Im Oktober kündigte Mariella aus heiterem Himmel ihren Job bei Felix. Sie hielt es nicht mehr aus, wollte nicht ständig dieses sie innerlich zerreißende Sehnen spüren. Trotz aller Hoffnung hatte er nach seiner harmlosen Karte aus Kanada keinerlei Annäherungsversuche unternommen und sogar zwei Einladungen von ihr mit der Begründung ausgeschlagen, er wolle Privates und Geschäftliches lieber nicht miteinander verbinden. Das war natürlich ein Schlag ins Gesicht, und sie tat mir leid. Zu dieser Zeit brauchten ihre Eltern Hilfe in der Pizzeria, ihre Mutter hatte einen Bandscheibenvorfall, und sie machten ihrer Tochter alle Zugeständnisse bezüglich Vollmachten und Arbeitszeiten. Also ergriff sie die Gelegenheit beim Schopf.
»Und was macht Felix ohne dich?«, fragte ich noch. Jetzt, wo die Skisaison anfing, war es wahrscheinlich nicht leicht, einen Ersatz zu bekommen.
Doch Mariella zuckte nur mit den Schultern und sagte: »Das ist Gott sei Dank nicht mein Problem.«
Was Louis betraf, war ich zu diesem Zeitpunkt mehr und mehr auf der Hut. Zwischen uns war eine Vertrautheit eingekehrt, die mir manchmal Unbehagen bereitete. Ich war nicht sicher, ob seine dauernden Einladungen letztendlich nicht doch darauf abzielten, mich ins Bett zu bekommen – dazu hingegen war ich nicht bereit. Ich hatte noch nie mit einem gestandenen Mann geschlafen, der zweifelsohne über viel mehr Erfahrung verfügte als ich, der vielleicht schon die dollsten Dinge im Bett ausprobiert hatte – damit meinte ich, nicht mithalten zu können. Normalerweise bin ich nicht schüchtern, doch Louis schüchterte mich ein.
Und nicht nur mich. Wie bereits erwähnt, gab es Patienten, die es sich nicht nehmen ließen, auf Tuchfühlung zu gehen, wenn sie in meinem Kämmerchen zum Röntgen landeten. Mir war nicht ganz klar, was manche Männer dazu hinreißt, anzügliche Bemerkungen gegenüber einer Frau loszulassen, die sie umsichtig und mit behutsamen Fingern behandelt, um ihnen nicht wehzutun.
Da wurden Dinge gesagt, wie: »Oh, das fühlt sich aber gut an, wie Sie das machen.« Oder: »Ihr Freund darf sich aber glücklich schätzen mit Ihren zarten Händen.« Oder: »Kann man Sie auch privat mieten?«
Ganz prekär wurde es, wenn eine Oberschenkelverletzung vorlag und sich beim Patienten etwas in der Hose regte, nachdem ich ihn vorsichtig in Position gebracht hatte. Wenn dann einer sagte: »Schauen Sie mal, was Sie mit mir anstellen«, als hätte ich eine erotische Massage angewendet, verstand ich keinen Spaß. Allerdings konnte ich einen solchen Patienten nicht fortschicken. Ich zog dann schweigend meine Arbeit durch und redete nur noch das Nötigste.
Doch eines Tages beging ich einen Fehler. So ein Kerl um die Sechzig kam humpelnd in die Praxis – er hatte sich im Skilift mit dem Bügel verhakt und beim Sturz übel wehgetan. Also half ich ihm, sich richtig hinzulegen, damit ich meine Aufnahmen machen konnte. Unversehens nahm der Kerl meine Hand und legt sie sich auf den Schritt.
Ich zog meine Finger fort und sagte: »Noch einmal, und ich zeige Sie an.«
Er zwinkerte und meinte: »Das war doch schön.«
Während der weiteren Behandlung wechselte ich kein Wort mehr mit diesem Mistkerl. Ich wollte meiner Chefin davon erzählen, doch sie und meine Kollegen waren zu beschäftigt. Und schließlich, nachdem der Patient die Praxis mit einem Rezept für Krücken und Schmerzmittel verlassen hatte, beruhigte ich mich wieder.
An jenem Abend beim Essen mit Louis entdeckte ich zwei Tische weiter ebendiesen Herrn mit seiner Angetrauten. Die Krücken lehnten am Stuhl, er saß mit ausgestrecktem Bein in unbequemer Haltung und sah missmutig aus. Verständlich, denn der Skiurlaub war für ihn gelaufen. Wenn man mich fragte, geschah es ihm ganz recht.
Ich stieß Louis an und raunte: »Schau mal da. Dieser Idiot. Stell dir vor, was er sich heute Mittag geleistet hat. Und jetzt diniert er hier mit seiner Frau.« Leise erzählte ich ihm, was vorgefallen war.
Mit Louis‘ Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Es war offensichtlich, dass er innerlich kochte, nachdem ich ihm erzählt hatte, was sein Gast sich geleistet hatte.
Mit ernster Miene und hervortretenden Kieferknochen wischte er sich umständlich den Mund an seiner Serviette ab. Dann stand er auf und ging wie beiläufig zu dem Paar an den Tisch. Er stellte sich betont höflich vor, und sein Gegenüber hielt fragend den Kopf schräg. Louis sagte etwas zu ihm, wonach der Herr den Kopf in meine Richtung drehte, und auch die Frau reckte suchend den Hals.
Ich spürte, wie ich einen knallroten Kopf bekam. Oh Gott. Ich wusste nicht, was peinlicher war: die dumme Anmache des Patienten oder das jetzige Schauspiel. Louis forderte seinen Hotelgast offenbar auf, sich bei mir zu entschuldigen, was dieser mit einem Achselzucken, einem Fingerzeig auf sein Bein und mit einem Kopfschütteln beantwortete.
Nun sprach Louis mit der Frau, die entsetzt ihren Mann anstarrte und dann wieder zu mir sah. Der Mann hingegen tippte sich an die Stirn und schüttelte abermals den Kopf. Vermutlich stritt er ab, was vorgefallen war. Was erwartete Louis? Dass der Mann alles freimütig zugab?
Doch Louis ging noch weiter. Mit offenem Mund beobachtete ich, wie er den Mann und seine Frau aufforderte zu gehen. Wenn mich nicht alles täuschte, schickte er sie nicht nur aus dem Restaurant. So, wie der Dame die Kinnlade herunterfiel und wie entsetzt sie mich ansah, warf er die beiden gleich ganz aus dem Hotel.
Ich konnte nicht glauben, was vor sich ging und versuchte, Louis ein Zeichen zu geben – doch er sah mich gar nicht. Sein Gesicht war vor Zorn verzerrt.
Ich zog den Kopf ein. Dieser Eklat war nun wirklich nicht nötig, fand ich. Doch Louis zog die Sache durch. Inzwischen waren auch andere Gäste auf den Vorfall aufmerksam geworden, man tuschelte miteinander. Die Art und Weise, wie der Mann sich von seiner Frau mit den Krücken helfen ließ, wie er aus dem Speisesaal humpelte und dabei den Kopf zu mir umwandte und mir einen wutentbrannten Blick zuwarf … ich hätte im Erdboden versinken mögen.
Als Louis zu mir an den Tisch zurückkehrte, raunte ich: »So schlimm war es nun auch wieder nicht, dass du die beiden gleich rauswerfen musst. Das war jetzt wirklich unangenehm für alle.«
Louis platzierte die Serviette auf seinem Schoß und sah dem Kellner entgegen, der unser Essen brachte. Als es vor uns stand, sagte er: »Man fragt sich als Mann schon, wie man reagieren würde, wenn man mitbekäme, dass eine Frau sexuell belästigt wird. Und das war doch so?«
»Schon, aber …«
»Ich habe mir jedenfalls nach dieser ganzen Debatte in den Medien Gedanken darüber gemacht, was ich als Chef tun würde, wenn einer meiner Angestellten so etwas passiert. Eine unangebrachte Anmache von einem Kollegen oder einem Gast. Und da sagte ich mir: Derjenige müsste sich mindestens entschuldigen. Und es müsste eine Wiedergutmachung geben. Und wenn er es nicht täte, müsste er gehen. Solche Gäste oder Angestellten will ich nicht. Ich möchte, dass meine Mitarbeiterinnen sich wohlfühlen. Dasselbe gilt im Übrigen für Rassismus. Ich beschäftige Menschen mit einer anderen Nationalität oder dunkler Hautfarbe. Für die gilt das Gleiche. Ich will einen respektvollen Umgang mit und zwischen allen.«
Amen, dachte ich. Dabei hatte er ja recht. Zwar war ich keine Angestellte. Aber dass er sich eingemischt hatte, hatte vermutlich zumindest einen guten Nebeneffekt: Der Mann würde sich in Zukunft dreimal überlegen, was er tat oder sagte.
Also bedankte ich mich bei Louis für seinen Einsatz und begann zu essen. Die Leute rundherum beruhigten sich und widmeten sich wieder einander. Louis hatte eine Platte mit Walliser Spezialitäten bestellt, darunter Trockenfleisch, das ich sehr mochte. Es schmeckt wie ein sehr kräftiger und abgehangener roher Schinken. Dazu gab es Gommer Bergkäse und leckeres dunkles Brot mit einem herrlich frischen Salat. An das Essen hier hatte ich mich schnell gewöhnt. Zu einer meiner Lieblingsspeisen gehörten Rösti mit Spiegelei.
»Ich habe dich etwas gefragt«, sagte Louis in diesem Moment und lächelte mich an. »Bist du immer noch in Gedanken bei diesem Burschen?«
Ich kräuselte die Nase und entschuldigte mich. »Den hatte ich schon wieder vergessen.«
»Ich habe dich gefragt, ob du vielleicht Lust hättest, für ein paar Tage mit mir an die Ostsee zu fahren und mir deine Insel zu zeigen.«
Ich riss die Augen auf. Das kam überraschend. Natürlich hatte ich gelegentlich Heimweh. Oft fragte ich mich, wie die Menschheit vor der Erfindung von Skype und Whatsapp damit klar gekommen war, die Heimat zu verlassen.
»Ich werde wohl keinen Urlaub bekommen«, antwortete ich. Im Juni, als die Praxis zwei Wochen geschlossen war, hatte Mama mich besucht und wir hatten ein paar herrliche Tage mit Wandern verbracht. Auch Mariella war ab und zu mitgegangen. Weihnachten wollte ich unbedingt auch für ein paar Tage heim – ich hatte so lange unseren Hund nicht gesehen und natürlich auch Papa. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt.
Louis nickte. »Das dachte ich mir schon.«
Ohne nachzudenken, nahm ich seine Hand. »Das hat wirklich nichts mit dir zu tun. Ich wäre gern mit dir dort hingefahren. Es würde dir gefallen.«
Louis blickte auf unsere Hände und verschränkte seine Finger mit meinen. Dann sagte er: »Macht nichts. Ich kann warten.«
Es dauerte nur einen Tag, bis Frau Dr. Kälin mir die Kündigung überreichte. Fristlos.
»Was habe ich denn verbrochen?«, fragte ich verständnislos. Ich starrte auf das Schreiben in meiner Hand und konnte nicht fassen, was geschehen war.
»Sie haben mit Louis Buchli über einen Patienten gesprochen«, warf sie mir vor. »Damit haben Sie die Schweigepflicht verletzt. Ich kann niemanden beschäftigen, der meine Patienten ins Gerede bringt und ihnen Dinge unterstellt, die nie geschehen sind.«
»Das können Sie doch gar nicht beurteilen«, erklärte ich schwer atmend. »Der Mann hat mich bedrängt, das …«
»Und warum sind Sie damit nicht zu mir gekommen? Stattdessen haben Sie ihn gehen lassen – sollte wirklich etwas geschehen sein, ist Ihr Verhalten völlig unverständlich.«
»Das mag sein«, entgegnete ich, »aber Sie hatten keine Zeit. Ich wollte Sie ja ansprechen –«
Mit einer Handbewegung stoppte sie mich. »Wie auch immer – ich kann wohl davon ausgehen, dass das nicht das erste Mal gewesen ist, dass Sie mit Außenstehenden über Vorgänge in meiner Praxis gesprochen haben. Und das widerspricht unserer Vertraulichkeitsvereinbarung.«
Ich versuchte nicht einmal, sie umzustimmen. Wenn ich eines inzwischen in dieser Praxis gelernt hatte, dann war es, dass Frau Dr. Kälin keine Entscheidungen revidierte. Ich war nicht die erste, die gegangen war. Ein anderer Kollege hatte Behandlungspläne verwechselt – auch er musste gehen.
Als ich mit meinen Unterlagen, einem Beutel mit Schwesternkittel und weißen Birkenstockschuhen auf der Bahnhofstraße stand, wurde mir klar, dass ich mich umgehend nach einer neuen Stelle umschauen musste. An eine Reise nach Hause mit Louis Buchli war trotz meiner plötzlichen Arbeitslosigkeit nicht zu denken. Und wegen dieser Kündigung ganz nach Rügen zurückzukehren – das wollte ich auf keinen Fall. Dazu hatte ich Zermatt und die Menschen hier viel zu lieb gewonnen.
Und dann klingelte Felix eines Abends an meiner Wohnungstür.
»Was machst du denn hier?«, fragte ich ihn perplex, nachdem ich ihm geöffnet hatte.
Er kniff entschlossen die Lippen zusammen und sagte dann: »Wir beide müssen reden.«
Ich ließ ihn ein, nahm ihm den Anorak ab und zeigte auf einen der beiden Stühle an meinem winzigen Tisch vor der Kochecke.
»Normalerweise kündigt man sich vorher an, wenn man kommt, odr?«, fragte ich gespielt neckend, während ich seine Jacke aufhängte.
Felix sah mich nur ernst an. Was wollte er? Und warum, verdammt, raste mein Herz so sehr, dass ich glaubte, er müsste es hören?
»Bist du wegen Mariella hier?«, fragte ich, während wir uns setzten. »Weil sie gekündigt hat?« Wusste er um die Gefühle, die sie für ihn hegte? Sollte ich ihm reinen Wein einschenken?
»Nicht nur.«
»Was heißt das?«
Plötzlich sah er verlegen aus. »Ich wollte dich fragen, ob du für mich arbeiten möchtest.«
Ich lachte auf. »Wie bitte?«
»Na ja, ich habe gehört, dass du deine Stelle aufgegeben hast. Und da du sehr gut mit Leuten kannst und ich händeringend jemanden fürs Geschäft suche … dein Englisch ist auch gut, wie ich gehört habe …«
»Das qualifiziert mich noch nicht dazu, deinen Laden zu schmeißen, so wie es Mariella gemacht hat. Ich habe keine Ahnung von atmungsaktiver Kleidung und wer welche Größe braucht – geschweige denn von Schuhberatung. Ich wäre die schlechteste Mitarbeiterin, die du je hattest.«
»Nein, wärst du nicht. Das kannst du alles ganz schnell lernen. Du musst dich ja nicht mit Buchhaltung und solchen Dingen beschäftigen. Nicht mal die Kasse müsstest du machen – das kann ich abends tun.«
Das würde bedeuten, dass ich ihn jeden Tag sehen würde. Das hätte mich eigentlich freuen müssen. Stattdessen bekam ich feuchte Hände.
Ich stand auf und ging zum Kühlschrank, holte eine Flasche Weißwein heraus und goss uns zwei Gläser ein, ohne Felix zu fragen, ob er überhaupt eines wollte.
Meine Gedanken rasten. Abgesehen von meinen Gefühlen: Tatsache war, dass ich schon vor meinem Rauswurf aus der Praxis Kälin immer öfter gelangweilt gewesen war. In Deutschland hatte ich viel mehr Aufgaben zu erledigen als hier, wo ich den ganzen Tag Leute geröntgt hatte wie am Fließband. Ich war immerzu in meinem kleinen Arbeitsbereich, von dem aus es kein Fenster nach draußen gab, konnte den Feierabend manchmal kaum abwarten. In anderen Praxen war es ähnlich, ich hatte mich schon mit verschiedenen Kollegen unterhalten. In Felix‘ Laden würde ich dank der riesigen Schaufensterfront den ganzen Tag Tageslicht haben und ganz bestimmt auch mehr Abwechslung. Die Kunden würden sich über ihren Sport unterhalten wollen, nicht über ihre Verletzungen. Und noch einmal: Ich würde Felix jeden Tag sehen. Es würde sich kaum mehr vermeiden lassen, dass …
Ich schluckte und hielt ihm das Glas Wein hin.
»Du sagst ja?«, fragte er. »Stoßen wir darauf an?« Seine Augen strahlten ungläubig, grau-blau mit einem dunklen Ring. In diesem Moment fiel mir auf, dass ich gar nicht wusste, welche Augenfarbe Louis besaß.
»Nein, viel eher brauche ich auf diesen Schreck einen Schluck.« Ich ließ mich wieder auf meinen Platz sinken. »Ich glaube nicht, dass Mariella das für eine tolle Idee halten würde«, platzte ich heraus.
»Du kannst sie ja um Erlaubnis bitten.«
Klang da Spott aus seiner Stimme? Bevor ich ihn fragen konnte, wie er das meinte, nippte er am Wein und fragte über den Rand seines Glases hinweg: »Ist da eigentlich etwas am Gehen zwischen dir und dem Buchli?«
Ich verschluckte mich und setzte hustend mein Weinglas ab. »Wieso?«
»Man erzählt es sich.«
»Man? Wer genau?«
Er lachte. »Die Leute natürlich, Annika. Was glaubst denn du – wenn eine deutsche, hübsche Endzwanzigerin mit einem bald fünfzigjährigen Junggesellen anbandelt, der noch dazu Zermatter Millionär ist, dann ist das an jedem Stammtisch hier Thema.«
Ich spürte, wie meine Mundwinkel sanken. Wie hatte ich annehmen können, dass das niemanden interessierte? »Ich bandele mit niemandem an. Louis ist sehr nett, und ja, er macht mir irgendwie den Hof, aber …«
»Aber?«
»Wie du schon sagst, er ist fast fünfzig.«
Felix sah mich nachdenklich an. »Ich sag es nicht gern, aber …«
»Was?«
»Sei vorsichtig bei ihm. Der Buchli weiß immer genau, was er will. Und was er will, das kriegt er.«
»Aha«, entgegnete ich.
»Ohne Rücksicht auf Verluste«, fügte Felix hinzu.
Ich runzelte die Stirn. »Bei mir ist nichts zu holen, falls du das meinst. Auf meine Ersparnisse kann er es nun wirklich nicht abgesehen haben.«
»Tatsächlich kann ich mir nicht erklären, was er sonst von dir wollen könnte.« In seinem Blick war nicht das geringste bisschen Ironie zu erkennen. Natürlich hatte ich mich das selbst schon gefragt, und Mariella hatte mir eine schmeichelhafte Begründung geliefert. Aus Felix‘ Mund klang das aber ganz anders.
Ehe ich mich von meiner Verblüffung erholen konnte, hob Felix die Schultern und winkte ab, als wollte er die Dinge, die er im Kopf hatte, lieber unter den Tisch fallen lassen.
»Und du hast auf Rügen auch keinen Freund, der auf dich wartet?«, wechselte er das Thema.
Ich schüttelte sehr langsam den Kopf. »Nein.«
»Und du willst wirklich nicht wieder zurück?«
»Haben die Stammtischbrüder dich beauftragt, mir diese Fragen zu stellen, oder ist das dein eigenes Interesse?«, fragte ich und nahm einen Schluck Wein.
Felix stellte sein Glas ab und fuhr sich mit beiden Händen durchs dunkelblonde Haar. »Ich frage nur nochmal, weil … na ja. Ich dachte wirklich für einen Moment, dass da zwischen uns …« Er zwinkerte auf eine Weise, die mich an die Art männlicher Patienten erinnerte, mit denen ich schlechte Erfahrungen gemacht hatte.
Wieso war er denn so plump? Dazu diese vorherige dumme Äußerung – ging’s noch? »Wenn ich für dich arbeiten würde, wäre das ausgeschlossen«, stellte ich sachlich klar. Er selbst hatte mit dieser Begründung schon Mariellas Annäherungsversuche abgeblockt. »Bisher habe ich übrigens noch immer nicht vor, nach Rügen zurückzukehren, es gefällt mir hier sehr gut«, fuhr ich fort. »Ich finde bestimmt wieder etwas in einer anderen Praxis.«
Oder würde Frau Dr. Kälin dafür sorgen, dass ich woanders keine Stelle mehr bekam? Bisher gab es auf meine Bewerbungen noch keine Reaktionen. Was ich auf die hohe Arbeitsbelastung der Praxen geschoben hatte.
Felix sah mich zerknirscht an, als ahnte er, dass er zu weit gegangen war. Er griff über den Tisch hinweg nach meiner Hand und drückte sie, zog sie dann wieder fort. »Entschuldige bitte, ich meinte eigentlich nur, dass ich dich mag. Und das mit dem Buchli finde ich eben seltsam. Ich trau dem Mann nicht.«
»Dass er mich einfach nur nett findet, sich vielleicht sogar in mich verliebt haben könnte – das schließt du wohl aus?«, erwiderte ich gereizt.
Felix sah mich überrascht an. »Doch. Natürlich. Das könnte sein. So meinte ich das auch gar nicht. Ich halte ihn nur einfach nicht für aufrichtig«, erklärte er. »Dem geht es doch mehr um materielle Dinge. Was findest du an ihm? Klar, er ist ein fescher Kerl. Aber vielleicht eine Nummer zu groß? Abgesehen vom Alter.« Fragend legte er den Kopf schräg.
Eine Nummer zu groß? Trotz all der Fragen, die mir wegen Louis im Kopf herumgespukt waren – diese war nie darunter gewesen. Ich dachte nicht in diesen Kategorien. In der Praxis waren mitunter Adlige oder Promis aufgetaucht – ich hatte sie mit demselben Respekt behandelt, den ich allen Patienten entgegenbrachte. Natürlich hatte es schon einige gegeben, die mir mit Herablassung begegnet waren, aber das hatte mich noch nie eingeschüchtert. Und dass Louis mich in gewisser Weise einschüchterte, lag an bereits erwähnten anderen Gründen. Mit Felix hätte ich diese Hemmungen nicht gehabt. Ich hätte mit ihm schlafen können, hier und jetzt in meiner Einzimmerwohnung. Aber wegen Mariella verbot sich das, und sein Verhalten heute Abend hatte nicht gerade zu meinen Gefühlen für ihn beigetragen. Ich fühlte mich ernüchtert. Wie billig war es, sich in den Vordergrund zu spielen, indem man einen anderen schlecht machte? Meine Schwärmerei für ihn hatte eine kalte Dusche bekommen.
»Ich finde, was ich mit Buchli mache, geht niemanden etwas an«, erklärte ich. »Und das mit deinem Jobangebot überlege ich mir – vielen Dank dafür. Allerdings müsste klar sein, dass unser Verhältnis rein beruflich ist und auch bleibt. Ich mag dich auch, Felix, aber ich muss dir ehrlich sagen …«, ich schluckte, »... du bist nicht mein Typ.«
Zack. Das hatte gesessen. Ich sah es an seinem verblüfften Gesichtsausdruck.
Als er sich wieder gefangen hatte, meinte er kalt: »Mit dem Bergdoktor kann ich wohl nicht konkurrieren.« Felix trank den letzten Schluck aus, knallte das Glas auf den Tisch und schob seinen Stuhl zurück. »Entschuldige, dass ich dich so unangemeldet überfallen habe.«
Perplex stand ich ebenfalls auf. »Ist schon gut, kein Problem.« Ich suchte seinen Blick. »Und noch mal danke für dein Jobangebot, ich weiß dein Vertrauen wirklich sehr zu schätzen.«
Doch er schaute mich nicht mehr an, hob nur die Hand und ging zur Tür hinaus.
Ich sah ihm aus dem Fenster nach, wie er mit hochgezogenen Schultern und mit in der Kapuze verborgenem Kopf die Straße zum Kirchplatz überquerte. Vor einer Straßenlaterne hielt er an und trat zu meiner Überraschung dagegen. Dann sah er zu mir nach oben, doch ich verbarg mich gerade noch rechtzeitig. Was für ein Kindskopf. Er und Louis unterschieden sich eindeutig in der Reife – was natürlich kein Wunder war. Und da Felix ohnehin nicht für mich in Frage kam, beschloss ich in diesem Moment, Louis Buchli eine Chance zu geben. Felix‘ Jobangebot würde ich annehmen.
Fest davon überzeugt, dass ich zukünftigen Avancen gegenüber immun war, freute ich mich, etwas ganz Neues zu beginnen, viel dazu zu lernen und endlich nicht mehr mit wehklagenden, sondern mit vor Kraft strotzenden Menschen zu tun zu haben.
Nach einem Jahr Zermatt fühlte ich mich bereit für das nächste Level in meinem Leben.
Damals, als ich im Oktober bei Felix im Outdoorladen neben seiner Kletterschule anfing, schien Mariella mir das überraschenderweise nicht übel zu nehmen. Sie fand es sogar ziemlich gut, denn damit hatte sie eine Informantin, die ihr davon berichten konnte, wenn ein weibliches Wesen am Horizont auftauchte, das Felix gefiel. Dass zwischen ihm und mir etwas sein könnte, schien sie inzwischen doch auszuschließen.
»Ich weiß genau, dass er nicht schwul ist«, wiederholte sie gebetsmühlenartig. »Er hatte schon Freundinnen. Irgendeine muss ihm doch mal gefallen, er ist jetzt schon ein paar Monate wieder in Zermatt. Ich wüsste so gern, ob er irgendwo etwas laufen hat.«
Natürlich erzählte ich ihr nichts von Felix‘ Äußerungen, als er mir den Job anbot. Wenn sie auch begriffen zu haben schien, dass sie bei ihm keine Chance hatte, so hätte sie es sicher nicht gern gesehen, dass sie mit ihrem Anfangsverdacht doch recht behalten hatte.
Mama nahm meine Kündigung als Grund zur Hoffnung: »Willst du nicht zurückkommen?«, fragte sie sofort, als ich ihr davon erzählte.
Doch so schnell gab ich mein neues Leben in den Bergen nicht auf. Glücklicherweise konnte ich in der Wohnung bleiben, die Frau Dr. Kälin mir vermittelt hatte, doch die Miete würde einen ganzen Batzen meines bald viel niedrigeren Gehalts fressen.
Louis bot mir übrigens auch einen Job an. Für die Hauptsaison brauchte er immer Aushilfen an der Rezeption, und vielleicht hätte mir auch dieses Tätigkeitsfeld Spaß gemacht. Allerdings schloss ich es tatsächlich aus, Berufliches und Privates miteinander zu vermischen, und als ich ihm das sagte, schien er sogar ganz happy darüber.
Ich begann also, für Felix zu arbeiten und stellte erleichtert fest, dass ich meine Gefühle tatsächlich im Griff zu haben schien. Und auch er verlor kein Wort mehr über uns oder unser Gespräch, schien zu akzeptieren, dass ich im Begriff war, mit Louis zusammenzukommen. Es bahnte sich nach den ersten Küssen jedenfalls langsam an.
Ich hatte so etwas noch nie erlebt. Normalerweise ergab eines das andere, die ersten Küsse hatten in meinem bisherigen Leben sofort zum Sex geführt – aber Louis schien sich Zeit nehmen zu wollen. Es gab Situationen, da hatte er mich so weit, dass ich ihm an die Hose gehen wollte, doch er streifte meine Hand fort und bat, nichts zu überstürzen.
Ich erzählte Mariella davon und sie meinte kichernd, dass Louis möglicherweise ein Potenzproblem haben könnte.
»Meinst du wirklich?«, fragte ich entsetzt. »Denkst du, er könnte impotent sein?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, aber man weiß doch, dass Männer um die Fünfzig so ihre Schwierigkeiten haben können.«
Ich riss die Augen auf. Mit solchen Dingen hatte ich mich noch nie auseinandergesetzt. Der Gedanke gefiel mir nicht – eine Beziehung ohne Sex war für mich undenkbar. Ich war doch noch so jung! Sollte ich das Thema bei Louis ansprechen? Nein, wirklich nicht.
Vielleicht lag es an dieser inneren Zerrissenheit in einer Zeit voller Umbrüche, dass mich der Besuch von Mariellas Bruder Toni und seinem Freund Hannes, die beide in Bern studierten, vollends aus der Bahn warf. Mariella hätte mich zumindest vorwarnen können. Sie hat ja diesen italienischen Einschlag: Die dunklen Augen und das volle Haar, die kleine, zierliche Statur, die sie von ihrer Mutter geerbt hat. Ihr Vater hingegen ist ein großer, ebenfalls dunkelhaariger Schweizer mit stabilem Körperbau, und Toni, Mariellas Bruder, sah aus wie ein Spieler des AC Mailand oder wie ein italienischer Rennfahrer der Formel 1. Dieses etwas längere schwarze Haar, die dunklen Augenbrauen, die athletische Figur … tatsächlich spielte er sehr gut Fußball, wie ich bei einer Einladung zum Abendessen bei der Familie erfuhr. Außerdem fuhr er in jeder freien Minute mit seinem »Velo« die Berge hinauf und hinunter. Und er war Single.
Das kam zur Sprache, weil die Eltern von Mariella und Toni bei einem Abendessen, zu dem ich eingeladen war, ihre Sorge zum Ausdruck brachten, dass ihre Kinder anscheinend niemals eine Familie gründen wollten. Im Gegensatz zu Tonis Freund Hannes, der seit fünf Jahren eine feste Freundin hatte, mit der er auch zusammenlebte. Irgendwann wollten sie Kinder.
»Wie ist es mit dir, Annika«, fragte Mariellas Mutter mich über den Tisch hinweg, »möchtest du einmal ein Kind?«
Fünf Augenpaare sahen mich erwartungsvoll an. Sollte ich zugeben, dass mir der Gedanke an ein Kind in letzter Zeit öfter kam? Es musste mit den Hormonen zusammenhängen, immerhin hatte ich – rein evolutionsmäßig – meine fruchtbarste Lebensphase sogar schon überschritten.
»Eigentlich dachte ich immer, dass ich spätestens mit dreißig eins hätte«, gab ich zu. »Aber momentan sieht es nicht danach aus – in zwei Jahren ist es nämlich soweit, das wird knapp.«
»Es genügt ein Schuss.« Toni zwinkerte mir zu.
»Toni!«, rügte sein Vater. »Du bist hier nicht in der Herrenumkleide.«
Auch Mariella warf ihrem Bruder einen warnenden Blick zu. Hannes kicherte hinter vorgehaltener Hand, nur mir entfuhr ein Lachen, und ich zwinkerte zurück. Toni hob sein Glas und reckte es mir zum Anstoßen hin. Unsere Gläser klirrten aneinander, wir lachten wieder. Natürlich musste das Ganze wie eine Verabredung wirken, aber wir hatten schon einen im Tee, die Stimmung war gut – da konnte man doch mal einen anzüglichen Witz machen. Das hieß ja nicht gleich, dass wir uns in der Besenkammer verabreden würden. Gleichzeitig fiel mir auf, dass ich bei Felix‘ zweideutigem Gezwinker nicht ganz so nachsichtig gewesen war. Aber von ihm hatte ich ja wirklich etwas gewollt.
»Sag mal, flirtest du etwa mit meinem Bruder?«, raunte Mariella mir zu, als wir zu zweit auf die Toilette verschwanden.
Ich sah sie erstaunt an. »Selbst wenn – ist das verboten?«
»Aber er ist mein Bruder!«
»Du kannst doch nicht alle Männer, die dir nahe stehen, für mich für tabu erklären«, flüsterte ich zurück und erschrak über meine eigenen Worte. Hoffentlich merkte sie nicht, dass ich damit auf Felix anspielte. Doch sie schien es überhört zu haben.
»Das meine ich ja auch gar nicht. Toni lässt nichts anbrennen, musst du wissen. Wenn du ihm die falschen Signale sendest, wird er nicht eher Ruhe geben, bis du mit ihm in die Kiste steigst. Er weiß genau um seine Wirkung auf Frauen! Und glaub mir, allein die Vorstellung, dass du und mein Bruder –« Sie warf mir einen angewiderten Blick zu. »Außerdem lässt du dich doch gerade mit dem Buchli ein, oder habe ich das falsch verstanden?«
»Bei deinem Bruder müsste ich mir jedenfalls keine Sorgen machen, dass er beim Sex nicht durchhält, oder?«, witzelte ich.
Sie verdrehte die Augen und ließ mich allein.
Als ich zurück an den Tisch kehrte, wurde schnell klar, dass Toni mich vor allem deswegen so unverhohlen anmachte, um seine Schwester zu provozieren, die sich zugegebenermaßen aufführte wie eine altmodische Gouvernante. Ihre ständigen Ermahnungen, wann immer Toni einen Witz machte, der mich zum Lachen brachte, gingen mir bald auf die Nerven. Selbst Mariellas Eltern und Hannes schüttelten über sie den Kopf.
Hannes stieß Toni einmal in die Seite, raunte ihm etwas zu, was Toni dazu veranlasste zu sagen: »Ja, so brav war meine Schwester schon immer.«
Es war spät, als ich mich verabschiedete. Mariellas Familie wohnte am anderen Ende des Ortes, in »der Wüste« wie man den Ortsteil Wiesti nannte, aber es war nicht mehr als eine halbe Stunde Fußmarsch durch die verschneite Innenstadt. Toni bestand darauf, mich nach Hause zu begleiten, und Mariella überredete Hannes mitzukommen. Zu viert liefen wir zu meiner Wohnung im Zentrum.
»Wehe, du bittest uns noch herein«, raunte Mariella mir unterwegs zu, »das macht Toni garantiert, aber ich bin todmüde, ich muss ins Bett.«
Die kalte Winterluft hatte mich ernüchtert, und ihre Worte brachten mich gegen sie auf. Ich brauchte keine Freundin, die mir ständig sagte, was ich zu tun hatte – bei Mona und mir hätte es so etwas nie gegeben. Allein deshalb sagte ich Ja, als wir endlich bei meiner Wohnung ankamen und Toni fragte, ob er noch auf einen Kaffee mit rauf kommen dürfe.
Hannes klopfte seinem Freund auf die Schulter und wünschte ihm »viel Spaß«, während Mariella auf dem Absatz kehrtmachte und mit hochgezogenem Kragen davonstapfte. Hannes folgte ihr, ich hoffte, dass er es schon irgendwie schaffen würde, sie zu beruhigen. Vermutlich würde er ihr sagen, dass Toni und ich zwei erwachsene Menschen seien, die tun und lassen konnten, was sie wollten.
Nachdem Mariella und Hannes fort waren, war es nicht mehr halb so lustig, mit Toni zu flirten. Abgesehen davon legte dieser sich bei Ankunft in meinem Zimmer sofort aufs Bett, schloss die Augen und schlief ein. Einfach so.
Ich schob seinen Körper zur Seite, sodass ich unter die Decke krabbeln und schlafen konnte. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war er verschwunden.
Ich sah ihn erst im März zu Louis' fünfzigstem Geburtstag wieder, zu dem ich nach Rücksprache mit Louis auch ein paar Freunde eingeladen hatte.