnte. Eine Beteiligung seiner Firma an einem Großbauprojekt in Dubai. Ein ganzes Stadtviertel sollte innerhalb kürzester Zeit entstehen. Nicht irgendein Stadtviertel – einen Designdistrikt der besonderen Art stellten sich die Auftraggeber vor. Architekten und Designer aus ausgewählten Ländern waren daran beteiligt. Alles sollte harmonisch ineinander übergehen, und doch musste jedes Gebäude einzigartig sein. Jedes Land sollte seinen Stil einbringen. Insgesamt wurden vier Architekturbüros aus Deutschland nach einem Bewerbungsverfahren nominiert. Und Paul Rosenkötter, sein Chef, war dabei. Da Rosenkötter selbst so ein Projekt mit seinen 64 Jahren nicht mehr stemmen wollte, war es klar, dass nur sein würdiger Nachfolger dafür infrage kam.

Andreas schloss die Augen und träumte sich weit weg. Er stellte sich vor, mit den Mächtigen an einem Entwurf zu stehen. Seinem Entwurf. Alle klatschten Beifall, der Champagner floss und die schönsten Frauen der Welt lagen ihm zu Füßen.

Ruckartig erwachte Andreas aus seinem Tagtraum. Die Schönheiten konnte er sich abschminken. Die Sache mit dem Job in Dubai hatte nämlich einen Haken. Der erzkonservative Auftraggeber erwartete, dass die ganze Familie nach Dubai zog. Ehefrau war Pflicht. Kinder, wenn vorhanden, auch. Das waren Bedingungen, die erfüllt sein mussten. Nur wer im Kreise seiner Lieben lebte, konnte auch zufriedenstellend arbeiten.

Andreas nahm die Beine vom Tisch und setzte sich auf. Und genau das war sein Problem. Sein Chef wusste nichts von der Trennung vor drei Jahren. Andreas lebte in Stuttgart in einer Eigentumswohnung und war auch früher nur am Wochenende nach Holzgerlingen gefahren. Dass er das schon eine Weile nicht mehr tat, ahnte niemand. Ging ja auch niemanden etwas an.

Allerdings wollte Rosenkötter nach seinem Urlaub in drei Wochen auch mit Jessica und den Kindern sprechen. Er wollte ganz sicher sein, dass nichts schief ging, dass seine Firma gut vertreten sein würde.

Andreas ging in die Küche und goss sich ein Bier in eines der riesigen Gläser ein. Gedankenverloren lehnte er sich an die Arbeitsplatte und nippte am Schaum. Sein Plan musste funktionieren. Er wusste genau, was er zu tun hatte, wusste nur noch nicht wann. Aber das würde er sicher von Jette erfahren. Sie war die Einzige in der Familie, die bedingungslos zu ihm hielt. Sie würde seinen Plan mit Sicherheit gutheißen. Aber sollte er so etwas mit seiner zehnjährigen Tochter besprechen?

Noch hatte er zwei Tage Zeit. Morgen wollte er die Gegend erkunden, um den geeigneten Ort zu finden. Selbstzufrieden nahm er einen ordentlichen Schluck und freute sich auf den Abend. Vielleicht ging ja was hier in diesem Kaff.

* * *

Ein lautes Geräusch riss Conrad aus dem Schlaf. Verdutzt schaute er sich um. Diese Nachmittagsschläfchen durfte er sich gar nicht erst angewöhnen. Andererseits taten sie ihm gut. Ausgeruht sprang er aus dem Sessel und ging zur Haustür, um nach der Post zu sehen.

Das Schließsystem an der Eingangstür war auch noch ein Relikt aus alten Tagen. Ein Erinnerungsgeschenk von Linda - quasi. Er musste zwei verschiedene Schlüssel bedienen, erst dann öffnete sich die Festung. An den Fenstern im Erdgeschoss war es ähnlich, die Terrassentür hatte sogar besonders einbruchsicheres Glas.

Genervt trat Conrad nach draußen und staunte nicht schlecht, als er das Monstrum von einem Wohnmobil direkt neben seinem Sportflitzer stehen sah. Zwar trennte die beiden Fahrzeuge eine schmale Hecke an der Grundstücksgrenze, aber der Anblick ließ sein Herz erstarren. Hoffentlich fiel dieser stets gut gelaunten Dame von nebenan nicht irgendwas aus dem Fenster dieses Riesenteils. Das würde direkt auf seinem Wagendach landen. Conrad wollte sich das gar nicht erst vorstellen. Vielleicht war es besser, sie vorher schon einmal darauf hinzuweisen?

Vorsichtig ging er auf sein Auto zu und lugte unauffällig auf das Dach. Schien noch alles in Ordnung zu sein. Im Wohnmobil war es auch verdächtig ruhig. Haustür und Wohnmobiltür standen offen, aber nichts rührte sich. Wahrscheinlich hatte Frau Himmelstoß, was für ein Name, mal wieder vergessen, die Türen zu schließen. Es schien ihm, als wäre sie in allem das Gegenstück zu Linda. Unbekümmert, offen, vertrauensselig, gutmütig, aber trotzdem verantwortungsbewusst.

Gerade als er sich noch näher an dieses rollende Haus heranschleichen wollte, rauschte ein knallroter Mini heran. Eine Dame in einem adretten, ebenso knallroten, sommerlichen Hosenanzug hievte einen riesigen Koffer aus dem Kofferraum und näherte sich dem Wohnmobil. Conrad konnte gerade noch hinter der Hecke in Deckung gehen.

Aber wie sollte er jetzt unbemerkt in sein Haus kommen? Die Dame ließ einen markerschütternden »Juhu«-Schrei los. Wie er diese Art von Begrüßung hasste! Und tatsächlich: Im Wohnmobil regte sich etwas. Scheinbar war seine Nachbarin die ganze Zeit an Bord gewesen. Ob sie ihn beobachtet hatte? Conrad wurde es immer mulmiger zumute. Was sollte er jetzt tun? Resigniert setzte er sich unbemerkt auf die Steinplatten. Dabei fiel sein Blick auf seine offene Eingangstür. Ein Schauer lief ihm den Rücken runter. Seine Haustür. Offen! Was, wenn jetzt ... er zwang sich, nicht weiter daran zu denken, was Linda ihm in diesem Moment alles an den Kopf gehauen hätte.

* * *

»Nein!« Jessica schüttelte energisch den Kopf. Dabei rutschte zum wiederholten Male eine Strähne in ihr Gesicht. Genervt kramte sie eine Haarklemme aus der Hosentasche und steckte die Strähne damit fest.

»Och Mama, das sieht voll ätzend aus. Schau dazu wenigstens in den Spiegel!« ereiferte sich Jette.

»Das ist doch jetzt völlig egal. Ich wollte schon seit zwei Stunden unterwegs sein. Aber erst könnt ihr euch nicht von euren Freunden trennen und jetzt das Gezicke wegen dieser blöden Geräte!« Jessica schnaufte tief durch. »Also was jetzt? Ein elektronisches Gerät darf jeder mitnehmen. Entscheidet euch! Ich warte draußen. « Damit schnappte sie sich ihre Handtasche und den Autoschlüssel und stürmte zur Tür hinaus.

Teresa lümmelte grinsend auf der Bank vor dem Haus.

»Und? Haben die Herrschaften gewählt?«

»Ach, hör sie dir doch an. Als ob diese Dinger das Wichtigste auf der Welt wären. Wir hatten doch so einen Kram früher auch nicht.«

»Ich frage mich, wer ihnen diese Dinger gekauft hat?«, fragte Teresa spöttisch nach.

»Ihr Vater natürlich!« keifte Jessica zurück. Sie wusste ganz genau, dass das nur die halbe Wahrheit war. Sie hatte dem einen oder anderen Gerät auch zugestimmt. Oftmals hat es ihnen ja auch schon einen gemütlichen Abend mit Freunden im Restaurant gerettet. Zwar waren vor allem die Ohne-Kinder-Paare schockiert, wie man seinen Schützlingen so etwas erlauben konnte. Stundenlanges Zocken auf dem Nintendo, das schadete mit Sicherheit der Intelligenz. Aber ein ungestörtes Abendbrot förderte das Wohlbefinden der Eltern. Und die wussten ja schließlich auch, dass die Zockerei im Lokal eine Ausnahme bildete. Zuhause gab’s da ganz andere Regeln. Gott sei Dank waren ihre Kinder auch nicht süchtig danach. Es gab noch anderes in ihrem Leben.

Aber im Moment scheinbar nicht. Noch immer hörte sie heftige Diskussionen über Verbinden, gegeneinander fahren und muss mich um mein virtuelles Pferd kümmern.

»In fünf Minuten fahre ich! Wenn ihr dann nicht drin sitzt, könnt ihr die Ferien bei eurem Papa verbringen!« Jessica reichte es. Sie wollte endlich los. Jetzt stand nämlich gleich das nächste Problem an. Und vor dem hatte sie viel mehr Bammel als vor der Geburt ihrer Kinder. Sie musste dieses Monstrum fahren. Gestern, als sie sich das Wohnmobil ausgeliehen hatte, konnte sie den Besitzer mit einer Notlüge dazu bringen, ihr den Camper in die Einfahrt ihres Hauses zu stellen. Glaubhaft hatte sie ihm versichert, dass ihr Mann das Ding ja fahren würde, der aber noch auf Arbeit wäre.

Jessica schluckte. Die Kinder schienen sich geeinigt zu haben. Jeder trat mit einer Tasche inklusive Gerät aus dem Haus und verschwand im Wohnmobil. Tief durchatmend schloss Jessica die Haustür ab und zog Teresa schwungvoll von der Bank.

»Auf geht’s. Einmal Ostsee und zurück!«

* * *

Noch immer saß Conrad verdutzt im Hausflur. Was war ihm denn da passiert? Gerade als er sich wieder der unsäglichen Jobsuche widmen wollte, hatte es an der Tür geklingelt.

Kurz hatte er überlegt, die Jogginghose in eine Jeans zu tauschen, doch dann hatte er einfach die Tür geöffnet und seine Entscheidung direkt bereut. Jetzt wusste er nicht mal mehr welche: Dass er sich nicht umgezogen hatte oder dass er überhaupt an die Tür gegangen war.

Vor ihm stand ein zartes Wesen mit blonden Haaren und einem roten Hosenanzug, das mit extrem hoher Stimme auf ihn einplapperte. Sein Gehirn konnte die visuellen und verbalen Eindrücke, die da abgeschossen wurden, gar nicht so schnell aufnehmen. Er blinzelte und versuchte, sich auf den Inhalt des Geplappers zu konzentrieren.

»... Blumen. Nicht so viel, haben alle in die Küche ...«

Blinzel.

»... den Garten vielleicht auch, ab und an ...«

Schluck.

»... Post und unbedingt anrufen, wenn ...«

Blinzel.

»... Hamster. Alle zwei Tage ...«

Plötzlich hatte er einen Schlüssel in der Hand gehalten. Er musste genickt haben, denn das blonde Überfallkommando hatte sich zufrieden umgedreht. Erst da hatte Conrad die Person dahinter wahrgenommen. Seine Nachbarin Jessica Himmelstoß. Sie hatte den Eindruck erweckt, als ob ihr das alles peinlich sei, war nach seinem Nicken aber sichtlich erleichtert nebst ihrer Sprecherin abgedampft und in dieses Ungetüm neben seinem Sportwagen gestiegen. Conrad hatte es noch geschafft, die Tür zuzudrücken, und sich dann auf die Treppenstufen gesetzt.

Die Frau hatte ihn mächtig beeindruckt. Es war, als hätte er die erste Begegnung mit Linda noch einmal erlebt. Nur viel lauter, schneller und aufdringlicher. Und undurchsichtiger. Und wenn er es sich recht überlegte, wollte er das alles gar nicht tun, was ihm diese Person untergejubelt hatte. Nur weil er arbeitslos war, konnten sie ihn doch nicht dazu verdonnern, die Blumen zu gießen, den Garten zu pflegen, den Hamster zu füttern und nach der Post zu schauen. Kam noch dazu, dass er sich bei irgendeiner lebenswichtigen Sendung direkt melden sollte. Unter der Handynummer, die auf dem Küchentisch liegen würde.

Wie von einer Tarantel gestochen sprang Conrad auf und rannte zur Tür hinaus. Vielleicht erwischte er sie noch und konnte mit irgendeiner Ausrede absagen. Alles, was er jedoch noch zu sehen bekam, war ein davonruckelndes Wohnmobil. Zu weit weg, um die Verfolgung aufnehmen zu können.

Resigniert schaute er auf das Nachbargrundstück. Wie kamen diese beiden Tussis dazu, ihn so schamlos auszunutzen? Nein! Er wollte sich nicht um die Geranien kümmern. Und ob Krümel Hunger hatte oder nicht. Es war ihm egal. Verwundert stockte er. Woher kannte er eigentlich den Namen dieses Hamsters?

Conrad schnaufte tief durch und stürmte in sein Haus. Er ließ die Tür hinter sich ins Schloss knallen und schmiss den Nachbarschlüssel auf die Anrichte. Sollten sie doch davonreiten. Er hatte sein eigenes Leben zu bewältigen.

Wieder am Computer wollte sich bei ihm jedoch keine richtige Konzentration auf irgendwelche Jobs einstellen. Immer wieder kreisten seine Gedanken um diesen Wirbelwind, der da eben vor seiner Tür gestanden hatte. So etwas Ähnliches hatte er doch schon gehabt. Und es hatte in einer Katastrophe geendet. Nein, das war eindeutig nicht der richtige Typ Frau für ihn. Obwohl ihn genau solche Typen immer wieder anzogen. Trotzdem, er hatte aus seiner letzten Beziehung gelernt. Nie wieder!

* * *

»Mama, was machst du da? Willst du an die Ostsee reiten?« Lachend klatschen sich Jette und Timm auf den hinteren Sitzen ab.

Tatsächlich erinnerte auch Jessica dieses Geschaukel mehr an einen Ausritt als an eine Autofahrt. Tsss, Auto. Schweißgebadet versuchte sie seit einigen Kilometern, ein Gefühl für dieses Riesenauto zu bekommen. Anscheinend vergebens.

»Süße, also ehrlich! Ist irgendwas kaputt? Warum gibst du nicht einfach Gas?« meldete sich jetzt auch Teresa vom Beifahrersitz aus zu Wort.

Jessica steckte sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und atmete tief ein und aus. Es musste doch auch ihr möglich sein, so ein Ding zu fahren. Ihre verschwitzten Hände klebten am Lenkrad. Die Fingerknöchel traten weiß hervor. Da vorn kam schon die nächste Ampel. Hoffentlich konnte sie rechtzeitig bremsen, hielt genug Abstand zum Nachbarn, knallte nicht mit dem Dach gegen die Ampelanlage ... In Jessicas Kopf schwirrten sämtliche Gefahren, die so eine Fahrt mit sich bringen konnte, herum. Vielleicht war es ja doch eine Schnapsidee und sie hatte sich übernommen. Sie hätte auf ihre Mutter hören sollen. In ihrer Prophezeiung konnte diese Tour nur in die Hose gehen. Und offenbar hatte sie recht. Jessica konnte es nicht. Mit einem Wohnmobil durch die Stadt zu fahren, war eine Nummer zu groß für sie.

Lautes Hupen schreckte sie aus ihren Gedanken. Tja, aber nun steckte sie drin, in dem Schlamassel. Sie konnte ja jetzt schlecht aussteigen und den ADAC rufen. Gestern war sie noch frohen Mutes gewesen. Der nette Herr von der Vermietung hatte ihr jedes Detail erläutert. Und sie war ihm mit der Hoffnung, sich alles eingeprägt zu haben, gefolgt. Eigentlich sah es aus wie Auto fahren, nur größer. Leider hatte Jessica es versäumt, sich vor Abfahrt schon einmal auf den Fahrersitz zu setzen. Von hier oben sah alles anders aus. Die Straße war so weit weg. Die Ampeln und Straßenschilder dafür so nah.

Teresa stieß Jessica heftig in die Seite. »Fahr! Oder willst du es riskieren, dass der Typ hinter dir dich zur Schnecke macht?«

Erschrocken schaute Jessica in den Außenspiegel und sah einen Berg von Mensch mit riesigem Vollbart auf sie zukommen. Den Lederklamotten nach zu urteilen, hatte er nur vergessen, sein Motorrad zu satteln und steckte stattdessen jetzt mit seinem Kleinwagen hinter Jessica fest. Schnell legte sie den ersten Gang ein und gab Gas. Viel zu viel Gas. Der Motor heulte laut auf und das Wohnmobil machte einen Satz nach vorn. Der Riese hob drohend die Faust und verschwand aus ihrem Blickfeld. Hüpfend überquerten sie die Kreuzung.

»Na, dem hast du es aber gegeben.« Grinsend hob Teresa den Daumen. »Und ein erstes Urlaubsbild haben wir jetzt auch. Hoffentlich hast du nett in die Kamera gelächelt und nicht so verkrampft geschaut wie seit unserer Abfahrt.«

»Was? Wieso?« presste Jessica hervor.

»Die Ampel hatte gerade auf Rot geschaltet, als wir wieder losgehoppelt sind.«

Teresa setzte sich jetzt aufrechter hin und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir können uns auch eine nette Ferienwohnung im Schwarzwald suchen. Oder wir stellen das Wohnmobil hier irgendwo an einen Fluss und bleiben da eine Woche. In dem Tempo schaffen wir es in dieser Zeit jedenfalls nicht bis an die Ostsee«, sagte sie ernst.

Gerade erreichten sie das Ortsausgangsschild von Holzgerlingen. Jessica steuerte das Fahrzeug in eine Parkbucht und hielt an.

»Du hast ja recht. Ich habe mir das irgendwie viel einfacher vorgestellt.« Sie legte den Kopf auf das Lenkrad.

»Mama, du fährst doch auch super Auto. Was ist denn jetzt so anders?« krähte Jette von hinten.

Jessica setzte sich aufrecht und schaute in den Rückspiegel.

»Soll ich Papa anrufen? Vielleicht kann der dir ein paar Tipps geben«, schlug Timm vor. Grinsend winkte er ihr zu.

Das fehlte gerade noch. Sie schnitt ihrem Sohn eine Grimasse und schaute ihre Freundin vorsichtig an.

»Tja, was ist jetzt so anders? Ich weiß es auch nicht. Mir spuken ständig irgendwelche Gefahren im Kopf herum.«

Resigniert hob sie die Schultern.

»Sollen wir wieder umdrehen?« fragte Teresa.

Jessica schaute aus dem Seitenfenster und überlegte. Das wäre schon eine herbe Niederlage. Sie konnte doch das Wohnmobil jetzt nicht wieder einfach in ihrer Einfahrt parken und eine Woche dort stehen lassen. Was sollten denn die Nachbarn denken. Und vor allem der eine Nachbar. Conrad Kramer. Am Tag, als Conny Kramer ...

In diesem Moment fuhr hupend ein Kleinwagen an ihnen vorbei. Jessica sah noch einen Bart und eine Faust. Das war ja die Höhe. Glaubte dieser Mensch denn, dass nur ihm die Straße gehörte? Und überhaupt: Papa anrufen. So weit kam es noch. Und Conny Kramer konnte ihr auch gestohlen bleiben.

»Nein! Wir fahren weiter. Pfeif drauf. Es wird schon nichts passieren. Es darf nichts passieren. Basta!«

Jessica startete den Motor. Hörte sich doch an wie bei ihrem Auto. Nur ein bisschen lauter. Und die Gänge lagen auch an der gleichen Stelle. Alles war eben nur ein bisschen größer.

Vorsichtig lenkte sie wieder auf die Straße. Als hätte jemand den Knoten in ihrem Kopf gelöst, fuhr sie, ohne zu stottern, in Richtung Autobahn.

Das dreifache Ausatmen hörte sie nicht. Dafür war sie selbst viel zu erleichtert.

»Ich muss mal«, schrie Jette von hinten gegen das Motorgeräusch an.

Jessica wollte gerade zurückschreien, dass sie am nächsten Rastplatz anhalten wollte, da fiel ihr ein, dass sie ja ein eingebautes Klo besaßen.

»Geh doch einfach«, rief sie zurück.

»Jetzt?«, hörte Jessica ihre Tochter noch rufen. Dann sah sie aber, wie diese sich schwankend in Richtung Toilette begab.

Sie waren gerade mal 80 Kilometer gefahren. Mittlerweile ging es auf 18 Uhr zu. Mit dem Wohnmobil konnte sie kaum 120 km/h fahren. Soeben hatten sie Heilbronn passiert und fuhren auf der A81 Richtung Würzburg. Jessica hatte die Route akribisch ausgearbeitet. Mit einem Rotstift war sie die Autobahnen und Landstraßen in der Straßenkarte nachgefahren und hatte jedes Tagesziel notiert. Und das gedachte sie auch einzuhalten. Die Angst davor, sich zu verzetteln und vor allem zu verfahren, war größer als das Gefühl von Freiheit, was sich einstellt, wenn man ins Blaue fährt. Dieses Gefühl hatte sie sowieso schon genug mit dem Lenken dieses Hauses.

»Habt ihr Hunger?«, schrie Jessica nach hinten.

Jette hielt sich am Türknopf zum Bad fest.

»Spatz, du kannst mal im Kühlschrank schauen. Da gibt es Joghurt. Vielleicht reicht das fürs Erste. In zwei Stunden suchen wir uns einen schönen Übernachtungsplatz.«

Jette öffnete den Kühlschrank und schrie auf.

»Mann, Mama. Jetzt ist der ganze Kram rausgefallen.«

Sie klaubte schnell die kullernden Sachen wieder vom Boden auf und schmiss mit einem lauten Knall die Kühlschranktür zu.

»Ich habe keinen Hunger! Wenn Timm Lust hat, kann er ja selbst nachschauen.«

Damit nahm sie wieder auf ihrem Sitz Platz und steckte ihrem Bruder die Zunge raus. Dieser schaute nur kurz von seinem Tablet auf und zeigte Jette den Mittelfinger.

Das Poltern im Heck ließ auch Teresa erwachen. Gähnend reckte sie ihre Arme in die Luft und seufzte zufrieden.

»Alles klar, Jessi? Sind wir bald da?«

Jessica schaute amüsiert auf ihre Freundin.

»Na, ausgeschlafen, du Murmeltier? Kannst du bitte mal die Landkarte aus dem Handschuhfach holen und nachschauen, wie lange wir noch fahren müssen?«

Teresa wühlte eine gefühlte Ewigkeit im Handschuhfach herum.

»Keine Karte. Nur Papiere, der Mietvertrag für das Wohnmobil und ein abgeknabberter Apfel. Igitt, sieht aus, als wäre der noch vom Vormieter.«

Teresa hielt den verschrumpelten Apfel in die Höhe, als hätte sie einen Pokal gewonnen.

»Was? Die Karte muss da drin sein.« Jessica machte Anstalten, selbst nachsehen zu wollen.

»Untersteh dich und schau nach vorn!« fauchte Teresa sie an.

»Vielleicht hast du sie ja woanders hingelegt?«

Jessica überlegte. Nein! Sie wusste genau, dass sie die Karte und ihr Handy in das Handschuhfach gelegt hatte. Oder legen wollte? Vielleicht war wieder irgendwas dazwischen gekommen? Das passierte ihr häufig. Sie hatte einfach zu viele Dinge im Kopf. Mist! Wo könnte denn ihr Handy sein?

»In deiner Tasche ist auch nichts.« Teresa lachte laut auf. »Also nichts wäre gelogen. Aber ich meine, keine Karte oder Handy.«

»Lass die Späße! Was machen wir denn jetzt? Ohne Karte sind wir aufgeschmissen. Und ohne Handy hätte ich mir auch sparen können, Herrn Kramer die Nummer zu geben.«

Resigniert kaute Jessica an ihrer Lippe.

»Das lag doch alles auf dem Küchentisch«, ließ Timm von hinten verlauten. »Ich wollte dich erst noch fragen, aber dann musstest du uns ja die Moralpredigt wegen unserer pädagogisch wertvollen Freizeitbeschäftigungen halten. Tja, und dann habe ich es vergessen.«

Jessica bremste scharf, kam ins Schlingern und auf dem Standstreifen zum Stehen. Von ganz hinten schoss plötzlich ein grünes Ungeheuer in Form eines Planschkrokodils auf sie zu und lag jetzt zwischen Jessica und Teresa. Der Motor war ausgegangen. Jessica drehte sich zu Timm.

»Warum hast du ...?«

Sie nahm sich zurück und schnaufte.

»Und was machen wir jetzt? Zurück fahren?« Grübelnd schaute sie zu ihrer Freundin.

»Spinnst du? Wir kaufen einfach an der nächsten Tanke einen neuen Autoatlas«, schlug Teresa vor. »Und du kannst Herrn Kramer meine Handynummer geben. Für alle Fälle.«

»Ich habe doch seine Nummer gar nicht«, antwortete Jessica.

»Die Auskunft sicher schon. Und wenn nicht, dann fragen wir Jettes Freundin, ob sie mal klingeln geht. Da finden wir ganz sicher einen Weg.«

Teresa schaute zuversichtlich nach draußen und streifte mit einem Blick den Außenspiegel. Plötzlich weiteten sich ihre Augen.

»Würde es dir was ausmachen, schnell wieder Gas zu geben? Wenn das da hinten die Polizei ist, kriegen wir Ärger.«

* * *

Alles stand in Reichweite: Bier, Wasabinüsse, ein Glas Wasser gegen den Durst nach Leerung der Nussdose und eine Rolle Küchentücher für die salzigen Hände.

Mit den noch sauberen Fingern zappte sich Conrad durchs Programm. Am Ende blieb er doch beim Samstagabendkrimi auf dem ZDF hängen. Wenigstens blieb ihm heute »Wetten, dass?« erspart. Er legte die Fernbedienung beiseite, ruckelte sich mit dem Rücken auf den Kissen in Position, nahm die Nussdose und ... dann klingelte das Telefon.

»Super! Wer ruft denn jetzt an? Samstagabend?«

Grummelnd drückte er auf Aufnahme und trottete in den Flur, um das Telefon abzunehmen.

»Kramer!« brüllte er gereizt in den Hörer. Er rechnete nicht damit, dass es sich um eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch handeln würde. Also warum so tun, als ob es ihn nicht nerven würde, um diese Uhrzeit gestört zu werden.

Als er allerdings das zarte Gesäusel am anderen Ende hörte, bereute er es doch. »Hier auch Kramer«, hallte es in seinen Ohren wider. Wie konnte das sein? Warum rief Linda nach so langer Zeit an? Und mit dieser Stimme?

Conrad atmete tief durch. Moment! Da war doch was faul!

»Hallo Linda. Was willst du?«

Warum nett sein? Schließlich hatte sie ihn verlassen.

Natürlich wusste sie, dass er es sich gerade gut gehen lassen wollte auf dem Sofa. Und natürlich konnte sie alle Dinge aufzählen, die er vorsorglich auf dem Couchtisch deponiert hatte. Und nein, er war nicht so spät ans Telefon gegangen, weil er sich erst die Finger waschen musste.

»Schön, dass du dich noch an alles erinnerst. Aber deswegen rufst du sicher nicht an. Also?«

Conrad war es irgendwie peinlich, dass Linda so genau aufzählen konnte, was er samstagabends so tat. Von ihr wusste er seit ein paar Wochen nichts mehr. Wollte er auch nicht. Hatte er erfolgreich verdrängt, dass er es mal wissen wollte. Auch noch nach der Trennung.

Plötzlich horchte er auf.

»Du willst hier herkommen? Warum?«

In Gedanken ging er schnell alles durch, was sie von ihm wollen könnte. Geld hatte sie selbst genug. Das Haus vielleicht? Sicher, da steckte mehr Kapital von ihrer Familie drin als von seiner Seite aus. Aber als sie vor sechs Wochen abgedampft war, wollte sie diesen spießigen Kasten nie mehr betreten. Was hatte sie sich jetzt wieder ausgedacht?

»Linda, was ...? Ja ..., also ..., okay, von mir aus. Dann bis Dienstag.«

Conrad setzte sich auf die Treppe. Das laute Tuten aus dem Hörer ignorierte er. Linda wollte kommen. Ihn sehen. Obwohl er arbeitslos war. Obwohl er nichts zu bieten hatte. Sie klang, als ob sie sich ehrlich freuen würde. Aber warum? Warum jetzt, nach so langer Zeit?

Die Wasabinüsse landeten ungeöffnet wieder im Schrank und auch auf sein Samstagsbier hatte er keine Lust mehr. Wahrscheinlich amüsierte sich Linda in London gerade darüber, dass sie ihn so kalt erwischt hatte. Er zermarterte sich das Hirn, worum es bei dem Treffen gehen könnte, kam aber auf keinen brauchbaren Gedanken. Dann musste er eben abwarten. Und sich wappnen.

* * *

Andreas bot sich ein herrlicher Blick auf die See. Einen der letzten Plätze auf der Dachterrasse des Fischrestaurants Seeblick hatte er dafür ergattert. Sollte das ältere Pärchen doch sehen, wo es noch einen Tisch bekam. Er brauchte jetzt ein gutes Essen, diese salzige Luft, die den Abend würzte und, wie er hocherfreut zur Kenntnis nahm, einen kleinen Flirt mit der Rothaarigen vom Nachbartisch.

Am späten Nachmittag war endlich die Nachricht per WhatsApp von Jette gekommen, dass sie sich auf den Weg gemacht hatten. Anscheinend gab es ein paar Startschwierigkeiten. Er war gleich gegen die Schnapsidee gewesen, dass Jessica und ihre komische Freundin mit einem Wohnmobil in den Urlaub fahren würden. Jessica war sicher eine gute Mutter, Hausfrau, Gärtnerin im eigenen Garten und eine mäßig erfolgreiche Redakteurin beim Amtsblatt Böblinger Bote, aber alles Weitere konnte er sich schwer vorstellen. Ihr Leben hatte sich seit seinem Auszug doch kaum verändert. Klar blieb jetzt noch mehr an ihr hängen, aber das hatte sie sich selbst zuzuschreiben. Er wäre damals nicht so schnell ausgezogen. Diese Affäre hatte für ihn keine Bedeutung.

Andreas schaute missmutig über die Dünen auf das Meer. Das Dorschfilet auf Dijonsenfsoße war ein Gedicht, aber irgendwie schmeckte es ihm mit einem Mal nicht mehr. Er hatte noch etwa zwei Tage Zeit, sich einen Plan zurechtzulegen, wie er Jessica rumbekommen könnte. Seinem Charme würde sie ja wohl kaum noch erliegen. Ein Kind vielleicht. Sie hatte sich nach den Zwillingen immer mal wieder ein Baby gewünscht. Aber jetzt war sie sicher zu alt dafür. Wie lange konnten Frauen eigentlich Kinder bekommen? Ob sie schon in den Wechseljahren war? Andreas hatte so gar keine Ahnung, wie eine Frau tickte. Besonders nicht seine Frau. Exfrau.

Sein Blick glitt zum Nachbartisch. Bei dieser Frau sah er eindeutige Signale, die verheißungsvoll schienen. Oder warum schlug sie sonst ihre unendlich langen Beine elegant übereinander und sah ihn dabei mit einem Blick an, der nur eines bedeuten konnte. Ja, bei dieser Frau wusste er ganz genau, wie sie tickte. Urlaub, allein, Sehnsucht nach Zärtlichkeit. Dagegen konnte er etwas tun. Um das Problem Jessica konnte er sich auch morgen noch kümmern.

Galant lächelnd nickte Andreas der Dame zu und verlangte beim Kellner nach der Rechnung. Da sie es ihm gleichtat, stand einem heißen Abend nichts mehr im Weg.


Feriensonntag

Ein spitzer Schrei ließ alle Insassen des Wohnmobils zusammenzucken. Jessica, die gerade dabei war, die Frühstückseier in die Pfanne zu hauen, stieß vor Schreck mit dem Kopf gegen die oberen Schränke. Stöhnend rieb sie sich die schmerzhafte Stelle.

»Aua! Tessi, ist alles in Ordnung?« fragte sie.

»Nichts ist in Ordnung! Ich habe alles vergessen!« kam es kreischend aus dem Bad zurück.

Noch immer tastend, ob es wohl eine Beule geben würde, überlegte Jessica, was Teresa gemeint haben könnte.

Mit einem lauten Knall ging die schmale Badtür auf und Teresa stürzte heraus. Sie hatte sich die Haare hochgesteckt und ein Haarband hielt zusätzlich den Pony aus dem Gesicht. Das Gesicht selbst war mit einer seifigen Masse überzogen und um die Augen klebten feuchte Pads.

»Hier!«

Sie hielt Jessica die große Ausgabe eines Beautykoffers hin.

»Schau selbst. Es ist nicht drin!«

»Was ist nicht drin?« wollte Jessica wissen.

»Na, was wohl. Das Wichtigste überhaupt!« antwortete Teresa genervt.

Jessica schaute kurz nach, ob ihre Kinder außer Flüsterweite waren. Sie lagen aber noch seelenruhig in ihren Betten.

»Du meinst die Pille?« wisperte sie ihrer Freundin zu.

»Quatsch, ich habe eine Spirale. Meinst du, ich lasse mir ein Kind andrehen, nur weil ich die Pille mal vergessen habe?« antwortete Teresa ohne Rücksicht auf Zuhörer.

»Psst.« Jessica machte mit dem Kopf eindeutige Zeichen in Richtung Kinder.

»Ach was. Die wissen längst, wie sowas funktioniert«, war Teresas Kommentar dazu.

»Tessi, also echt. Sie sind zehn. Mach mal halblang.« Jessica war leicht angesäuert. »Was ist denn nun? Was hast du so Lebenswichtiges vergessen?«

»Meine ... komplette ... Schminke«, stöhnte Teresa laut auf und fing erneut an, in dem Koffer zu kramen.

»Was soll ich nur machen? Ich kann doch nicht ungeschminkt rausgehen!«

Seufzend blies Jessica die Luft durch die Lippen.

»Du kannst dich bei mir bedienen. Und Montag kaufst du einfach alles neu«, bot sie ihrer Freundin an.

»Neu? Das hat alles ein Vermögen gekostet! Und meine Schminke gibt es auch nicht in so einem billigen Drogeriemarkt, in den du immer einkaufen gehst.«

Verzweifelt klappte Teresa das Beautycase zu.

»Und überhaupt! Weißt du, was ich meiner Haut antue, wenn ich jetzt deinen Kram nehme?«

»Nein, weiß ich nicht«, antwortete Jessica beleidigt und widmete sich wieder der Frühstücksvorbereitung. Die Eier hatte sie gerade noch so vor dem Verbrennungstod retten können.

Verdrossen murmelnd verschwand Teresa wieder im Bad und schmiss die Tür hinter sich zu.

Das fing ja prima an, dachte Jessica. Sie war froh, dass die erste Nacht so gut geklappt hatte, obwohl nicht alles reibungslos gelaufen war. Sie hatten erst spät einen Platz für das Wohnmobil gefunden. Und nur unter großem Protest ihrer Tochter waren sie am Waldrand einfach stehen geblieben. Verbotenerweise. Das wusste Jessica auch. Manchmal musste man eben etwas Verbotenes tun. Es war schon fast dunkel, alle hatten furchtbaren Hunger und morgens wollten sie sowieso ganz zeitig wieder los. Das hatte dann auch Jette überzeugt.

Beim Abendessen waren sie trotzdem bester Laune gewesen. Obwohl nur Brot, Käse und Tomaten auf dem Tisch gestanden hatten, kam es allen wie ein Festmahl vor. Sogar den Kindern merkte man an, dass die Urlaubsstimmung allmählich Oberhand gewann.

Den ersten Stress gab es dann beim Zubettgehen. Jette hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, vor dem Schlafengehen zu duschen. Bemerkenswert für eine Zehnjährige, das hatte sogar Teresa beeindruckt. Allerdings gab der Wassertank des Wohnmobils nur 100 Liter her. Und da Jessica unsicher gewesen war, ob sie ohne die vergessene Routenplanung am nächsten Abend einen Campingplatz finden würden, hatte sie Duschverbot verhängt.

Alles in allem verlief die erste Nacht aber recht friedlich. Die Kinder hatten es sich im Heck gemütlich gemacht. Die zwei Einzelbetten rechts und links trennte eine komfortable Treppe, so dass sie auch keine Probleme haben sollten, nachts aus den Betten zu kommen.

Jessica und Teresa hatten unter großem Gelächter den Alkoven bezogen. Da Jessica den Überblick behalten wollte, wer wann und warum nachts unterwegs war, hatte sie Teresa den hinteren Schlafplatz überlassen. Sie selbst musste das Gefühl haben, jederzeit ihre Kinder beschützen zu können. Man konnte ja nie wissen. Einbrecher gab es überall. Und schließlich standen sie ja mutterseelenallein im Wald.

»Na Mama, wie war die Kuschelnacht mit Teresa?« Jette hatte sich von ihrem Schlafplatz erhoben und leistete ihrer Mutter Gesellschaft.

»Tja, gerade eben war ihr nicht nach Kuscheln, also frag sie lieber noch mal selbst. In der Zwischenzeit könntest du mir mal beim Tischdecken helfen.«

Wieder einmal flog die Badtür mit Schwung auf und Teresa stolzierte hocherhobenen Hauptes heraus.

»Gar nicht schlecht, dein Billigkrams«, sagte sie und knuffte Jessica grinsend in die Seite.

»Sieht aber schrecklich aus«, knurrte Jessica zurück und erntete erneut einen Stupser.

»Hab dich auch lieb!« Teresa setzte sich grinsend an den gedeckten Tisch.

»Was ist denn mit euch los?« wollte Jette wissen.

»Nichts!« antworteten bei beiden wie aus einem Munde und mussten laut schallend lachen.

»Was gibt es denn zu lachen?« kam es von hinten. Timm schaute mit müden Augen von seinem Bett auf.

»Komm schnell, sonst esse ich dein Rührei«, krähte Jette und Timm knurrte Unverständliches zurück.

Jessica war glücklich. Sie hatte den ersten Tag mit anfänglichen Schwierigkeiten fahrend gemeistert und auch die Stimmung an Bord war prima. Sie freute sich auf das Meer, den Strand und darauf, sich wieder einen Schritt von Andreas zu lösen. Auch wenn sie den Alltag schon längst gut meisterte, musste sie sich doch auch in ungewöhnlichen Situationen beweisen. Das war sie sich selbst schuldig. Natürlich hatte Andreas sie verlassen, wegen einer anderen, aber er wollte nach ein paar Monaten wieder reumütig zurückkehren. Allen Unkenrufen zum Trotz hatte sie ihn nicht mehr in ihr Leben gelassen. Familie und Freunde prophezeiten ihr, dass sie es allein mit den Kindern in dem großen Haus und auch noch selbstständig tätig nicht schaffen würde. Aber das hatte sie nur noch mehr angestachelt.

Jessica biss herzhaft in eines der Brötchen, die sie gestern noch frisch von ihrem Lieblingsbäcker geholt hatte. Ja, das würde sicher ein nächster Schritt in ein neues Leben sein. Und Andreas konnte ihr gestohlen bleiben.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739355795
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Juli)
Schlagworte
Wohnmobil Meer Inselroman Ostseeroman Ostsee Familie Darß Urlaub Liebe Prerow Humor

Autor

  • Frida Luise Sommerkorn (Autor:in)

Frida Luise Sommerkorn alias Jana Thiem schreibt Liebes-, Familien- und Kriminalromane. Dabei sind ihre Geschichten in jedem Genre mit Herz, Humor und Spannung gespickt. Da sie selbst viel in der Welt herumgekommen ist, kennt sie die Schauplätze ihrer Romane und kann sich voll und ganz in ihre Protagonisten hineinfühlen. Ob am Ostseestrand, im fernen Costa Rica oder in ihrer Heimat, dem Zittauer Gebirge, überall holt sich die Autorin neue Inspirationen, um ihre LeserInnen verzaubern zu können.
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Titel: Zum Glück Ostseestrand