»Hast du auch alles?«
Doris rang die Hände. Sie, Papu und sein Freund Ulli standen neben meinem Auto vor dem Haus Spalier. Die drei hatten mich bereits dreimal geherzt und mir versichert, ich würde das schaffen. Aber ihre Gesichter drückten das Gegenteil aus.
»Weihnachten kommst du ja schon wieder zurück«, tröstete Papu mich und nahm mich noch einmal in den Arm. »Das ist schon in einem Monat.«
Der Verkehr auf der Leopoldstraße floss an uns vorüber. Einige Häuser und Vorgärten der nachbarschaftlichen Umgebung waren schon seit einigen Tagen weihnachtlich mit leuchtenden Sternen oder Weihnachtsmännern geschmückt, die sich an Fassaden entlanghangelten. Ansonsten erinnerte aber nichts daran, dass das Fest der Liebe so bald schon vor der Tür stand. Oskar saß angeschnallt in seinem Kindersitz auf der Rückbank meines alten Peugeot. Mein Sohn war es nicht gewohnt, mit dem Auto zu fahren und wand sich unter den engen Gurten, reckte die Ärmchen nach mir. In seinen Augen schimmerten empörte Tränen.
Vielleicht spürte er, wie viel Angst ich hatte, und wenn ich ehrlich bin, wäre es mir am liebsten gewesen, Papu hätte mich begleitet. Aber die Fahrt war lang, und irgendwann mussten wir uns schließlich trennen. Ich hatte außerdem mit Milla und Sina vereinbart, sie von unterwegs anzurufen, wenn ich meine Ankunftszeit absehen konnte. Sie wollten in meiner Wohnung auf mich warten. Und wenn Sina ganze Arbeit geleistet hatte, würde ich die Räume kaum wiedererkennen, und nichts dort würde mich an die gemeinsame Zeit mit Rahul erinnern. Also stieg ich endlich ein, winkte ein letztes Mal und fuhr mit einem dicken Kloß im Hals davon.
Irgendwann begann es unterwegs zu regnen, ich schaltete die Scheibenwischer ein. Im Übergang zwischen Bayern und Hessen veränderte sich mehr und mehr die Landschaft, und meine Angst wuchs. War es ein Fehler, schon zurückzukehren? War es für alles noch zu früh? Würde ich mein Leben hier meistern können? Alleinerziehend. Als Witwe.
Um kurz nach vier traf ich in Frankfurt ein. Ich fuhr ein paarmal um den Block, bis ich endlich einen Parkplatz ergatterte. Die Straße war mit weihnachtlichen Girlanden überspannt, deren Licht auf dem feuchten Asphalt und in den Schaufensterscheiben reflektierte. Im Fenster der benachbarten Apotheke wünschte man in leuchtenden Lettern »Merry christmas«. Klopfenden Herzens lud ich den Buggy aus dem Kofferraum, hievte Oskar, der irgendwann eingeschlafen war, in die Karre. Und dann stand ich vor dem Altbau, den ich vor acht Monaten Hals über Kopf verlassen hatte, und wäre am liebsten wieder nach München umgekehrt.
Mit zitternden Fingern steckte ich den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. Der vertraute Geruch des Mietshauses schlug mir entgegen. Eine Mischung aus Keller und Staub, dazwischen waberte der Duft nach Waffeln. Aus dem dritten Stock schallten die Stimmen und Schritte von Milla und Sina, die mich vom Fenster aus gesehen haben mussten und jetzt zu mir nach unten kamen.
Schon tauchten meine beiden Freundinnen auf der Treppe auf, und wir fielen uns in die Arme. Die zwei hielten mich umklammert, bis ich nach Luft japste. Ich konnte nicht anders, als zu lachen. »Ich habe euch auch vermisst.«
Bei Oskars Anblick stießen die Zwillingsschwestern verzückte Schreie aus. »Ist der groß geworden! Er ist ja ein richtiger Riese!«
Oskar starrte sie entsetzt an und brüllte los.
»O je«, murmelte ich und nahm ihn auf den Arm, flüsterte sanfte Worte in sein Ohr und streichelte ihm über den Kopf.
Milla schob den Buggy im Flur an die Seite. »Jetzt kommt erst mal mit hoch, bestimmt beruhigt er sich gleich wieder. Dein Gepäck können wir ja später noch aus dem Auto holen.«
Zögernd folgte ich den beiden die Treppe nach oben und hörte das fröhliche Krähen eines Babys. Oskar verstummte und lauschte. Ich kniff ihn zärtlich in die Wange. »Hörst du das Baby? Es ist noch kleiner als du!«
»Sie liegt im Wohnzimmer in der Babytrage«, klärte mich Milla auf und lief einen Schritt schneller.
Als ich nach München aufbrach, war meine Freundin schwanger gewesen; bisher hatte ich Millas knapp vier Monate alte Tochter nur via Skype bewundern dürfen. Ich freute mich darauf, das kleine Mädchen endlich mal auf den Arm zu nehmen.
Das weiße Schuhregal neben der Kokos-Fußmatte vor meiner Wohnungstür war neu. Ich würde es in den Flur meiner Wohnung stellen müssen, hier war es nicht erlaubt. Zögernd betrachtete ich die angelehnte Tür. Aus dem Inneren erklang abermals das leise Keckern von Millas Tochter.
»Ich hoffe, die Veränderungen nach der Renovierung gefallen dir!« Sina sah mich erwartungsfroh an.
Ich hob zaghaft die Schultern und trat durch die Tür. »Bestimmt!«
Milla eilte voraus, während ich Oskar, der sich auf meinem Arm wand, zu Boden ließ. Die Wohnung, das sah ich bereits jetzt, war viel heller als vorher. Rahul und ich hatten uns bei unserem Einzug an den Wänden mit Erdtönen ausgetobt und außerdem die Raufasertapeten im Wohnraum mit Teppichen behängt, die wir von seiner Familie zur Hochzeit geschenkt bekommen hatten. Ich hatte mit Sina besprochen, dass ich nur einen einzigen dieser Läufer behalten wollte: den größten von allen, der auf dem Holzboden im Wohnzimmer lag. Die Farbkombination aus hellen Gelb-, Grau- und Blautönen hatte mich von Anfang an fasziniert. Den Rest hatte meine Freundin verkauft, um damit die Renovierung zu finanzieren.
Natürlich plagte mich mein schlechtes Gewissen, dass sie so viel für mich getan hatte. Doch Sina hatte mir oft versichert, dass sie das gerne tat und es ihr Spaß machte, sodass ich sie schließlich frei walten ließ und einfach nur dankbar war. Sie arbeitete für einen russischen Unternehmer, der wegen Sina ein Geschäft für Interieur eröffnet hatte. Seine ebenfalls russischen Kundinnen nahmen Sinas Dienste – sie und Milla waren in Russland geboren – auch nur allzu gern in Anspruch, denn es gelang meiner Freundin mühelos, sich in die Vorstellungen ihrer Kundschaft hineinzudenken und dabei ihren eigenen Geschmack außen vor zu lassen.
Nur was die Teppiche von Rahuls Familie betraf, quälte mich weiterhin mein schlechtes Gewissen. Ich wusste nicht einmal, wie viel Geld Sina dafür erzielt hatte, denn sobald sie am Telefon davon anfing, hatte ich abgeblockt. Es kam mir vor wie ein Verrat, die Teppiche verkauft zu haben. Als würde ich aus Rahuls Tod Kapital schlagen wollen. Und doch hätte ich sie nicht behalten können, weil die Erinnerungen zu schmerzlich waren. Unsere Beziehung war am Ende gewesen, bevor er starb. Und nun kam er nicht nur nicht zurück, sondern war tot. Ließ mich noch einsamer zurück, als ich es ohnehin gewesen wäre.
Ich schüttelte meine Gedanken ab und sah mich weiter in der Diele um. Sie erstrahlte in hellem Grau. Sina hatte Rahuls Jacken von der Garderobe entfernt und in Absprache mit mir auch den Kleiderschrank ausgemistet und einen Großteil der Sachen einem Wohltätigkeitsverein gespendet. Nur seine Fußballkluft samt Fan-Schal und den Trainingsanzug, den ich mit nach München genommen hatte, besaß ich noch.
Zögernd ging ich weiter, und Oskar griff nach meiner Hand. Für ihn war hier alles neu.
Zuerst schauten wir ins Wohnzimmer. Der Teppich auf dem Fußboden lag noch immer da. Doch die Wandteppiche und Sitzkissen waren fort. Mein Blick fiel auf ein neues graues Cordsofa vor einer hellgelb gemusterten Tapete. Die restlichen Wände waren in einem zarten Ocker gehalten, passend zum Läufer.
Vermutlich sperrte ich den Mund auf, denn Sina stieß mich in die Seite und flüsterte: »Gefällt es dir?«
Ich nickte sprachlos und ging mit Oskar an der Hand zu der Babytrage, die auf dem Boden am Fenster stand, und aus der Milla in diesem Moment ihre Tochter hob. Das kahlköpfige Mädchen hatte ein entzückendes, zahnloses Lächeln. Auch Sina strahlte über das ganze Gesicht und nahm ihrer Schwester die Kleine ab, gab einen schmatzenden Kuss auf die Wange des pausbäckigen Babys. »Mein Sonnenschein«, hauchte sie.
Für Sina war es bestimmt nicht einfach, ihre Zwillingsschwester als glückliche Mutter zu erleben. Sie hatte vorher selbst drei Jahre lang erfolglos versucht, ein Kind zu bekommen. Darüber war ihre Ehe mit Nils zerbrochen. Die beiden hatten sich auf meiner Geburtstagsfeier kennengelernt. Nils war viele Jahre mein engster Freund gewesen, doch im letzten Jahr hatte er sich ein paar Dinge geleistet, die uns einander entfernt hatten.
Genau zu diesem Zeitpunkt liefen sich Sina und ihr neuer Traummann Elyas über den Weg. Er hatte eine zehnjährige Tochter, die Leila hieß und die er innig liebte. Seither hatte ich meine Freundin nicht mehr von einem Baby sprechen hören. Zwar konnte ich mir nicht vorstellen, dass ihr Kinderwunsch passé war. Aber Elyas und sie kannten sich kein Jahr, außerdem war meine Freundin noch nicht von Nils geschieden.
Andächtig betrachtete ich Millas Kleine. »Sie ist so hübsch«, flüsterte ich und streichelte ihr über das samtweiche Köpfchen.
Milla lächelte stolz und legte das Baby zurück in die Wippe. Das Baby gab keinen Mucks von sich, sondern zappelte nur mit Armen und Beinen, als sei das Leben ein einziges Vergnügen.
Ich sah mich weiter um und entdeckte nun doch ein paar Details, die an Rahul erinnerten. Die antike indische Truhe, auf der ich Bilderrahmen mit Fotos von ihm, mir und Oskar aufgestellt hatte, war noch da. Ich ging hinüber und besah mir unser Hochzeitsfoto. Ich trug einen farbenfrohen Sari, den Rahuls Schwester mitgebracht hatte, und der wie angegossen passte. Mein blondes Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten, ganz schlicht, so wie ich sie darum gebeten hatte. Indische Frauen werden bei ihrer Hochzeit oft so ausstaffiert, dass sie sich fast nicht mehr bewegen können. Ich hingegen hatte bis in die frühen Morgenstunden getanzt. Wir hatten im Rumors gefeiert, dem Hotel, in dem Rahul als Hotelkaufmann gearbeitet hatte. Anschließend hatten wir in einer der Suiten übernachtet.
Ich schluckte und verdrängte die Gedanken an diese schöne Zeit, stellte das Bild zurück und dankte Sina noch einmal. Ein paar Erinnerungsfotos waren erträglich. Ich konnte ja nicht so tun, als hätte es Rahul nie gegeben. Im Gegenteil – ich wollte ja am liebsten, dass das alles niemals geschehen wäre und ich endlich aus diesem Alptraum erwachte!
»Die Teppiche«, sagte ich zu Sina gewandt. »Wie viel haben sie eigentlich eingebracht?«
Meine Freundin warf ihrer Schwester einen Blick zu, dann sah sie mich feierlich an. »Halt dich fest. Neunzehntausendachthundert habe ich dafür bekommen.«
Ich fasste mir mit beiden Händen an die Brust. »Wie bitte?«
Sina nickte stolz. »Das waren Knüpfteppiche aus irgendeinem Gebirge an der pakistanischen Grenze. Ich habe sie schätzen lassen und danach einigen Kundinnen angeboten. Nachdem eine von ihnen einen gekauft hatte, brannten auch die anderen dafür.« Sina breitete die Hände aus. »Ich ziehe die Kosten für die Renovierung ab und überweise dir den Rest. Einverstanden?«
Fassungslos rang ich die Hände, bis Milla mich bei den Schultern nahm und sachte schüttelte. »Einfach danke sagen, Süße. Sie hat das gern gemacht. Und wenn jemand ein bisschen Glück verdient hat, dann du.«
Sie tätschelte mir die Wange und zog mich hinter sich her in Rahuls und mein ehemaliges Schlafzimmer, das sie in das Kinderzimmer umgewandelt hatte. Ich stieß einen spitzen Schrei aus, als ich die Wandmalerei entdeckte. Sie zeigte ein Piratenschiff, auf dem ein freundlicher Seeräuber mit Augenklappe stand. Außerdem gab es ein Äffchen und einen Papagei, bei dessen Anblick Oskar juchzte.
»Da!«, rief er und streckte den Finger aus.
Ich konnte mir denken, wessen Werk das gewesen war. Sinas Freund Elyas hatte ein Händchen für Wandmalereien. Auch Leilas Zimmer hatte er selbst gestaltet.
Auf dem Fußboden lag ein Spielteppich mit Straßenmuster, darauf stand eine Kiste mit Fahrzeugen. Sofort machte Oskar sich daran, sie auszuräumen.
Dankbar küsste ich Sina auf die Wange. »Ich fühle mich wie bei ›Zuhause im Glück‹«, hauchte ich.
Grinsend zog sie mich weiter hinter sich her. »Das liebe ich an meinem Beruf. Die leuchtenden Augen meiner Kundinnen zu sehen. Jetzt fehlt nur noch dein Reich. Die Küche hab ich gelassen, wie sie war.«
Und schon standen wir in dem Zimmer, das Rahul und ich zuletzt als Arbeitszimmer genutzt hatten. Die Wände waren in einem satten Taubenblau gehalten, das sich hübsch gegen die weiße Stuckdecke abhob. Der Schreibtisch vor dem Fenster war noch derselbe. Es handelte sich um ein Möbelstück aus den Siebzigern, das Sina aus der Konkursmasse eines mittelständischen Unternehmens gerettet hatte.
Ich war noch in den Anblick des nagelneuen Boxspringbettes vertieft, als es klingelte. Fragend sah ich meine Begleiterinnen an. »Erwarten wir jemanden?«
Sina begab sich wie selbstverständlich zur Tür. Ich folgte ihr. Hatte sie einen Überraschungsgast organisiert?
Doch auf der Fußmatte stand eine mir unbekannte, etwa sechzigjährige Frau in einem Blümchenkleid, das nicht zur Jahreszeit passte. Obendrein trug sie flauschige Hausschuhe an den Füßen. Das hochgesteckte Haar der Dame war in verschiedenen Rottönen gesträhnt. Der Pony war rundgeföhnt und landete in einer exakten Linie auf ihren dunkel nachgezogenen Augenbrauen. Die Lippen glänzten in einem hellen Rot. Auf dem Arm hielt sie eine Langhaarkatze mit zerknautschtem Gesicht. Ohne sich vorzustellen, sagte sie: »Endlich erwische ich Sie mal persönlich.«
Sina musterte sie. »Was gibt es denn?«
»Es geht um die Männer, die Ihre Wohnung renoviert haben.« Sie deutete mit dem Daumen auf die Tür neben meiner. »Ich bin Ihre Nachbarin. Diese Leute haben schon morgens vor sieben Uhr russische Volksweisen gespielt.«
Zögernd schob ich mich neben Sina. »Die Renovierung ist jetzt vorbei, und Ihre Nachbarin bin ich.« Ich hielt ihr die Hand entgegen. »Johanna Rathi, sehr erfreut.«
Ehe mein Gegenüber meinen Gruß erwidern konnte, umschlang Oskar von hinten mein Bein und biss in meinen Oberschenkel.
»Oskar!« Ich lachte erschrocken auf und zog ihn von mir fort. »Was machst du denn?«
Argwöhnisch betrachtete die Frau Oskars flammendroten Schopf und drehte sich so, als wollte sie ihre Katze vor ihm in Sicherheit bringen. »Also gehört Ihnen der Buggy unten im Hausflur? Das ist verboten. Genauso wie«, sie deutete auf das Schuhbord neben meiner Wohnungstür, »das hier.«
»Hören Sie«, schaltete Sina sich ein, »meine Freundin war acht Monate weg, sie ist gerade wiedergekommen. Lassen Sie sie doch erst mal ankommen.« Ihre Augen blitzten. »Sie werden bestimmt rein gar nichts von ihr hören. Schon gar keine russischen Volksweisen.«
»Das will ich hoffen.« Die Frau nickte nachdrücklich. »Sie müssen wissen, ich bin Schriftstellerin. Störungen hemmen meine Kreativität.«
Ich betrachtete sie. Sie war die erste Autorin, die ich persönlich kennenlernte.
Oskar reckte seine Hand in Richtung Katze. »Ei!«, hauchte er.
Die Frau trat einen Schritt zurück. Nun deutete sie abermals auf das Schuhregal. »Wie gesagt, das muss weg. Es geht da um Brandschutz.«
»Es wird schon nicht brennen«, entgegnete Sina. »Und jetzt entschuldigen Sie uns bitte. Wir heißen unsere Freundin gerade willkommen.« Ehe ich sie darin hindern konnte, machte sie der Frau die Tür vor der Nase zu.
Zu mir sagte sie mit einem übertriebenen Grinsen: »Vorsicht, wachsame Nachbarin.«
Unser Rundgang endete in der Küche. Hier hatten Rahul und ich oft zusammen indisch gekocht. Und nicht nur das. Wir hatten uns sogar mal auf dem Küchentisch geliebt. Kaum vorstellbar, wenn man bedachte, dass das gute Stück nur einen Durchmesser von knapp siebzig Zentimetern aufwies. Und dennoch. Wir hatten gelacht dabei, das Ding hatte unter unserem Gewicht geächzt, und ich hatte befürchtet, es könnte jede Sekunde zusammenbrechen. Aber das war vor Oskars Geburt geschehen. Als ich noch an eine gemeinsame Zukunft glaubte.
Ich fixierte das Paket, das jetzt auf dem Tisch lag. Augenblicklich sank mein Herz. Bevor ich Hals über Kopf in meine Heimatstadt aufgebrochen war, hatte ich Sina den Wohnungsschlüssel übergeben und sie gebeten, gelegentlich den Briefkasten zu leeren. Die Werbung hatte sie weggeworfen, aber es hatte auch ein paar Rechnungen gegeben, die ich online von München aus beglich. Viel von dem Papierkram, den Rahuls Tod nach sich gezogen hatte, hatte Papu mir abgenommen. Drei Wochen nach meiner Abreise nach München erzählte mir Sina dann, dass ein Paket eingetroffen sei. Der Absender war Rahul, er musste es vor seinem Abflug nach Punjab aufgegeben haben. Sie hatte mir angeboten, es mir nachzusenden, aber ich hatte gesagt, das hätte Zeit bis nach meiner Rückkehr.
Sina schob diese Reaktion auf meine Trauer. Aber der Grund war ein anderer. Nach der E-Mail, die Rahul mir geschickt hatte, erwartete ich keine romantische Liebeserklärung von ihm. Sondern eher die endgültige Bestätigung, dass er sich von mir trennen wollte. Vielleicht einen Abschiedsbrief und ein tröstliches Geschenk für Oskar. Ohne dass Rahul damals ahnen konnte, wie unumkehrbar dieser Abschied sein würde. Deshalb machte mir dieses Paket einfach nur Angst. Ich fühlte mich unfähig, mich mit dem Inhalt zu konfrontieren.
Entschlossen setzte ich Oskar auf dem Boden ab, nahm das Päckchen und trug es in mein neues Schlafzimmer, wo ich es hinter den Hängern mit Hosen und Röcken im Schrank verstaute.
Oskar lief mir hinterher und beobachtete mich dabei. »Weg?«
»Ja, weg«, antwortete ich und schloss den Schrank. »Alles zu seiner Zeit«, sagte ich.
Sina und Milla, die ebenfalls gefolgt waren, warfen sich einen nachdenklichen Blick zu, versuchten aber nicht, mich vom Gegenteil zu überzeugen.
Später räumten Sina und ich mein Gepäck aus dem Auto, während Milla auf die Kinder achtgab. Den Rest des Abends verbrachten wir im neuen Wohnzimmer. Milla fischte aus einem mitgebrachten Korb selbstgebackene Ingwer- und Orangenplätzchen, die sie auf einem Teller arrangierte. Obendrein befanden sich in ihrem Care-Paket, wie sie es nannte, verschiedene Teesorten, eine Packung Kaffee und eine große gehäkelte Decke, die wunderbar weich war und zur neuen Couch passte. Außerdem eine Flasche Sekt, um auf meine Ankunft anzustoßen.
Ich öffnete die Flasche mit einem Knall und goss uns einen kleinen Schluck ein, dankte meinen Freundinnen von Herzen für ihre riesige Unterstützung. Krampfhaft rang ich mir ein breites Lächeln ab, das sich kurz darauf in ein Tränenmeer verwandelte. Es tat mir schrecklich leid, aber ich konnte nichts dagegen tun. Sina nahm mir das Glas wieder ab und tätschelte meinen Rücken, sie und Milla sahen sich sorgenvoll an.
Aber dann war es Zeit, Oskar zu füttern und ins Bett zu bringen, und diese vertraute Routine beruhigte mich ein wenig.
Später bestellten wir Pizza wie in alten Zeiten, und meine Freundinnen versuchten, meine Gedanken zu zerstreuen, indem sie mir von einem neuen Stammgast in Millas Café erzählten, irgendeinem Wissenschaftler, den ich unbedingt kennenlernen sollte, weil er mich garantiert aufheitern würde.
Milla war mit einem Konditor verheiratet, der sich genauso altmodisch im Stil der fünfziger Jahre kleidete wie sie. Finja nahmen sie mit auf die Arbeit, wo das Kind angeblich im Wagen oder in der Wippe herumlag, ohne einen Mucks von sich zu geben. Offenbar war die Kleine genauso gechillt wie ihre Eltern.
Um kurz vor neun verabschiedete Milla sich und lud mich und Oskar für den kommenden Sonntag zum Frühstück in ihr Café ein – ihre Schwester und Elyas würden auch kommen. Nachdem sie gegangen war, machten Sina und ich es uns mit einer Tasse Tee auf dem Cordsofa bequem. Ich schlang Millas Häkeldecke um die Schultern und ließ noch einmal das neue Wohnzimmer auf mich wirken. Es war ein Wohlfühlraum daraus geworden. Hier würde ich mich gern aufhalten.
Plötzlich drang aus der Nachbarwohnung die Stimme meiner neuen Nachbarin herüber. Ziemlich laut.
»Pst«, machte Sina und legte den Finger an die Lippen. »Spricht sie Englisch?«
Ich stellte die Tasse auf dem Boden ab und spitzte die Ohren. Die Wand meines Wohnzimmers grenzte direkt an ihres.
»Yes, honey!«, vernahm ich. »I will! I promise!« Und nach einer Weile: »I love you too!«
Sina und ich warfen uns einen amüsierten Blick zu.
»Meinst du, sie zitiert aus einer Szene ihres aktuellen Romans?« Meine Freundin lachte.
»Falls sie überhaupt Liebesromane schreibt.« Ich griff nach einem von Millas Keksen und knabberte daran. »Ihr Auftritt wirkte nicht besonders romantisch.«
Ich sank zurück aufs Sofa und gähnte. Von der langen Fahrt und den neuen Eindrücken war ich total kaputt. Der warme Tee tat sein Übriges.
Sina strich mir über die Wange. »Am besten, du gehst ins Bett.« Nun legte sie den Kopf schräg. »Magst du morgen Abend zu uns nach Offenbach zum Essen kommen? Elyas kocht.«
Ich wollte Sina nicht vor den Kopf stoßen, aber ich war noch nicht bereit, Zeugin des perfekten Paarlebens anderer zu sein. »Ein andermal, okay?«, bat ich. »Ich muss erst mal hier ankommen. Außerdem muss ich einkaufen, und wir sehen uns dann ja auch am Sonntag zum Frühstück bei Milla.«
Zumindest dort würde ich hingehen. Das ganze Wochenende mit Oskar allein zu verbringen, wäre auch keine gute Idee.
Als wir uns an der Tür verabschiedeten, glaubte ich, hinter der Tür meiner Nachbarin ein Geräusch zu hören. Ob sie uns durch den Spion beobachtete? Mein Blick fiel auf das leere Schuhregal vor meiner Tür, ich zog es kurzerhand in die Diele. Um den Buggy unten im Hausflur würde ich mich morgen kümmern.
Auf einen Clinch mit der neuen Nachbarin konnte ich jedenfalls verzichten.