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Sterne, Zimt und Winterträume

(Winterknistern 3)

von Stina Jensen (Autor:in)
330 Seiten
Reihe: Winterknistern-Reihe, Band 3

Zusammenfassung

Ein Roman, traumhaft wie ein Blick zu den Sternen …

Nach einem Schicksalsschlag ist Johanna mit ihrem kleinen Sohn Oskar auf sich gestellt. Besonders der Wiedereinstieg in den Job macht ihr zu schaffen, und auch Oskar wehrt sich beharrlich gegen die Veränderung. Als Johanna den Astrophysiker Nick kennenlernt, spürt sie sofort eine Verbindung zu ihm. Vielleicht, weil er ihr die Sterne nahebringt und damit ihren verstorbenen Mann. Oder weil er mindestens genauso einsam zu sein scheint wie sie. Dabei könnten der rationale Denker und die chaotische Träumerin nicht verschiedener sein. Wie gut, dass beide nur eine Freundschaft wollen. Doch dann verrät Nick Johanna seinen sehnlichsten Traum …

Dies ist der dritte Teil der WINTERknistern-Reihe. Alle Romane können unabhängig voneinander gelesen werden.

Die WINTERknistern-Reihe: Plätzchen, Tee und Winterwünsche; Misteln, Schnee und Winterwunder; Sterne, Zimt und Winterträume; Muscheln, Gold und Winterglück; Vanille, Punsch und Winterzauber; Mondschein, Flan und Winterherzen; Engel, Blues und Winterfunkeln.

Lesen Sie auch die Insel- und Gipfelfarben-Reihe von Stina Jensen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


DIE WINTERKNISTERN-REIHE

Bisher erschienen:

1. Plätzchen, Tee und Winterwünsche

2. Misteln, Schnee und Winterwunder

3. Sterne, Zimt und Winterträume

4. Muscheln, Gold und Winterglück

5. Vanille, Punsch und Winterzauber

6. Mondschein, Flan und Winterherzen

Alle Titel sind in sich abgeschlossene Romane.

DAS BUCH

Liebe ist nicht berechenbar. Und die Zukunft liegt in den Sternen.

Nach einem Schicksalsschlag ist Johanna mit ihrem kleinen Sohn Oskar auf sich allein gestellt. Besonders der Wiedereinstieg in den Job macht ihr zu schaffen, und auch Oskar wehrt sich beharrlich gegen die Veränderung.

Als Johanna in der Vorweihnachtszeit den Astrophysiker Nick kennenlernt, spürt sie sofort eine Verbindung zu ihm. Vielleicht, weil er ihr die Sterne nahebringt und damit indirekt ihren verstorbenen Mann. Oder weil er insgeheim genauso einsam zu sein scheint wie sie. Dabei könnten der rationale Denker und die chaotische Träumerin nicht verschiedener sein.

Wie gut, dass beide nur eine Freundschaft wollen.

Doch dann verrät Nick Johanna seinen sehnlichsten Weihnachtswunsch …

1

MÄRZ

8. März

An: Johanna@rathifamily.com

Von: Rahul@rathifamily.com

Betreff: Ankunft

Liebe Johanna,

heute Morgen bin ich in Delhi angekommen, und was ich dir jetzt, in meinem Hotelzimmer sitzend, schreiben muss, fällt mir unendlich schwer. Aber ich muss es tun, denn ich habe dir versprochen, mich zu melden, und ich will nicht, dass du dich sorgst, wenn ich es nicht tue. Und vormachen will ich dir auch nichts.

Seitdem ich hier angekommen bin, habe ich einen Flashback nach dem anderen. Die vielen Menschen, der Verkehr, der Lärm, die Farben, die Gerüche. Ich bin wie betrunken von allem. Dazwischen all die Tiere (du denkst vielleicht an Hühner, und die gibt es. Aber auch viel anderes Getier – die Einzelheiten erspare ich dir lieber …), und ja, leider auch der Müll. Aber so ist es hier eben. Dieses Wilde, Ungezügelte ist es, was mir all die Jahre in Deutschland gefehlt hat. In denen ich mich wie gekappt gefühlt habe von meiner Identität.

Ich weiß, dass es dich viel gekostet hat, mir dein Einverständnis für diesen Trip ausgerechnet jetzt zu geben, wo Oskar noch so klein ist. Und ich habe eingesehen, dass es für dich niemals infrage kommen würde, mit mir und ihm für immer nach Indien zu gehen. Aber ich sitze jetzt hier, und mir wird klar: Hier gehöre ich hin. Hier bin ich geboren, hier soll eines Tages meine Asche verstreut werden. Was soll ich tun gegen diese starken Gefühle für mein Land? Die letzten Jahre habe ich mir vorgemacht, dass ich das alles hier gar nicht so dringend bräuchte. Dass ich es mir nur vor Heimweh so schön ausmalen würde, obwohl es das gar nicht ist. Aber das stimmt nicht.

Was soll ich tun?

Natürlich werde ich wie geplant in drei Wochen zurückkehren, um meinen endgültigen Umzug vorzubereiten. Lass uns eine gemeinsame Lösung für dieses Dilemma finden, ohne dass Oskar Schaden nehmen wird. Ich liebe euch – auch das weiß ich. Vielleicht denkst du ja doch noch mal darüber nach, hier zu leben? Es wäre noch immer mein größter Traum.

In drei Tagen fliege ich weiter nach Punjab zu meinen Eltern. Ich melde mich dann von dort wieder. Vorher werde ich euch noch etwas schicken, ich habe ein paar hübsche Sachen entdeckt.

Gib Oskar einen Kuss von mir! Bis bald.

Rahul

10. März

An: Rahul@rathifamily.com

Von: Johanna@rathifamily.com

Re: Ankunft

Lieber Rahul,

wie kannst du mir aus der Ferne eine solche Nachricht schreiben? Willst du mich wirklich verlassen, wenn ich mich nicht entschließen kann, dir in ein Land zu folgen, in dem ich völlig fremd bin? Ich habe dich nicht nach Indien fliegen lassen, damit du mir gleich am ersten Tag mitteilst, dass du dort bleiben möchtest.

Wir sind doch verheiratet, wir haben ein Kind!

Ich dachte, wir lieben uns. Aus tiefstem Herzen. Und dass diese Krise, die wir seit Oskars Geburt haben, wieder vorübergehen wird.

Dass diese Reise dir dabei helfen sollte, herauszufinden, was du wirklich willst – klar. Aber doch nicht so! Und nicht gleich am ersten Tag!

Vielleicht wird es ja schrecklich bei deinen Eltern, hast du daran schon gedacht? Vielleicht wirst du dich nach drei Wochen ungezügelter Wildheit sogar darauf freuen, wieder zurückzukehren? Allein schon wegen Oskar, er wird dir doch schrecklich fehlen, oder etwa nicht?!

Ich kann einfach nicht fassen, dass du ernsthaft in Erwägung ziehst, ihn und mich zu verlassen. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.

Johanna

13. März

An: Johanna@rathifamily.com

Von: Kavya.Rathi@gmail.in

Betreff: Rahul

Meine liebste Johanna,

ich sollte dir keine E-Mail schreiben, sondern dich anrufen. Aber ich bringe es nicht fertig. Meine Eltern genauso wenig.

Heute habe ich leider die schreckliche Aufgabe, dir eine unendlich traurige Nachricht zu übermitteln. Es geht um Rahul. Er ist gestern mit einer kleinmotorigen Maschine auf dem Weg von Neu-Delhi zu uns nach Punjab abgestürzt. Zusammen mit dreizehn Mitreisenden, dem Piloten und der Flugbegleiterin kam er ums Leben. Ich mag mir nicht vorstellen, was diese Zeilen in dir auslösen. Wahrscheinlich hast du schon auf ein Lebenszeichen von ihm gewartet. Wir alle stehen unter Schock. Es tut mir so leid.

Bitte ruf mich an, sowie du dich dazu in der Lage siehst. Sobald Rahuls Leichnam freigegeben wird, würden wir ihn gern hier in seinem Heimatland bestatten. Natürlich steht es dir als seine Ehefrau zu, auf die Überführung nach Deutschland zu bestehen. Doch bitte frage dich, was sein letzter Wille gewesen wäre. Ich hoffe, ihr habt irgendwann darüber gesprochen. Natürlich würden wir mit der Zeremonie warten, bis du und Oskar hier eingetroffen seid.

In unendlicher Trauer

Kavya

2

ACHT MONATE SPÄTER

»Hey, Johanna!« Rahul winkte mir vom Ende der belebten Straße aus zu. Dann legte er die Hände an den Mund. »Wann kommst du denn endlich?«

Ich wollte ja. Aber es schien unmöglich. Zwischen uns waren hunderte von Menschen unterwegs. Einige zu Fuß, andere mit dem Fahrrad oder einem Karren. Das Stimmengewirr der Leute klingelte in meinen Ohren.

Eine Rikscha fuhr an mir vorüber, der dunkelhäutige Fahrer trug einen roten Turban. Ich versuchte aufzuspringen, doch jemand stieß mich herunter. Es gab schon einen Passagier. Oskar. Wo brachte der Chauffeur ihn denn hin?

Wieder sah ich zu Rahul. Ich musste unbedingt zu meinem Mann. Er wollte mir etwas Wichtiges mitteilen!

»Hier!«, rief Rahul nun von einer anderen Stelle. Dabei hatte ich mich endlich ein paar Meter voran gearbeitet. Ich watete durch die Menge, als klebten meine Füße am Boden.

Mit einem Schreck fuhr ich aus dem Schlaf. Mein Großvater hatte die Tür des Gästezimmers mit einem Knarzen geöffnet. »Guten Morgen, ihr zwei, Zeit zum Aufstehen«, brummte Papu. »Es ist schon halb acht.«

Einen Protest murmelnd zog ich die Bettdecke enger um mich. Warum musste er Oskar und mich immer so früh wecken? Und mich damit aus diesem Traum holen, in dem ich fast mit Rahul geredet hätte.

Seit Monaten träumte ich das Gleiche. Entweder stand mein Mann inmitten einer Menschenmenge, so wie heute, und ich kam nicht an ihn heran. Oder er rief von der Spitze eines Berges nach mir, dessen Höhe unüberwindbar erschien. Manchmal standen wir auch in tiefem Morast, in dem wir zu versinken drohten. Und jedes Mal weckte mich irgendetwas anderes. Es kam einfach nicht dazu, dass Rahul und ich uns aussprachen!

Ich schaute zur Seite. Mein siebzehn Monate alter Sohn lag in seinem Gitterbettchen und rührte sich nicht. Seit ich vor acht Monaten bei Papu eingezogen war, erstaunte es mich jeden Tag aufs Neue, dass dieses Baby nach dem Tod seines Vaters begonnen hatte, durchzuschlafen. Als hätte es gespürt, dass es mir neben meiner Trauer nicht eine einzige schlaflose Nacht mehr zumuten könnte. Dafür liebte ich unser Kind nur noch mehr.

Gerade zog Papu die Vorhänge beiseite und ließ Licht ins Zimmer, brachte damit die Rumpelkammer zum Vorschein, in der Oskar und ich schliefen. Mein ehemaliges Kinderzimmer in der Wohnung meiner Großeltern in der Leopoldstraße in München hatte sich nach meinem Auszug vor ein paar Jahren zur Abstellkammer entwickelt. Hier hatten ausrangierte Möbelstücke und abgelegte Klamotten Platz gefunden. Dazwischen tummelten sich eine halb verwelkte Yuccapalme, eine brüchige Küchenlampe aus Korb und drei Kisten voller Bücher.

Mamu hätte wahrscheinlich darauf bestanden, alles zu beseitigen und Platz zu schaffen. Doch sie war Anfang des Jahres verstorben. Der Verlust meiner Großmutter nagte auch an mir, obwohl es irgendwann absehbar gewesen war, dass es mit ihr zu Ende ging. Auf den Punkt gebracht: Es war ein beschissenes Jahr. Und es konnte nur besser werden.

Nach Kavyas E-Mail vor acht Monaten hatte ich stundenlang fassungslos auf ihre Worte gestarrt. Las die Nachricht wieder und wieder, in der irrsinnigen Hoffnung, ich könnte mich täuschen. Oder träumen. Und irgendwann aufwachen. Doch das war nicht geschehen.

In meinem Schock rief ich als erstes Papu an und sagte ihm, dass ich mit Oskar zu ihm kommen würde. Und dann schrieb ich Kavya, dass sie und ihre Eltern Rahul seinem Wunsch gemäß in seinem Heimatland bestatten sollten. Ohne mein Beisein.

Wie hätte ich an der Zeremonie teilnehmen können? Mir fehlte zu alledem die Kraft. Und ich hatte ein Baby. Besonders die Nachricht, die Rahul mir so kurz vor seinem Tod geschickt hatte, lähmte mich.

Kavya und ihre Eltern hatten Bilder von Rahuls Beisetzung geschickt. Oder besser gesagt, von der Verbrennung seiner menschlichen Überreste. Und davon, wie sie die Asche über den örtlichen Fluss hinweg in alle Winde verstreut hatten. Damit seine Seele, wenn sie wiedergeboren wurde, nicht an einen festen Ort gebunden war.

Der Gedanke an Wiedergeburt war wenig tröstlich für mich. Es würde mir nichts nützen, wenn Rahul an irgendeinem anderen Ort dieser Welt je wiedergeboren werden sollte. Außerdem hatte er ja ohnehin nicht mehr bei mir sein wollen!

Als ich mit Oskar von Frankfurt hierher geflüchtet war, hatte Papu uns stumm in die Arme geschlossen, und ich hatte mich kurz darauf auf das Bett in meinem alten Zimmer fallen lassen. Drei Tage und Nächte hatte es gedauert, ehe ich wenigstens wieder in der Lage war, mich meinen alltäglichen Aufgaben als Mutter zu stellen. Der Abschied von Rahul und der einstigen Hoffnung, dass doch noch alles gut werden könnte und wir trotz unserer Krise den Rest unseres Lebens miteinander verbringen würden, verlangte mir alles ab. Es ist schlimm, einen geliebten Menschen zu verlieren. Aber es ist noch schlimmer, einen geliebten Menschen zu verlieren, von dem man weiß, dass er einen eigentlich nicht mehr wollte.

Dass dies so war, wusste nur ich. Bisher war ich noch nicht in der Lage gewesen, auch nur mit einer Menschenseele über Rahuls Trennungsabsichten zu sprechen.

Auch Papu hatte mächtig damit zu kämpfen, dass Mamu und dann auch noch mein Mann gestorben waren. Meinen Schmerz zu erleben machte es für ihn nicht leichter – stehen wir uns doch sehr nah, denn als Kleinkind hatte ich meine Eltern verloren und war bei meinen Großeltern aufgewachsen. Irgendwie schien sich dieses Schicksal von Verlusten durch mein Leben zu ziehen. Wusste der Teufel, warum.

Papu warf mir von der Zimmertür einen mahnenden Blick zu. »Komm dann bitte, ja? Frühstück ist fertig.« Damit verließ er den Raum.

Mein Großvater klammerte sich an einen normalen Tagesablauf, und dazu gehörte, dass wir mit ihm frühstückten. Da ließ er nicht mit sich verhandeln. Wenn er nicht gewesen wäre, wäre ich wahrscheinlich schon verhungert. Noch immer bekam ich kaum etwas hinunter. Und wenn, dann knabberte ich so lange an einer Scheibe Brot, bis er die Geduld verlor und den Tisch abräumte. Am liebsten hätte er es gesehen, wenn ich mindestens einmal pro Woche ein Steak verdrückt hätte, so wie er es tat. Einmal hatte er Essen bei einem indischen Restaurant bestellt, aber allein der Geruch nach Curry, Koriander und Zimt hatte mir die Kehle zugeschnürt.

Ich richtete mich auf und spähte wieder hinüber zu Oskar, der sich zu räkeln begann.

»Ma-ma!« Er reckte im Gitterbettchen die Arme nach mir. Das feuerrote Haar stand ihm vom Köpfchen ab, seine schwarzen Augen funkelten erwartungsfroh. Er sah so süß aus. Mein Herz zog sich zusammen.

Ich schob die Beine aus dem Bett und schlang mir die Haare im Nacken zusammen, tappte hinüber zu meinem Söhnchen, der auf seinen kurzen Beinen aufgeregt auf und ab wippte. Er konnte noch nicht lange laufen. Doch seit er es vor zwei Monaten endlich gelernt hatte, war er nicht mehr zu stoppen. Nichts konnte man schnell genug vor ihm in Sicherheit bringen.

Ich hob meinen Kleinen aus dem Bett und gab ihm einen zärtlichen Kuss. »Na, gut geschlafen?«, murmelte ich in sein Haar.

»Pa!«, rief Oskar und zeigte zur Zimmertür. Damit meinte er seinen Uropa.

Ich selbst hatte meine Großeltern nie Oma und Opa genannt. Bei meiner Geburt waren sie erst knapp über vierzig gewesen und fühlten sich viel zu jung, um so gerufen zu werden.

Nach dem Wickeln zog ich Oskar eine Latzhose und den senfgelben Pulli mit Eisbäraufdruck an, den Doris, Papus Haushaltshilfe, ihm mitgebracht hatte. Sie kam zweimal pro Woche, und das schon seit Jahren, auch als Mamu noch gelebt hatte. Manchmal passte sie auf Oskar auf, wenn Papu mich dazu überreden konnte, mit ihm ins Theater zu gehen. »Irgendetwas muss ich doch davon haben, dass du hier bist«, sagte er dann, und ich konnte ihm den Wunsch nicht abschlagen, machte mich sogar ein wenig schick. Doch heute schlüpfte ich in mein bequemes Joggingoutfit wie nahezu jeden Tag, an dem ich nicht das Haus verließ. An manchen Tagen war es auch der abgelegte Trainingsanzug von Rahul, den ich bei meiner Abfahrt getragen hatte. Ich hatte bei aller Ambivalenz meiner Gefühle etwas dabeihaben wollen, das nach ihm roch. Um mich dann und wann der Illusion hinzugeben, dass er noch da wäre.

In der Küche hielt Papu den Kopf über die Tageszeitung gebeugt und schlürfte geräuschvoll den Kaffee aus seiner Tasse.

»Na endlich«, brummte er und tippte auf die Überschrift eines Artikels. »Die Krippenplätze sind knapp«, las er und sah auf. »Du hast aber eine feste Zusage, oder?«

Ich setzte Oskar in den Hochstuhl und gab ihm ein Butterhörnchen in die Hand, in das er augenblicklich hineinbiss.

Ich hockte mich im Schneidersitz auf die Küchenbank und goss mir einen Kaffee ein. »Klar. Das weißt du doch. Es ist eine private Einrichtung. Nichts Staatliches.«

Papus Bemerkung erinnerte mich schmerzlich daran, dass ich demnächst nach Frankfurt zurückkehren musste. Meine Elternzeit war bald vorüber. Am zweiten Dezember erwartete man mich an meinem alten Arbeitsplatz in einer renommierten Rechtsanwaltskanzlei zurück, wo ich zuletzt als Partnersekretärin gearbeitet hatte. Der Gedanke daran versetzte mich in Unruhe. Nicht nur aufgrund der Tatsache, dass ich mit Oskar in die Wohnung würde zurückkehren müssen, in der wir zuletzt zu dritt gelebt hatten. Sondern auch, weil ich meinen Sohn mehrere Stunden am Tag in fremde Obhut würde geben müssen. Zwei Wochen Eingewöhnung wären besser gewesen, das hatte auch die Leiterin der Krippe gesagt. Ich hatte der Dame meine Situation erklärt, und sie hatten eine Ausnahme gemacht.

Dabei hatte Oskar in den letzten Monaten kaum andere Menschen als Papu und mich um sich gehabt – wenn man von Ulli, Papus bestem Freund, oder Doris einmal absah. Außer bei den Skype-Sessions mit meinen Frankfurter Freundinnen Milla und Sina hatte ich kaum Kontakt zur Außenwelt. Die Zwillingsschwestern waren derzeit der einzige Lichtblick, wenn ich an meine Rückkehr nach Frankfurt dachte.

Bei einem dieser virtuellen Treffen vor ein paar Wochen hatte ich Sina darum gebeten, meine Wohnung umzugestalten, um mir den Schmerz zu ersparen, alles so vorzufinden, wie es zuletzt gewesen war. Ich wollte einen Neustart, und nichts, das mich in die Vergangenheit katapultiert hätte. Sina war genau die Richtige dafür. Sie besaß ein erstklassiges Händchen, was Inneneinrichtungen betraf und hatte ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht.

»Hier.« Papu legte mir unaufgefordert eine Semmel auf den Teller. »Du musst etwas essen, Kind.«

Oskars Butterhörnchen war schon halb aufgegessen. Krümel verteilten sich über seinen Platz und den Fußboden. Ein paar schimmerten in seinen Haaren. Ich stupste ihn auf die Nasenspitze. »Du kleines Krümelmonster.«

Dann schnitt ich das Brötchen, das Papu mir auf den Teller gelegt hatte, in zwei Hälften, bestrich eine davon mit Butter und nahm einen Bissen. Mehr als eine halbe Semmel würde ich nicht runter bekommen. Aber damit gab Papu sich inzwischen zufrieden.

Während ich kaute, lauschte ich seinem Gemurmel beim Zeitunglesen. Oft las er aus den Kleinanzeigen vor, wie heute, wo er sich darüber wunderte, wer in Gottes Namen am Nikolausabend für einen Fake-Nikolaus einhundertfünfzig Euro hinblätterte, damit dieser ein paar Kinder verschreckte.

»Ach was«, kommentierte ich und nahm einen Schluck Kaffee. »Die Kids von heute haben bestimmt keine Angst mehr vorm Nikolaus, die freuen sich.«

Papu winkte ab und war schon beim nächsten Artikel. Er hatte die Angewohnheit, alles Gelesene zu kommentieren, sodass ich, seitdem ich hier eingezogen war, immer auf dem neuesten Stand des Weltgeschehens war. Nach Oskars Geburt dagegen war ich selten dazu gekommen, mich mit Politik oder etwas anderem als dem Baby zu beschäftigen. An manchen Tagen hatte ich es erst nachmittags aus dem Schlafanzug geschafft, weil Oskar mich auf Trab hielt. Ich war einfach überfordert und oft so erschöpft vom dauernden Herumtragen des Babys, dass ich kaum Körperkontakt darüber hinaus ertrug. Was auch damit zusammenhing, dass ich mein Kind stillte, und sobald Rahul meine Brüste berührte, schoss Milch ein und mein Busen begann zu tropfen. Das war nicht besonders erotisch, wenn man mich fragte. Ob Rahul sich zu sehr von mir zurückgewiesen gefühlt hatte? Aber irgendwann hätte sich das doch bestimmt wieder eingerenkt. Kein Grund, alles hinzuschmeißen!

Wie sehr ich darauf gehofft hatte, nach Rahuls Rückkehr aus Indien noch mal neu mit ihm anzufangen. Ich hatte wieder die alte werden wollen. Die energiegeladene, unbeschwerte Johanna. Vielleicht hätte ihn das ja umgestimmt?

Mein Magen verkrampfte sich. »Ich kann nicht mehr«, sagte ich nach nur zwei Bissen und legte die Semmelhälfte auf dem Teller ab.

Papu schnalzte kopfschüttelnd mit der Zunge.

Milla und Sina meinten, mein Appetit würde schon irgendwann zurückkehren. Genauso mein Sinn für hübsche Klamotten, den ich mal gehabt hatte. Wahrscheinlich spätestens, wenn der Arbeitsalltag in der Kanzlei mich wiederhatte.

Oskar stopfte sich das letzte Stück des Hörnchens in den Mund, zeigte auf die angebissene Semmel und schmatzte. Ich lächelte gequält und überließ ihm mein Frühstück.

Kurze Zeit später waren mein Sohn und ich allein. Papu half, seit er Rentner war, an einigen Tagen ehrenamtlich bei der Nachbarschaftshilfe, damit ihm nicht die Decke auf den Kopf fiel, denn außer einzukaufen oder wie in diesen Tagen mit Oskar spazieren zu gehen, musste er sich nicht um vieles kümmern. Seine Perle Doris wusch und putzte, brachte oft Eintöpfe und Aufläufe vorbei. Ich hatte in dieser Wohnung eigentlich auch nichts anderes zu tun, als ein bisschen aufzuräumen, gelegentlich zu kochen und mich um meinen Sohn zu kümmern. Doch selbst damit war ich oft überfordert. Meine Traurigkeit überschattete alles. Natürlich deuteten alle diese Traurigkeit als echte Trauer um meinen geliebten Mann. Und selbstverständlich schmerzte mich sein Tod zutiefst, wie auch der Gedanke, dass Oskar ohne seinen Vater aufwachsen würde. Doch gleichzeitig spürte ich auch eine kaum zu bändigende Wut auf Rahuls Trennungsgedanken, die es mir so schwermachten, uneingeschränkt um ihn zu trauern und mit seinem Tod abzuschließen.

Um Oskar nicht mit meinen zwiespältigen Gefühlen anzustecken, schaltete ich leider oft den Fernseher ein. Auf den Streaming-Kanälen gab es Programme für die Allerkleinsten. Und ich betäubte mich auch selbst in dieser Zeit gern mit Fernsehen, wenn Oskar schlief.

Leider kam aber auch der blutigste Thriller oft nicht ohne Liebesgeschichte aus. Wenn man sich allein und verlassen fühlt – so viel kann ich zumindest sagen – scheint ohnehin die ganze Welt voller glücklicher Paare zu sein.

Auch heute setzte ich Oskar vor eine Kindersendung. Wie gut, dass er von alledem nichts ahnte. Genauso wenig wusste er davon, dass die Tage bei Papu nun gezählt waren. Genau genommen waren es noch fünf. Fünf Tage in Sicherheit.

Was Oskar und mich danach erwartete, erschien mir wie ein riesiges schwarzes Loch, das mich zu verschlucken drohte.

3

»Hast du auch alles?«

Doris rang die Hände. Sie, Papu und sein Freund Ulli standen neben meinem Auto vor dem Haus Spalier. Die drei hatten mich bereits dreimal geherzt und mir versichert, ich würde das schaffen. Aber ihre Gesichter drückten das Gegenteil aus.

»Weihnachten kommst du ja schon wieder zurück«, tröstete Papu mich und nahm mich noch einmal in den Arm. »Das ist schon in einem Monat.«

Der Verkehr auf der Leopoldstraße floss an uns vorüber. Einige Häuser und Vorgärten der nachbarschaftlichen Umgebung waren schon seit einigen Tagen weihnachtlich mit leuchtenden Sternen oder Weihnachtsmännern geschmückt, die sich an Fassaden entlanghangelten. Ansonsten erinnerte aber nichts daran, dass das Fest der Liebe so bald schon vor der Tür stand. Oskar saß angeschnallt in seinem Kindersitz auf der Rückbank meines alten Peugeot. Mein Sohn war es nicht gewohnt, mit dem Auto zu fahren und wand sich unter den engen Gurten, reckte die Ärmchen nach mir. In seinen Augen schimmerten empörte Tränen.

Vielleicht spürte er, wie viel Angst ich hatte, und wenn ich ehrlich bin, wäre es mir am liebsten gewesen, Papu hätte mich begleitet. Aber die Fahrt war lang, und irgendwann mussten wir uns schließlich trennen. Ich hatte außerdem mit Milla und Sina vereinbart, sie von unterwegs anzurufen, wenn ich meine Ankunftszeit absehen konnte. Sie wollten in meiner Wohnung auf mich warten. Und wenn Sina ganze Arbeit geleistet hatte, würde ich die Räume kaum wiedererkennen, und nichts dort würde mich an die gemeinsame Zeit mit Rahul erinnern. Also stieg ich endlich ein, winkte ein letztes Mal und fuhr mit einem dicken Kloß im Hals davon.

Irgendwann begann es unterwegs zu regnen, ich schaltete die Scheibenwischer ein. Im Übergang zwischen Bayern und Hessen veränderte sich mehr und mehr die Landschaft, und meine Angst wuchs. War es ein Fehler, schon zurückzukehren? War es für alles noch zu früh? Würde ich mein Leben hier meistern können? Alleinerziehend. Als Witwe.

Um kurz nach vier traf ich in Frankfurt ein. Ich fuhr ein paarmal um den Block, bis ich endlich einen Parkplatz ergatterte. Die Straße war mit weihnachtlichen Girlanden überspannt, deren Licht auf dem feuchten Asphalt und in den Schaufensterscheiben reflektierte. Im Fenster der benachbarten Apotheke wünschte man in leuchtenden Lettern »Merry christmas«. Klopfenden Herzens lud ich den Buggy aus dem Kofferraum, hievte Oskar, der irgendwann eingeschlafen war, in die Karre. Und dann stand ich vor dem Altbau, den ich vor acht Monaten Hals über Kopf verlassen hatte, und wäre am liebsten wieder nach München umgekehrt.

Mit zitternden Fingern steckte ich den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. Der vertraute Geruch des Mietshauses schlug mir entgegen. Eine Mischung aus Keller und Staub, dazwischen waberte der Duft nach Waffeln. Aus dem dritten Stock schallten die Stimmen und Schritte von Milla und Sina, die mich vom Fenster aus gesehen haben mussten und jetzt zu mir nach unten kamen.

Schon tauchten meine beiden Freundinnen auf der Treppe auf, und wir fielen uns in die Arme. Die zwei hielten mich umklammert, bis ich nach Luft japste. Ich konnte nicht anders, als zu lachen. »Ich habe euch auch vermisst.«

Bei Oskars Anblick stießen die Zwillingsschwestern verzückte Schreie aus. »Ist der groß geworden! Er ist ja ein richtiger Riese!«

Oskar starrte sie entsetzt an und brüllte los.

»O je«, murmelte ich und nahm ihn auf den Arm, flüsterte sanfte Worte in sein Ohr und streichelte ihm über den Kopf.

Milla schob den Buggy im Flur an die Seite. »Jetzt kommt erst mal mit hoch, bestimmt beruhigt er sich gleich wieder. Dein Gepäck können wir ja später noch aus dem Auto holen.«

Zögernd folgte ich den beiden die Treppe nach oben und hörte das fröhliche Krähen eines Babys. Oskar verstummte und lauschte. Ich kniff ihn zärtlich in die Wange. »Hörst du das Baby? Es ist noch kleiner als du!«

»Sie liegt im Wohnzimmer in der Babytrage«, klärte mich Milla auf und lief einen Schritt schneller.

Als ich nach München aufbrach, war meine Freundin schwanger gewesen; bisher hatte ich Millas knapp vier Monate alte Tochter nur via Skype bewundern dürfen. Ich freute mich darauf, das kleine Mädchen endlich mal auf den Arm zu nehmen.

Das weiße Schuhregal neben der Kokos-Fußmatte vor meiner Wohnungstür war neu. Ich würde es in den Flur meiner Wohnung stellen müssen, hier war es nicht erlaubt. Zögernd betrachtete ich die angelehnte Tür. Aus dem Inneren erklang abermals das leise Keckern von Millas Tochter.

»Ich hoffe, die Veränderungen nach der Renovierung gefallen dir!« Sina sah mich erwartungsfroh an.

Ich hob zaghaft die Schultern und trat durch die Tür. »Bestimmt!«

Milla eilte voraus, während ich Oskar, der sich auf meinem Arm wand, zu Boden ließ. Die Wohnung, das sah ich bereits jetzt, war viel heller als vorher. Rahul und ich hatten uns bei unserem Einzug an den Wänden mit Erdtönen ausgetobt und außerdem die Raufasertapeten im Wohnraum mit Teppichen behängt, die wir von seiner Familie zur Hochzeit geschenkt bekommen hatten. Ich hatte mit Sina besprochen, dass ich nur einen einzigen dieser Läufer behalten wollte: den größten von allen, der auf dem Holzboden im Wohnzimmer lag. Die Farbkombination aus hellen Gelb-, Grau- und Blautönen hatte mich von Anfang an fasziniert. Den Rest hatte meine Freundin verkauft, um damit die Renovierung zu finanzieren.

Natürlich plagte mich mein schlechtes Gewissen, dass sie so viel für mich getan hatte. Doch Sina hatte mir oft versichert, dass sie das gerne tat und es ihr Spaß machte, sodass ich sie schließlich frei walten ließ und einfach nur dankbar war. Sie arbeitete für einen russischen Unternehmer, der wegen Sina ein Geschäft für Interieur eröffnet hatte. Seine ebenfalls russischen Kundinnen nahmen Sinas Dienste – sie und Milla waren in Russland geboren – auch nur allzu gern in Anspruch, denn es gelang meiner Freundin mühelos, sich in die Vorstellungen ihrer Kundschaft hineinzudenken und dabei ihren eigenen Geschmack außen vor zu lassen.

Nur was die Teppiche von Rahuls Familie betraf, quälte mich weiterhin mein schlechtes Gewissen. Ich wusste nicht einmal, wie viel Geld Sina dafür erzielt hatte, denn sobald sie am Telefon davon anfing, hatte ich abgeblockt. Es kam mir vor wie ein Verrat, die Teppiche verkauft zu haben. Als würde ich aus Rahuls Tod Kapital schlagen wollen. Und doch hätte ich sie nicht behalten können, weil die Erinnerungen zu schmerzlich waren. Unsere Beziehung war am Ende gewesen, bevor er starb. Und nun kam er nicht nur nicht zurück, sondern war tot. Ließ mich noch einsamer zurück, als ich es ohnehin gewesen wäre.

Ich schüttelte meine Gedanken ab und sah mich weiter in der Diele um. Sie erstrahlte in hellem Grau. Sina hatte Rahuls Jacken von der Garderobe entfernt und in Absprache mit mir auch den Kleiderschrank ausgemistet und einen Großteil der Sachen einem Wohltätigkeitsverein gespendet. Nur seine Fußballkluft samt Fan-Schal und den Trainingsanzug, den ich mit nach München genommen hatte, besaß ich noch.

Zögernd ging ich weiter, und Oskar griff nach meiner Hand. Für ihn war hier alles neu.

Zuerst schauten wir ins Wohnzimmer. Der Teppich auf dem Fußboden lag noch immer da. Doch die Wandteppiche und Sitzkissen waren fort. Mein Blick fiel auf ein neues graues Cordsofa vor einer hellgelb gemusterten Tapete. Die restlichen Wände waren in einem zarten Ocker gehalten, passend zum Läufer.

Vermutlich sperrte ich den Mund auf, denn Sina stieß mich in die Seite und flüsterte: »Gefällt es dir?«

Ich nickte sprachlos und ging mit Oskar an der Hand zu der Babytrage, die auf dem Boden am Fenster stand, und aus der Milla in diesem Moment ihre Tochter hob. Das kahlköpfige Mädchen hatte ein entzückendes, zahnloses Lächeln. Auch Sina strahlte über das ganze Gesicht und nahm ihrer Schwester die Kleine ab, gab einen schmatzenden Kuss auf die Wange des pausbäckigen Babys. »Mein Sonnenschein«, hauchte sie.

Für Sina war es bestimmt nicht einfach, ihre Zwillingsschwester als glückliche Mutter zu erleben. Sie hatte vorher selbst drei Jahre lang erfolglos versucht, ein Kind zu bekommen. Darüber war ihre Ehe mit Nils zerbrochen. Die beiden hatten sich auf meiner Geburtstagsfeier kennengelernt. Nils war viele Jahre mein engster Freund gewesen, doch im letzten Jahr hatte er sich ein paar Dinge geleistet, die uns einander entfernt hatten.

Genau zu diesem Zeitpunkt liefen sich Sina und ihr neuer Traummann Elyas über den Weg. Er hatte eine zehnjährige Tochter, die Leila hieß und die er innig liebte. Seither hatte ich meine Freundin nicht mehr von einem Baby sprechen hören. Zwar konnte ich mir nicht vorstellen, dass ihr Kinderwunsch passé war. Aber Elyas und sie kannten sich kein Jahr, außerdem war meine Freundin noch nicht von Nils geschieden.

Andächtig betrachtete ich Millas Kleine. »Sie ist so hübsch«, flüsterte ich und streichelte ihr über das samtweiche Köpfchen.

Milla lächelte stolz und legte das Baby zurück in die Wippe. Das Baby gab keinen Mucks von sich, sondern zappelte nur mit Armen und Beinen, als sei das Leben ein einziges Vergnügen.

Ich sah mich weiter um und entdeckte nun doch ein paar Details, die an Rahul erinnerten. Die antike indische Truhe, auf der ich Bilderrahmen mit Fotos von ihm, mir und Oskar aufgestellt hatte, war noch da. Ich ging hinüber und besah mir unser Hochzeitsfoto. Ich trug einen farbenfrohen Sari, den Rahuls Schwester mitgebracht hatte, und der wie angegossen passte. Mein blondes Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten, ganz schlicht, so wie ich sie darum gebeten hatte. Indische Frauen werden bei ihrer Hochzeit oft so ausstaffiert, dass sie sich fast nicht mehr bewegen können. Ich hingegen hatte bis in die frühen Morgenstunden getanzt. Wir hatten im Rumors gefeiert, dem Hotel, in dem Rahul als Hotelkaufmann gearbeitet hatte. Anschließend hatten wir in einer der Suiten übernachtet.

Ich schluckte und verdrängte die Gedanken an diese schöne Zeit, stellte das Bild zurück und dankte Sina noch einmal. Ein paar Erinnerungsfotos waren erträglich. Ich konnte ja nicht so tun, als hätte es Rahul nie gegeben. Im Gegenteil – ich wollte ja am liebsten, dass das alles niemals geschehen wäre und ich endlich aus diesem Alptraum erwachte!

»Die Teppiche«, sagte ich zu Sina gewandt. »Wie viel haben sie eigentlich eingebracht?«

Meine Freundin warf ihrer Schwester einen Blick zu, dann sah sie mich feierlich an. »Halt dich fest. Neunzehntausendachthundert habe ich dafür bekommen.«

Ich fasste mir mit beiden Händen an die Brust. »Wie bitte?«

Sina nickte stolz. »Das waren Knüpfteppiche aus irgendeinem Gebirge an der pakistanischen Grenze. Ich habe sie schätzen lassen und danach einigen Kundinnen angeboten. Nachdem eine von ihnen einen gekauft hatte, brannten auch die anderen dafür.« Sina breitete die Hände aus. »Ich ziehe die Kosten für die Renovierung ab und überweise dir den Rest. Einverstanden?«

Fassungslos rang ich die Hände, bis Milla mich bei den Schultern nahm und sachte schüttelte. »Einfach danke sagen, Süße. Sie hat das gern gemacht. Und wenn jemand ein bisschen Glück verdient hat, dann du.«

Sie tätschelte mir die Wange und zog mich hinter sich her in Rahuls und mein ehemaliges Schlafzimmer, das sie in das Kinderzimmer umgewandelt hatte. Ich stieß einen spitzen Schrei aus, als ich die Wandmalerei entdeckte. Sie zeigte ein Piratenschiff, auf dem ein freundlicher Seeräuber mit Augenklappe stand. Außerdem gab es ein Äffchen und einen Papagei, bei dessen Anblick Oskar juchzte.

»Da!«, rief er und streckte den Finger aus.

Ich konnte mir denken, wessen Werk das gewesen war. Sinas Freund Elyas hatte ein Händchen für Wandmalereien. Auch Leilas Zimmer hatte er selbst gestaltet.

Auf dem Fußboden lag ein Spielteppich mit Straßenmuster, darauf stand eine Kiste mit Fahrzeugen. Sofort machte Oskar sich daran, sie auszuräumen.

Dankbar küsste ich Sina auf die Wange. »Ich fühle mich wie bei ›Zuhause im Glück‹«, hauchte ich.

Grinsend zog sie mich weiter hinter sich her. »Das liebe ich an meinem Beruf. Die leuchtenden Augen meiner Kundinnen zu sehen. Jetzt fehlt nur noch dein Reich. Die Küche hab ich gelassen, wie sie war.«

Und schon standen wir in dem Zimmer, das Rahul und ich zuletzt als Arbeitszimmer genutzt hatten. Die Wände waren in einem satten Taubenblau gehalten, das sich hübsch gegen die weiße Stuckdecke abhob. Der Schreibtisch vor dem Fenster war noch derselbe. Es handelte sich um ein Möbelstück aus den Siebzigern, das Sina aus der Konkursmasse eines mittelständischen Unternehmens gerettet hatte.

Ich war noch in den Anblick des nagelneuen Boxspringbettes vertieft, als es klingelte. Fragend sah ich meine Begleiterinnen an. »Erwarten wir jemanden?«

Sina begab sich wie selbstverständlich zur Tür. Ich folgte ihr. Hatte sie einen Überraschungsgast organisiert?

Doch auf der Fußmatte stand eine mir unbekannte, etwa sechzigjährige Frau in einem Blümchenkleid, das nicht zur Jahreszeit passte. Obendrein trug sie flauschige Hausschuhe an den Füßen. Das hochgesteckte Haar der Dame war in verschiedenen Rottönen gesträhnt. Der Pony war rundgeföhnt und landete in einer exakten Linie auf ihren dunkel nachgezogenen Augenbrauen. Die Lippen glänzten in einem hellen Rot. Auf dem Arm hielt sie eine Langhaarkatze mit zerknautschtem Gesicht. Ohne sich vorzustellen, sagte sie: »Endlich erwische ich Sie mal persönlich.«

Sina musterte sie. »Was gibt es denn?«

»Es geht um die Männer, die Ihre Wohnung renoviert haben.« Sie deutete mit dem Daumen auf die Tür neben meiner. »Ich bin Ihre Nachbarin. Diese Leute haben schon morgens vor sieben Uhr russische Volksweisen gespielt.«

Zögernd schob ich mich neben Sina. »Die Renovierung ist jetzt vorbei, und Ihre Nachbarin bin ich.« Ich hielt ihr die Hand entgegen. »Johanna Rathi, sehr erfreut.«

Ehe mein Gegenüber meinen Gruß erwidern konnte, umschlang Oskar von hinten mein Bein und biss in meinen Oberschenkel.

»Oskar!« Ich lachte erschrocken auf und zog ihn von mir fort. »Was machst du denn?«

Argwöhnisch betrachtete die Frau Oskars flammendroten Schopf und drehte sich so, als wollte sie ihre Katze vor ihm in Sicherheit bringen. »Also gehört Ihnen der Buggy unten im Hausflur? Das ist verboten. Genauso wie«, sie deutete auf das Schuhbord neben meiner Wohnungstür, »das hier.«

»Hören Sie«, schaltete Sina sich ein, »meine Freundin war acht Monate weg, sie ist gerade wiedergekommen. Lassen Sie sie doch erst mal ankommen.« Ihre Augen blitzten. »Sie werden bestimmt rein gar nichts von ihr hören. Schon gar keine russischen Volksweisen.«

»Das will ich hoffen.« Die Frau nickte nachdrücklich. »Sie müssen wissen, ich bin Schriftstellerin. Störungen hemmen meine Kreativität.«

Ich betrachtete sie. Sie war die erste Autorin, die ich persönlich kennenlernte.

Oskar reckte seine Hand in Richtung Katze. »Ei!«, hauchte er.

Die Frau trat einen Schritt zurück. Nun deutete sie abermals auf das Schuhregal. »Wie gesagt, das muss weg. Es geht da um Brandschutz.«

»Es wird schon nicht brennen«, entgegnete Sina. »Und jetzt entschuldigen Sie uns bitte. Wir heißen unsere Freundin gerade willkommen.« Ehe ich sie darin hindern konnte, machte sie der Frau die Tür vor der Nase zu.

Zu mir sagte sie mit einem übertriebenen Grinsen: »Vorsicht, wachsame Nachbarin.«

Unser Rundgang endete in der Küche. Hier hatten Rahul und ich oft zusammen indisch gekocht. Und nicht nur das. Wir hatten uns sogar mal auf dem Küchentisch geliebt. Kaum vorstellbar, wenn man bedachte, dass das gute Stück nur einen Durchmesser von knapp siebzig Zentimetern aufwies. Und dennoch. Wir hatten gelacht dabei, das Ding hatte unter unserem Gewicht geächzt, und ich hatte befürchtet, es könnte jede Sekunde zusammenbrechen. Aber das war vor Oskars Geburt geschehen. Als ich noch an eine gemeinsame Zukunft glaubte.

Ich fixierte das Paket, das jetzt auf dem Tisch lag. Augenblicklich sank mein Herz. Bevor ich Hals über Kopf in meine Heimatstadt aufgebrochen war, hatte ich Sina den Wohnungsschlüssel übergeben und sie gebeten, gelegentlich den Briefkasten zu leeren. Die Werbung hatte sie weggeworfen, aber es hatte auch ein paar Rechnungen gegeben, die ich online von München aus beglich. Viel von dem Papierkram, den Rahuls Tod nach sich gezogen hatte, hatte Papu mir abgenommen. Drei Wochen nach meiner Abreise nach München erzählte mir Sina dann, dass ein Paket eingetroffen sei. Der Absender war Rahul, er musste es vor seinem Abflug nach Punjab aufgegeben haben. Sie hatte mir angeboten, es mir nachzusenden, aber ich hatte gesagt, das hätte Zeit bis nach meiner Rückkehr.

Sina schob diese Reaktion auf meine Trauer. Aber der Grund war ein anderer. Nach der E-Mail, die Rahul mir geschickt hatte, erwartete ich keine romantische Liebeserklärung von ihm. Sondern eher die endgültige Bestätigung, dass er sich von mir trennen wollte. Vielleicht einen Abschiedsbrief und ein tröstliches Geschenk für Oskar. Ohne dass Rahul damals ahnen konnte, wie unumkehrbar dieser Abschied sein würde. Deshalb machte mir dieses Paket einfach nur Angst. Ich fühlte mich unfähig, mich mit dem Inhalt zu konfrontieren.

Entschlossen setzte ich Oskar auf dem Boden ab, nahm das Päckchen und trug es in mein neues Schlafzimmer, wo ich es hinter den Hängern mit Hosen und Röcken im Schrank verstaute.

Oskar lief mir hinterher und beobachtete mich dabei. »Weg?«

»Ja, weg«, antwortete ich und schloss den Schrank. »Alles zu seiner Zeit«, sagte ich.

Sina und Milla, die ebenfalls gefolgt waren, warfen sich einen nachdenklichen Blick zu, versuchten aber nicht, mich vom Gegenteil zu überzeugen.

Später räumten Sina und ich mein Gepäck aus dem Auto, während Milla auf die Kinder achtgab. Den Rest des Abends verbrachten wir im neuen Wohnzimmer. Milla fischte aus einem mitgebrachten Korb selbstgebackene Ingwer- und Orangenplätzchen, die sie auf einem Teller arrangierte. Obendrein befanden sich in ihrem Care-Paket, wie sie es nannte, verschiedene Teesorten, eine Packung Kaffee und eine große gehäkelte Decke, die wunderbar weich war und zur neuen Couch passte. Außerdem eine Flasche Sekt, um auf meine Ankunft anzustoßen.

Ich öffnete die Flasche mit einem Knall und goss uns einen kleinen Schluck ein, dankte meinen Freundinnen von Herzen für ihre riesige Unterstützung. Krampfhaft rang ich mir ein breites Lächeln ab, das sich kurz darauf in ein Tränenmeer verwandelte. Es tat mir schrecklich leid, aber ich konnte nichts dagegen tun. Sina nahm mir das Glas wieder ab und tätschelte meinen Rücken, sie und Milla sahen sich sorgenvoll an.

Aber dann war es Zeit, Oskar zu füttern und ins Bett zu bringen, und diese vertraute Routine beruhigte mich ein wenig.

Später bestellten wir Pizza wie in alten Zeiten, und meine Freundinnen versuchten, meine Gedanken zu zerstreuen, indem sie mir von einem neuen Stammgast in Millas Café erzählten, irgendeinem Wissenschaftler, den ich unbedingt kennenlernen sollte, weil er mich garantiert aufheitern würde.

Milla war mit einem Konditor verheiratet, der sich genauso altmodisch im Stil der fünfziger Jahre kleidete wie sie. Finja nahmen sie mit auf die Arbeit, wo das Kind angeblich im Wagen oder in der Wippe herumlag, ohne einen Mucks von sich zu geben. Offenbar war die Kleine genauso gechillt wie ihre Eltern.

Um kurz vor neun verabschiedete Milla sich und lud mich und Oskar für den kommenden Sonntag zum Frühstück in ihr Café ein – ihre Schwester und Elyas würden auch kommen. Nachdem sie gegangen war, machten Sina und ich es uns mit einer Tasse Tee auf dem Cordsofa bequem. Ich schlang Millas Häkeldecke um die Schultern und ließ noch einmal das neue Wohnzimmer auf mich wirken. Es war ein Wohlfühlraum daraus geworden. Hier würde ich mich gern aufhalten.

Plötzlich drang aus der Nachbarwohnung die Stimme meiner neuen Nachbarin herüber. Ziemlich laut.

»Pst«, machte Sina und legte den Finger an die Lippen. »Spricht sie Englisch?«

Ich stellte die Tasse auf dem Boden ab und spitzte die Ohren. Die Wand meines Wohnzimmers grenzte direkt an ihres.

»Yes, honey!«, vernahm ich. »I will! I promise!« Und nach einer Weile: »I love you too!«

Sina und ich warfen uns einen amüsierten Blick zu.

»Meinst du, sie zitiert aus einer Szene ihres aktuellen Romans?« Meine Freundin lachte.

»Falls sie überhaupt Liebesromane schreibt.« Ich griff nach einem von Millas Keksen und knabberte daran. »Ihr Auftritt wirkte nicht besonders romantisch.«

Ich sank zurück aufs Sofa und gähnte. Von der langen Fahrt und den neuen Eindrücken war ich total kaputt. Der warme Tee tat sein Übriges.

Sina strich mir über die Wange. »Am besten, du gehst ins Bett.« Nun legte sie den Kopf schräg. »Magst du morgen Abend zu uns nach Offenbach zum Essen kommen? Elyas kocht.«

Ich wollte Sina nicht vor den Kopf stoßen, aber ich war noch nicht bereit, Zeugin des perfekten Paarlebens anderer zu sein. »Ein andermal, okay?«, bat ich. »Ich muss erst mal hier ankommen. Außerdem muss ich einkaufen, und wir sehen uns dann ja auch am Sonntag zum Frühstück bei Milla.«

Zumindest dort würde ich hingehen. Das ganze Wochenende mit Oskar allein zu verbringen, wäre auch keine gute Idee.

Als wir uns an der Tür verabschiedeten, glaubte ich, hinter der Tür meiner Nachbarin ein Geräusch zu hören. Ob sie uns durch den Spion beobachtete? Mein Blick fiel auf das leere Schuhregal vor meiner Tür, ich zog es kurzerhand in die Diele. Um den Buggy unten im Hausflur würde ich mich morgen kümmern.

Auf einen Clinch mit der neuen Nachbarin konnte ich jedenfalls verzichten.

4

Ein durchdringender, langanhaltender Schrei von Oskar aus dem Nebenzimmer weckte mich. Ich schreckte hoch und sprang aus dem Bett, ehe mein Kopf in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Stimme meines Sohnes klang schrill und panisch, und seine Augen waren weit aufgerissen, als ich in seinem Zimmer ankam.

Leise rief ich seinen Namen und hob ihn auf den Arm. Doch sein verwässerter Blick schien auf irgendetwas in der Ferne fixiert zu sein.

»Hey«, säuselte ich zärtlich und fasste ihn am Kinn, damit er mich ansah. Doch mein Kind starrte durch mich hindurch. In seinen Augen die blanke Panik.

Ich schaltete das Licht ein. »Oskar!«, sprach ich lauter. »Ich bin’s, Mama! Siehst du mich nicht?«

Hektisch ging ich in den Flur, lief mit ihm auf und ab, sprach auf ihn ein, er solle sich beruhigen. »Shshsh«, wisperte ich. Doch Oskar wachte nicht auf, seine Augen blieben schreckgeweitet, als sähe er einer Horde gefräßiger Trolle entgegen. Dabei war ich mir sicher, dass er niemals – auch nicht beim Streamen – irgendwelche Monster zu Gesicht bekommen hatte. Mein Herz raste. Oskar schien in einer Traumwelt gefangen, aus der er nicht herausfand. Erlitt er einen Krampf? Mir brach der Schweiß aus. Ob ich einen Arzt rufen sollte?

In diesem Moment klingelte es lang und durchdringend – und Oskar verstummte. Aus verquollenen Augen sah er mich so verblüfft an, als frage er sich, wie ich ihn einfach aus dem Schlaf wecken konnte.

Es schellte wieder. Ich ging zur Tür und öffnete sie einen Spalt.

»Was ist denn mit Ihrem Sohn?« Meine Nachbarin sah mich besorgt an. »Schreit er öfter so?«

Fassungslos starrte ich sie an. Sie klingelte mitten in der Nacht, um das zu fragen? Sich womöglich noch zu beschweren? Mein Herz raste noch immer.

»Eigentlich nicht«, antwortete ich heiser, »ich denke, wir können jetzt alle weiterschlafen.« Bevor sie etwas entgegnen konnte, schloss ich die Tür und ging mit Oskar ins Wohnzimmer zurück, setzte mich mit ihm aufs Sofa und streichelte ihm über das schweißnasse Köpfchen. Sofort lehnte er sich an mich, ein letztes, aufbäumendes Zittern durchfuhr seinen kleinen Körper, und schon schlief er wieder ein.

Erleichtert und sachte legte ich ihn zurück ins Bett, schlüpfte kurz darauf unter meine eigene Bettdecke. Nun lag ich da und starrte ins Leere. Die Scheinwerfer eines Autos zeichneten wandernde Streifen an die Zimmerdecke.

Seit Monaten hatte Oskar durchgeschlafen. Sollte mein Sohn diese wunderbare Eigenschaft mit unserer Rückkehr nach Frankfurt etwa wieder abgelegt haben?

Still betete ich, dass es nicht so war.

Am anderen Morgen weckte mich klassische Musik aus der Nachbarwohnung. Irgendeine nicht enden wollende Sinfonie wummerte durch die Diele bis zu mir ins Schlafzimmer. Es war erst kurz nach sieben. Und das an einem Samstag. War das die Rache für Oskars nächtliche Schreiattacke?

Bei dem Gedanken an meinen Sohn richtete ich mich auf und eilte durch den Flur zu seinem Zimmer, spähte in sein Bettchen.

Oskars Brustkorb hob und senkte sich in gleichmäßigem Rhythmus. Gott sei Dank. Auch hier war die Musik zu hören, doch der Kleine regte sich nicht. Zärtlich betrachtete ich ihn und betete abermals, dass die Attacke in dieser Nacht eine einmalige Angelegenheit bleiben würde.

In der Küche brühte ich mir einen Kaffee aus Millas Care-Paket und stellte mich ans Fenster. Lauschte der musikalischen Einlage von nebenan. Für Klassik hatte ich mich noch nie begeistern können. Ob ich nun meinerseits bei ihr klopfen sollte?

Besser nicht.

Ich nippte an meinem Getränk und dachte mit Wehmut an das Pärchen, das vor dieser Dame dort gewohnt hatte. Nach dem Motto »Leben und leben lassen« hatten die beiden Mittfünfziger neben Rahul und mir gehaust. Über ein kurzes Schwätzchen und ein gelegentliches Briefkastenleeren, wenn einer von uns im Urlaub war, war unser Kontakt nicht hinaus gegangen. Ganz so, wie in Mietshäusern üblich.

Ich mochte diese Anonymität. Hätten mich hier im Haus viele gekannt, wäre in den nächsten Tagen damit zu rechnen gewesen, dass man mich fragte, wo ich all die Monate gesteckt hatte. Oder Rahul. Aber so würde man vermutlich annehmen, wir hätten uns getrennt. Es würde beim üblichen »Hallo« im Hausflur bleiben, und dafür war ich dankbar.

Am besten, ich nutzte die frühe Stunde für eine ausgiebige Dusche, um nachher mit Oskar einzukaufen. Vielleicht war es gar nicht so verkehrt, zeitig aufzustehen.

Und zumindest dieser Plan ging auf. Eine Stunde später verließ ich mit Oskar das Haus. Über den Joggingklamotten trug ich einen Parka, das noch feuchte Haar hielt ich unter einer Mütze verborgen. Mein Äußeres war mir noch immer völlig egal, auch wenn Doris mir vor meiner Abreise mahnend zu verstehen gegeben hatte, so würde ich nie einen neuen Mann kennenlernen. Was mich bis ins Mark traf. Wie konnte sie annehmen, dass ich nach so kurzer Zeit schon Interesse an einer neuen Beziehung haben könnte?

Wieder zu Hause angekommen, schaltete ich den Fernseher an und ließ für Oskar eine Kindersendung laufen, kuschelte mich mit ihm unter Millas Häkeldecke aufs Sofa, surfte nebenbei mit dem Smartphone im Internet und studierte verschiedene Artikel zum Thema »Nächtliche Panikattacke bei Kleinkindern«. Dabei stieß ich auf den Begriff »Nachtschreck« und stellte erleichtert fest, dass es sich dabei – wenn ich Glück hatte – um eine einmalige Angelegenheit handeln konnte. Oder um eine langwierige. Aber gefährlich war es nicht. Außer für den elterlichen Schlaf natürlich.

Den Buggy hatte ich nach unserem Einkauf in meinem Kellerverschlag verstaut. Es war nur eine Treppe nach unten und damit praktikabler, als ihn jedes Mal mit nach oben zu schleppen. Ja, ich gab klein bei. Doch der Gedanke an weitere Auseinandersetzungen mit meiner Nachbarin war mir ein Graus.

Auf ihrem Briefkastenschild hatte ich dann auch ihren Namen lesen können. Pava Goldstein.

Das klang poetisch. Sollte doch mit dem Teufel zugehen, wenn ich mit einer Schriftstellerin mit so einem klingenden Namen nicht zurechtkäme.

5

Nach dem Windelwechseln und einem Snack nahm ich am Sonntagmorgen auf dem Sofa mein Laptop auf den Schoß, um mit Papu zu skypen, so, wie ich es jeden Sonntagmorgen getan hatte, als meine Welt noch in Ordnung und mein Mann noch am Leben gewesen war.

Oskar war ganz aus dem Häuschen, als er seinen Uropa auf dem Bildschirm erblickte. Ehe ich mich’s versah, drückte er einen Kuss auf den Monitor und rutschte wieder vom Sofa, holte sein Kindertelefon aus der Spielkiste, lief damit im Kreis und brabbelte vor sich hin.

Ich erzählte Papu von meinen Frühstücksplänen und führte ihn dann per Laptop durch die Wohnung, zeigte ihm über die Kamera, welches Werk Sina vollbracht hatte.

Als ich wieder zurück auf dem Sofa saß, sagte er: »Du wirkst gar nicht so traurig, wie ich erwartet habe. Im Gegenteil, wie ich sehe, ist dir die Rückkehr in dein altes Leben gut bekommen.«

Er hatte recht. Meine eigenen vier Wände in neuem Gewand taten mir gut. Und auch, dass ich mich nachher mit den anderen treffen würde, hob meine Stimmung.

Nun lächelte Papu. »Zum auswärtigen Frühstück wirst du dich aber umziehen, oder?« Er spielte auf das ausgeleierte Joggingoutfit an, das er nur allzu gut kannte. Zur Antwort brummte ich nur. Überflüssig. Ich traf mich mit meinen Freundinnen, und denen war es egal, wie ich aussah.

Um halb zehn nahm ich mit Oskar die U-Bahn zum Merianplatz. Das Haar hatte ich nach dem Aufstehen notdürftig gekämmt und zu einem Knoten im Nacken zusammengebunden. Heute war es ganz schön kalt, nur knapp über null Grad. Ob es wohl in diesem Jahr, so wie im letzten, auch schneien würde? Aus München war ich es natürlich gewohnt – hier hingegen war Schneefall eine Seltenheit. Trotzdem kam durch die Dekorationen in den Geschäften schon ein vorweihnachtliches Feeling auf. Besonders Milla hatte sich viel Mühe gegeben, ihr Café in Rot und Weiß und mit Tannenzweigen zu schmücken. Die verschlungenen weißen Stofflampen über den Tischen wirkten wie riesige Schneebälle. Die Stühle waren mit roten Stoffhussen bezogen, die sie garantiert selbst genäht hatte.

Ich war ein paar Minuten zu früh dran, das Café hatte gerade erst geöffnet. Bis jetzt saß nur ein einzelner Mann in Anzug und Fliege an einem Tisch und las in einer Zeitung, die er vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hatte.

Milla und ihr Mann Jochen wuselten zusammen mit ihrer Aushilfe herum, die Milla ablösen konnte, wenn Finja einmal nicht so pflegeleicht war.

Ich öffnete die Tür zum Café und mühte mich ab, den Buggy mit Oskar darin die Stufen hinauf zu bugsieren.

Der Zeitungsleser hob den Kopf und stand auf. »Moment«, brummte er und ging mir zur Hand.

Der Typ war riesig. Der perfekt sitzende dunkelgraue Anzug war bestimmt maßgeschneidert. Entgegen seiner gediegenen Kleidung trug er das rotblonde Haar etwas länger, es fiel ihm in die Stirn, als er mir dabei half, den Buggy über die Schwelle zu hieven.

Aus grauen Augen blickte der Mann mich durch eine schwarzumrandete Brille an. »Bitteschön«, sagte er und ging zurück zu seinem Platz. Er sah jünger aus, als er sich kleidete. Vielleicht wie Mitte dreißig. Ich murmelte einen Dank und winkte Milla hinter der Theke zu.

»Ich bin gleich bei dir«, rief sie. »Setz dich nur schon zu Nick.« Sie deutete auf den Mann im Anzug.

Nick also. War er der Stammgast, den sie und Sina am Freitag erwähnt hatten? Der Wissenschaftler? Aber wieso sollte ich mich zu ihm setzen – war er ein neues Mitglied in unserer Clique?

Unentschlossen sah ich mich um. Der Mann hielt den Kopf wieder über die Zeitung gesenkt. Finjas Kinderwagen parkte bei der Garderobe, ich lenkte Oskars Buggy hinüber und befreite meinen Kleinen von Mütze und Schal. Dann hängte ich meinen Parka an einen Haken, strich mit beiden Händen über die pinkfarbene Sweatjacke, die ich darunter trug, und entdeckte in Brusthöhe einen orangefarbenen Fleck. Ich kratzte daran. War das Karotte aus einem Babygläschen?

Ich spähte wieder zu dem Mann im Anzug, dann glitt mein Blick an meiner Jogginghose hinab. Vielleicht hätte ich mich doch anders kleiden sollen. Egal, nun war es zu spät.

Oskar zupfte an meiner Hose und deutete zu dem Kinderwagen, in dem Millas Tochter schlief. Das Baby lag auf dem Rücken, ihre zu Fäusten geballten Händchen ruhten neben dem Kopf. Ich hob meinen Sohn aus dem Buggy. Oskar wirkte neben ihr wie ein Riese.

»Bebi«, sagte er.

Ich strahlte ihn an und küsste ihn schmatzend auf die Wange. Ein neues Wort!

»Ja, das ist ein Baby!«, lobte ich.

Wie gern hätte ich Milla von der Sensation erzählt, doch meine Freundin zählte gerade Geld in die Kasse. Also nahm ich meinen Sohn bei der Hand und machte mich auf zu unserem Platz. Millas Mann Jochen kreuzte meinen Weg und begrüßte mich, um dann wieder zurück hinter den Tresen zu eilen und Torten und Kuchen einzuräumen.

»Ist es okay, wenn wir uns zu dir setzen?«, fragte ich den rotblonden Typen, als ich bei seinem Tisch ankam.

Er sah auf und nickte uns zu. »Klar, warum nicht?«

Ich zog mir einen Stuhl herbei. Oskar nahm ich auf den Schoß. »Ich bin übrigens Johanna, und das«, sagte ich und zeigte auf meinen Sohn, »ist Oskar.«

»Nick, freut mich.« Sein Lächeln war etwas distanziert, aber nicht unfreundlich.

»Mein Kleiner hat eben zum ersten Mal ›Bebi‹ gesagt«, versuchte ich verlegen, ein peinliches Schweigen zu vermeiden.

Nick tippte mit dem Zeigefinger auf die Zeitung vor ihm auf dem Tisch. »Ich würde das der ›Zeit‹ melden. Das ist bestimmt eine Schlagzeile wert.« Er musterte den Fleck auf meiner Jacke, dann vertiefte er sich wieder in das Blatt.

Ich blies die Wangen auf. Was war das denn für ein sperriger Typ? Oder versuchte er nur, witzig zu sein?

Oskar streckte beide Hände nach dem Zuckerstreuer auf dem Tisch, und ich schob das Ding in die Tischmitte. Hilflos hielt ich nach Milla Ausschau. Zu meiner Erleichterung betraten eben Sina und ihr Freund Elyas zusammen mit Leila das Café. Mit ihnen drang ein kalter Luftschwall ins Innere. Ich erhob mich mit Oskar von meinem Platz und ging ihnen entgegen.

Elyas begrüßte mich mit einer herzlichen Umarmung, und auch Leila legte ihre Arme um meine Hüften und kitzelte dann Oskar unterm Kinn, der sich kichernd unter ihren Fingern wand. Ich bedankte mich bei Elyas für die Wandmalerei in Oskars Zimmer und beglückwünschte Leila zu ihrem talentierten Papa.

Diese hatte jedoch gar kein Ohr für mein Lob für ihren Vater. Stattdessen wies sie auf Oskar. »Darf ich mit ihm spielen?« Mit funkelnden Augen schlüpfte das dunkelgelockte Mädchen aus ihrer Jacke und zeigte zu der Spielecke, die Milla für ihre kleinsten Gäste eingerichtet hatte. Natürlich erlaubte ich es ihr, und Leila machte sich jubelnd mit Oskar auf den Weg.

Elyas und ich sahen den beiden schmunzelnd hinterher, und ich streifte meine Sweatjacke ab, hängte sie an den Haken zu meinem Mantel. Ich trug ein türkisfarbenes Shirt darunter, dessen weiße Aufschrift »Shopping Queen« lautete. Papu hatte es mir im Sommer mitgebracht, fand es einen lustigen Scherz, weil ich genau das Gegenteil davon war.

Wir setzten uns zu Nick und gaben bei Millas Aushilfe die Bestellungen auf. Ich hatte Lust auf eine Tasse Schokolade mit Sahne, dazu bestellte ich ein Croissant und für Oskar ein Hefebrötchen. Dann wurden Nick und ich einander offiziell vorgestellt. Nun erfuhr ich auch, woher meine Freunde ihn kannten. Bei einem ihrer sonntäglichen Frühstücke hatte er sie gebeten, sich dazu setzen zu dürfen, weil der Rest des Cafés voll besetzt war. Also waren sie zusammengerückt und ins Gespräch gekommen. Nick war promovierter Astrophysiker, seine Doktorarbeit hatte weitläufig etwas mit kosmischem Staub zu tun. Zum einen lehrte er an der Uni Darmstadt das Fach Nukleare Astrophysik. Dabei beschäftigte man sich mit Röntgenaufnahmen der Überreste von Sternexplosionen. Außerdem publizierte er in wissenschaftlichen Zeitschriften, besuchte Symposien, hielt Vorträge im Planetarium in Kassel. Heute aber unterstützte er im Rahmen einer Matinee einen Kollegen, der ein Buch geschrieben hatte und es bei einem festlichen Akt präsentierte. Deshalb auch das schicke Outfit.

Ich konnte nicht umhin, ihn unverhohlen anzustarren. Einerseits, weil ich kaum ein Wort von dem verstand, was er über seine Arbeit erzählte. Andererseits, weil ich an die Serie The Big Bang Theory denken musste. Rahul und ich hatten alle Staffeln zusammen gesehen. Darin ging es um eine Gruppe von Nerds, die sich so gestelzt miteinander unterhielten, dass man kaum ein Wort verstand. Und weil sie so weltfremd waren, war das alles sehr lustig.

Schließlich fragte ich Nick geradeheraus, was er von meiner Lieblingsserie hielt.

Der Astrophysiker setzte sich gerade auf, genau wie Sheldon Cooper, einer der Hauptdarsteller es tun würde. »Es ehrt mich, dass du diese Parallele ziehst, Shopping Queen«, sagte er. »Ich halte sehr viel von dieser Serie. Zeigt sie doch haargenau, wie wir autistischen Wissenschaftler ticken.«

Au weia. Ein Autist? Meinte er das etwa …

Als er zwinkerte, atmete ich auf. Er hatte Sheldon bloß parodiert, und zwar perfekt. Ich prustete los und fasste mir im selben Moment an den Bauch, verwundert über dieses Gefühl. Wie lange hatte ich eigentlich schon nicht mehr laut gelacht?

»Ich liebe diese Sitcom!«, gestand ich, noch immer grinsend. »Mein Traum ist es, einmal in den Hollywoodstudios auf Sheldons Spot zu sitzen.«

Nick tippte sich an die Brust. Jetzt sprach er wieder normal. »Hab ich schon. Auf einer meiner Reisen zu einem Kongress mit der amerikanischen Weltraumbehörde haben wir einen Abstecher in die Studios gemacht.«

Ich riss die Augen auf. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich dich darum beneide!«

Nick schielte zu Sina, die uns aufmerksam beobachtete. »Wie konntet ihr mir vorenthalten, dass Johanna und ich Seelenverwandte sind?«

Ich räusperte mich verlegen. Er machte natürlich nur Spaß. Aber es fühlte sich wirklich ein wenig so an.

Inzwischen hatte sich das Café gefüllt, und unser Frühstück wurde von der Kellnerin serviert. Ich verspürte sogar ein wenig Hunger. Elyas gab Leila ein Zeichen, und es gelang ihr, Oskar dazu zu überreden, sich von den Autos zu trennen und mit ihr an den Tisch zurückzukehren.

Ich sah den beiden entgegen und rührte in der heißen Schokolade.

»Hattest du die nicht mit Sahne bestellt?« Nick deutete auf meine Tasse.

Tatsächlich war nichts davon zu sehen.

Oskar kletterte auf meinen Schoß, und ich winkte nach Millas Aushilfe, wies sie darauf hin, dass sie die Sahne vergessen hatte. Ich zeigte auf die Tasse. »Könntest du noch welche draufmachen?«

»Doch, die war drauf«, widersprach die Mittzwanzigerin. »Die ist wahrscheinlich untergegangen.« Ihr seitlicher Pferdeschwanz wippte, als sie sich zum Gehen wandte.

»Ähm, einen Moment bitte.« Nick schnippte mit dem Finger.

Die junge Frau drehte sich wieder um, ihr Blick blieb an seiner Fliege hängen.

»Verstehst du was von Physik?« Er lächelte ihr freundlich zu.

Sie stemmte die Hände in die Hüften und lachte. »Ich? Gott bewahre.«

»Dann will ich dir kurz was erklären.«

Wir anderen wechselten Blicke.

»Schlagsahne hat eine geringe Dichte, falls dir das etwas sagt«, erklärte Nick. »Das bedeutet, sie schwimmt auf allen Flüssigkeiten, die normalerweise von Menschen konsumiert werden. Es gibt also nur zwei Möglichkeiten: Entweder, du hast die Sahne vergessen, oder in diesem Café herrschen andere physikalische Gesetze als im Rest des Universums.«

Die junge Frau verdrehte wortlos die Augen und nahm die Tasse wieder mit.

Sina hielt sich kichernd die Hand vor den Mund. Abermals hatte ich den Drang zu lachen. Allerdings war ich nicht sicher, ob er wieder nur Sheldon parodiert oder ob er das ernstgemeint hatte.

Oskar griff gierig nach dem Hefebrötchen im Brotkorb. Leila nahm ebenfalls eine Semmel und schnitt sie geschickt auf. Gleichzeitig legte sie den Kopf schräg, sodass ihre braunen Locken auf den Tisch fielen. »Johanna?«, fragte sie.

»Ja?«

»Sina hat erzählt, dass du ein Paket von Rahul bekommen hast, es aber noch nicht aufgemacht hast. Bist du denn kein bisschen neugierig, was er dir geschickt hat?«

Meine Freundin schoss Leila über den Tisch hinweg einen vielsagenden Blick zu, und Elyas sprach ein paar mahnende Worte.

Nick neben mir wandte den Kopf zu mir um und betrachtete mich aufmerksam. Bestimmt fragte er sich, wer Rahul war. Oder hatten die anderen ihm alles erzählt?

Zu Leila sagte er: »Ich kann das total verstehen, wenn man Pakete oder Briefe nicht öffnen will. Bei mir zu Hause liegt auch ein ungeöffneter Umschlag herum.«

»Wirklich?« Die Kleine sah ihn gespannt an. »Von wem?«

Nick strich sich eine Strähne aus der Stirn. »Er ist von einer Frau.«

»Ist sie auch tot?«

Sein Kinn fiel. Erstaunt sah er zu mir.

Die anderen hatten ihm also nichts erzählt.

In knappen Worten umriss ich ihm die Situation und hoffte, dass das Thema damit erledigt war. Wehmütig lächelnd zeigte ich zur Zimmerdecke. »Vielleicht kannst du ja die Sterne für mich befragen, wie es meinem Mann da oben geht.«

Plötzlich sah er aus, als hätte er auf eine Zitrone gebissen. Er sah auf seine Uhr und schob den Teller von sich. »Mir fällt gerade was ein«, murmelte er. »Ich hab ganz vergessen, noch etwas zu erledigen.«

Sinas Augen weiteten sich. »Sagtest du nicht, dein Termin sei erst in einer Stunde? Du hast ja noch gar nichts gegessen.«

Ich drückte Oskar wie einen Schutzschild an mich. Da war ich einmal unter Leuten und vergraulte gleich jemanden. Hielt er mich jetzt für eine Esoterikerin? Dabei war ich das gar nicht.

»Hör mal, ich wollte deinen Beruf nicht ins Lächerliche …«

»Nein, nein.« Nick griff nach seinem Handy.

In diesem Moment ging alles ganz schnell.

Oskar beugte sich über Nicks Unterarm – und biss zu.

»Autsch!« Nick sah meinen Jungen entsetzt an.

Auf dem Jackettärmel war ein matschiger Streifen Hefebrötchen zu sehen, in dem sich Oskars Zähnchen deutlich abzeichneten.

»Mein Gott.« Nick schüttelte den Kopf und griff nach einer Serviette, tupfte damit auf dem Ärmel herum, verschmierte alles noch mehr.

Leila sperrte den Mund auf, während Sina zu Milla lief, um einen feuchten Lappen zu besorgen.

Ich für meinen Teil schaute Oskar streng an, der von einem zum anderen blickte, als könne er sich nicht erklären, was die ganze Aufregung sollte. »Nein, nein, nicht beißen! Das tut doch weh!«, schimpfte ich und wandte mich hilfesuchend an Elyas, der nur amüsiert vor sich hin grinste. »Was soll ich nur mit ihm machen?«

Elyas hob nur kopfschüttelnd die Schultern. »Wahrscheinlich hatte er noch Hunger.«

Nick kräuselte die Nase und rutschte aus der Bank. »Am besten, du besorgst ihm einen Maulkorb.«

Leila schlug sich die Hand vor den Mund und kicherte.

6

Auf dem Nachhauseweg von Millas Café grübelte ich vor mich hin. Wegen Oskars Benehmen musste ich mir dringend etwas einfallen lassen. Es konnte nicht angehen, dass mein Sohn plötzlich andere Menschen anfiel. Bestimmt sagte dieses Verhalten etwas Schreckliches über meine Fähigkeiten als Mutter aus. Ich hatte ihn in den letzten Monaten ganz sicher vernachlässigt. Natürlich habe ich mich um ihn gekümmert, aber in Gedanken war ich ständig mit meinem Kummer beschäftigt.

Oskar hatte meine Geistesabwesenheit in München vermutlich kaum wahrgenommen, weil ja auch Papu und Doris für ihn da waren. Hier hingegen war ich seine einzige Bezugsperson. Ich musste mich unbedingt mehr mit ihm beschäftigen. Den Fernseher auslassen, mit ihm spielen. Ihm etwas vorlesen, all diese Dinge.

Verzagt ging ich heim und hockte mich im Kinderzimmer mit ihm auf den Spielteppich, zog die Autokiste zu mir heran und begann, mit den Fahrzeugen über die aufgedruckten Straßen zu fahren.

»Brrruuuummm«, imitierte ich Motorengeräusche und drückte Oskar ein Auto in die Hand.

Sprachlos sah er mich an. Ich gab ihm einen Kuss auf die Nasenspitze, zeigte auf das Fahrzeug und sagte: »Auto fahren.«

»Au-to fahn!«, erwiderte Oskar und begann ebenfalls, Kreise auf dem Teppich zu ziehen, die sich schnell auf den Rest des Zimmers ausdehnten. So schob er krabbelnd und vor sich hin brummend das Spielzeug neben sich her, und ich legte mich der Länge nach auf die Seite und sah ihm dabei zu.

Dann zog ich das Handy aus der Hosentasche und gab auf Google den Namen Nick Kessler ein, denn so hatte Sina ihn mir vorgestellt. Ich musste zugeben, dass der Mann mein Interesse geweckt hatte. Unter einem Astrophysiker hätte ich mir einen untersetzten Herrn mit schütterem Haar und Pullunder vorgestellt und nicht einen so gutgekleideten Hünen mit cooler Frisur und Intellektuellenbrille. Dass wir dieselbe Serie mochten, erschien mir wie ein Zeichen für den möglichen Beginn einer Freundschaft. Auf jeden Fall hätte ich mich gern länger mit ihm unterhalten, ihn näher kennengelernt. Weshalb war er so überhastet aufgebrochen? Mir ging die Frage nicht aus dem Kopf, ob ich etwas Falsches gesagt hatte.

Google würde mir das vermutlich auch nicht verraten. Aber zumindest ein paar mehr Details. Doch erst, als ich noch den Begriff »Astrophysiker« ergänzte, fand ich etwas über ihn. Prof. Dr. Nikolas Kessler. Wow. Mit sechsunddreißig Jahren war er einer der jüngsten Professoren Deutschlands. Die Liste seiner Publikationen in Fachzeitschriften war lang und voller unverständlicher Titel.

Als es klingelte, hob ich den Kopf.

»Bimbam!«, rief Oskar.

Ich rappelte mich hoch und ging zur Tür.

Durch den Türspion entdeckte ich meine Nachbarin Pava Goldstein.

Ich öffnete und sah sie fragend an. Sie trug diesmal ein anderes Kleid, ihr Haar war wellig frisiert, als hätte sie erst vor kurzem Lockenwickler herausgedreht und die Pracht in Form gebracht. An den Füßen prangten die flauschigen Pantoffeln.

Frau Goldstein zupfte an der zierlichen, goldenen Kette um ihren Hals. »Sprechen Sie Englisch?«, fragte sie.

»Einigermaßen. Wieso?«

Die Dame hielt mir ihr Handy hin. »Könnten Sie mir das übersetzen?«

Perplex nahm ich das Gerät entgegen.

»Ich habe versucht, es nachzuschlagen, aber es kommt nur Kokolores dabei heraus«, erklärte sie.

Es handelte sich um eine WhatsApp-Nachricht. Das Profilbild zeigte einen Mann mit graumeliertem Haar und einem strahlenden Lächeln an Bord einer Segelyacht. Das Foto erinnerte mich an eine Werbung für eine Altersversicherung. Mit unbewegter Miene studierte ich die Mitteilung.

OMG, u dunnit. Now go 2 hell.

Dahinter eine Reihe Smileys mit Lachtränen.

Ich sah betreten vom Display auf und direkt in Pava Goldsteins fragende Augen.

»Und? Werden Sie daraus schlau?«, wollte sie wissen.

»Wer ist denn der Mann?«, stellte ich zögerlich eine Gegenfrage. Ich hatte zwar verstanden, was der Kerl ihr schrieb, wollte sie aber nicht derart vor den Kopf schlagen. Offenbar freute er sich diebisch über etwas, das meine Nachbarin getan hatte. Und nun sollte sie zur Hölle fahren.

»Wer er ist, tut nichts zur Sache«, wehrte Frau Goldstein meine Frage ab, »ich möchte nur wissen, wovon er spricht. Damit ich weiß, was ich ihm antworten kann.«

»Da bin ich auch überfragt …« Im Hintergrund hörte ich in Oskars Zimmer etwas scheppern. Ich deutete mit dem Daumen hinter mich. »Ich müsste auch gleich wieder.«

»Können Sie nicht oder wollen Sie nicht?« Meine Nachbarin fasste mich stirnrunzelnd ins Auge. »Was machen Sie denn beruflich?«

»Ich bin Assistentin in einer Rechtsanwaltskanzlei. Ursprünglich Fremdsprachensekretärin, um genau zu sein.«

Mein Gegenüber rümpfte die Nase, als sei das etwas Unanständiges.

Ich zeigte auf das Gerät in ihrer Hand. »Ich müsste den Beginn Ihrer Unterhaltung sehen, um zu verstehen, wie er das meint. Die Nachricht ist für sich alleinstehend doch etwas kryptisch«, ergänzte ich ausweichend. Erneut lauschte ich in mein Apartment hinein. Es schepperte leise weiter.

Pava Goldstein nahm mir das Handy wieder ab. »Dann eben nicht.« In drei Schritten war sie in ihrer eigenen Wohnung und schlug die Tür hinter sich ins Schloss.

Ich eilte zurück zu Oskar. Er hatte die Autokiste ausgeleert und reihte nun Fahrzeug an Fahrzeug in einer Schlange aneinander.

»Schön machst du das«, lobte ich und lief ins Wohnzimmer, nahm den Laptop vom Couchtisch und ging damit zurück zu Oskar. Dort setzte ich mich in den Sitzsack, den Sina ebenfalls neu angeschafft hatte. Im Internetbrowser tippte ich den Namen Pava Goldstein ein. Ich wollte sehen, mit wem ich es zu tun hatte.

Nachdem ich mir die Ergebnisliste etwas näher betrachtet hatte, zog ich mein Handy aus der Tasche und wählte Sinas Nummer.

»Sie schreibt was?« Die Stimme meiner Freundin klang fassungslos. »Erotikromane und Erziehungsratgeber?«

»Ja! Ist das nicht eine irre Kombination?« Ich kicherte. »Allein die Titel ihrer Romane! Eine Sekretärin für gewisse Stunden. Des Unternehmers feuchte Träume. Liebesspiele in der Mittagspause. Als ich ihr gesagt habe, was ich beruflich mache, hat sie richtig die Nase gerümpft, dabei hält sie meinen Beruf doch offenbar für sehr spannend!«

Sina und ich gackerten miteinander um die Wette. Oskar sah vom Spiel mit seiner Autoschlange auf. Es tat so gut, schon zum zweiten Mal heute zu lachen.

»Das will ich lesen!«, rief meine Freundin. »Gibt es das elektronisch? Ich muss sofort damit loslegen!«

Mit einem Klick folgte ich einem der Links. »Jepp, du kannst es dir als E-Book auf dein Handy laden. Die Ratgeber auch.«

»Worum geht es bei denen? Hat sie Ahnung von Kindererziehung? Oder geht es eher um Sadomaso?«

Wir kicherten erneut, doch zumindest die Sachbücher schienen harmloser Natur. Der Titel Kleine Schätzchen – große Monster sprach mich direkt an.

Im Hintergrund hörte ich, wie Leila »Wann kommst du denn endlich, Sina?« rief.

»Du, ich muss mal Schluss machen, wir sitzen an den Hausaufgaben. Und wegen der Lektüre werde ich berichten.«

Nachdem wir aufgelegt hatten, starrte ich nachdenklich vor mich hin. Es tat mir gut, wieder hier zu sein. Am Alltag meiner Freundinnen teilzuhaben, deren Leben auch nicht immer zum allerbesten verlaufen war. Wie selbstverständlich Sina in die Rolle als Leilas Ersatzmama geschlüpft war. Und wie bereitwillig das Mädchen Sina akzeptiert hatte.

Andere Kinder hatten Angst, sie könnten nicht mehr an erster Stelle stehen. Aber vielleicht hatte Elyas’ Tochter gespürt, dass es für Sina von Anfang an klar gewesen war, dass die Kleine immer Vorrang hatte.

Ob auch ich eines Tages einen Partner haben würde, der damit zurechtkam, dass es Oskar gab? Und würde mein Kind denjenigen an meiner Seite akzeptieren?

Als hätte mein Sohn meine Gedanken lesen können, ließ er von seinem Spiel ab und kam zu mir gelaufen. Er griff nach meiner Hand und zog daran.

»Komm bielen«, sagte er.

Schon wieder neue Wörter! Auch ihm schien die Rückkehr nach Frankfurt gutzutun. Ich hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn und setzte mich zurück auf den Spielteppich, griff nach dem letzten Auto in der Schlange.

»Brumm«, sagte ich und lächelte meinem Sohn zu, der nichts davon ahnte, dass morgen die Krippe startete. Und eine Woche später mein Wiedereinstieg in der Kanzlei anstand.

»Brummbrumm«, machte Oskar.

Vielleicht würde alles gut werden. Nach dem heutigen Tag konnte ich mir das zum ersten Mal vorstellen.

7

Die KiTa lag wenige Gehminuten von meiner Wohnung entfernt. Es war eine private Einrichtung für Kleinkinder bis drei Jahre. Als ich den Platz beantragt hatte, lebte Rahul noch. Damals hatte meine finanzielle Situation anders ausgesehen. Jetzt sah es nicht mehr allzu rosig aus. Die Kosten für Miete und Lebensunterhalt würden mein Teilzeitgehalt verschlingen. Die Halbwaisenrente für Oskar war nicht üppig, sie deckte die Kinderbetreuungskosten nicht. Also würde ich früher oder später die Arbeitszeit erhöhen müssen. Das Geld, das Sina für die Teppiche erzielt hatte, wollte ich möglichst nicht dafür verwenden, sondern als sichere Rücklage beibehalten.

Im Nieselregen schob ich meinen Sohn in seiner Karre über die feuchten Bürgersteige. Ich rubbelte mir die klammen Finger, hätte Handschuhe anziehen sollen. Mit der Leitung des Kinderhauses hatte ich vereinbart, dass Oskar und ich an diesem ersten Tag zwei Stunden bleiben würden. Ich sollte ihm nicht von der Seite weichen, um ihm Sicherheit zu vermitteln.

An der Eingangstür hing ein Computerausdruck mit der Aufschrift Wir haben Läuse.

Überrascht hob ich eine Augenbraue. Waren diese Tierchen nicht schon lange ausgerottet? Zögernd betätigte ich den auf Augenhöhe angebrachten Türöffner und schob Oskars Buggy durch die Tür.

Sofort empfing mich dieser Geruch nach Schrot und Korn, der in der Einrichtung in den Fluren hing wie in einem alten Bauernhof. Außerdem gefielen mir die hell bemalten Wände und die Möbel aus Holz. Jedes Kind besaß seine eigene Garderobe mit einer Kiste für die Wechselkleidung. Obendrein gab es einen Schlafraum mit der eigenen Bettwäsche und Kuscheltieren der Kids. Die Erzieherinnen erweckten einen warmherzigen und kompetenten Eindruck, und das Essen wurde von einem Anbieter geliefert, der auf ausgewogene Bio-Nahrung für Kleinkinder spezialisiert war.

Mit einem Nicken begrüßte ich eine Mutter, die gerade dabei war, ihrem Sohn Hausschuhe anzuziehen. Die Frau trug einen Jumpsuit mit Teddyjacke und Stiefeletten. Mir fiel ein, dass ich mir dringend Businesskleidung für die Arbeit zulegen musste.

Oskar kletterte aus dem Buggy und zog sich die Mütze vom Kopf. Seine leuchtende Haarpracht erntete von der Frau unverhohlene Aufmerksamkeit.

»Na, wer bist du denn?«, fragte sie. Sie gab mir die Hand. »Hi, ich bin Paula.«

Ihr Sohn hieß Enno und war im gleichen Alter wie Oskar. Schon brachte Paula Enno in die Gruppe, wünschte uns einen guten Start und verschwand. Ich hoffte sehr, dass ich Oskar bald ebenso problemlos hier zurücklassen könnte.

Leider gab mein Sohn seinen Einstand aber damit, in der voll ausgestatteten Kinderküche den kleinen Enno in die Hand zu beißen. Dieser hatte nach einem Plastiktopf gegriffen, in dem Oskar gerade mit einem Löffel rührte – und schon war es geschehen. Es war mir furchtbar unangenehm. Vor allem, weil Enno herzzerreißend weinte und sich der Abdruck von Oskars Zähnchen hartnäckig in der zarten Kinderhaut abzeichnete. Was würde seine Mama dazu sagen? Wäre sie die Nächste, die meinem Sohn einen Maulkorb verpassen wollte?

Unweigerlich dachte ich an den Astrophysiker. Er und ich hatten neben unserer Lieblingsserie ja sogar noch eine Gemeinsamkeit: ungeöffnete Post. Von welcher Frau mochte der Brief stammen, den er nicht öffnete? Eine, die seiner Leidenschaft für Sterne nichts abgewinnen konnte?

Diana, eine der beiden Erzieherinnen der Gruppe, klebte Enno ein Pflaster mit Bob-der-Baumeister-Motiv auf die Hand, und die Welt war für den kleinen Jungen wieder in Ordnung. Dann nahm sie Oskar mit zu sich an den Tisch und zeigte ihm eine große Box mit verschiedenfarbiger Knete. Sprach mütterlich mit ihm, schien ihm kein bisschen böse zu sein. Verstohlen zog ich mein Handy aus der Hosentasche und war im Begriff zu googeln, was das Internet zum Thema Beißwut bei Kindern meinte, als die andere Erzieherin Petra mir einen liebevoll-mahnenden Blick zuwarf. »Bitte keine elektronischen Geräte, wir wollen den Kids ein anderes Bild von Erwachsenen vermitteln. Wenn wir irgendwie erreichen wollen, dass unsere Kinder ohne diese Dinger auskommen, müssen wir ihnen ein gutes Vorbild sein. Achte am besten auch zu Hause drauf.«

»Vollkommen richtig«, bestätigte ich mit einem schlechten Gewissen und steckte das Handy fort, das im selben Moment vibrierte.

Wer textete mir denn da?

Ich nickte Petra und Diana zu, die jetzt einen Stuhlkreis für die insgesamt acht Kinder bildeten, um den Neuankömmling willkommen zu heißen. Diana nahm Oskar auf den Schoß und fasste ihn bei den Händen. Aufmunternd lächelte ich meinem Jungen zu.

Bald hob Petra zu einem Lied an. Glockenhell drang ihre Stimme durchs Zimmer. Es war ein lustiges Mitmach-Lied, dem Oskar mit großem Eifer folgte. Nach fünf Strophen klatschte er auf Dianas Schoß mit.

Ich hoffte, den Moment nutzen zu können, um kurz auf die Toilette zu gehen und dort einen Blick auf die Nachricht zu werfen, die ich bekommen hatte. Doch kaum hielt ich die Klinke in der Hand, begann Oskar zu weinen. Schon rutschte er von Dianas Knien. Ich stoppte und kehrte um, aber ich konnte ihn nicht dazu bewegen, sich zurückzusetzen. Fortan wich er mir nicht mehr vom Schoß. Weder Dianas ermunternde Worte noch die Kinderküche oder die Kiste voller Spielzeugautos vermochten ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Deprimiert sank ich zurück auf den Kinderstuhl. Ich hatte es vermasselt!

Auch Diana seufzte. »Wir hatten ja eigentlich vereinbart, dass du die ganze Zeit hierbleibst«, rügte sie. »Das ist ganz wichtig, damit die Kinder sich sicher fühlen. Wenn du bei der erstbesten Gelegenheit versuchst, dich aus dem Staub zu machen, merkt er sich das und ist ab jetzt auf der Hut.«

Ich wusste ja selbst, was ich angerichtet hatte. Und hätte ich geahnt, wer mir da eine Nachricht geschickt hatte, hätte es wirklich noch warten können. Es verdarb mir nämlich vollends die Laune.

Wie ich auf unserem Nachhauseweg feststellte, stammte sie von meinem Chef. Es gäbe eine kleine Änderung bei den Zuständigkeiten, schrieb Bachmann. Nicht er, sondern Henning Thomas sei künftig mein Vorgesetzter.

Entsetzt starrte ich auf die Mitteilung. Henning war derjenige, der vor vier Jahren dafür gesorgt hatte, dass Sina, die damals am Empfang der Kanzlei gearbeitet hatte, fristlos entlassen wurde. Wegen einer Lappalie.

Von wegen, alles würde gut werden!

Am nächsten Tag weigerte Oskar sich beharrlich, mich aus den Augen zu lassen. Weder während der Turnstunde noch im sogenannten Werkraum, in dem den Kindern erlaubt war, mit Rasierschaum zu matschen. Alle paar Minuten spähte Oskar in meine Richtung, um sicherzugehen, dass ich noch da war. Dabei kümmerten Petra und Diana sich wirklich liebevoll um ihn, versuchten, als Bezugspersonen eine Verbindung zu ihm aufzubauen. Doch es war nichts zu machen. Daran änderte auch der Teddy nichts, den wir auf Dianas Anraten hin mitgebracht hatten.

Ich fühlte mich wie ein Hund an der Leine. Sobald ich mich fortbewegte, wurde ich mit einem herzzerreißenden Weinen zurückgepfiffen.

Natürlich war mir klar, dass Oskar Verlassensängste quälten. Und wäre ich nicht selbst innerlich so zerrissen und voller Angst vor der nächsten Woche gewesen, wäre es mir vielleicht gelungen, ihm Sicherheit zu vermitteln. Doch so war die Mission zum Scheitern verurteilt.

Zu dieser Weisheit gelangte ich durch einen von Pava Goldsteins Ratgeber, den ich mir auf mein Handy geladen hatte und in dem ich zu Hause las. Das Gerät nahm ich nur noch in Ausnahmefällen zur Hand oder dann, wenn Oskar schlief oder anderweitig beschäftigt war.

Wenigstens hielt Oskar sich mit dem Beißen zurück. Ich wertete dies als Erfolg meiner Bemühungen, mich intensiver mit ihm zu beschäftigen. In der Stadtteilbibliothek deckte ich mich mit Bilderbüchern ein, die ihn begeisterten. Den Fernseher ließ ich aus und tobte stattdessen mit ihm durch die Wohnung, bis er vor Vergnügen schrie. Während ich spülte und abtrocknete, bot ich ihm in der Küche eine ganze Schublade voller Tupperware zum Spielen an.

Am Mittwoch sollte Oskar für eine Stunde allein in der Gruppe bleiben. Immerhin musste er ab Montag fünf am Stück durchhalten. Bei meinem Versuch, die Gruppe zu verlassen, krallte er sich jedoch so verzweifelt an mein Bein, dass ich es nicht übers Herz brachte zu gehen. Und so saß ich wieder auf dem Kinderstühlchen, selbst den Tränen nahe, weil Oskar mir leidtat, und ich mir selbst auch. Würde ich für alle Zeiten mit ihm in dieser KiTa verharren?

Als ich am Mittwochnachmittag nach Hause zurückkehrte, klingelte ich bei Pava Goldstein. Ich hatte sie in den letzten Tagen nicht gesehen, genauso wenig wie meine Freundinnen. Abends war ich total erschöpft, sodass ich immer früh ins Bett ging. Wenn Oskar nachts schrie, lag ich danach wieder Stunden wach. Grübelte vor mich hin, wie das alles noch werden sollte. Das Leben als Alleinerziehende jagte mir Angst ein. Was, wenn Oskar sich weiterhin so sehr an mich klammerte, dass nicht ans Arbeiten zu denken war?

Pava Goldstein öffnete die Tür. Auf ihrem Arm hielt sie die Katze, die ebenso müde aussah wie ihr Frauchen. Oskar streckte wieder die Hand nach dem Tier aus, ich sah genau, wie er es am Fell reißen wollte. Eilig setzte ich ihn auf den Boden.

Meine Nachbarin blickte mich aus kleinen Augen an. Ihr Haar war nicht so adrett wie die Male zuvor, und heute trug sie kein Kleid, sondern eine verwaschene Jeans und eine Bluse, an der ein Knopf fehlte.

»Habe ich Sie geweckt?«, fragte ich.

»Nein, ich habe gearbeitet.«

Ich schenkte meiner Nachbarin ein Lächeln. »Genau deswegen bin ich hier.«

Frau Goldstein runzelte die Stirn.

Schnell klärte ich sie darüber auf, dass es bei meinem Anliegen um ihre Erziehungsratgeber ging. »Ich bin noch nicht ganz durch, daher mal eine persönliche Frage. Was könnte ich tun, wenn Oskar mich partout nicht gehen lassen will?«

Besagtes Kind machte sich eben daran, rückwärts die Treppe in unserem Hausflur hinabzusteigen. Eilig lief ich zum ihm und nahm ihn wieder hoch, kehrte zu Frau Goldsteins Tür zurück.

»Von wo gehen? Aus dem Kindergarten?«

Ich nickte und erklärte ihr die Situation. Oskar auf meinem Arm wand sich quengelnd.

»Wenn ich Ihnen helfe«, sagte meine Nachbarin, »helfen Sie dann auch mir?«

»Wobei?«

»Bei der Übersetzung der Nachricht natürlich«, stellte sie klar. »Ich habe doch genau gesehen, dass Sie sie verstanden haben.«

Oskar beugte sich bedenklich nahe zu meiner Schulter, und ich wehrte ihn ab. »Es wird Ihnen gegebenenfalls nicht gefallen«, sagte ich zu meiner Nachbarin.

»Darum geht es ja gar nicht. Das, was ich Ihnen wegen Ihres Sohnes raten werde, gefällt Ihnen vielleicht auch nicht. Möglicherweise funktioniert es nicht einmal. Aber es ist einen Versuch wert. In beiden Fällen würde ich sagen.«

»Also gut.« Ich deutete zu meiner Wohnungstür. »Ich würde nur Oskar eben hinlegen. Treffen wir uns bei Ihnen oder bei mir?«

Frau Goldstein zog ihre Eingangstür näher zu sich heran, als wollte sie nicht, dass ich einen Blick hineinwerfe. »Bei Ihnen. Ich schreibe nur noch das Kapitel zu Ende.«

8

Voller Hoffnung zog ich am Donnerstagmorgen mit Oskar gen Kinderkrippe. Es war nasskalt, die Wolken hingen tief, die feuchte Luft zog mir in jede Pore. Dennoch war ich guter Dinge. Pava Goldstein hatte nicht lange mit ihrem Tipp hinterm Berg gehalten, und er klang so vielversprechend, dass ich ihn sofort ausprobieren wollte. Es blieben mir ja ohnehin nur noch zwei Tage für die Testphase – am Montag hatte ich meinen ersten Arbeitstag, und es musste klappen, dass ich pünktlich zur Arbeit kam. Welchen Eindruck würde es hinterlassen, wenn nicht? Zuvor musste ich mir noch neue Businessklamotten zulegen. Es war ewig her, dass ich Shoppen gewesen war. Die Bürokleidung aus der Zeit vor der Schwangerschaft passte mir nicht mehr. Und im Joggingoutfit konnte ich wirklich nicht in der Kanzlei aufkreuzen.

Als ich die Tür zur KiTa aufstieß, kam Enno, der auch gerade von seiner Mutter gebracht wurde, auf Oskar zugelaufen. Die Beißattacke vom ersten Tag war glücklicherweise vergessen, und auch die Mutter schien mir nicht gram, als ich mich jetzt bei ihr entschuldigte. Paula war Zahntechnikerin, und sie meinte, das Beißen sei Oskars Art, Stress abzubauen.

»Was meinst du«, sagte sie, als ich sie ungläubig anstarrte, »wie viele Topmanager nachts eine Beißschiene tragen müssen, um sich die Zähne nicht zu ruinieren? Wenn die tagsüber mal nach ihrem Boss schnappen könnten, bräuchten sie die wahrscheinlich gar nicht.«

Wir schmunzelten verhalten über ihren makabren Witz, dann musste Paula los ins Labor. Sie verabschiedete sich von Enno mit einem Kuss, und dieser zog Oskar, der seinen Teddy an sich presste, mit sich in den Gruppenraum.

Nun hätte ich mich natürlich auch unbemerkt aus dem Staub machen können, doch davon hatte Pava – wir waren inzwischen beim Du – mir dringend abgeraten. Ich dürfe Oskars Vertrauen nicht enttäuschen, sonst würde alles nur schlimmer werden. Es müsse ein Grund gefunden werden, der der Verabschiedung einen positiven Effekt geben würde.

Also folgte ich Enno und Oskar in den Gruppenraum, in dem Diana bereits den Stuhlkreis aufgebaut hatte, und bat sie um ihre Mithilfe. Wir würden mein Fortgehen spielerisch gestalten. Wenn nicht gar »zelebrieren«.

Das Fenster lag zur Straße hin. Ich nahm Oskar in den einen und Enno auf den anderen Arm und stellte mich mit ihnen an die Scheibe. »Ihr winkt doch gern. Wollt ihr mit mir zusammen Diana winken?«

Begeistertes Nicken. Die anderen Kinder der Gruppe wollten mitmachen und zupften an meinem Hosenbein. »Ihr dürft auch gleich«, versprach ich und starrte nach unten, bis endlich Diana auftauchte und mit den Armen wedelte. Oskar und Enno hoben die Hände und winkten eine Weile, dann setzte ich die beiden ab, und die anderen waren an der Reihe.

So ging es ein paar Minuten abwechselnd, bis Diana zurückkehrte. »Jetzt ist die Johanna an der Reihe«, verkündete sie. Sie warf mir einen skeptischen Blick zu. Dass sie nicht besonders viel von dieser Methode hielt, war ihr anzusehen.

Doch was tat mein Sohn? Strahlte mich an und zerrte mich zur Tür, damit ich endlich ging. Er konnte es kaum abwarten, ans Fenster zu kommen. »Mama winken!«, rief er und hielt sein Stofftier hoch. »Teddy auch!«

Auf dem Weg nach unten richtete ich ein gedankliches Stoßgebet an Pava. Wenn der Rest nun auch noch klappte, hatte sie etwas gut bei mir.

Oskar presste zusammen mit Enno die Nase gegen die Fensterscheibe, sie standen auf der Fensterbank, und hinter ihnen gab Diana acht, dass keiner von ihnen herunterfiel. Alle winkten frenetisch. Ich auch, und zwar so lange, bis mir der Arm wehtat. Dann ging ich wieder ins Haus und spähte durch die Scheibe in den Raum. Oskar und Enno spielten bereits in der Küchenecke. Wahnsinn. Wenn wir jetzt weiter übten und mein Zurückkommen jedes Mal ein bisschen hinauszögerten, war es vielleicht bald geschafft.

Und so taten wir es. Beim dritten Mal beachtete Oskar mein Hereinkommen gar nicht mehr, und so zog ich mich in den Flur zurück und las heimlich in Pavas Erziehungsratgeber. Darin waren auch jede Menge Tipps enthalten, wie man Kinder zur Mitarbeit motivieren konnte. Gut, zum Arbeiten war Oskar noch etwas zu klein. Doch Pava war der Meinung, man könne nicht früh genug damit anfangen. Toilettenpapier konnten angeblich schon die Jüngsten auffüllen.

Meine Gedanken schweiften wieder zu meiner Nachbarin, deren Charakter ich noch nicht ganz durchschaute. Zum einen verfasste sie ja diese Erziehungsratgeber, die den Eindruck vermittelten, als stehe sie mit beiden Beinen fest im Leben. Als könnte sie sich in andere – besonders in Kinder – sehr gut hineinversetzen. Darüber hinaus wirkte sie überkorrekt im Umgang mit Regeln – wenn man nur an ihre Hinweise auf den Buggy und das Schuhregal im Hausflur dachte. Doch diese Eigenschaften widersprachen vollkommen der Tatsache, dass sie in Liebesdingen – sprich: Männern – keinen Durchblick zu haben schien.

Inzwischen war ich zumindest im Bilde, von wem die verschlüsselte WhatsApp-Nachricht stammte, die sie mich zu übersetzen gebeten hatte. Pava und dieser William standen seit Monaten miteinander in Kontakt – persönlich getroffen hatten sie sich aber noch nie. Die Message, in der er sich darüber freute, dass sie »etwas« tatsächlich getan hatte, wofür er sie jetzt zur Hölle wünschte, konnte sie sich angeblich auch nicht erklären. Allerdings hatte ihr betroffener Gesichtsausdruck eine andere Sprache gesprochen. Sie hatte verletzt geblinzelt und war sich mit der Hand an die Kehle gefahren, hatte mit der zierlichen goldenen Kette gespielt und dann eine wegwerfende Handbewegung angedeutet. »Das ist nur seine Art von Humor.« Dabei hatte sie rote Wangen bekommen. War sie in diesen Mann verliebt? Noch immer wusste ich nicht sicher, was sie eigentlich getan hatte. Allerdings hatte ich eine leise Vermutung.

»Mama!« Oskar kam in den Flur und warf sich mir in die Arme.

»Na, habt ihr schön gespielt, Enno und du?«, fragte ich und gab ihm einen Kuss.

Schon riss er sich wieder los. »Mit Enno bielen!«, rief er und rannte zurück in den Gruppenraum.

Diana stand in der Tür und schüttelte lächelnd den Kopf.

9

Als ich am Freitagmorgen von der KiTa auf den Bürgersteig trat und mich winkend von Oskar und seinem Teddy am Fenster verabschiedete, um zu meiner geplanten Shoppingtour aufzubrechen, durchströmte mich eine Erleichterung, wie ich sie lange nicht mehr verspürt hatte.

Hoffnungsvoll ging ich die Straße entlang. Würden Oskar und ich in unserer Zweisamkeit glücklich werden? Konnte ich es schaffen, auch alleinerziehend eine gute Mutter zu sein?

Heute war es mir sogar gelungen, das Joggingoutfit gegen eine Jeans zu tauschen, die mir nur ein klein wenig zu weit war. Im Schrank hatte ich einen hellblauen Mohairpulli gefunden, der zu meinem honigblonden Haar passte, das mir glatt über die Schultern fiel. Statt des Parkas, den ich in die Waschmaschine gestopft hatte, trug ich einen dunkelblauen Wollmantel, den ich schon länger nicht getragen hatte.

Es war erst kurz nach halb neun, zum Shoppen war es zu früh. Also beschloss ich, Milla in ihrem Café zu besuchen, das unter der Woche um acht Uhr öffnete. Ich wollte meiner Freundin von meinem Erfolg mit Oskar erzählen und anschließend in Bornheim einkaufen gehen, wo es ohnehin viel schönere Geschäfte gab als in der Innenstadt.

Auf dem Weg aus der U-Bahn-Station entdeckte ich vor mir auf der Rolltreppe einen Mann in Jeans und Mantel, dessen Körpergröße und Haarfarbe mich unweigerlich an Nick, den Astrophysiker, denken ließen. Der Typ hielt den Kopf über ein Smartphone gebeugt und tippte mit beiden Daumen darauf ein. Unter seinem Arm klemmte eine zusammengerollte Zeitung. Heute trug er zwar keine Brille. Dennoch, diese Ähnlichkeit. Er musste es sein!

Jeweils zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte ich neben der Rolltreppe her und versuchte, ihn einzuholen. »Hey!«, rief ich leise. »Huhu!«

Nick geriet beim Abstieg von der fahrenden Treppe fast ins Stolpern.

»Willst du auch in Millas Café?«, platzte ich heraus.

Nicks Augen weiteten sich. »Kennen wir uns?«

Ich starrte ihn an.

Nun tippte er sich mit dem Handy gegen die Stirn. »Johanna, richtig? Entschuldige bitte, ich war wohl gerade …«, er betrachtete mich von oben bis unten, »unaufmerksam.«

Ich strich mir das Haar hinter die Ohren. »Schon gut. Am Sonntag war ich auch nicht in allerbester Verfassung. Hast du dein Jackett wieder sauber bekommen? Sonst zahle ich dir die Reinigung!«

Wieder sah Nick mich an, als wisse er nicht, wovon ich rede. Dann schnaubte er. »Ach das. Der Biss. Nein, alles halb so wild.«

Ich lächelte beschämt. »Okay.«

Während wir nebeneinander herliefen, erzählte ich ihm, dass dies mein letzter freier Tag und Oskar in der KiTa sei. »Und was machst du hier?«, fragte ich ihn. »Hast du keine Uni?«

»Doch, aber freitags frühstücke ich immer erst bei Milla.« Nun lächelte er. »Vielleicht essen wir heute wieder zusammen?«

Der Grund für seinen überhasteten Aufbruch am Sonntag schien vergessen.

»Ich bin tatsächlich auch auf dem Weg dahin.« Ich zeigte auf seine Zeitung. »Aber ich will dich nicht beim Lesen stören.«

»Die Nachrichten laufen mir nicht weg. Außerdem kannst du mir bei etwas helfen.«

»Okay?« Fragend sah ich ihn an, aber er schien mir nicht mehr verraten zu wollen, und so wanderten wir eine Weile schweigend nebeneinander her, bis wir bei Millas Café ankamen. Nick hielt mir formvollendet die Tür auf. Der Geruch nach gebrühtem Kaffee und frisch gebackenen Brötchen umfing uns sofort. Von der Deckenmitte baumelte heute auch ein großer Adventskranz, dessen dicke rote Kerzen bald brennen würden.

Milla kam uns mit Finja auf dem Arm entgegen. Das glatzköpfige Baby wackelte wieder vor Freude mit dem ganzen Körper. Nick bestellte gleich zwei Kaffee für uns – eine Schokolade wollte ich heute nicht – und zog sich schon an einen der Tische zurück.

Während ich meine Freundin und ihre Kleine mit einem Küsschen begrüßte, raunte Milla: »Ich hab noch zu Sina gesagt, das mit Nick und dir könnte passen. Aber dass es so schnell geht, das hätte ich nicht –«

Mein entsetzter Gesichtsausdruck brachte sie zum Schweigen.

»Wir sind uns zufällig begegnet«, stellte ich klar. »Und außerdem hat er mich gefragt, ob ich ihm bei etwas helfen könnte.« Ich beugte mich nah zu ihrem Ohr. »Ich weiß nicht recht, was ich von ihm halten soll. Am Sonntag haben wir uns zuerst so nett unterhalten. Und dann ist er mit einem Mal überhastet aufgebrochen, als hätte ich etwas Falsches gesagt. Ist er öfter so komisch?«

Milla streichelte mir über den Arm. »Vielleicht hast du ihn mit etwas aus dem Konzept gebracht, das mag sein.« Sie zwinkerte mir liebevoll zu. »Ich glaube, du gefällst ihm.«

Sie zeigte mit dem Kinn zu Nick, der mit der Zeitung ein paar Krümel vom Tisch fegte und dann den Zuckerstreuer samt Salz und Pfeffer genau in der Mitte der Tischplatte ausrichtete. »Er ist doch interessant, oder? Ein Mann mit Tiefgang. Und bei ihm muss man sich keine Sorgen machen, dass er sich nach der Toilette nicht die Hände wäscht, so ordentlich, wie der ist. Er findet auf meinen blitzsauberen Tischen immer noch einen Krümel.«

Schon eilte sie wieder davon.

Ich hängte Mantel und Schal an die Garderobe. Konnte es sein, dass Milla mir allen Ernstes Nick als potentiellen neuen Partner schmackhaft machen wollte? Kurz darauf rutschte ich ihm gegenüber in die Bank, griff nach der Frühstückskarte.

Nick sah mich prüfend an. »Ist was passiert?«

Verzagt sah ich Milla entgegen, die kurz darauf zwei Tassen Kaffee vor uns absetzte und unsere Bestellung fürs Frühstück entgegennahm. Als sie sich wieder entfernt hatte, beschloss ich, in die Offensive zu gehen. Getreu dem Motto, Angriff ist die beste Verteidigung.

Nick griff nach der Kaffeetasse und trank den ersten Schluck.

»Ich glaube, Milla will uns verkuppeln«, raunte ich.

Nick hustete, der Kaffee schwappte über den Tassenrand, lief ihm über die Finger. Klirrend stellte er die Tasse auf dem Tisch ab und schüttelte seine Hand. »Das ist doch lächerlich.«

Ich nickte nachdrücklich. »Natürlich ist es das. Ich möchte nur, dass du weißt, dass wir offenbar beobachtet werden.«

Nick schielte zu Milla, dann wieder zu mir. »Ich will nicht unhöflich sein. Aber du und ich …« Er schüttelte den Kopf.

»Eben. Wir können also weiterhin ganz wir selbst sein.« Zuversichtlich lächelte ich ihm zu. »Und du kannst mir sagen, womit ich dir helfen soll, ohne dass ich Angst haben muss, dass du mich nicht mehr magst, wenn ich ablehne.«

Nick wischte sich eine Haarsträhne aus der Stirn und räusperte sich leise. »Ich muss sagen, deine Offenheit ist erfrischend.« Er faltete die Hände auf dem Tisch und lehnte sich konspirativ nach vorn. So nah, dass ich in seinen Augen Kontaktlinsen erkannte. »Was Frauen betrifft, stehe ich oft auf dem Schlauch«, sagte er leise. »Und gerade habe ich eine Dame kennengelernt, mit der es vielleicht etwas werden könnte. Daher meine Frage. Über welches Mitbringsel zu einem ersten Date würde eine Frau sich freuen?«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739471990
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (November)
Schlagworte
romantisch Liebesroman Weihnachtsroman Frauenliteratur Winterroman Humor Weihnachtsgeschichte

Autor

  • Stina Jensen (Autor:in)

STINA JENSEN schreibt Insel- und Gipfelromane, romantische Komödien und Krimis. Sie liebt das Reisen und saugt neue Umgebungen in sich auf wie ein Schwamm. Meist kommen dabei wie von selbst die Figuren in ihren Kopf und ringen dort um die Hauptrolle in ihrem nächsten Roman. Wenn sie nicht verreist, lebt die Autorin mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt am Main.
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Titel: Sterne, Zimt und Winterträume