Der nächste Tag war ein Sonntag und draußen tobte ein Sturm, der die See weit auf den Strand trieb und Berge von Treibgut hinterließ. Wenn der Wind nachließ, würden Touristenkinder auf der Suche nach Bernstein darauf herumklettern.
Ich räumte die Reste meiner kleinen Feier auf und blätterte anschließend in alten Fotoalben. Marc und ich hatten schon als Kinder ein enges Verhältnis. Ich sah stets zu ihm auf, sein Wort war Gesetz. Warum fiel er mir so in den Rücken? Bei aller Fürsorglichkeit – er hätte mich doch auch fragen können, ob ich Weihnachten bei ihm in Berlin verbringen wollte. Immerhin war ich erst einmal dort gewesen.
Aber wenn ich ehrlich war, mochte ich die Stadt nicht so sehr. Und die Leute, mit denen er zu tun hatte, waren schrill und laut und hip. Auch wenn ich viel mit Menschen zu tun hatte: Extrovertiert war ich nicht. Ich brauchte immer einen Moment, bis ich mit anderen warm wurde. Zwar kleidete ich mich lässig und metropol, manche sagten, ich sähe aus wie ein Jean-Paul-Gaultier-Model, aber im Grunde meines Herzens war ich das Mädchen aus Rügen. Eine Bekannte von Marc hatte mich auf seiner Geburtstagsfeier vom Fleck weg für eine Fotosession engagieren wollen. Sie konnte gar nicht verstehen, dass ich nicht spontan Marcs Wohnung verließ, um mit ihr in einem abgelegenen Industriegebiet zwischen Fabrikruinen zu posen. Jede andere Frau hätte sich wahrscheinlich geschmeichelt gefühlt, aber ich wollte nur in Marcs Nähe sein. Ich brauchte nicht viele Leute, um mich wohlzufühlen. Vertraute Gesichter wie die meiner Eltern oder Annika genügten mir völlig. Erst seit meine Freundin die Insel verlassen hatte und Marc nach Berlin gegangen war, fühlte ich mich einsam. Daran würde ein Aufenthalt in Bad Gastein rein gar nichts ändern. Im Gegenteil.
Meine Familie konnte gern Weihnachten verbringen, wie es ihnen gefiel. Ich würde jemanden finden, dem ich mich anschließen konnte. Ich musste nur in meinem Email-Adressbuch meine verbliebenen Kontakte durchgehen. Jedenfalls ahnte ich, dass das eine furchtbare Reise werden würde, sollte ich sie antreten. Und auf sein Bauchgefühl sollte man sich immer verlassen.
Die Woche verging, und meine Laune verschlechterte sich von Tag zu Tag.
»Natürlich kann ich dich nicht zu deinem Glück zwingen«, erklärte Robert, nachdem ich ihm den Voucher am Freitagnachmittag mit der Begründung auf den Tisch legte, die Reise käme einfach nicht für mich in Frage. »Aber ins Büro setzt du keinen Fuß. Und sei dir bitte darüber bewusst, dass ich diesen Trip so kurz vor Reiseantritt nicht stornieren kann. Das Geld wird fällig, ob du hinfährst oder nicht.«
»Dann fahr eben selber hin«, entgegnete ich.
In diesem Moment klopfte Catalyn an die Tür und schlüpfte zu uns hinein.
»Hi.« Unsere Praktikantin kratzte sich mit einer verlegenen Geste am Kopf. »Wegen der Hochzeit am einundzwanzigsten …«, sagte sie, und ihr Blick glitt zwischen mir und Robert hin und her. »Könnte es sein, dass wir vergessen haben, die Einladungskarten zu verschicken?«
Mein Chef runzelte die Stirn. »Wie kommst du denn bitteschön darauf?«
Catalyn trat von einem Fuß auf den anderen. »Gehen die Rückläufe nicht normalerweise bei uns ein? Die vom Hotel wollten wissen, wie viele Zusagen wir haben und dann hab ich mal geschaut …« Wieder schaute sie zwischen Robert und mir hin und her. »Es ist noch keine einzige Karte zurückgekommen. Und das Rücksendedatum lautete erster Dezember.«
Mir wurde heiß und kalt, und ich setzte mich auf den Stuhl vor Roberts Schreibtisch. In Windeseile ging ich gedanklich meine Einladungskarten-Versenden-Checkliste durch. Ich hatte den Druck in Auftrag gegeben. Ich hatte die Adressetiketten eigenhändig auf die Umschläge geklebt. Ich hatte sie frankiert. Einhundertdreißig Stück. Ich hatte sie in einen Karton gepackt, um sie zur Post zu bringen. Die Box hatte ich in mein Auto geladen.
Herr im Himmel. Ich konnte mich nicht daran erinnern, sie in der Filiale abgeliefert zu haben!
»Mona, was ist denn?«, fragte Robert und sah mich unter hochgezogenen Augenbrauen an. »Du hast wieder diese Flecken. Du willst mir doch nicht sagen, dass du das vergessen hast. Ich hatte dich doch extra danach gefragt! Bitte, Mona, sag, dass –«
Ich sprang vom Stuhl auf und klaubte im Flur meinen Mantel vom Garderobenhaken. Unser Büro lag nicht weit von meiner Wohnung entfernt auf der Hauptstraße, die zur Seebrücke und zum Strand führte. Ich rannte die Straße entlang durch den Regen. Eine Bö hob mich fast von den Füßen. Ich schlug den Kragen hoch und zog den Nacken ein, lief zu meinem Auto in einer Seitenstraße nahe meiner Wohnung und öffnete den Kofferraum. Die Kiste mit den Einladungen hatte ich doch nicht monatelang übersehen können!? Der Kofferraum meines Kleinwagens war nicht mal besonders groß! Tatsächlich lag nichts darin als ein Regenschirm und eine Plastiktüte von Aldi.
Und da fiel es mir ein. Auf dem Weg zur Post hatte ich einen Anruf von Robert erhalten, der mich bat, beim Kurator wegen der Silvestergala vorbeizuschauen. Ich war kurzerhand abgebogen und hatte die Postlieferung auf später verschoben. Der Leiter des Kurhauses hatte mich nach unserer Besprechung gebeten, eine Handvoll Plakate zu dem Studenten zu bringen, der die Aushänge für uns erledigte. Bis dahin war die Postagentur geschlossen gewesen, ich hatte mir vorgenommen, die Einladungen am nächsten Tag wegzubringen. Die Kiste mit den Briefen hatte ich, vorsichtig wie ich war, aus dem Auto genommen, damit sie über Nacht im Kofferraum nicht feucht werden würden, und in meinem Flur abgestellt, um sie gleich am nächsten Morgen wieder mitzunehmen. Im Gang standen sie nicht mehr. Wo war die Kiste?
Mein Gott. Mir schwante Übles.
Ich schloss den Kofferraum meines Wagens und lief mit zittrigen Knien weiter zu meiner Wohnung. Der Regen peitschte mir ins Gesicht, und ich senkte den Kopf. Mein Handy klingelte, das musste Robert sein. Nicht jetzt.
Ich betete nie, aber jetzt hätte ich mich am liebsten auf den Boden gekniet und es getan. Lieber Gott, mach, dass …
Der Hausmeister war gerade damit beschäftigt, eine Lichterkette über die Buchsbäume im Vorgarten zu spannen und warf mir einen neugierigen Blick zu, als ich zum Hauseingang stürmte. In meinem Flur hetzte ich zum Garderobenschrank und öffnete die knarzende Tür. Hier deponierte meine Putzhilfe Rodika freitagnachmittags alles, was ihr im Weg herumstand.
Und da war sie. Die unberührte Kiste mit den Einladungen für die Hochzeitsfeier der Diepkens-Alberts, die in knapp einer Woche stattfinden würde. Ich hatte das Führen der Zusagenliste an Catalyn abgegeben, die heute die Sitzordnung anlegen wollte. Wir sammelten immer die Rückläufe, ehe wir die Namen auf der Liste abhakten, konnten das nicht jeden Tag tun. Tatsächlich waren wir spät dran. Und dass wir es nicht früher gemerkt hatten, lag daran, dass die Braut sich voll auf uns verließ, und nicht, wie andere, ständig nachfragte.
Ich versuchte, mich selbst zu beruhigen. Bestimmt wussten die Gäste ohnehin Bescheid. Ich meine – es würde doch mal jemand gefragt haben, wann es losging?
Ein kaltes Gefühl breitete sich in meinem Magen aus. War sie nicht die Braut gewesen, die mit ihrer Einladung den Verwandten und Freunden eine Überraschung bereiten wollte? Es gab wohl ein paar Stimmen im Umfeld, die der Meinung waren, die beiden passten nicht wirklich zusammen. Und in der Fußzeile der Einladungen stand: »Die Zusagen bitte ausschließlich an die Agentur, wir möchten uns gern überraschen lassen, wer kommt.«
Ich sank auf die von Rodika an diesem Nachmittag frisch gewienerten Fliesen vor dem Flurschrank zu Boden und heulte heiser auf. O nein, o nein. O Gott, o Gott.
Mein Handy klingelte wieder. Bestimmt tauchte Robert gleich vor meiner Tür auf, um zu erfahren, was geschehen war. Wie sollte ich ihm diese Katastrophe beichten?
Dass er mir im August verziehen hatte, war ein Wunder gewesen. Diesmal würde es keines geben, so viel stand fest. Da nutzte es auch nichts, dass er mit Marc liiert war.
Ich war nicht in der Lage, ins Büro zurückzukehren. Schlotternd stieg ich aus den regennassen Klamotten, kroch ins Bett und schlang die Decke um mich. Ich hatte versagt. Zum zweiten Mal in meiner Laufbahn in Roberts Firma hatte ich es so richtig vermasselt. Und das innerhalb weniger Monate. Was war nur mit mir los? Ich war nicht mal dreißig, das konnte doch keine Alterserscheinung sein!
Dabei ahnte ich insgeheim genau, was mit mir los war. Ich war überarbeitet. Halste mir zu viel auf, gab zu wenig ab, fühlte mich für alles verantwortlich, arbeitete fast jedes Wochenende und sonnte mich in meinem Erfolg. Papa hatte ganz recht: Ich hatte sonst nichts. Keine Beziehung, keine Kinder, kein Social Life. Auf Facebook, Instagram und Twitter war ich gut vernetzt, meine Accounts standen auf meiner Visitenkarte. Ich erntete Likes und twitterte über jedes Event, das ich organisierte. Nebenher kümmerte ich mich unentgeltlich um Feierlichkeiten meiner Eltern und ihrer Bekannten oder wuppte flugs den Fünfzigsten von Annikas Mama. Selbst in Zermatt hatte ich mich um Annikas Junggesellinnenabschied gekümmert.
Und jetzt lag ich bewegungsunfähig im Bett. Ich hatte noch nicht in den Spiegel geschaut, doch es war davon auszugehen, dass die roten Flecken sich munter ausbreiteten. Nun klingelte es schon zum fünften Mal an meiner Haustür, doch ich war unfähig, aufzustehen. Wie damals, als ich von dem Segeltörn zurückgekehrt war. Ich hatte mich verkrochen, noch nicht einmal Annika etwas von der Misere erzählt. Ich hatte mich zurückgezogen, weil ich ihr nicht eingestehen wollte, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Annika hielt mich für perfekt. Wie so viele.
Als das Klingeln verstummte, atmete ich auf. Kurz darauf hörte ich, wie sich jemand an meiner Wohnungstür zu schaffen machte.
Zuerst klopfte es hämmernd. »Frau Espenschied, sind Sie da?«, rief eine mir unbekannte männliche Stimme. Oder doch. Gehörte die nicht dem Hausmeister?
Jemand drehte den Schlüssel im Schloss.
Es dauerte keine halbe Minute, bis Robert und der Hausmeister in meine Wohnung stürzten, laut meinen Namen riefen, bis sie mich endlich im Schlafzimmer fanden und anstarrten.
»Gott, Mona, wie kannst du mich so erschrecken?«, fragte Robert. Sein Blick wanderte zum Nachttisch und wieder zu mir. »Hast du was genommen?«
Ich hauchte ein »Nein«. Stumme Tränen liefen mir über die Wangen.
»Ich werd dich krankschreiben, miene Sööte. Zwei Wochen. Vorerst.«
Dr. Gregor, der mich bereits seit meiner Kindheit kannte, sah über den Rand seiner Brille hinweg. »Mit so etwas ist nicht zu spaßen. Es gibt Leute, die kommen nach so einer Attacke nicht wieder hoch.«
Seine Diagnose lautete »akutes Erschöpfungssyndrom«, auch bekannt unter der Bezeichnung »Burnout«. Er erklärte mir, dass dieses Syndrom ganz unterschiedlich verlaufen könne. Die Gefahr sei groß, dass es chronisch würde, wenn ich nicht sofort gegensteuerte.
Bei mir hatte dieser Zustand der völligen Abgeschlagenheit schon das ganze Wochenende angehalten. Lediglich für den Gang zur Toilette hatte ich mich aus dem Bett schälen können. Die paar Meter vom Schlafzimmer ins Bad erschienen mir dabei so lang wie meine Joggingstrecke von Binz nach Prora. Und das, wo der sechs Kilometer weite Sandstrand am Prorarer Wiek für mich normalerweise ein Klacks war. Momentan träumte ich eher davon, dass mein körpereigener Akku wieder auflud.
»Das kann schnell chronisch werden«, mahnte mein Hausarzt noch einmal. »Du brauchst dringend Ruhe. Mein Rat: kein einziges Gespräch über die Arbeit, mit niemandem.« Er hob beschwichtigend die Hände, als ich etwas einwenden wollte. »Ich hab verstanden, dass das eine üble Sache ist, die dir da passiert ist, aber darum müssen sich jetzt andere kümmern. Es ist egal, ob jemand denkt, dass du dich aus der Affäre ziehst. Fakt ist, dass du vor ein paar Monaten schon einmal hier bei mir gesessen hast und ich dir dasselbe sagte. Du dachtest, du hättest die Kurve gekriegt, aber da täuschst du dich. Du musst dringend etwas ändern, es ist kurz vor zwölf.«
Ich senkte den Kopf und kämpfte gegen die Tränen an. Wie konnte man sich nur so schwach fühlen? Ich wollte nichts anderes als schlafen. Die ganze Zeit. Nichts reden, nichts denken, nichts essen, nichts tun.
Mama hatte mich hierher gebracht. Sie hockte im Wartezimmer und las die GALA, während ich gehofft hatte, mein Arzt würde mir etwas verschreiben, mit dem ich mich besser fühlen und Robert und Catalyn unter die Arme greifen könnte. So, wie ich jetzt drauf war, war es nicht möglich. Mein Energielevel bewegte sich auf der Nulllinie.
»Am besten wäre ein Tapetenwechsel«, fuhr Dr. Gregor fort. »Hast du nicht jemanden, den du besuchen könntest?«
Annika. Zermatt. Ich hob langsam den Kopf und nickte. »Ich frag mal.«
Zu Hause angekommen, wählte Mama Annikas Nummer und hielt mir den Hörer ans Ohr. Ich war tatsächlich zu kraftlos, um mich selbst darum zu kümmern. Mit piepsiger Stimme klagte ich meiner Freundin mein Leid, erzählte ihr von Roberts Geschenk und meinem erneuten, fatalen Fehler in der Agentur. Ich wollte so gern bei ihr sein. Wie früher, als wir einander getröstet hatten, wenn es in der Schule oder mit den Jungs nicht gut lief. Auch bei der Trennung von Piet war sie für mich da gewesen. Genauso wie ich für sie, als sie schwanger wurde und sich eine Zeit lang nicht sicher war, von wem.
»Ich wüsste nicht, wo ich dich unterbringen sollte«, sagte Annika, und ich hörte ihrer Stimme an, wie sie sich wand, mir eine Absage zu erteilen. »Du hast ja unsere Wohnung gesehen, wir haben kaum Platz für uns drei, und meine Mutter kommt noch.« Annika seufzte. »Es tut mir so leid. Hättest du früher etwas gesagt, hätte ich bestimmt noch was arrangieren können. Aber im Moment kommen die Leute in Scharen, Zermatt ist ausgebucht.« Sie machte eine Pause, ehe sie fortfuhr: »Und wenn du doch nach Österreich fährst in dieses Alpenloft? Ich hab mir das eben mal angesehen, das ist der Hammer. Wenn man mir das anbieten würde, würde ich nicht zweimal überlegen.«
Ich selbst hatte noch gar nicht geschaut, wohin genau Robert und Marc mich verfrachten wollten. »Ehrlich?«, fragte ich matt. »Aber ich wäre dort ganz allein.«
»Du knüpfst schneller Kontakte, als du von dir glaubst. Denk mal, wie du dich hier im Mai sofort zurechtgefunden hast.«
Damit hatte sie zwar recht, aber zur Zeit war ich nicht die Alte. Anscheinend konnte ich das niemandem so recht begreiflich machen. Ich verstand es ja selbst nicht!
»Es tut mir wirklich leid«, wiederholte Annika noch einmal. »Wenn du absolut nicht weg willst: Versuch, dich abzuschotten. Mach es dir in deiner Wohnung gemütlich.«
Als ich aufgelegt hatte, sah Mama mich fragend an. »Bei ihr geht es nicht?«
»Nein.«
»Dann mach die Reise, die Robert und Marc dir geschenkt haben.«
Ich blinzelte wieder gegen die Tränen an und gab mich geschlagen. »Kannst du mir beim Packen helfen?«, flüsterte ich.
Mama gab mir einen Kuss auf die Wange. »Nichts lieber als das.«