Sprechen Sie eigentlich italienisch?«, fragte ich meinen amerikanischen Chef auf unserem Weg nach draußen.
»Ein paar Brocken zumindest«, antwortete er. »Gerade, wenn man mit älteren Italienern zu tun hat, ist das von Vorteil. Aber die meisten sprechen doch ganz gut englisch, die Insel lebt ja vom Tourismus.«
Ein Fahrer des Hotels erwartete uns bereits und hielt zuerst mir, dann meinem neuen Chef eine der rückwärtigen Türen auf. Bald verließen wir das Gelände und bogen nach links auf die Hauptstraße ein. Auf unserem Weg erzählte mir Andrew, dass das Haus erst seit drei Monaten seine Pforten geöffnet hatte, und seitdem nahezu durchgehend ausgebucht war. »Nur das Restaurant nicht«, gab er bedauernd zu. »Aber daran wird sich hoffentlich bald etwas ändern.«
»Wovon ist das abhängig?«, fragte ich, als unser Fahrer schon wieder von der Hauptstraße ab und auf einen Schotterweg einbog. Überrascht sah ich auf. Waren wir schon am Ziel?
Ein Straßenschild wies auf einen Campingplatz mit dem Namen La Spiaggia hin. Der Strand. In Pitlochry hatte ich mir ein Wörterbuch zugelegt und einen Online-Kurs bis zum zweiten Level durchgearbeitet, um zumindest ein paar Basics zu erlernen.
Kurz darauf kam eine Holzhütte in Sicht, daneben ein heruntergelassener Schlagbaum mit Wimpeln, die die Besucher in verschiedenen Sprachen willkommen hießen. Auf dem Platz davor kurvte ein Kleinkind auf einem Bobbycar herum, der Vater lehnte an einem Pfosten und telefonierte. In der vor uns liegenden Straße hinter der Schranke fuhr eine Frau im Bikini auf einem Fahrrad.
»Von ein paar störrischen Sarden«, beantwortete Andrew Lewinski schließlich meine Frage und half mir aus dem Auto.
Mit dieser Antwort konnte ich zwar nicht allzu viel anfangen, aber es war ja auch nicht meine Sache. »Ist hier das Restaurant?«, erkundigte ich mich und sah dem abfahrenden Wagen hinterher. »Dieses kurze Stück über die Landstraße hätte man doch eigentlich laufen können«, bemerkte ich. Obwohl ich eigentlich sogar ganz dankbar für die kurze Fahrt mit dem Auto war. Sowohl die Blasen an meinen Füßen als auch mein Hunger schmerzten. Die letzte richtige Mahlzeit hatte ich gestern Abend zu mir genommen.
Andy schüttelte den Kopf. »Ich laufe doch nicht im Gänsemarsch die Straße entlang.«
Nun nahm er mich am Ellenbogen und führte mich zwischen Schlagbaum und Holzhütte hindurch aufs Campingplatzgelände. Von den mit Caravans und Zelten belegten Plätzen wehte köstlicher Grillgeruch zu uns herüber, und am liebsten hätte ich mich an einen der mit Campinggeschirr gedeckten Klapptische gesetzt. Doch glücklicherweise deutete mein Chef in diesem Moment auf ein Steinhaus vor uns, dessen gut besuchte Terrasse das Gebäude zur Hälfte umrundete und die man über ein paar Stufen erreichte.
Karierte Tischdecken und Wasserkaraffen strahlten Gemütlichkeit aus; ein Duft nach Pinienholz und Meer vermischte sich mit dem nach Tomaten, Kräutern und Knoblauch. Mein Magen knurrte schon wieder.
Überrascht nahm ich zur Kenntnis, dass Mr. Lewinski einen Tisch auf meinen und nicht auf seinen Namen reserviert hatte. Als ich ihn darauf ansprach, winkte er ab. »Eine reine Vorsichtsmaßnahme.«
Seine kryptische Antwort ließ ich lieber unkommentiert im Raum stehen. Er rückte mir einen Stuhl zurecht, und ich nahm Platz. Von dort aus hatte ich einen guten Überblick über die Terrasse mit zugehöriger Bar und den Campingplatz, dessen Zentrum das Restaurant bildete. Nebenan gab es einen kleinen Spielplatz mit einer Schaukel und einer Wippe. Ein blondgelocktes Mädchen in einer staubigen Windel leckte an einem Eis. Der Saft lief ihr die Finger hinab, und sie schleckte ihn genussvoll ab.
Ich lächelte meinem Chef zu. »Hier gibt es also landestypisches Essen? In einer Campingplatz-Pizzeria?«
Mein Vorgesetzter senkte beschwichtigend die Hände. »Lassen Sie sich überraschen.«
Andrew Lewinski erkundigte sich nach meinen Wein-Vorlieben und bestellte dann das Essen auf Italienisch.
Als der Barmann, der gleichzeitig der Kellner zu sein schien, die Getränke brachte, stießen wir miteinander an. »Ich bin übrigens Andy«, sagte er, und dann sprach er einen Toast aus: »Auf eine gute Zusammenarbeit.«
Unsere Gläser stießen klirrend aneinander, ich lächelte ihm schüchtern zu. »Terry«, sagte ich. Mein Chef erweckte bis auf ein paar Merkwürdigkeiten einen ganz netten Eindruck.
Der Kellner platzierte eine Platte köstlich aussehender Vorspeisen auf dem Tisch, und ich revidierte meine Skepsis, in einer Pizzeria zu sein. Geröstete Bruschette und verschiedene Aufstriche reihten sich aneinander. Grüne und schwarze Oliven in Kräutervinaigrette, gedünstete Auberginen, Champignons und Zucchini. Das frische Weißbrot knackte kross unter den Zähnen, als ich hineinbiss, und ich genoss jeden Bissen. Wann hatte ich zuletzt etwas so Leckeres gegessen? Dabei kochte ich selbst ganz gut. Doch der Geschmack dieser erntefrischen Zutaten schlug alles.
»Schmeckt es dir?«, fragte Andy, und ich verzog genießerisch den Mund. »Dann warte erst die Hauptspeise ab.«
Ich trank einen Schluck des kräftigen Rotweins und schwärmte: »Wie kommt es, dass sich so eine Perle auf einem Campingplatz findet? Und woher weißt du davon?«
Andy schürzte die Lippen. »Ich weiß davon, weil die Bewertungen unserer Hotelküche miserabel sind und die Gäste in ihren Rezensionen auf diesen Campingplatz als hervorragende Alternative hinweisen.« Er lächelte siegessicher. »Das wird sich aber bald ändern.« Nun deutete er mit dem Kinn auf einen Mann mit Kochmütze, der eben aus der Tür zur Küche trat und sich eine Zigarette anzündete. »Da ist auch schon das Ziel meines Besuchs.«
Aha, dachte ich. Anscheinend handelte es sich hierbei doch nicht nur um ein Begrüßungsabendessen. Verstohlen musterte ich den Koch. Der Mann hätte nicht italienischer aussehen können. Er war nicht besonders groß, hatte dunkle Augen, eine klassische Nase, dichte Augenbrauen und schwarze Locken, die unter seiner Kochmütze hervorlugten. Die weiße Kochjacke wies keinen einzigen Fleck auf. Als der Mann uns erblickte, kam er zielstrebig auf uns zu.
Ich hatte mir gerade ein Stück Bruschetta in den Mund geschoben und kaute daran. Andy erhob sich leicht und streckte dem Koch die Hand entgegen, doch dieser sah darüber hinweg, sodass Andy wieder in seinen Stuhl zurücksank. Der Mann sagte etwas in ruhigem Ton zu Andy. Ich verstand nur drei Wörter: Offerta non acceptare.
Fragend sah ich zu Andy.
Dieser legte den Kopf schräg, deutete mit einer ausladenden Geste auf mich und lächelte charmant. Ich sei seine neue Mitarbeiterin. »Molto carina, no?«
Pries er mich etwa an?
Der Mann musterte mich, während ich auf meinem Stuhl hin- und herrutschte, dann ging sein Blick zurück zu meinem Chef, der die Hände faltete und mit gespielt verzweifelter Miene auf ihn einredete. Der Italiener sah wieder zu mir, und ich grinste verlegen, deutete auf die leeren Vorspeisenteller vor uns, murmelte »Molto, molto bene« und hob einen Daumen.
Der Mann nickte verbissen, dann ging er davon.
Andy winkte ab. »Irgendwann habe ich ihn schon soweit«, sagte er. »Bei den anderen hat es ja auch geklappt.«
Bei den anderen? Wenn ich ehrlich war, mochte ich es nicht besonders, wenn Menschen in Rätseln sprachen. Leider gehörte ich aber auch nicht zu den Personen, die so lange nachhakten, bis sie alles begriffen hatten. Ich war nicht so rundheraus, eher diskret. Die Plauderei gegenüber Lilly bezüglich meiner Eltern war eine Ausnahme gewesen. Aber zwischen Andy und dem Koch musste es wohl um Jobangebote gehen. Genügend Andeutungen hatte mein Chef mir ja geliefert.
Inzwischen berichtete er mir davon, wie zufrieden sich die Gäste des Hotels – abgesehen von der Küche – in den Rezensionen äußerten. Das Laguna Blu landete immer wieder ganz oben auf der Liste der Top-Unterkünfte auf Sardinien. Das hatte in so kurzer Zeit kein Hoteldirektor vor ihm geschafft.
Bald wurden unsere Hauptspeisen gereicht. Der Barmann schaute nicht mehr ganz so freundlich, als er sie vor uns hinstellte. Es gab Pasta in verschiedenen Variationen, Gemüse, Fleisch und Fisch. Das Ganze war garniert mit knackigem Salat, Kräutern und Knoblauch. Ich hielt mir den Bauch und lachte scheu. »Dafür, dass der Mann dein Jobangebot abgelehnt hat, hat er sich wirklich viel Mühe gegeben.«
Andy hob eine Augenbraue. »Genau deswegen hat er es getan«, antwortete er und verteilte fachmännisch die Speisen auf unseren Tellern. Er verdrehte die Augen. »Immer diese Familienbande … Schrecklich.«
Neugierig betrachtete ich ihn. Der Campingplatz nebst Pizzeria war also ein Familienbetrieb. Damit kannte ich mich nur allzu gut aus. Ich gestand ihm besser nicht, dass ich liebend gern bis an mein Lebensende in Pitlochry geblieben wäre und das Guesthouse mit Matt zusammen geleitet hätte. Vielleicht hätte er sich doch eines Tages noch in mich verliebt. Und wir hätten ein Kind bekommen oder auch zwei. Ich hätte versucht, bei meinen eigenen Kindern alles besser zu machen, als es zwischen meinen Eltern und mir gelaufen war.
Jeder Mensch hat Eltern, selbst wenn sie schon tot sind, wie Matts. Doch meine konnte ich nicht auf einem Friedhof betrauern. Ich hatte den Kontakt zu ihnen abgebrochen, weil sie mich nach dem Tod meiner Schwester entsetzlich verletzt hatten, und all mein Sehnen nach Heimat und Geborgenheit auf Matt projiziert. Ich hatte gedacht, er könnte mich auffangen. Wenn er mich lieben würde, so meine Hoffnung, wäre ich komplett. Dabei wäre es meine Aufgabe gewesen, erst einmal mich selbst zu lieben. Das war mir nach dem Bruch mit meinen Eltern allerdings besonders schwergefallen.
Als ich nichts auf Andys abfällige Worte bezüglich der Familienbande entgegnete, fuhr er fort: »Da gibst du den Leuten die Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln, und sie sträuben sich, als wolltest du eine Katze mit Wasser übergießen.« Jetzt winkte er ab. »Du wirst jedenfalls sehen, irgendwann knickt jeder ein. Und bis es soweit ist, werde ich es mir nicht nehmen lassen, gelegentlich hier zu essen und den Koch daran zu erinnern, dass mein Angebot steht.«
Ich verzog beeindruckt den Mund. Es gehörte schon etwas dazu, so hartnäckig zu sein. Und dieser Koch hatte nicht so ausgesehen, als wäre er leicht umzustimmen. Aber ich konnte natürlich nicht wissen, mit welchen Gehaltssummen Andy winkte.
Das Fleisch zerging jedenfalls auf der Zunge. Und die gebratenen Calamari schmeckten so sehr nach Süden, dass es mir Tränen der Begeisterung in die Augen trieb. Überhaupt war es hier auf dieser Campingterrasse so urig, dass ich am liebsten noch den ganzen Abend geblieben wäre. Leise italienische Klänge schallten aus den Lautsprechern, und das Gelächter des Kochs und der Küchenhilfen, die wir bisher noch nicht zu Gesicht bekommen hatten, drangen nach draußen.
Es hätte ein schönes Abendessen werden können. Doch je später es wurde, desto mehr bekamen wir die unverhohlene Ablehnung des Küchenmeisters und auch des dunkelhaarigen Baristas zu spüren. Der Alkohol lockerte Andys Zunge, und hatte er sich zuvor noch siegessicher gezeigt, richtete sich im Laufe des Abends eine gewisse Überheblichkeit gegen die Italiener im Allgemeinen.
Andy vertrat die Meinung, dass einem armen Land wie diesem und der Insel Sardinien im Speziellen nichts Besseres passieren könnte, als wenn ausländische Investoren ihre Küsten auf Vordermann brachten. Er wusste viel über die italienische Mentalität zu berichten, die er offenbar nicht allzu sehr schätzte. Ebenso wenig die hiesigen Frauen, die seiner Meinung nach zur Hysterie neigten.
Schließlich gab ich ihm zu verstehen, dass ich müde sei. Was ich auch war. Der anstrengende Tag, das Essen, der Wein … das alles trug dazu bei, dass ich mich nach einem Bett sehnte. Und Andy konnte ich langsam nicht mehr ertragen. Sein Benehmen war mir unangenehm.
Entschuldigend sah ich hinüber zu unserem Kellner und entdeckte im selben Augenblick jemanden an seiner Seite, der mir bekannt vorkam. Die beiden Männer sahen zu uns und unterhielten sich. Das konnte doch nicht …
»Toni?«
Der blauäugige Italiener mit den Korkenzieherlocken rührte sich nicht von der Stelle. Verblüfft sah er mich an. Ich war es genauso. War dies etwa das Restaurant seiner Mutter, von dem er mir so vorgeschwärmt hatte? Was für ein Zufall!
»Hi!«, sagte ich und schob den Stuhl zurück.
»Ciao, Bella.« Toni winkte verhalten.
»Wer ist das?«, fragte Andy.
»Das ist Toni Fortunato«, erwiderte ich über meine Schulter hinweg und ging zu meiner Fährenbekanntschaft, schüttelte ihm die Hand.
»Du bist mit Lewinski vom Laguna Blu hier?« Toni tauschte mit dem Barmann einen Blick. »Arbeitest du da?«
»Eigentlich erst ab morgen, aber ich wurde heute schon eingearbeitet. Zur Belohnung essen wir hier.« Ich beugte mich zu ihm hinüber. »Ich hatte keine Ahnung, dass dies das Restaurant ist, das du mir so empfohlen hast.«
»Theresa?«, rief Andy.
Toni zeigte mit dem Kinn in Richtung meines Vorgesetzten. »Ich glaube, da hat jemand etwas dagegen, dass wir uns unterhalten.«
Ich wandte den Kopf zu Andy um, der mich mit hochgezogenen Augenbrauen ansah.
»Tja«, bestätigte ich, »eigentlich wollte ich sowieso gleich ins Hotelzimmer zurück.« Dann fügte ich hinzu: »Der Koch ist also dein Onkel? Du hast wirklich nicht übertrieben. Er kocht göttlich!«
Toni nickte grimmig. »Das wird er auch weiterhin tun. Und zwar hier. Bei ihm beißt dein Chef jedenfalls auf Granit.« Nun sah er etwas versöhnlicher drein. »Wenigstens kennst du jetzt unsere gute Küche. Vielleicht kann ich dir ja demnächst noch ein paar schöne Fleckchen unserer Insel zeigen?«
»Terry!« Andys Stimme klang, als wäre ich ein Hund, der unerlaubt an einem Strauch ein Bein hob.
Entschuldigend sah ich Toni an. »Jedenfalls schön, dich wiedergetroffen zu haben«, sagte ich eilig. Dann ging ich zurück zu Andy.
Auf der Rückfahrt versuchte mein Chef, mich auszuquetschen. Wollte wissen, woher ich Toni Fortunato kannte, was wir miteinander geredet hatten. Schließlich schien er mir abzunehmen, dass es mir vollkommen gleichgültig war, ob und weshalb Andy mit Tonis Mutter im Clinch lag. Dabei war das nicht ganz korrekt. In Wahrheit fand ich es unmöglich, dass ein Hoteldirektor so offensiv Personal vom benachbarten Campingplatz abwarb. Noch dazu einem Familienbetrieb. Allein die Vorstellung, mir wäre so etwas passiert …
Insgeheim hoffte ich darauf, Toni bald wiederzusehen und überlegte, ob ich sein Angebot, mir etwas von der Insel zu zeigen, vielleicht annehmen sollte. Seine Karte hatte ich ja noch, ich könnte ihn kontaktieren. Warum auch nicht? Ich kannte hier doch sonst niemanden.
Bei unserer Verabschiedung in der Hotellobby fragte Andy für mich völlig überraschend, ob er noch auf einen kleinen Absacker auf mein Zimmer mitkommen könne.
Ich legte die Stirn in Falten. »Wie meinst du das?«
»Nun ja …« Mein Chef kratzte sich am Kopf. »Ich hatte dein Bewerbungsanschreiben so verstanden, dass du womöglich ein wenig Trost gebrauchen könntest.« Er berührte mich am Arm. »Wegen diesem Matt.«
Mit einem Mal pochte wieder diese schreckliche Ahnung in meiner Brust.
Mein Vorgesetzter lächelte nachsichtig. »Ich hatte selbst mal so eine große Liebe, von der ich nicht loszukommen meinte.« Nun beugte er sich noch ein wenig näher zu mir heran. »In diesen Fällen sollte man für Ablenkung sorgen.«
Das durfte nicht wahr sein. Ich war tatsächlich so dumm gewesen! Mir schoss das Blut in die Wangen.
Andy stand abwartend vor mir, auf den Lippen ein Lächeln, das er womöglich für anziehend hielt.
»Weißt du, Andy«, sagte ich heiser, »meine Art von Ablenkung suche ich mir lieber selbst aus.«
Mit diesen Worten floh ich klopfenden Herzens den Flur entlang und öffnete mit zittrigen Fingern die Tür zu meinem Zimmer.