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GIPFELpink

Teneriffaroman

von Stina Jensen (Autor:in)
280 Seiten
Reihe: GIPFELfarben-Reihe, Band 4

Zusammenfassung

So hat Susa sich das nicht vorgestellt: Ihren Geburtstag soll sie ohne ihren Mann Tobi verbringen, weil ihm der Job mal wieder wichtiger ist. Kurzentschlossen bucht sie eine Single-Reise nach Teneriffa. Durch einen Buchungsfehler ist dort allerdings statt Sonne, Strand und Meer Wandern auf dem Vulkan angesagt! Zum Glück ist da der attraktive Sebastian, der ihre wunden Füße mit Pflastern versorgt. Seine liebevollen Aufmerksamkeiten sind wohltuend wie die pinkfarbenen Blüten inmitten der kargen Berglandschaft. Während Susa Gipfel erklimmt, wächst zu Hause bei Tobi die Unsicherheit. Würde Susa ihn jemals betrügen – oder hat sie es gar schon getan? Aus der Ferne versucht sie, ihn zu beruhigen – dabei stellt sich heraus, dass auch ihr Mann so seine Geheimnisse hat. Wer muss hier eigentlich wem verzeihen? Und gibt es überhaupt noch Hoffnung auf ein neues Kribbeln in ihrer alten Liebe? Sebastian macht ihr mit seiner charmanten Art die Antwort auf diese Frage nicht leicht …

Die Romane der INSELfarben- und GIPFELfarben-Reihe sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.

Die chronologische Reihenfolge der Romane: Inselblau (Svea, Langeoog und Mallorca), Inselgrün (Wiebke, Irland), Inselgelb (Claire, Island), Inselpink (Ida, Mallorca), Inselgold (Amanda, Rügen), Gipfelblau (Annika, Zermatt), Gipfelgold (Mona, Bad Gastein), Gipfelrot (Valerie, Schottland), Inseltürkis (Terry, Sardinien), Inselrot (Sandra, Sylt), Gipfelpink (Susa, Teneriffa), Inselhimmelblau (Svea, Langeoog), Gipfelglühen (Sebastian, Allgäu)

Außerdem: »Plätzchen, Tee und Winterwünsche«, »Misteln, Schnee und Winterwunder«, »Sterne, Zimt und Winterträume«, »Muscheln, Gold und Winterglück«, »Vanille, Punsch und Winterzauber«, »Mondschein, Flan und Winterherzen«, »Engel, Blues und Winterfunkeln«, »Sommertraum mit Happy End«, »Stürmisch verliebt«

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum

Erstausgabe: August 2020

© Stina Jensen

Robert-Bosch-Straße 48

61184 Karben

info@stina-jensen.de

www.stina-jensen.de

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung der Verfasserin urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werkes sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten zu existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Lektorat und Korrektorat: Ricarda Oertel www.lektorat-oertel.de

Covergestaltung © Traumstoff Buchdesign by Claudia Toman

Covermotive © Götz Keller sowie Vadym Pastukh und Lukiyanova Natalia frenta shutterstock.com

Das gesamte Programm von Stina Jensen findest du hier.

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Über die Autorin

STINA JENSEN schreibt Insel- und Gipfelromane, romantische Komödien und Krimis. Sie liebt das Reisen und saugt neue Umgebungen in sich auf wie ein Schwamm.

Meist kommen dabei wie von selbst die Figuren in ihren Kopf und ringen dort um die Hauptrolle in ihrem nächsten Roman. Wenn sie nicht verreist, lebt die Autorin mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt am Main.

Stina Jensen

So hat Susa sich das nicht vorgestellt: Ihren vierzigsten Geburtstag soll sie ohne ihren Mann Tobi verbringen, weil ihm der Job mal wieder wichtiger ist. Kurzentschlossen bucht sie eine Single-Reise nach Teneriffa. Durch einen Buchungsfehler ist dort allerdings statt Sonne, Strand und Meer Wandern auf dem Vulkan angesagt!

Zum Glück ist da der attraktive Sebastian, der ihre wunden Füße mit Pflastern versorgt. Seine liebevollen Aufmerksamkeiten sind wohltuend wie die pinkfarbenen Blüten inmitten der kargen Berglandschaft.

Während Susa Gipfel erklimmt, wächst zu Hause bei Tobi die Unsicherheit. Würde Susa ihn jemals betrügen – oder hat sie es gar schon getan?

Aus der Ferne versucht sie, ihn zu beruhigen – dabei stellt sich heraus, dass auch ihr Mann so seine Geheimnisse hat. Wer muss hier eigentlich wem verzeihen? Und gibt es überhaupt noch Hoffnung auf ein neues Kribbeln in ihrer alten Liebe?

Sebastian macht ihr mit seiner charmanten Art die Antwort auf diese Frage nicht leicht …

PROLOG

Es gibt diese Momente im Leben, die du niemals vergisst.

Der erste Kuss ist so einer. Oder auch der zweite, der dann hoffentlich besser gelingt als der davor.

Der Augenblick, wenn du alleine Fahrradfahren kannst.

Der allererste Sprung vom Fünfmeterbrett mit angehaltenem Atem.

Die Frage des Standesbeamten, die du aus vollem Herzen mit »Ja« beantwortest.

Der Blick in die Augen deines neugeborenen Kindes.

Die Sekunde, in der du erkennst, dass dein Vater gestorben ist.

Und der Moment, wenn dein Ehemann, mit dem du seit zweiundzwanzig Jahren zusammen bist, an einem Ort auftaucht, an dem du niemals im Leben mit ihm gerechnet hättest. Die Schrecksekunde, in der du realisierst, ihm erklären zu müssen, was du gerade tust. Mit diesen beiden Männern. Und wie es dazu kam.

Diese Momente vergisst du nie wieder.

1

Alles begann an einem jener Tage, an denen ich mich besonders verloren fühlte. An denen ich mich fragte, ob ich an den verschiedenen Abzweigungen, die das Leben in fast vierzig Jahren für mich bereitgehalten hatte, zu oft falsch abgebogen war. In solchen Momenten, in denen mir eigentlich nur zum Weinen zumute ist, zerstreut es mich, das Haus sauberzumachen. Mein Verdacht lautet, dass die Frauen, deren Häuser besonders sauber sind, sich sehr oft verloren fühlen. Eigentlich ist diese immerwährende Putzerei doch nur eine Ablenkung vom Wesentlichen. Verstaubte Regalflächen zu reinigen ist nun mal viel einfacher, als in seinem Leben aufzuräumen. Jedenfalls ging es mir an diesem Tag gar nicht gut.

Zum einen, weil mein Mann Tobi wie so oft seit Tagen auf Geschäftsreise war und sich kaum meldete – und deshalb zum wiederholten Male die Frage in mir bohrte, ob ich ihm komplett gleichgültig war. Zum anderen lag mein vierzigster Geburtstag vor mir. Ich meine: 40! Das klang doch recht alt. Und ich hatte noch keinen Plan, was ich an diesem denkwürdigen Tag eigentlich anstellen wollte. Irgendetwas Außergewöhnliches und Aufregendes wäre schön.

Bislang hatte ich noch nicht viel Aufregendes erlebt. Nur eine Sache hatte mich über alle Maßen in Unruhe versetzt, aber die versuchte ich nun schon seit zwei Jahren auszublenden. Es gibt nämlich Dinge, die sind zu aufregend.

Ich hatte mir jedenfalls vorgenommen, zusätzlich zum Reinemachen mal wieder ein paar Kleider auszumisten – es sammelt sich im Laufe der Jahre verdammt viel an.

Dabei stieß ich in meiner Strumpfschublade unter all den einzelnen Socken und Feinstrumpfhosen auf mein altes Tagebuch. Die Außenseite des Heftes zierte das unverwechselbare Abbild von Hello Kitty. Es war das einzige Tagebuch, das ich je besessen hatte. Kurz blätterte ich darin. Der erste Vermerk stammte aus dem Jahr 1992, als ich zwölf Jahre alt war. Insgesamt waren es neun Einträge, in denen ich besondere Ereignisse meines Lebens festgehalten hatte. Nicht besonders viele – das allein sprach doch Bände. Die letzte Notiz war ein Jahr alt.

Ich setzte mich aufs Bett und schlug die erste Seite auf. Nur fünf Minuten. Solange konnte der Hausputz warten.

1. Juli 1992

Hallo liebes Tagebuch!

Du gehörst jetzt mir, Susanna Weninger, geboren am 4. Juli 1980. Ich habe dich gekauft, weil heute mein allergrößter Traum in Erfüllung geht. Ich fliege zum allerersten Mal mit einem Flugzeug. Nach Teneriffa!!!! Gleich kommt das Taxi, und dann geht es los zum Flughafen. Ich freu mich so, aber eins macht mich doch ein bisschen traurig. Dass ich meinen zwölften Geburtstag ohne Valerie verbringen muss. Papa hat gesagt, man kann nicht alles haben, und ich könnte ja noch die nächsten dreißig Jahre mit meiner besten Freundin feiern. Na ja, ich hab die Augen verdreht. Da bin ich ja dann uralt!

Jedenfalls habe ich dich gekauft, um die Reise ganz genau aufzuschreiben. Und danach, wenn noch Platz ist, kann ich weiter die wichtigsten Ereignisse meines Lebens hier festhalten.

Ich bin gespannt, was die Zukunft für mich bereithält.

Susa

Ich lächelte in mich hinein. Obwohl ich erst zwölf Jahre alt gewesen war, klang ich schon ganz schön neunmalklug. Ich erinnerte mich daran, dass ich die Worte sehr achtsam wählte, da ich keinesfalls klingen wollte wie ein Kind, und an die Freude auf diesen Urlaub, der wirklich außergewöhnlich schön war. Mit gesenktem Blick las ich weiter.

10. Juli 1992

Liebes Tagebuch, mir ist was ganz Blödes passiert. Kaum war ich auf Teneriffa, hab ich vollkommen vergessen, dass ich dich dabei hab! Oh je. Und jetzt hab ich auch gar nicht so richtig Lust, alles aufzuschreiben, was passiert ist. Außer, dass es total toll war. Wir hatten ein Hotel direkt am Strand. Mit Schwimmbad! Ich war den ganzen Tag draußen im Wasser, meine Finger waren andauernd aufgeweicht. Mama hat gemeint, mir wachsen bald Schwimmhäute. Außerdem bin ich so braun geworden wie noch nie, und mein Haar ist jetzt strohblond. Zum Glück gab es genügend andere Kinder, mit denen ich spielen konnte, sodass ich Valerie kaum vermisst habe.

Das beste Erlebnis war, als wir einen Ausflug in den Loropark gemacht haben. Das war super! Es gab eine Delfinschau, eine mit Papageien und eine mit Seehunden. Was die alle für Kunststücke draufhatten! Und Kanarienvögel gab es. Zirkusnummern konnten die aber nicht.

Was mir an diesem Urlaub auch noch besonders gefallen hat, war, dass Papa so viel Zeit für mich hatte. Er hat gesagt, das wird leider vorerst das letzte Mal sein, weil er sich selbstständig macht, er gründet eine Firma. Es soll so ein richtiges Familienunternehmen werden, bei dem Mama im Büro mitarbeitet und später auch ich, wenn ich weiter in der Schule so gut mitmache. Allerdings will ich keine Elektrikerin werden, das hab ich ihm schon mal gesagt …

Jedenfalls war es ein toller Urlaub, und ich hab mir geschworen, dass ich irgendwann mal wieder hinwill nach Teneriffa. Dann ja vielleicht auch mit Valerie.

Susa

Schmunzelnd betrachtete ich die kindlichen Zeilen. Zu einem Urlaub mit Valerie auf Teneriffa war es leider niemals gekommen, da nach meinem Schulabschluss andere Dinge passiert waren, die das verhinderten.

Plötzlich erfasste mich ein aufgeregtes Kribbeln. Wie wäre es, wenn ich meinen Vierzigsten auf Teneriffa feiern würde? Das war doch die Idee!

Schnell verstaute ich das Heft wieder unter den Socken in der Schublade. Dann ließ ich den restlichen Hausputz einfach ausfallen und setzte mich an den Computer.

2

Es war der Sonntag nach meiner unvollendeten Putzaktion, mein Sohn Ben lehnte in der Küchentür. »Was gibt’s denn so Dringendes?«, fragte er auf meine Bitte hin, sich einen Moment zu Tobi und mir in die Küche zu setzen. Mit einer fließenden Bewegung zog er den Reißverschluss seiner Trainingsjacke hoch. »Ich muss gleich los.«

Tobi und ich hatten gerade gefrühstückt. Seit einiger Zeit taten wir das allein, weil unsere Kinder so früh – zehn Uhr dreißig! – nicht aus dem Bett zu bekommen waren. Ben nahm sich meist Bananen und Erdnussbutter mit zum Training, das um zwölf Uhr stattfand.

»Setz dich einfach kurz«, bat ich ihn abermals und rief ins Treppenhaus nach meiner Tochter. »Miri! Ich wollte mal kurz mit euch reden, kommst du bitte?« Ich hatte sie schon dreimal geweckt.

Ich hörte die Badezimmertür im oberen Flur klappen, Ben zog sich einen Stuhl heran und setzte sich auf die äußerste Kante. »Was also?« Fragend zog er die Augenbrauen nach oben.

Na gut, ich konnte ja schon mal anfangen. Ich zog den Farbausdruck des Prospekts eines Reiseveranstalters von der Anrichte – ich hatte lieber was in der Hand – und legte die Zettel auf den Tisch. Das Cover zeigte die geschwungene Küstenlinie Teneriffas inmitten des Atlantiks. Im Zentrum der Insel erkannte man den schneebedeckten Vulkan Teide. Die Aufschrift des Prospekts lautete Teneriffa – Insel der Träume.

In diesem Moment schlurfte Miri in die Küche und plumpste auf ihren Stuhl, gähnte demonstrativ. Wenn sie verschlafen war, erinnerte ihr Gesichtsausdruck an den eines Faultiers. Kaum zu glauben, dass dieses Kind früher keine Sekunde stillsitzen konnte und meist gerannt war. Müde hob sie ein Augenlid und schielte in Richtung des Ausdrucks. »Was ist das?« Ihre Stimme hätte nicht gelangweilter klingen können.

»Es geht um meinen Geburtstag«, sagte ich in die Runde. »Zu meinem Vierzigsten würde ich gern eine Woche mit euch und Oma auf Teneriffa verbringen.« Erwartungsvoll sah ich meine Familie an. Als die Jubelschreie ausblieben, tippte ich auf die Bilder der Hotelanlage. »Hier. Da ist für jeden etwas dabei. Es gibt Tennisplätze, Billard, Minigolf, verschiedene Pools, Massagen und …« ich warf Tobi einen Blick zu, »rund um die Uhr kostenloses W-LAN.«

Bisher war noch kein Urlaub vergangen, in dem mein Mann nicht mal zwischendurch arbeiten musste. Nur im letzten Jahr in Husum hatte er darauf verzichtet. Aber auf dieser Reise war alles anders gewesen.

»Echt jetzt?« Miri hatte inzwischen immerhin beide Augen geöffnet. Früher hätte die Aussicht auf eine Flugreise – wir waren meist an die Nordsee gefahren – einen Freudentanz hervorgerufen. Der blieb jetzt aus. Und auch Tobi und Ben schauten irritiert drein. Es mochte ja sein, dass unsere Kinder uns schon verschiedene Male zu verstehen gegeben hatten, dass sie nicht mehr mit uns in den Urlaub wollten. Aber das hier war anders!

»Hört zu«, sagte ich, »es geht hier wie gesagt um meinen Vierzigsten. Den will ich gebührend feiern, und zwar mit euch. Aber eben nicht irgendwo hier, sondern auf der Insel, auf der ich mal sehr schöne Tage mit Opa und Oma verbracht habe. Genauer gesagt hab ich schon meinen zwölften Geburtstag dort gefeiert. Valerie werde ich auch dazu einladen, sie hat mir damals schon gefehlt.«

»Valerie?« Miri sah mich grübelnd an. »Du hast doch am 4. Juli. Wenn ich mich nicht total täusche, sind sie und Matt da auf Sardinien.«

»Auf Sardinien?«

»Terry heiratet. Du weißt doch, Matts Ex-Schwägerin, oder wie man das nennt.«

Meine Freundin Valerie lebte inzwischen in Schottland, wo sie letztes Jahr auf ihrem Trip mit meiner Tochter einen Mann – Matt – kennengelernt hatte, ohne den sie nie wieder sein wollte. Im Mai war sie Mutter eines kleinen Jungen geworden. Kurz nach der Geburt hatte ich sie schon zusammen mit Miri besucht.

Jetzt ließ mein Kind die Zunge aus dem Mund hängen wie ein Tier, das nach Wasser lechzt. »Du weißt doch außerdem, dass ich zu Jamie wollte – und jetzt hat er ja sturmfrei, wenn Matt und Valli nach Sardinien fliegen.« Jamie war der Sohn von Matt. Miri hatte sich letztes Jahr auf ihrem Schottlandtrip in ihn verliebt, und bisher schien die Liebe noch kein bisschen abgekühlt.

Hilfesuchend sah ich zu Tobi, der zwischen den Zetteln blätterte, als suchte er etwas Bestimmtes. Ihm waren Geburtstagsfeiern noch nie wichtig gewesen. Seinen eigenen Vierzigsten hatte er nicht feiern wollen, dabei hatte ich ihm ein Fest in unserem Garten vorgeschlagen. Ich hätte neben meiner Familie und Valerie seine Arbeitskollegen eingeladen, aber bei diesem Vorschlag hat er sich fast überschlagen vor Ablehnung.

Ben griff nach den Resten einer Eierschale und zerbröselte sie in kleinste Teile. »Ich wollte es dir ja schon längst sagen, Mama. Dein Geburtstag fällt genau auf den Start des Trainingcamps in Marburg. Ich hab schon zugesagt, kann da auch nicht fehlen.« Er hob die Schultern. »Ich bin der wichtigste Stürmer, das wäre echt fatal.«

»Also gut.« Ich schluckte die Enttäuschung hinunter. »Dann eben ohne euch und Valerie.« Erwartungsvoll sah ich zu Tobi. »Aber du hast doch hoffentlich nichts Besseres vor?« Zu dritt mit Mama war zwar auch nicht meine Traumvorstellung. Aber was sollte man machen?

Mein Mann rückte seine Brille gerade, dann nestelte er an seinem Hemdsärmel herum. »Ich werd wohl nicht freinehmen können«, murmelte er. »Also – nicht, dass ich nicht mit dir feiern möchte. Aber ich kann keine ganze Woche weg.« Er hob bedauernd die Schultern. »Wir haben doch …«, sein Blick flog zu Ben, der die Augen verdrehte, »… den Rollout.«

Tobi arbeitete nun schon so lange in der Software-Branche, doch was ein Rollout war, hatte ich bis heute noch nicht richtig begriffen.

Niedergeschlagen blinzelte ich die aufsteigenden Tränen fort. Warum ließen mich denn alle im Stich?

Tobi griff nach meiner Hand. »An deinem Geburtstag hätte ich mir natürlich freigenommen, ist doch klar. Ich dachte, wir gehen irgendwo in ein nettes Lokal …«

Zu Papas Beerdigung waren wir auch in »ein nettes Lokal« gegangen. Nein, das wollte ich nicht. Ich wollte auf Teneriffa feiern. Diese Idee hatte mir so gut gefallen!

Miri beugte sich über den Tisch und tätschelte mir den Arm. »Fahr doch mit Oma. Die würde sich bestimmt über so eine Auszeit freuen. Und ihr beide könntet mal wieder so richtig schön in Erinnerungen an Opa schwelgen. Und wie ihr da mal vor dreißig Jahren zusammen wart.«

Fast hätte ich gelacht. Den Vierzigsten allein mit meiner Mutter? Zum Glück hatte ich Mama noch nicht gefragt, ob sie mit uns mitkommen würde. Nicht, dass wir uns nicht gut verstanden hätten, im Gegenteil. Aber es entsprach einfach nicht meiner Traumvorstellung.

Ben rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »War’s das? Ich muss echt los.«

Miri pustete sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Ich würd mich auch echt gern noch mal hinlegen.«

Wieder sah ich hilflos zu meinem Mann, der sich das stoppelige Kinn kratzte.

»Miris Vorschlag ist doch gar nicht so verkehrt – wenn du so unbedingt über deinen Geburtstag verreisen möchtest, fahr doch mit deiner Mummel. Ansonsten feiern wir ihn eben gebührend hier.« Er nahm meine Hand und drückte sie kurz. »In der Gerbermühle zum Beispiel. Das Ganze könnten wir mit einem ausgiebigen Spaziergang am Main verbinden.« Er hob den Zeigefinger. »Man kann, glaube ich, auch ein Feuerwerk anmelden. Da würde ich mich drum kümmern.«

Miri und Ben stießen synchron ihre Stühle zurück und kamen sich in der Küchentür fast ins Gehege. Was ging sie der Rest der Unterhaltung an, sie waren an meinem Geburtstag ja nicht mal in der Nähe.

»Und wenn wir auf Teneriffa nachfeiern würden? Vielleicht am Ende der Ferien?«, rief ich ihnen noch hinterher. Aber sie hörten mich gar nicht mehr.

Tobi stippte mit der Fingerspitze ein paar Brötchenkrümel vom Tisch. »Wir haben uns doch immer gewünscht, dass sie selbstständiger werden. Und letztes Jahr waren wir sogar ganz froh, ohne sie wegzufahren. Wenn du nicht in Frankfurt bleiben willst, könnten wir auch an den Rhein. Oder ins Elsass, in ein schönes Weinhotel. Wie gesagt, Donnerstag kann ich mir freinehmen. Aber mehr nicht.«

Wäre es eine Option, mit Tobi für einen Tag nach Teneriffa zu fliegen? Nein. Dazu war die Flugzeit einfach zu lang.

Wehmütig dachte ich an unseren Urlaub vom letzten Jahr. Tobi und ich hatten in dem Ferienhäuschen in Husum so etwas wie einen zweiten Frühling erlebt. Ich hatte die Zeit sehr genossen, auch wenn die Frage in meinem Kopf aufgepoppt war, ob ich die Gelegenheit unserer wiedererlangten Nähe dafür nutzen sollte, reinen Tisch zu machen und ihm von einem Fehltritt zu erzählen, der mir schwer auf der Seele lag. Vor allem aber wollte ich ihm sagen, dass diese Sache endgültig vorbei war. Vielleicht hätte Tobi mir bei der wieder aufgeflammten Verliebtheit dieser zwei Wochen verziehen? Wenn man jemanden nur genug liebte, dann konnte man ihm doch alles vergeben?

Doch dann hatte ich jeden sich bietenden Moment verstreichen lassen, weil ich Angst hatte, er könnte das Ende bedeuten. Und als wir zurück waren und wir uns damit auseinandersetzen mussten, dass unsere Tochter sich unsterblich in einen schottischen Musiker verguckt hatte, da war alles in den alten Trott zurück verfallen. Die wiedergewonnene Verliebtheit hatte sich zurückgezogen wie eine Wüstenblume, die nur für ein paar Stunden blüht und dann erneut im Sand verschwindet. Dabei hatten wir uns bei unserem Liebesrevival versprochen, wieder mehr auf die Körpersprache und die Signale des anderen zu achten. Wir wollten öfter Sex miteinander haben, mindestens einmal im Monat. Man sollte denken, dass das zu schaffen sein könnte. Tatsächlich hatte sich dieses Vorhaben jedoch als Herausforderung erwiesen.

Grundsätzlich hätte ich ja auch gar nichts dagegen gehabt, meinen Geburtstag zu zweit mit meinem Mann zu begehen. Aber eben nicht in Deutschland. Ich wollte es ein bisschen temperamentvoller. Nicht »gediegen« oder »gebührend«. Und auch nicht »gemütlich«. Abgesehen davon hätten wir ja vielleicht in diesem Urlaub mal wieder miteinander geschlafen? Wie lange war das letzte Mal eigentlich her?

Während Tobi vom Tisch aufstand, um mit Klappern und Klirren die Spülmaschine auszuräumen, blätterte ich noch einmal durch die Infozettel. Auf einer Seite blieb ich hängen. Dort bot man eine »abwechslungsreiche Ü30-Singlereise unter dem Motto ›Oro negro‹« an. Schwarzes Gold. Nannte man so vielleicht die dunklen Sandstrände? Auf einem Bild war ein luxuriös aussehendes Strandhotel in Playa de las Américas mit verlockend blau schimmerndem Pool abgebildet. Den Urlauber erwarteten entspannende SPA-Anwendungen. Das Logo des Veranstalters war ein Kanarienvogel mit goldgelbem Gefieder.

Verträumt sah ich aus dem Küchenfenster. Bestimmt existierte auf Teneriffa noch immer der Loropark, den ich damals mit meinen Eltern besucht hatte. Sogleich ließ ich die Schultern sinken. Was sollte ich denn alleine dort anfangen? Das war doch lächerlich. Und Single war ich auch nicht.

Eben griff Tobi nach den leeren Orangensaftgläsern auf dem Tisch und erhaschte einen Blick auf die aufgeschlagene Seite. »Guck mal hier«, sagte er und tippte auf einen Satz. »Der krönende Abschluss der Reise ist das Feuerwerk am 4. Juli am Strand von Las Américas im Hotel Palacio.« Er deutete auf das Datum. »Das ist doch genau dein Geburtstag.«

»Aber das ist eine Singlereise. Du willst mir allen Ernstes vorschlagen, meinen Vierzigsten alleine zu feiern?«

»Na ja, alleine wirst du nicht sein. Du kannst ja wie gesagt deine Mutter mitnehmen. Und bestimmt lernt man da auch andere ganz gut kennen.« Tobi lächelte schräg. Wie ein Verkäufer, der einem ein Gerät mit leichten Macken andrehen will.

Störte ihn der Gedanke denn gar nicht, dass ich jemanden kennenlernen könnte? Mich erfasste ein Kribbeln. Ohne meine Familie könnte ich mich natürlich mal von einer ganz anderen Seite zeigen. Ich wäre nicht Susa Brix, Mutter zweier Jugendlicher und Inhaberin eines Fachgeschäfts für Elektroinstallationen. Ich wäre einfach nur Susanna. Hätte mal keine Verpflichtungen meiner Familie gegenüber und könnte ein paar Tage Freiraum und Erholung genießen. Keiner würde von meinen Eheproblemen etwas ahnen oder von der Tatsache, dass mir Papas Tod noch immer zusetzte. Und dass ich in der Firma mit Sorgen zu kämpfen hatte, von denen ich manchmal nicht wusste, wie ich ihrer Herr werden sollte. Allen voran die Auseinandersetzungen mit diesem Kotzbrocken Bernd. Seit Papa tot war, gab es immer wieder Beschwerden über ihn. Er arbeitete ungenau. War unpünktlich. Zuletzt hatte eine Kundin sich darüber beschwert, er hätte anzügliche Bemerkungen gemacht. Bernd hätte zu ihr gesagt, er käme jederzeit gerne, wenn es mal wieder etwas »zu nageln« gäbe. Der Typ ging mir so auf die Nerven, es wäre herrlich, einmal eine Woche lang nichts von ihm zu hören oder zu sehen.

Verträumt lächelte ich in mich hinein. Ich würde einen Urlaub von meinem Alltagsdasein bekommen. Danach würde ich erfrischt zurückkehren. Vielleicht würden Tobi und ich uns nach so einer Pause wieder näherkommen?

Ehe ich es mich versah, zog mein Mann sein Tablet von der Anrichte und rief die Internetseite des Anbieters auf. Schnell fand er das Angebot »Oro negro«. Mit der Maus fuhr er über den Anmeldebutton. Ein Kommentar leuchtete auf. Es gab noch genau zwei freie Plätze. Buchen Sie jetzt!

Tobi tippte auf die Zahl. »Das passt doch perfekt für deine Mummel und dich.«

Stirnrunzelnd sah ich ihn an. »Wenn ich schon allein verreisen soll, dann richtig. Und es wäre sowieso nicht verkehrt, wenn Mama ein Auge auf Bernd hätte.«

Täuschte ich mich, oder glimmte mit einem Mal ein Funken Unsicherheit in den Augen meines Mannes auf? »Versprich mir, dass du keine Dummheiten machst«, neckte er. Sanft zwickte er mich in die Wange.

Ich konnte es mir nicht verkneifen, spielerisch aufzulachen. »Und wenn doch?«

»Das würdest du nie tun.«

»Natürlich nicht«, entgegnete ich.

Er hatte ja keine Ahnung, was ich in der Vergangenheit bereits getan hatte.

3

Normalerweise kümmert sich Tobi um die Organisation unserer Urlaube. Ich kann mich an keine Ferien erinnern, in denen es anders gewesen wäre. Zwar entscheiden wir immer gemeinsam, wohin die Reise gehen soll. Aber wenn es um die Buchung und das Kleingedruckte, die Zahlungsmodalitäten und Reiserücktrittsbedingungen geht, ist Tobi verantwortlich. Doch diesmal nicht, ich verreiste allein.

So akribisch ich auch im Beruf war – dort hätte ich niemals ungelesen etwas unterzeichnet –, so nachlässig ging ich bei der Buchung dieser Teneriffa-Reise vor. Nachdem ich mich damit abgefunden hatte, alleine zu fahren, war ich einfach nur beseelt von dem Gedanken, mir diese paar Tage Auszeit zu gönnen, sodass ich nicht mehr genau hinsah. Das versprochene Abschlussfeuerwerk am Strand des Hotels Palacio am Abend des 4. Juli und damit meines Geburtstags hatte den Ausschlag gegeben, die Reise sofort zu buchen.

Zu meiner Verteidigung kann ich nur sagen, dass mir für exaktere Recherchen auch die Zeit gefehlt hatte, weil ich in der Firma genügend zu tun hatte, um meine Abwesenheit zu organisieren. Außerdem half ich Miri bei den Vorbereitungen für ihre Fahrt nach Schottland und wusch eine Maschine Wäsche nach der anderen. An einem Nachmittag shoppte ich blitzartig einen Bikini im Retro-Look, todschicke Sandalen und ein figurbetontes grünes Kleid; obendrein erstand ich ein paar Bücher, die ich am Pool lesen wollte.

Zu Hause schleppte ich den Koffer aus dem Keller nach oben und begann zu packen. Dabei stieß ich in der Sockenschublade wieder auf das Tagebuch. Dieses Heft kannte alle meine Geheimnisse. Nicht, dass es besonders viele gegeben hätte, aber ein paar eben doch.

Ich setzte mich wieder aufs Bett und blätterte darin. Die jugendliche Schrift der anfänglichen Einträge zog mich wieder in ihren Bann. Diesmal ging es um Tobi und wie wir uns kennengelernt hatten. Mein Gott, war das lange her.

15. Juli 1998

Hallo Tagebuch, seit sechs Jahren hab ich dich jetzt und es gibt erst zwei Einträge. Ganz schön armselig. Es hat sich einfach nie eine Schreibroutine eingestellt. Ich mag jetzt auch nicht alles, das ich inzwischen erlebt habe, zusammenfassen, es erscheint mir sowieso komplett belanglos. Jetzt allerdings gibt es doch etwas zu berichten, von dem ich später vielleicht gern mal lesen werde. Ich hab Abi gemacht (Schnitt 1,9!), und außerdem bin ich achtzehn geworden. Davon will ich erzählen.

An dem Tag war eine Open-Air-Disco, wo meine Freunde und ich hingehen wollten. Aber dann wurde Valerie krank, und sie durfte nicht mit. Ihre Eltern sind total schräg, beide Ärzte … Jedenfalls hätte sie sich wegen ihres angeschlagenen Immunsystems angeblich sonst was holen können. Ich war nicht mehr besonders motiviert, mit den anderen hinzufahren, denn ohne Valerie macht alles nur halb so viel Spaß. Ich bin dann aber trotzdem mitgekommen. Und dann hab ich an dem Abend jemanden kennengelernt. Tobi. Ein supernetter Typ, er sieht voll süß aus. So intellektuell. Er hat hellbraune Haare, ist einen Kopf größer als ich, ziemlich schlank und trägt eine Nickelbrille. Irgendwie fand ich ihn direkt zum Knuddeln. Und er kennt sich total gut mit Computern aus, was ich cool finde, weil ich ja seit diesem Sommer selbst einen eigenen PC habe. Tobi studiert in Darmstadt Informatik, er ist fünf Jahre älter als ich.

Jedenfalls haben wir uns beim Bierholen getroffen. Es war total laut um uns rum und so richtig unangenehm voll, das Bier gab es in Halbe-Liter-Plastikbechern. Tobi war mit einem Freund da, der irgendwohin verschwunden war. Während wir auf die Getränke gewartet haben, habe ich ihm über den ganzen Lärm hinweg zugebrüllt, dass ich die Musik furchtbar finde. Der DJ war auf dem Schlagertrip, keine Ahnung, was das sollte. Tobi hat dann gemeint, dass wir doch einfach gehen könnten, an den See in der Nähe zum Beispiel. Also hab ich zusammen mit ihm das Bier bei den anderen abgeliefert, und dann haben wir uns in die laue Sommernacht abgesetzt. Es hat nach Heu gerochen und Tobi nach Sonnencreme. Wir sind dann zu diesem Badesee, wo ich nachmittags mit den anderen schon schwimmen war, dort haben wir es uns am Ufer bequem gemacht. Und dann haben wir gequatscht. Die ganze Nacht. Ich glaube, ich habe mit noch niemandem – außer mit Valerie natürlich – so viel am Stück gequasselt. Wir haben uns unsere kompletten Lebensgeschichten erzählt. Was aber echt das Verblüffendste war: Unsere Weltanschauungen decken sich voll miteinander. Wir denken zum Beispiel, dass in Israel echt dringend ne Lösung hermuss, sonst gibt es da noch Krieg. Und diese ganzen Konflikte auf der Welt, die machen uns Angst. Genauso wie das ganze Waldsterben und die Atompolitik. Ich hab noch nie einen Jungen getroffen, der zugegeben hat, dass er sich vor was fürchtet. Tobi hat mir sogar gestanden, dass er eigentlich voll schüchtern ist, und dass er noch nie jemanden vorher angesprochen hat. Aber mich hätte er unbedingt kennenlernen wollen. Und dann hat er den Arm um mich gelegt, als mir kalt war. Er hat sehr schöne Hände, so stelle ich mir die Hände eines Klavierspielers vor, aber Tobi kann kein Instrument, er spielt nur gern Computerspiele. Er hat mir ein paar aufgezählt, aber ich kannte kein einziges. Außerdem hat er einen schönen Mund, die Lippen sind genau richtig. Wir haben beide keine Geschwister und finden es manchmal belastend, dass alle Aufmerksamkeit auf uns liegt. Er fand es auch ziemlich abgefahren, dass ich bei Papa im Büro nach den Ferien eine Ausbildung anfangen werde. Immerhin hab ich ein gutes Abi, ich könnte ja auch studieren. Aber ich hab es Papa versprochen, und was soll ich machen? Die Lehre fange ich zwar erst in zwei Wochen an, aber ich helfe auch schon eine ganze Zeit lang im Büro mit. So ist das nun mal in einem Familienbetrieb. Tobis Eltern sind richtig alt, beide in Rente. Sie haben ihn voll spät bekommen, aber eben auch deswegen erwarten sie nur Glanzleistungen von ihm. Er hat vor fünf Jahren das beste Abi seines Jahrgangs gemacht. Und beim Studienabschluss rechnen sie nicht mit weniger.

Jedenfalls waren wir uns einig, dass wir eines Tages mindestens zwei Kinder wollen, damit denen diese Erfahrung erspart bleiben würde. Obwohl wir uns gleichzeitig gefragt haben, wie lange die Erde uns Menschen wohl noch aushalten wird. Und ob man auf diesen Planeten überhaupt Kinder setzen sollte. Doch wenn – dann zwei. Dabei haben wir uns verschwörerisch angegrinst, als hätten wir damit eine stillschweigende Vereinbarung getroffen.

Irgendwann haben wir uns für ein Bad im See entschieden. Wir hatten in dem Moment keine Badesachen, sind einfach aus unseren Klamotten gestiegen und rein. Ich meine, wenn man so unter Wasser an jemandem entlangstreift, sich berührt … Es war irre erotisch, als er mich dann mit der Hand wie zufällig an der Hüfte gestreift hat. Wir haben gekichert und an den Händen gefasst und ganz leicht geküsst. Dann mehr. Wir haben uns umarmt, das Wasser schwappte zwischen uns durch, und es war schon ziemlich offensichtlich, dass Tobi Lust auf mich hatte. Und ich auch auf ihn. Zum Glück hatte er Kondome dabei, wir sind also wieder zurück ans Ufer geschwommen, und dann ... Und, na ja, und seitdem sind wir unzertrennlich. Es ist so schön mit ihm.

Leider hab ich gleich an diesem Abend Mist gebaut, aber davon erzähle ich später. Ich muss los, Papa braucht mich.

Ergriffen blinzelte ich ein paar Tränen fort. Ich erinnerte mich noch gut daran, wie ich am nächsten Tag nach Hause gekommen war und fortan an nichts anderes mehr denken konnte als an Tobi. Es hatte mir so sehr geschmeichelt, dass er ausgerechnet mich auch so toll fand. Mit seinen damals dreiundzwanzig Jahren war er mir vorgekommen wie ein Mann. Dabei waren wir beide unter heutiger Betrachtung noch völlige Kindsköpfe gewesen.

Ich blätterte die Seite um und las weiter.

30. September 1998

Tobi und ich sind jetzt seit fast drei Monaten zusammen. Meine Erwartung ist natürlich nicht, dass wir für immer und ewig ein Paar sein werden. Aber gleichzeitig, und das sag ich jetzt nur hier und nicht mal Valerie, kann ich mir Tobi wirklich gut als Vater meiner zukünftigen Kinder vorstellen. Er kann alles so gut erklären, ist total intelligent. Er liest sich einmal was durch, und zack, ist es auch schon in seinem Kopf. Es gibt nur eine Kleinigkeit, die mich ein bisschen an ihm stört, und das sind die Computerspiele. Zur Zerstreuung, wenn er viel gelernt hat, was er echt meistens tut, spielt er Anno 1602, ein Strategiespiel, in dem er sich richtig verliert. Ich hoffe, das wächst sich nicht zu einem Problem zwischen uns aus. Letztens hat er gemeint, ich sollte doch mal mitspielen, aber ich hab einfach kein Interesse daran. Es sei denn, hab ich lachend gesagt, es gäbe ein Einhorn, das ich reiten könnte – aber das hat noch keiner erfunden, sagt Tobi.

Na ja, eigentlich wollte ich über etwas anderes schreiben, wo ich zuletzt unterbrochen wurde. Tobi wollte bei unserem ersten Abend am See wissen, ob er mein erster wäre und ich hab einfach »Ja« gesagt. Eine richtig doofe Lüge. Über sowas Wichtiges. Dabei hab ich mich ja leider vor drei Jahren dem Erstbesten hingegeben, weil ich die Sache hinter mich bringen wollte. Ich bereue es auch, aber was soll ich machen, es ist nun mal passiert! Jetzt mal angenommen, wir bleiben zusammen, dann würde immer diese Lüge zwischen uns stehen. Irgendwann sollte ich es ihm also besser sagen.

Seit zwei Monaten mache ich jetzt ja auch die Ausbildung bei Papa. Es ist ganz okay. Eigentlich wär ich gern auch mal unter andere Leute gekommen, hätte mir vorstellen können, Germanistik oder sogar Lehramt zu studieren. Stattdessen bin ich jetzt noch mehr mit meinen Eltern zusammen als vorher. Früher war ja wenigstens Schule. Na ja, ich sollte mich nicht beklagen, sie haben ja nur mich. Und irgendwer muss den Betrieb schließlich eines Tages weiterführen. Auch, wenn es lange hin ist – man soll an die Zukunft denken, sagt Papa. Wenn ich an sie denke, sehe ich allerdings nur Tobi. Und das fühlt sich ziemlich schön an.

Mit einem Seufzen schlug ich das Heft wieder zu. Wer hätte damals ahnen können, dass Papa zwanzig Jahre später sterben und mir alles hinterlassen würde? Und dass ich dann immer noch mit Tobi zusammen wäre?

Ich stand auf und legte das Heft zurück in die Schublade, überlegte es mir dann jedoch anders. Besser, ich nahm es mit. Nicht, dass Tobi auch noch Lust bekam, aufzuräumen. Nicht auszudenken, wenn er darin lesen würde. Es blieb nicht bis zum Schluss so harmlos.

Bei einem Skype-Telefonat mit Valerie am selben Tag gestand ich ihr, wie aufgeregt ich darüber war, mich in das Abenteuer dieser Reise zu stürzen. »Mein erster Urlaub nur für mich«, hauchte ich fassungslos. »Ich war noch nie alleine weg!« Tatsächlich fühlte ich mich wie ein Kind vor der ersten Übernachtung ohne Eltern.

Meine Freundin verpasste meiner Euphorie einen Dämpfer. »Es könnte sein, dass deine Mitreisenden alle Mittsechziger sind. Das hört man doch auch von Ü30-Partys immer wieder.«

Mittsechziger? Ich hatte zwar keineswegs vor, mit einem der Gruppenteilnehmer etwas anzufangen. Aber ich würde doch wohl Spaß haben und abends nicht nur Bridge spielen?

Jedenfalls waren dies die einzigen Gedanken, die ich im Vorfeld an diesen Urlaub verschwendete. Kein Mal sah ich mir den Reiseplan genauer an, der vierzehn Tage vor dem Abflug bei mir eintraf. Fahrlässig, ich weiß. Sonst hätte ich sicher bemerkt, dass es sich bei dieser abwechslungsreichen Singlereise keineswegs um einen typischen Strandurlaub mit abendlichen Partys an der Hotelbar handelte. Doch das sollte ich erst später herausfinden.

4

Am Tag der Abreise trug ich die Reiseunterlagen und auch das Tagebuch in meiner Handtasche bei mir. Ich hatte mir vorgenommen, mir mit beidem im Transitbereich die Zeit zu vertreiben; besonders die Reisebeschreibung wollte ich endlich eingehender studieren. Es waren offenbar ein paar Ausflüge geplant, zu denen man sich anmelden konnte.

Tobi brachte mich zum Flughafen. Er hielt auf dem Kurzzeitparkplatz vor der Abflughalle, für lange Abschiedsszenen blieb keine Zeit.

»Sei schön brav«, sagte mein Mann und nahm mich etwas ungelenk in den Arm, was auch an dem breitkrempigen Sonnenhut lag, den ich auf dem Kopf trug – woanders wäre kein Platz dafür gewesen. Ich hatte mir das Teil vor einem Jahr am Nordseestrand gekauft. Zum leichten Sommerkleid trug ich die nagelneuen Sandalen mit zierlichem Absatz. Einzig meine Unterwäsche war ein wenig in die Jahre gekommen. Aber nach der Anreise kam die nach der Dusche heute Abend sowieso in den Wäschesack.

Tobi und ich gaben uns einen Kuss in der Art, wie länger verheiratete Ehepaare das nun einmal tun. Dann nahm ich den Rollkoffer und zog ihn hinter mir her durch die automatische Tür. Ich warf einen Blick über die Schulter zu meinem Mann, der mir mit erstaunlich nachdenklicher Miene hinterher sah, und hob die Hand. Dann schlossen sich die Schiebetüren, und ich war mitten im Gewusel der Reisenden. Mein letzter Flug war Jahre her, deshalb brauchte ich eine Weile, um mich in der Abflughalle zu orientieren.

Schließlich hatte ich das Gepäck aufgegeben, die Sicherheitskontrollen passiert und suchte mir am Gate einen Platz mit Blick zum Rollfeld mit all den Flugzeugen, die dort über die Fahrbahnen zogen. Mit der Handykamera nahm ich ein Foto auf und stellte es in die Familiengruppe. Miri antwortete mit einem Herzchen und den Worten VIEL SPASS!

Es würde eine der wenigen Nachrichten sein, die wir miteinander austauschten. Schon letztes Jahr, als Miri in Schottland gewesen war, hatte sie sich mit Berichterstattungen zurückgehalten. Ich musste wohl einsehen, dass meine Tochter und ich keine besten Freundinnen waren, so wie das bei anderen Müttern und Töchtern der Fall zu sein schien. Dabei war es immer mein Traum gewesen, die engste Vertraute meines Mädchens zu sein. Doch leider war sie manchmal eine solche Kratzbürste, dass ich kaum an sie herankam. Nachdenklich sah ich in die Ferne. Als ich in ihrem Alter war, hatte schon längst festgestanden, was ich später mal machen würde. Miri hingegen hatte noch nicht den geringsten Plan. Ich glaubte, dass sie insgeheim darauf hoffte, eines Tages, wenn ihr schottischer Freund mit seiner Musik berühmt geworden war, mit ihm durch die Welt zu jetten.

Ich fischte das Tagebuch aus der Tasche und beschloss, ein wenig weiterzulesen. Den Reiseunterlagen konnte ich mich später immer noch widmen.

7. Mai 2000

Es ist so viel passiert in den letzten zwei Jahren. Ich wollte immer schreiben, aber seit ich bei Papa mit der Ausbildung angefangen habe, hatte ich keine ruhige Minute mehr. Und dann bin ich auch noch schwanger geworden, weil Tobi und ich die Verhütung vermasselt haben. Wir waren fassungslos, als wir den Test machten. Wenn ich ehrlich bin, habe ich mich noch immer nicht richtig daran gewöhnt, dass ich inzwischen Mama bin. Und verheiratet! Dabei bin ich erst zwanzig. Tobi und ich haben einen kleinen Jungen bekommen, wir haben ihn Ben genannt. Die Ausbildung hab ich zum Glück abschließen können, durch das Abi konnte ich die Zeit verkürzen.

Wenn ich ganz ehrlich bin, hat mir das alles jedenfalls eine Weile die Luft genommen. Hätte ich nicht Valerie an meiner Seite gehabt, die das alles auch ziemlich crazy fand, dann wäre ich wahrscheinlich durchgedreht. Na ja, aber so sieht die Sache nun mal aus. Mama unterstützt mich mit Ben, sie ist eigentlich die ganze Zeit da, sodass ich weiter stundenweise arbeiten kann. Nebenher lassen Tobi und ich ein Haus bauen. Mit Doppelgarage und Terrasse. Unsere Eltern haben uns was dazugegeben. Auf der einen Seite finde ich das alles total abgefahren, weil wir beide noch so jung sind. Aber andererseits, das meint auch Valerie, hat man dann ja alles auch ziemlich schnell hinter sich und kann noch relativ jung das Leben wieder genießen.

Trotzdem würde ich manchmal gern in die Zukunft sehen, um zu überprüfen, ob ich die richtigen Entscheidungen getroffen habe. Wer weiß, vielleicht bereue ich das ja irgendwann mal alles? Eigentlich wollten wir ja zwei Kinder haben, aber das kann ich mir im Moment überhaupt nicht vorstellen. Auch, weil Tobi manchmal nächtelang vorm Computer hockt und irgendwas programmiert oder spielt. Immerhin schnallt er sich dabei manchmal Ben vor die Brust, wenn er nachts quengelt. Und wenn der das Klackern auf der Tastatur hört, schläft er gleich wieder ein. Wenn ich sie dann beide so zusammen sehe, läuft mir natürlich fast das Herz über vor Liebe. Ich meine, was kann man sich mehr wünschen, als das? Trotzdem steht mir der Sinn nicht nach einem zweiten Kind. Vielleicht ändert sich das ja aber auch noch.

Und was soll es überhaupt bringen, viel zu grübeln? Die meiste Zeit denke ich sowieso über nichts nach, weil ich kaum Zeit dazu habe. So wie eben, als ich mal in den alten Tagebucheinträgen gelesen habe und dabei darauf gestoßen bin, dass ich ja eigentlich Tobi davon hatte erzählen wollen, dass er gar nicht mein erster Mann gewesen ist. Eigentlich hätte ich das doch zumindest vor der Hochzeit tun sollen? Valerie findet es gar nicht so dramatisch, sie hat gesagt, das wäre ja immerhin vor meiner Zeit mit Tobi gewesen und darüber sei ich ihm keine Rechenschaft schuldig. Hat sie auch wieder recht. Aber es nagt trotzdem an mir. Egal. Das Leben ruft, eben ist Ben wachgeworden. Ich finde, er ist das süßeste Baby auf der ganzen Welt. Er sieht aus wie Tobi in Klein. Ich liebe die beiden wie verrückt.

Schmunzelnd hielt ich inne. Was hier nicht stand, war, dass ich in jener Zeit manchmal erst mittags aus dem Schlafanzug gekommen war. Und dass ich bei jeder Kleinigkeit vor Überforderung geweint hatte. Nach der Geburt hatten die Hormone verrücktgespielt, und ich hatte die meiste Zeit des Tages gedacht, die Welt ginge unter. Tobi hatte es mit Fassung getragen, aber manchmal hatte es bestimmt auch für ihn Momente gegeben, in denen er ins Zweifeln gekommen war. Vielleicht war sein Rückzug an den Computer auch eine Art Flucht. Und sicher war er genauso überfordert wie ich.

Ich blätterte um und las weiter.

17. März 2008

Meine Güte, schon wieder sind Jahre vergangen. Es sollte doch eigentlich zu schaffen sein, zumindest einmal im Jahr einen Tagebucheintrag zu bewerkstelligen, aber es klappt einfach nicht. Meine Tage sind so sehr durchgetaktet, dass ich am Abend wie halbtot aufs Sofa sinke und mich frage, wo dieser Tag schon wieder geblieben ist. Ich werde einfach mal kurz alles zusammenfassen, denn im Grunde – bis auf die Rastlosigkeit, die ich jeden Tag erlebe – ist mein Leben ein gleichförmiger Strom an Alltäglichkeiten, die kaum erwähnenswert sind.

Also, mit irgendetwas muss ich ja beginnen:

Das Haus ist natürlich schon lange fertig. Wir fühlen uns sehr wohl hier am Ortsrand von Berkersheim, die Kinder haben viel Platz zum Spielen. Ja, richtig, inzwischen sind es zwei Kinder; Tobi und ich sind vor vier Jahren doch noch Eltern einer kleinen Tochter geworden, die wir Miriam genannt haben. Miri ist ein Wirbelwind und Sonnenschein; Ben ist der Sportliche in der Familie, mit seiner Fußballmannschaft gewinnt er einen Pokal nach dem anderen. Vor zwei Jahren ist er schon in die Schule gekommen, Mama macht mit ihm Hausaufgaben, ich arbeite halbtags bei Papa. Tobi ist bei einer Softwarefirma angestellt; seit einigen Monaten ist er für Linatux – so heißt die Firma – viel beruflich unterwegs, manchmal sogar am Wochenende. Das mit dem Computerspielen zu Hause ist nicht besser geworden, dabei arbeitet er sowieso schon so viel. Hier bleibt dann alles an mir hängen. Miri geht vormittags in den Kindergarten, was ein Segen ist, sonst würde ich gar nichts mehr auf die Reihe kriegen. Allein, während ich hier mal ein paar Worte zu Papier bringen will, bin ich schon x-mal unterbrochen worden. Mit einem Kind war es ja schon anstrengend, aber seitdem wir zwei haben … Mehr werden wir jedenfalls nicht bekommen, das ist beschlossene Sache. Irgendwann will ich auch mal wieder leben. Ich bin jetzt achtundzwanzig. Die meisten Frauen in meinem Alter – Valerie eingeschlossen – sind gerade auf dem Höhepunkt ihres Lebens. Klappern am Wochenende die Clubs ab, treffen sich bei schönem Wetter im Park und sonnen sich. Zwischendurch wird mal die Wäsche für den Einpersonenhaushalt gewaschen. Ich weiß nicht, wann ich zuletzt mal fünf Minuten am Stück irgendwo gesessen und in die Luft geguckt hätte!

Ich weiß, es ist total albern, aber mir kommen gerade die Tränen. Manchmal habe ich das Gefühl, es dauert nur noch einen Wimpernschlag, und schon bin ich vierzig. Allein bei dem Gedanken schnürt sich mir die Kehle zu. Als würde jemand den ersten Nagel in meinen Sarg hämmern.

Und das Schlimmste: Bei Tobi und mir ist total die Luft raus. Er ist der Vater meiner Kinder, und deswegen liebe ich ihn. Ohne ihn hätte ich die beiden nicht, und so stressig auch alles ist, ich würde sie um nichts in der Welt wieder hergeben wollen. Aber gleichzeitig hält mein Mann sich auch verdammt viel aus allem raus. Ich meine, er kümmert sich natürlich ums große Ganze wie die Abzahlung des Hauskredits, und ob wir uns ein neues Auto anschaffen oder nicht. Aber das ganze Drumherum mit der Familie bleibt an mir hängen. Valerie meint zwar, er würde mir jeden Wunsch von den Augen ablesen. Aber das ist wirklich nur so, wenn sie dabei ist. Da zeigt er sich von seiner besten Seite.

Was unser Liebesleben betrifft – da passiert gar nichts mehr. Natürlich erlebt man im Laufe einer Beziehung Höhen und Tiefen. Aber bei uns ist es so eine Nulllinie. Da sind weder Berge noch Täler, es ist alles ein gleichförmiger Brei. Wir küssen uns mal zwischendurch, so ist es nicht. Aber darüber hinaus? Nada. Soll das jetzt für immer so bleiben? Wir reden auch gar nicht mehr so richtig miteinander. Ich hab keine Ahnung mehr, was in Tobi vorgeht. Wenn wir uns austauschen, dann über die Kinder. Das ist so unendlich frustrierend.

Nicht mal mit Valerie spreche ich über diese Gedanken, sie würde es ohnehin nicht verstehen, sie findet mich beneidenswert. Meint, ich hätte alles erreicht, wovon sie nur träumen kann: Mann, Haus, Garten, Kinder. Und ich? Mittendrin. Wie taub. Begreifst du mich, liebes Tagebuch?

Vermutlich nicht.

Ist ja auch hirnrissig.

Ich hob den Kopf und sah mich in der Wartehalle um. Hoffentlich merkte mir niemand an, dass mir gerade der Schweiß ausbrach. Dass es schon vor zwölf Jahren so schlecht um Tobi und mich gestanden hatte, war mir gar nicht mehr so bewusst gewesen. Den nächsten Eintrag hatte ich sechs Jahre später angefertigt, und ja – daran erinnerte ich mich lebhaft.

3. November 2014

Tobi und ich streiten viel. Er ist unzufrieden, weil er auf der Arbeit viel zu tun hat, aber wenig Verantwortung übernehmen darf. Er möchte gern »mehr erreichen«. Und letztens kam er dann mit der Idee, sich im »Gaming-Business« selbstständig zu machen. Er hätte mit ein paar Leuten zusammen eine Idee entwickelt, die sehr vielversprechend wäre. Allerdings müsste er, um die Entwicklung des Ganzen zu finanzieren, erst mal hunderttausend Euro einbringen.

Hunderttausend?

Wir haben ein Haus abzubezahlen. Noch leben wir gut, können uns fast jedes Jahr einen Urlaub an der Nordsee leisten. Manchmal ist auch noch was für neue Anschaffungen übrig. Aber hunderttausend? Nein. Die Hälfte wäre noch zu viel!

Sie hätten auch Investoren an der Hand, die ebenfalls Geld reinbuttern würden.

Mag ja sein, aber was setzt er aufs Spiel? Kann er mir garantieren, dass die Sache gutgeht? Dass das Spiel zu dem Verkaufsschlager wird, den er sich in ein paar Jahren davon verspricht? So lange dauert nämlich so eine Entwicklung.

Ich denke da an einen Bekannten, er ist Banker. Er hat den Job verloren. Die Hausfinanzierung war so eng gestrickt, dass das Arbeitslosengeld nicht gereicht hat, sie mussten das Haus verkaufen.

Tobi hat Papa als Beispiel angeführt, der sich vor fünfundzwanzig Jahren auch selbstständig gemacht hat. Stimmt schon, aber Handwerk wird immer gebraucht. Wie ist das mit Computergames? Die Konkurrenz ist doch riesig!

Er hat es letztendlich gelassen. Aber ihm ist anzusehen, dass es an ihm nagt. Immer sieht er mich so merkwürdig an. Und seitdem redet er nicht mehr über die Arbeit. Früher haben wir uns schon mal darüber ausgetauscht, jetzt gar nicht mehr.

Ich weiß nicht, ob das noch mal wird. Es macht mir Angst. Die Kinder brauchen uns noch, besonders Miri steckt gerade in einer schwierigen Phase.

Vor einigen Jahren gab es sogar mal einen Moment, in dem ich dachte, Tobi würde mich verlassen. Er hatte eine Tasche gepackt und war verschwunden, und ich hab furchtbare Angst bekommen, ihn zu verlieren. Dabei hatte ich nur eine seiner Geschäftsreisen vergessen. Jetzt denke ich manchmal, es wäre besser, wenn wir getrennter Wege gingen. Andere tun das auch, und die Welt geht nicht unter.

Aber noch bin ich nicht so weit. Ohne Tobi würde es mir jedenfalls nicht besser gehen.

Manchmal muss das als Grund fürs Zusammenbleiben reichen.

Nachdenklich starrte ich auf diese letzten Zeilen. Es hatte nicht gereicht. Zwar hatte ich mich nicht von ihm getrennt. Aber ich hatte etwas anderes zugelassen.

Traurig blätterte ich zur nächsten Seite.

5. April 2018

Vier Jahre ist es her, dass ich dieses Hello-Kitty-Heft zur Hand genommen habe. Seither ist viel passiert. Tobi und ich sind noch zusammen, so viel vorab. Aber Papa geht es nicht gut. Gar nicht. Vor sechs Monaten hat er die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs bekommen. Was das heißt, weiß man ja. Die Heilungschancen sind sehr gering. Es bricht mir das Herz, ihn so leiden zu sehen, und gleichzeitig entfacht es eine unbändige Wut in mir, für die ich kein Ventil finde. Die meiste Zeit beiße ich mir auf die Zunge und versuche irgendwie klarzukommen. Aber innerlich zerreißt es mich. Wie soll ich Mama trösten und ihr Mut zusprechen, wenn ich selbst gar keinen habe? Wenn Papa nicht mehr da ist, wird das ein schreckliches Loch in unsere Mitte reißen.

Früher wäre Tobi für mich dagewesen, hätte mich aufgefangen, mir Kraft gegeben in dieser schwierigen Zeit. Aber er ist selten zu Hause. Endlich hat er in der Firma erreicht, was er wollte. Trägt Verantwortung. Genaugenommen ist er nur noch unterwegs. Er fliegt nach Boston, Portland oder Michigan, nach Tokio und Shanghai. Und Köln natürlich, dort findet die größte Messe der Branche statt.

Zwischendurch war in der Zeitung zu lesen, dass die Firma, bei der er angestellt ist, in eine wirtschaftliche Schieflage geraten ist. Es war sogar von Bankrott die Rede. Aber Tobi meinte, seine Stelle sei nicht betroffen, im Gegenteil, er hätte richtig viel zu tun. Mittlerweile blicke ich gar nicht mehr durch, was er eigentlich macht, aber es scheint hochwichtig zu sein. Wichtiger als wir allemal. So wichtig, dass er nicht mal mit mir darüber redet.

Vor vier Wochen stand dann plötzlich dieser Mann bei uns im Geschäft. Paul Gawin heißt er. Außer mir war noch Bernd im Büro, unser ältester Mitarbeiter, der mich noch immer behandelt, als wäre ich das Lehrmädchen, aber das tut jetzt nichts zur Sache. Zuerst nahm ich nur Pauls tiefe Stimme wahr. Sie ist so tief, dass sie etwas im Bauch zum Schwingen bringt. Und dann stand er vor meinem Schreibtisch. Fragte, ob wir ihm ein Angebot für die Elektroinstallationen in seinen neuen Büroräumen machen könnten. Der Vermieter lasse ihm da freie Hand, er bräuchte zusätzliche Steckdosen und Internetzugänge. Und das Licht sei eine Katastrophe. Er arbeitet als selbstständiger Werbefachmann, entwirft Kampagnen für eine Frankfurter Brauerei und mehrere Gaststätten.

Bernd übernahm das Gespräch, die beiden redeten dann weiter, aber ich konnte meine Augen nicht von diesem Mann lassen. Er trug schwere Stiefel und hielt eine Motorradjacke über der Schulter, an den Unterarmen ist er tätowiert. Zwischen den Tattoos, die irgendwelche verschlungenen Muster zeigen, schimmern goldene Härchen. An diesem Tag trug er ein schwarzes, verwaschenes Shirt, bei dem sich am Kragen eine Naht gelöst hatte. Das Haar ist kinnlang, es reicht sogar für ein kleines Zöpfchen. Er könnte nicht unterschiedlicher aussehen als Tobi, der Jeans und Hemd bevorzugt, dazu weiche Turnschuhe und keine Motorradstiefel, so wie Paul.

Bernd musste dann weg, und Paul fragte mich, ob ich einen Kaffee für ihn hätte. Er hätte zuletzt morgens einen gehabt und leide unter akutem Koffeeinmangel. Ich hab gegrinst, ihm mit zittrigen Händen eine Tasse eingegossen und ihn weiter angestarrt, als wäre er vom Himmel gefallen. Und so fühlt es sich noch immer an. Paul hat etwas in mir zum Klingen gebracht, von dem ich gedacht hatte, dass es tot wäre. Wir haben Kaffee getrunken und geredet. Ich hab viel gelacht, und das will was heißen bei den ganzen Sorgen um Papa.

Irgendwann kam das Thema aufs Privatleben. Er ist auch verheiratet, noch nicht lange Vater, sein Sohn ist ein halbes Jahr alt. Er sagte, er würde sich jetzt schon drauf freuen, wenn er seinen Kleinen das erste Mal auf dem Motorrad mitnehmen könnte. Und dann hat er vollkommen unvermittelt gefragt, wie das so bei mir und meinem Mann gewesen wäre, nachdem die Kinder da waren. Hat sich das normalisiert?, hat er wissen wollen. Und dabei hat er ein so vielsagendes Gesicht gemacht, dass ich sofort wusste, worauf er anspielt.

Leider nicht, hab ich geantwortet und seine Tasse noch mal befüllt.

Als er ging, waren wir für zwei Tage später verabredet. Damit ich mir die Räumlichkeiten anschauen konnte, in denen wir die Elektrik erneuern würden.

Ich fuhr hin und … es ist einfach passiert. Ich hatte noch nie solchen ungehemmten Sex. Klar kenne ich Leidenschaft mit Tobi. Aber so etwas habe ich noch nie erlebt. Noch nie hat mich jemand so sehr gewollt und es mir so deutlich zu verstehen gegeben. Paul ist laut beim Sex, sein Stöhnen hallt mir noch Stunden später in den Ohren. Genauso wie die Worte, die er mir zuflüstert. Allein, wenn ich daran denke, zieht es mich zu ihm hin.

Seit ich Paul kenne, fühle ich Leben in mir pulsieren wie schon lange nicht mehr. Ich stehe unter Adrenalin-Dauerbeschuss, weil mir natürlich klar ist, dass es unrecht ist, was ich tue, und gleichzeitig genieße ich es so sehr, dass ich mir vorkomme wie eine läufige Hündin.

Pauls Büroräume liegen nur zwei Kilometer von Papas Geschäft entfernt, es ist ein Leichtes, auf dem Nachhauseweg bei ihm vorbeizuschauen. Da ich sonst auch noch oft Besorgungen mache, merkt niemand, dass ich mich verspäte. Es ist ein Spiel mit dem Feuer, von dem ich weiß, dass es irgendwann enden wird. Enden muss. Weder Paul noch ich wollen uns von unseren Partnern trennen, darüber sind wir uns einig. Wir suchen nur ein wenig Abwechslung aus dem Alltag. Er hat nur sechs Monate Frust ausgehalten, ich immerhin achtzehn Jahre.

Zurzeit ist es besonders schlimm mit den Kindern. Hätte ich jemals geglaubt, dass meine süße Tochter so schwierig werden würde? Sie ist erst vierzehn, aber sie schwänzt andauernd die Schule. Hängt mit Mädchen ab, die ich nicht kenne. Verweigert mir die Antwort. Ben soll bald Abi machen, aber was tut er stattdessen? Rennt von einer Party zur nächsten, und wenn er doch mal zu Hause ist, hängt er – ganz der Vater – vorm Computer. Tobi verkrümelt sich auf seine Geschäftsreisen, die immer länger dauern, und zu Hause wird er jeden Tag wortkarger. Die Arbeit schlaucht, meint er, wenn ich ihn danach frage – aber allzu sehr hake ich nicht nach, aus Angst, er könnte mich nach meinen Tagen befragen.

Natürlich befürchte ich, dass die Bombe eines Tages platzen könnte. Aber diese Furcht wird mich auch morgen nicht davon abhalten, wieder zu Paul zu fahren.

Abermals sah ich auf. Zwei Jahre war dieser Eintrag her, es folgten nur noch zwei.

Entschlossen stopfte ich das Tagebuch zurück in die Tasche und fischte die Reiseunterlagen hervor, um sie endlich näher anzuschauen.

5

Mama hatte mich gelöchert, wo genau das Hotel lag, in dem ich auf Teneriffa absteigen würde, und zumindest das hatte ich mir eingeprägt. Es handelte sich um ein SPA-Ressort in Las Américas, das keine Wünsche offenließ. Es gab nicht nur einen Innen- und einen Außenpool, sondern auch diesen ansprechenden Wellness-Bereich, der an 1001 Nacht erinnerte.

Erwartungsvoll öffnete ich die dünne Broschüre, in der man mich noch einmal als Teilnehmerin willkommen hieß und mir ein »unvergessliches Abenteuer« versprach. Das hörte sich gut an, obwohl ich als Slogan für einen Urlaub in einem SPA-Hotel eher »Entspannung pur« oder etwas Ähnliches gewählt hätte. In der Firma gab ich mir immer besonders viel Mühe mit den Anzeigetexten.

Eine männliche Stimme sprach mich von der Seite an. »Ist hier noch frei?«

Ich hob den Kopf und grüßte den großen und schlanken Mann mit einem Nicken, wandte mich wieder der Broschüre zu. Soeben hatte ich eine Packliste entdeckt. Man sollte unbedingt »angemessenes Schuhwerk« mitnehmen. In meinen Augen gehörten Sandalen, Ballerinas und Flipflops in diese Kategorie. Gab es Gäste, die in Winterstiefeln anreisten?

Der Mann neben mir stellte einen Rucksack zwischen seinen Beinen ab. Ich warf einen schnellen Blick in seine Richtung. Er gehörte zu diesen Typen, denen graue Schläfen ziemlich gut standen. Aus hellbraunen Augen lächelte er mir zu und deutete mit dem Kinn auf die Unterlagen in meiner Hand. »Wie ich sehe, haben wir dasselbe Ziel.« Schon streckte er mir die Hand hin. »Ich bin Sebastian übrigens. Sebastian Liebermann.« Sein Händedruck war fest. »Wenn es okay ist, können wir uns gerne duzen.«

»Klar. Ich bin Susanna«, entgegnete ich. Sehr schön. Dieser Mitreisende war unkompliziert und schon mal nicht Ü60. Ich schätzte ihn auf round about Tobis Alter. Also vielleicht fünfundvierzig.

Der Mann ließ meine Hand wieder los. »Ich wollte nicht beim Lesen stören.«

Ich klappte die Broschüre zu. »Dazu ist ja auch später noch genügend Zeit.«

Er lächelte fragend, als wunderte es ihn, dass ich mich offenbar zum ersten Mal mit der bevorstehenden Reise beschäftigte.

Entschuldigend hob ich die Schultern. »Ich war ziemlich busy in den letzten Wochen, daher –« Mitten im Satz stoppte ich. Hatte ich mir nicht vorgenommen, nicht allzu viel von mir preiszugeben? »Wie auch immer«, schloss ich den begonnenen Satz, »ich freue mich auf alles, was diese Reise für mich bereithält und lasse mich einfach überraschen.«

Um die Augen meines Banknachbarn zeichneten sich Lachfältchen ab. »Endlich mal den Alltag hinter sich lassen und auf andere Gedanken kommen, was?«

Spielerisch hob ich den Daumen. »So ist es.«

Ein kurzes Schweigen breitete sich zwischen uns aus. Vielleicht hatte mein Mitreisender auch beschlossen, nicht allzu viel von sich preiszugeben?

»Freust du dich auch so auf den Pool?«, fragte ich lächelnd. »Ich hab mir einen ganzen Schwung Bücher eingepackt. Die werde ich alle genüsslich lesen, dabei einen Drink süffeln, mich gelegentlich im Wasser abkühlen und ansonsten einfach nichts tun.«

Mein neuer Bekannter sah mich verblüfft an, dann lachte er leise. »Witzig«, sagte er schließlich und stieß mich sanft in die Seite.

Ich spürte, wie ich errötete. Eigentlich hatte ich keinesfalls einen Scherz gemacht. Was sollte man am Pool oder am Meer denn viel anderes tun? Vielleicht war er ja jemand, der Wellenreiten oder Paragliding machen wollte. Ich jedenfalls würde hauptsächlich entspannen.

»Darf ich fragen, welche Marke dein Rucksack hat?«, unterbrach mein Sitznachbar meine Gedanken. »Versteh mich nicht falsch«, verstohlen blickte er zuerst an der Handtasche und dann an meiner Kleidung entlang, zuletzt streifte sein Blick den Sonnenhut, der in der Abflughalle möglicherweise etwas deplatziert wirkte, »aber du siehst nicht danach aus, als wolltest du demnächst durchs Gebirge wandern. Da braucht es schon was Bequemes für die Schultern.« Er zwinkerte. »Vor allem bei den ganzen Büchern, die du dabeihast.«

Nun fasste ich das Outfit des Mannes genauer ins Auge. Er trug ein dunkelblaues Poloshirt und eine kurze Trekkinghose. Eine von der Art mit Reißverschluss, die man zu einer langen Hose umfunktionieren konnte. Seine Füße steckten in Wanderschuhen.

Sebastian folgte meinem Blick. »Die hab ich gleich angezogen, damit sie nicht zu viel Platz im Gepäck wegnehmen.«

Ich nickte verstehend. Mein Verdacht lautete, dass wir nicht von derselben Reise sprachen. Er mochte bei derselben Reisegesellschaft gebucht haben. Aber darüber hinaus gab es keine Überschneidungen. Unauffällig schielte ich auf die Reisebroschüre, die ich noch immer in der Hand hielt. Dachte an den Hinweis auf »angemessenes Schuhwerk.«

Moment mal.

In diesem Augenblick wurden die Passagiere zum Einstieg aufgerufen. Zuerst die hintersten Reihen. Ich stopfte den Prospekt zurück in meine Tasche und verabschiedete mich mit einem »Auf bald« von meinem Mitreisenden, der weiter vorn im Flugzeug einen Platz hatte.

Am Drehkreuz zeigte ich das E-Ticket und den Personalausweis vor. Kurz darauf saß ich neben zwei Asiaten auf meinem Platz im Flugzeug und schlug abermals den Prospekt auf, blätterte durch die Seiten. Zuerst gab es jede Menge Informationen über Land und Leute. Deswegen hatte ich auch gar nicht bemerkt, dass möglicherweise etwas faul war. Aber dann kam der genaue Reiseablauf. Gleich nach unserer Ankunft würde unser Reiseleiter Felipe uns vor Ort in Empfang nehmen. Und von dort ging es weiter mit dem Bus in Richtung Teide, wo unsere »Campbasis« zwischen Santiago de Teide und Erjos lag.

Camp-Basis? Ungläubig las ich weiter. Das konnte nicht sein. Ich hatte niemals einen Zelturlaub gebucht. Nie! Ach hier. Gott sei Dank. Wir waren in »komfortablen Steinhäusern« untergebracht. Mit malerischem Ausblick zum Teide. Das war doch dieser Vulkan. Der höchste Berg Spaniens, wenn ich mich richtig erinnerte. Okay, aber der war ja quasi von überall zu sehen. Alles halb so wild. Außerdem wurde hier versprochen, dass uns am Ende des Tages zur Abkühlung ein Pool zur Verfügung stehen würde. Schnell las ich weiter. Stieß auf den Begriff Wandertouren. Plural.

Für unsere zehnköpfige Gruppe stand vier Mal Wandern auf dem Programm. Eine durchschnittliche Tour dauerte fünfeinhalb Stunden. Zwischendurch gab es auch einen Besuch im Loropark, den letzten Tag hingegen würden wir im Hotel Palacio verbringen. Meine Augen scannten den Ablauftext an diesem Punkt der Reise ab. Und da war sie, die Party am Strand, um unseren Reiseabschluss zu feiern. Hier war auch der inkludierte SPA-Besuch erwähnt, der mich geködert hatte. Am letzten Tag! Ansonsten nur stramme Fußmärsche! Und ich besaß weder den von meinem Mitreisenden empfohlenen schulterschonenden Rucksack noch Wanderschuhe. Von meiner schwachen Kondition ganz zu schweigen.

Grübelnd starrte ich auf die Mappe. Ich würde auf gar keinen Fall bei dieser Reise mitmachen. Wandern? Ich? Nein. Ich würde einfach umbuchen. Auf Teneriffa würde ich mir diesen Reiseleiter Felipe schnappen und mit ihm die Planänderung klarmachen. Ihm in Ruhe erklären, dass ich die Wanderschuhe zu Hause vergessen hätte und deswegen in einen Strandurlaub switchen müsste. Ich konnte wohl kaum zugeben, diese Reise nur aus Versehen gebucht zu haben.

Schließlich beruhigte ich mich einigermaßen. Es war ja alles halb so wild. Ich hatte schon ganz andere Dinge bewältigt. Oder eher Tobi hatte sie für mich erledigt. Er war der Problembeseitiger der Familie. Auf ihn war immer Verlass. Plötzlich vermisste ich meinen Mann ganz entsetzlich. Er würde mich jetzt ganz wunderbar beruhigen können. Mir versichern, dass ich mir keine Sorgen machen sollte. »Alles wird gut, Susa«, würde er sagen und mir einen Kuss auf die Stirn geben.

Natürlich bin ich eine eigenständige Frau, so ist es nicht. Ich brauche keinen Mann, der mich rettet. Aber wie in jeder Beziehung spielen sich nun mal gewisse Abläufe ein. Und so wie Tobi zu den Männern zählt, die gelegentlich eine echte »Männergrippe« zelebrieren, bei der ich ihn dann wie eine Mutter pflege, so kümmert er sich eben um mich, wenn mir die Nerven durchgehen. Früher, als die Kinder kleiner waren, geschah das öfter als heute.

Nach dem Start stöpselte ich Kopfhörer in die Ohren, lauschte dem Sommermix, den Miri mir zusammengestellt hatte, und blätterte in dem Duty-free-Magazin der Fluggesellschaft. Dabei stach mir ein hübscher, geblümter Wanderrucksack in Pink ins Auge. Er war vielleicht nicht unbedingt für einen Trekkingurlaub im Gebirge ausgelegt, aber für den Strandurlaub, in den ich hoffentlich umbuchen konnte, würde so ein Teil nicht schaden. Angenommen, ich kaufte das Ding für alle Fälle. Immerhin würde es mich dann nicht ganz so dämlich aussehen lassen. Welcher normale Mensch, der einen Wanderurlaub gebucht hatte, vergaß schon die festen Schuhe und den Rucksack zu Hause? Niemand.

Suchend blickte ich mich nach der Stewardess um, die die ersten Getränke ausgab. Dabei traf mein Blick Sebastian Liebermanns, der sich in diesem Moment ebenfalls aufgerichtet hatte. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, und er nickte mir zu. Ich spürte, wie ich errötete. Das Ganze war mir entsetzlich peinlich. Dabei konnte er doch nicht das Geringste von meiner Not ahnen.

Seufzend sank ich in den Sitz zurück. Diese Leute konnten mir vollkommen egal sein. Ich würde nicht die erste Reisende sein, die sich in der letzten Minute umentschied. Also leistete ich mir schließlich den angepriesenen Rucksack. Er wurde mir in einer Einkaufstasche übergeben, die die Stewardess für mich in dem Ablagefach über unseren Köpfen verstaute. Schon fühlte ich mich besser. Genoss den Blick nach draußen zu der Welt unter uns. Land wechselte in Meer. Endlich tauchte die Gruppe der Kanarischen Inseln am Horizont auf. Bald würde ich dort am Meer auf einer bequemen Liege verweilen und diesen Fehlstart vergessen haben.

An der Kofferausgabe wurde es noch einmal tricky. Nach langen Wegen durch die Flure, immer dem »Equipaje«-Zeichen hinterher und beladen mit Handtasche, Einkaufstasche und Sonnenhut, gesellte sich mein Mitreisender wieder zu mir, um mit mir nach unserem Reisegepäck Ausschau zu halten. Sebastians großer Rucksack war eines der ersten Teile auf dem Band. Mein Koffer ließ auf sich warten. Sebastian schulterte sein prall gefülltes Gepäckstück und blieb neben mir stehen.

»Du kannst ruhig schon vorgehen«, sagte ich und wedelte mit der Hand in Richtung Ausgang. Wenn er die Größe meines Gepäcks sehen würde, wäre bestimmt wieder eine Bemerkung fällig.

»Ach was, ich warte gern mit dir.« Sebastian lächelte mir rückversichernd zu. »Vielleicht kann ich dir tragen helfen, du siehst ja schon ziemlich bepackt aus.«

»Mein Koffer hat Rollen«, erwiderte ich und schaute weg. Er war ja nett, und unter normalen Umständen hätte ich ihn vermutlich sogar interessant gefunden. Aber jetzt hätte ich mir gewünscht, er ließe mich in Ruhe.

»Ist auch besser so, wegen der ganzen Bücher.« Sebastian zwinkerte wissend.

Mir stieg die Hitze ins Gesicht. Glücklicherweise würde ich bald mit unserem Reiseleiter sprechen. Danach war diese unangenehme Situation hier Geschichte.

Das Warten auf den Koffer zog sich hin. Die meisten Mitreisenden waren inzwischen fort, die Abstände zwischen den Reisegepäckstücken auf dem Band wurden größer.

»Puh«, machte ich meiner Nervosität Luft, »der Shuttle-Service wartet doch bestimmt schon auf uns. Wie lange dauert das denn noch?«

»Mach dir keine Sorgen«, entgegnete Sebastian, »die Maschine aus Hamburg ist doch gerade erst gelandet.« Er zeigte auf die blinkende Anzeige des Förderbandes neben uns. »Bei den anderen dauert es auch noch.«

»Den anderen? Aus Hamburg?«

»Die Hälfte unserer Gruppe kommt aus dem Norden. Stand im Kleingedruckten.«

»Ach so. Ja, ja«, murmelte ich.

Wir warteten weiter. Die verbliebenen Gepäckstücke drehten Runde um Runde auf dem Transportband, bis schließlich auch Kinderwagen und Golftrolleys aufs Band geplumpst waren. Der Koffer blieb verschwunden.

Sebastian setzte seinen Trekkingrucksack wieder ab, und wir platzierten uns auf einer Bank gegenüber dem Ausgabeplatz. Es folgte ein in Folie eingeschweißter Kindersitz – und das war’s. Das Band blieb stehen. Die letzten Stücke wurden herabgefischt.

»Dein Koffer war wohl nicht an Bord«, stellte mein Begleiter fest.

»Ich bin fassungslos«, entgegnete ich. Das war ich wirklich. Die Kleider, Schuhe, das Schminkzeug, der nagelneue Bikini, die Bücher. Und das Kleid, das ich an meinem Geburtstag hatte tragen wollen. Alles weg!

»Du wirst eine neue Trekkingsausrüstung brauchen«, bemerkte Sebastian. »Und einen Rucksack.«

Blinzelnd hielt ich die Einkaufstasche in die Höhe. »Der hier ist brandneu. Ich … hatte meinen tatsächlich zu Hause vergessen.«

Sebastian lehnte sich vertrauensselig zu mir hinüber. »Komm, schau doch nicht so. Der Rest lässt sich besorgen. Wer weiß, wo dein Koffer gelandet ist und wann er hier eintrifft. Das kann unter Umständen ein paar Tage dauern. Es ist Hauptreisezeit.«

Fieberhaft überlegte sich, ob sich überhaupt ein Kofferanhänger am Trolley befand. Normalerweise checkte man solche Dinge. Wie hatte ich so fahrlässig sein können?

Sebastian lächelte rückversichernd. »Nicht verzweifeln. Das lässt sich doch alles ersetzen.«

Schon stand er auf und deutete auf einen Schalter mit der Aufschrift »Lost Luggage«. Knurrend erhob ich mich. Wie konnte man solches Pech haben?

Kurz darauf schilderte mein Reisebegleiter in fließendem Spanisch der Dame am Counter den Fall. Ich war ihm aufrichtig dankbar für seine Unterstützung. Wir füllten ein Formular aus, ich gab Telefonnummer und E-Mail-Adresse an, dann traten wir durch die Schiebetür nach draußen in die Ankunftshalle.

Beim Anblick des Mannes, der ein Schild mit dem gelben Kanarienvogel-Logo der Reisegesellschaft und dem Namen Felipe in die Höhe hielt, dachte ich sofort an Paco Leon, diesen spanischen Schauspieler, für den ich schwärmte. Genauer gesagt war er zweifellos einer der schönsten Typen, die ich kannte. Verstohlen fasste ich den athletischen Körperbau des Spaniers ins Auge und unterdrückte ein Seufzen. Würde man diesen Mann jeden Tag zu Gesicht bekommen, wenn man bei dieser Reise mitmachte? War er der Reiseführer? Oder brachte er uns nur zum Camp?

In diesem Moment trat eine junge Frau mit kurzen Locken auf ihn zu, sie war etwa Anfang dreißig. Ihr Haar schimmerte in einem warmen Rot, das mich an die Haarfarbe meiner Tochter erinnerte. Das Gesicht war mit Sommersprossen übersät, sie trug ein hübsches Jeanskleid mit schmalem Gürtel. Gehörte sie zu unserer Gruppe? Die Dame war jedenfalls ein Lichtblick, denn so wie es aussah, war sie neben mir die Einzige, die die Reise hierher nicht im Trekking-Outfit angetreten hatte. Alle anderen machten den Eindruck, als könnten sie es nicht erwarten, sich ins Gelände zu schlagen. Wie scharrende Rennpferde hatten sie sich um den Reiseführer gruppiert.

Einer der Männer, ein grauhaariger Typ, trug an seinem Gürtel die Halterung eines Taschenmessers. Noch war sie leer, das gute Stück befand sich vermutlich in seinem Koffer. Ich fasste ihn näher ins Auge. Bestimmt war der Kerl schon an die sechzig. Neben ihm standen zwei Frauen – eine deutlich jünger als die andere. Vielleicht Mutter und Tochter? Außerdem gab es noch zwei Herren und zwei Damen um die fünfzig; auch sie trugen Trekkingboots, Shorts, Tanktops und Rucksäcke, die unzählige Buttons zierten. Ich erkannte das Matterhorn und Nessy von Loch Ness. Die Vier erinnerten entfernt an ABBA in späteren Jahren. Eine der Frauen war blond, die andere brünett, von den Männern trug einer einen Bart, der andere das Haar etwas länger.

Die junge Rothaarige sah den Spanier flehend an und sprach auf ihn ein. Hatte sie vielleicht auch ihr Gepäck verloren?

Sebastian gesellte sich zu den beiden, um unser Eintreffen bekannt zu geben; ich selbst setzte mich auf die nächste Bank, mir waren die Knie weich. Nach ein paar Minuten raffte ich mich wieder auf und hängte mir die Handtasche über die Schulter, nahm die Tüte mit dem Reiserucksack an mich. Ich würde mich um die Umbuchung kümmern müssen, es half ja alles nichts.

Zögernd gesellte ich mich zu Sebastian. Mit dem Daumen zeigte er auf die Rothaarige und raunte: »Angeblich hat sie die Reisebeschreibung nicht richtig durchgelesen, jetzt will sie umdisponieren. Sie dachte, es handelt sich um einen Strandurlaub.« Er verdrehte belustigt die Augen. »Die ist wohl nicht die hellste Kerze auf der Torte.«

»Wer weiß, vielleicht hatte sie privat viel um die Ohren«, murmelte ich. Dann rang ich mir ein Lächeln ab. »Jedenfalls, bevor du dich gleich wunderst … ich hab mir überlegt, dass ich auch lieber umbuche. Jetzt, wo meine Schuhe und die ganzen wichtigen Klamotten weg sind, die man für so eine Reise braucht … ich werde mir ein paar Flipflops und einen Satz Strandkleider kaufen und –«

»Kommt ja gar nicht in Frage«, widersprach Sebastian. »Wir kleiden dich mit Trekkingsachen ein, das dauert auch nicht viel länger.«

»Nein, ich habe mir das überlegt, es ist wirklich besser –«

Eben trat unser Reiseleiter zu uns, der aus der Nähe betrachtet noch attraktiver war. Diese Augenfarbe haute einen um. Ich hatte noch nie so ein leuchtendes Grün gesehen.

»Hola«, begrüßte er uns und blickte auf seine Liste. »Und ihr seid …« Er fuhr mit seinem Stift an seiner Liste entlang. »Susanna Brix und Sebastian Liebermann, stimmt?« Sein spanischer Akzent klang wie ein Singsang.

»Ich habe ein Problem«, setzte ich an. »Mein Koffer ist nicht angekommen.« Halbherzig zog ich den Rucksack aus der Einkaufstasche in die Höhe. »Ich hab nur den hier – sonst nichts.«

Felipe machte große Augen, dann zeigte er mit dem Stift auf meinen Hut. »Und du hast diese. Das ist schon Hauptsache.« Er deutete mit dem Kinn zu der Rothaarigen, die etwas verloren an der Seite herumstand und auf ihrem Handy herumscrollte. »Haben wir noch so eine Fall, aber ist wegen …«, nun tippte er mit dem Stift an seine Stirn, »… está un poco loco.« Er zwinkerte.

»Also, ich würde auch umbuchen, wenn das geht«, nahm ich allen Mut zusammen. »Es macht mir nichts aus, wirklich. Dann hast du gleich zwei Leute, dann lohnt sich auch der Aufwand …«

Felipe sah mich kopfschüttelnd an. »Habe ich schon erklärt an Antonia. Geht nicht. Sonst du musst bezahlen volle Preis, steht so in AGB. Kannst du nur stornieren, wenn du bist krank. Bin ich Subunternehmer von deine Reiseveranstalter. Wenn du buchst andere Reise von ihn, musst du neu bezahlen.«

AGB? Wer hatte die Zeit, sich die durchzulesen?

»Heißt das, ich muss wirklich mitwandern?«, platzte ich heraus.

»Geht mir genauso!« Die Frau, die Antonia hieß, war zu uns getreten. In ihren Augen schimmerten Tränen. »Ich bin bedient!«, rief sie. »Ich hab mir die Seite jetzt noch mal genau angeschaut, das Ganze ist arglistige Täuschung! Mit keinem Wort steht da was von Wandern, dort steht ›Exkursionen‹. Darunter verstehe ich ein bisschen Kultur und Shopping.« Ihre Stimme brach. Ihr war anzusehen, dass sie Anbetracht der Tatsache, nicht den geplanten Entspannungsurlaub zu bekommen, kurz vorm Durchdrehen stand.

In diesem Moment musste ich an Valerie denken, die letztes Jahr bei ihrem Schottlandtrip auch an ihre Grenzen geraten war. Aber wie gut hatte sich dann alles für sie gefügt. Und inzwischen wollte sie gar nicht mehr aus Schottland weg.

Ich trat näher zu meiner Mitreisenden. »Komm, wir machen das Beste draus. Du wirst sehen, am Ende bist du vielleicht sogar froh, dass es mal nicht nach Plan ging.«

Verzweifelt blinzelte sie mich an. »Mal nicht nach Plan? Du hast ja keine Ahnung! Ich brauche wirklich was anderes, als einen Vulkan zu besteigen! Mein ganzes Leben ist ein einziger mühseliger Aufstieg!«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752103748
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (August)
Schlagworte
Liebesroman Meer Inselroman Ferienlektüre Reiseroman Urlaubsroman Bergroman Teneriffa Sommerroman Romatisch

Autor

  • Stina Jensen (Autor:in)

STINA JENSEN schreibt Insel- und Gipfelromane, romantische Komödien und Krimis. Sie liebt das Reisen und saugt neue Umgebungen in sich auf wie ein Schwamm. Meist kommen dabei wie von selbst die Figuren in ihren Kopf und ringen dort um die Hauptrolle in ihrem nächsten Roman. Wenn sie nicht verreist, lebt die Autorin mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt am Main.
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Titel: GIPFELpink