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Regina Mars Collection 6

2 Romane, 3 Kurzromane: Heiße Keramik, Das Mondmal, Club der dichten Dichter 1-3

von Regina Mars (Autor:in)
1276 Seiten

Zusammenfassung

Die Regina Mars-Collection 6 enthält diese E-Books: HEISSE KERAMIK »Ich bin hier, um Ihnen ein Angebot zu machen.« Was macht dieser blonde Schnösel in seiner Werkstatt? Als hätte Gordan nicht schon genug Probleme, steht dieser Robin plötzlich vor dem schlecht gelaunten Keramiker und will eine Plastik, die Gordan nicht töpfern kann. Gordan tut das einzig Richtige und wirft ihn raus. Aber Robin ist hartnäckig ... DAS MONDMAL Nach einer harten Kindheit im Waisenhaus geht es für Ridley endlich aufwärts. Als »Zukal der Zerstörer« ist er der beste Käfigkämpfer der Arena, und bald wird er auch der beste Heiler der Akademie sein. Jemand wie er glaubt nicht an Mondmale. Keine Göttin kann ihm vorschreiben, wen er zu lieben hat. Sein einziges Problem ist dieser Idiot von der Tempelwache, der sein gesamtes Geld in den Kanal geworfen hat. Und nur, weil Ridley ein winziges Boot geklaut hat ... während darauf eine Trauerzeremonie stattfand Slar wird den feigen Dieb finden, der ihn vor seinem besten Freund lächerlich gemacht hat. Nicht nur, weil er heimlich in diesen besten Freund verliebt ist. Sondern auch, weil Gesindel wie Ridley Zukal nicht frei herumlaufen darf. Selbst wenn dieses Gesindel den Körper eines Kriegsgottes und ein überaus anziehendes Lächeln hat ... CLUB DER DICHTEN DICHTER 1-3 MILAN Es läuft gut für Milan, den stahlharten Thrillerautor. Seine Bücher verkaufen sich wie blutige Steaks und er hat mehr als genug willige Männer, die sich über seine Muskeln und seine geheimnisvolle Aura freuen. Mehr will er nicht vom Leben. Außer ab und zu ein Bier mit seinen Autorenkollegen, den dichten Dichtern, zu trinken. Und zu vergessen, dass es Jules gibt. VALENTIN Nichts läuft, wie es sollte. Valentin schafft es weder, seinen Roman zu beenden, noch Professor Südberg seine Liebe zu erklären. Dabei hat der Prof die schokoladigsten Augen aller möglichen Professoren! Selbst Valentins Kollegen, die dichten Dichter, können ihm nicht helfen. Dann bekommt Valentin auch noch einen unerwünschten Mitbewohner: Jayson Käsebier. ROB Rob genießt die einfachen Freuden des Lebens: Schreiben, vögeln, seine Autorenkollegen ärgern. Mehr braucht er nicht. Mit der Liebe hat er abgeschlossen, seit sein Ex ihn mit gebrochenem Herzen und einem erdrückenden Schuldenberg zurückließ.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Heiße Keramik

1. Prolog

 

»Wie heißt du noch mal?«

Die Frage riss Robin aus seinem Schlummer. Er hob den Kopf vom Bauch des bärtigen Kerls, mit dem er sich eben vergnügt hatte. Aber der hatte nicht gesprochen. Es war der andere Kerl, der Rothaarige. Mit dem er sich ebenfalls vergnügt hatte. Ja, sie hatten ziemlich viel Spaß gehabt, zu dritt.

»Robin«, sagte er und setzte sich auf. Nachtluft strich über seine nackte Haut. Sie roch nach Frühling, obwohl sie in der Stadt waren und er den Straßenlärm selbst hier oben hören konnte. Um den Dachgarten herum funkelten Lichter in der Dunkelheit, unzählige erleuchtete Fenster.

Der Rothaarige grinste und reichte Robin ein Bier. Der Dachgarten war gut ausgerüstet. Ein Kühlschrank, Bänke und eine weiche Picknickdecke gegen die harten Bodenfliesen.

»Robin.« Der Rothaarige nickte. »Und weiter?«

»Ist das wichtig?«

»Nein.«

Robin trank einen Schluck. Kühl und bitter rann das Pils seine Kehle hinunter. Er hätte seinen Namen genannt, aber ...

Deine Mutter hat gerade ihre Kandidatur bekannt gegeben, hörte er seinen Vater sagen. Das ist eine sensible Phase. Mach uns jetzt keine Schande, verstanden? Die Presse lauert nur auf einen Skandal.

Einen Skandal wie den hier. Unsicher betrachtete Robin seine beiden Liebhaber. Hier oben konnte man sie nicht sehen, oder? Nein, es war viel zu hoch ...

Er hörte ein Sirren.

»Was ist das?« Er sprang auf. Bier schwappte auf seine Zehen.

»Mwas?« Der Bärtige regte sich.

»Bleib liegen.« Sein Freund lächelte ihm zu. »Keine Panik, Robin. Unser bekloppter Nachbar lässt gern seine Drohne steigen. Ich glaube, der will uns zuschauen.«

Der Bärtige lachte. »Die Sau.«

Das beruhigte Robin kein bisschen. Es durfte keine Beweise geben! Warum hatte er sich nicht zurückgehalten? Warum hatte er nicht einfach höflich Nein gesagt, als die beiden ihn angesprochen hatten?

Weil du ein sexsüchtiger Trottel bist, dachte er.

Das ist eine sensible Phase.

Dann sah er sie. Das Ding schwirrte vor ihnen in der Luft, ein rotes Licht blinkte und ihr schwarzes Auge fixierte ihn. Ein Kameraobjektiv. Gerichtet auf ihn und die beiden nackten Männer, mit denen er offensichtlich gerade gevögelt hatte.

»Hau ab!«, rief er und schleuderte die Bierflasche. Volltreffer. Die Drohne trudelte, Tropfen versprühend, und sackte ab. Und verschwand. Das Sirren verstummte.

»Sag mal, spinnst du?« Die Augen des Rothaarigen schimmerten in der Finsternis. »Was, wenn da unten Leute waren? Du kannst doch nicht mit Glasflaschen um dich werfen.«

»Es ist wichtig, dass ich nicht gesehen werde«, sagte Robin und schaute sich nach seinen Klamotten um. Er musste weg von hier, schnell.

»Oh ne, der dumme Nachbar wird uns zu Tode nerven, wegen dem Ding.« Der Bärtige richtete sich ächzend auf. »Warum hast du das gemacht? Weil er uns gefilmt hat? Du bist doch nicht schüchtern, so, wie du gerade ...«

»Ich darf nicht gesehen werden«, wiederholte Robin und stieg in seine Hose. »Sorry. Wenn die Drohne wirklich eurem Nachbarn gehört hat, zahle ich sie.«

»Wem soll die denn sonst gehören?«

Die Antwort kam eine Minute später. Eine E-Mail auf Robins Handy, mit mehreren Fotos im Anhang. Das letzte zeigte ihn mit panisch verzerrter Miene, wie er die Bierflasche schleuderte. Direkt auf die Kamera zu.

Sie forderten eine fünfstellige Summe.

Robin fühlte sich, als würde er in ein Eismeer sinken. Nichts war mehr übrig von dem Hochgefühl, das er eben noch verspürt hatte. Wie betäubt hob er das Handy und rief seinen Vater an. Jedes Tuten riss an seinem Herzen.

Du Versager, dachte er. Schon wieder.

Klack. Sein Vater nahm ab und Robin verkrampfte.

»Hallo«, sagte er. »Vater. Es tut mir leid.«

2. Blonder Trottel

 

*** Fast drei Monate später ***

 

Der blonde Trottel stand plötzlich in Gordans Werkstatt und schaute, als würde er sich in einer exklusiven Galerie umsehen.

Hochnäsiger kleiner Scheißer, dachte Gordan, bevor der Snob auch nur ein Wort gesagt hatte. Und als er sprach, bestätigte er Gordans Meinung von ihm nur.

»Ich bin hier, um Ihnen ein Angebot zu machen.« Gestochen scharfe Aussprache, unterlegt mit der Arroganz, die alles an dem Mann überzog wie Gestank.

»Kein Interesse«, sagte Gordan und knallte einen Tonklumpen auf die Werkbank. Mit einem satten »Platsch« verformte er sich und spritzte einen winzigen Fleck auf die Krawatte des Eindringlings. Der zuckte nicht. Immerhin.

In der schäbigen Keramikwerkstatt war er ein Fremdkörper, genau wie in der schäbigen Kleinstadt, in der sich die Werkstatt befand. Glänzend wie ein polierter Edelstein auf brüchigem Kopfsteinpflaster. Die Bügelfalten seines Anzugs waren scharf wie Rasierklingen, die Haut sonnengebräunt und das Gesicht glatt, perfekt und langweilig. Gordan schätzte ihn auf Anfang zwanzig.

Der Duft teuren Parfüms waberte durch die erdig-staubige Luft. Kein Geräusch war zu hören, während sie sich musterten wie zwei Hirsche vorm Revierkampf. Und es war Gordans Revier. Gordans vollgestelltes Revier, an dessen Wänden sich die Tonschalen und -tassen in Holzregalen stapelten und in dem sich die Sommersonne so staute, dass er selbst im Unterhemd schwitzte wie ein Schwein. Der arrogante Jüngling schwitzte auch, wie Gordan zufrieden feststellte. Ein schimmernder Film lag auf der glattpolierten Haut.

»Kein Interesse?«, wiederholte der Goldjunge, als Gordan keine Anstalten machte, das Schweigen zu brechen. Er nickte bedächtig.

»Überhaupt keins. Scher dich raus, Kleiner.« Gordan wäre netter gewesen, wenn … wenn nicht seit Monaten alles schieflaufen würde. Seit Jahren. Wenn er nicht heute Morgen einen Brief an der Werkstatttür gefunden hätte, in dem sein Vermieter fragte, wann genau er die Miete zahlen wollte. Wenn er gewusst hätte, wie lange er noch Strom hatte, um den Brennofen anzutreiben. Wenn er nicht diese nagende Panik im Bauch gespürt hätte, wie eine Ratte in einem zu engen Käfig, die kurz davor ist, sich selbst zu verzehren. Wenn er nicht mit Anfang vierzig, absolut nichts erreicht hätte.

»Kleiner? Ich bin größer als Sie«, sagte der Goldjunge und bewies, dass er doch ein bockiger Junge war, trotz des Markenanzugs und der breiten Schultern. »Und Sie sollten sich mein Angebot anhören.«

»Nein.« Gordans verdammte Neugier hob nun doch den Kopf. »Mit wem rede ich überhaupt?«

»Robin von Romberg-Krieger.« Weiße Zähne blitzten. »Sie haben mit meinem Bruder gesprochen. Letzte Woche.«

Als könnte Gordan sich daran nicht erinnern. »Der war ein Schleimbeutel.«

Dunkles Lachen erfüllte die Werkstatt. Ein seltener Laut, seit Tilmann ausgezogen war. Ließ den Goldjungen menschlicher wirken.

»Roman war nicht sehr glücklich über Ihr Gespräch.« Er steckte die Hände in die Hosentaschen und wippte vor und zurück. Seine Armbanduhr glitzerte. »Und nun, da ich Sie kennengelernt habe, kann ich mir vorstellen, warum.«

»Du hast mich noch nicht kennengelernt. Und das willst du auch nicht.« Gordan griff in den Tonklumpen. Kühle, sämige Masse drang zwischen seinen breiten Fingern hervor. Was wollte er nochmal damit? Ach ja: Henkel für die Spitzmaus-Tassen formen. Dreizehn Stück würde er auf den Markt mitnehmen, genug, um die Miete für den Juni zu zahlen. Leider war schon August. »Hau ab, Goldjunge.«

»Ich bin auch kein Junge.« Fehlte nur noch, dass der Kleine die Unterlippe vorschob. »Und mein Angebot ist gut, glauben Sie mir.«

»Sicher. Raus hier.«

»Ich verschwinde, wenn ich gesprochen habe.«

Gordan lachte. »Sie können sprechen, junger Herr. Aber ich hab keine Lust, zuzuhören.«

»Aber …« Immer noch wippte der Trottel vor und zurück. Ein Kind, das so tat, als sei es ein Mann. Fast erinnerte er Gordan an sich selbst, vor langer Zeit.

Ich war auch ein Trottel. Deshalb ist der hier ja so schwer zu ertragen.

Gordans tonbeschmierter Finger zeigte auf die Tür. Viel Hoffnung hatte er nicht, dass der Befehl befolgt werden würde. Und er hatte recht.

»Mein Bruder hat Sie gebeten, uns eins Ihrer Kunstobjekte zur Verfügung zu stellen. Für die Romberg-Krieger-Galerie. Ihre Plastiken waren die Sensation des letzten Jahres und wir würden uns wirklich sehr geehrt fühlen, wenn Sie uns weitere überlassen würden.«

»Klar. Schau dich um. Such dir was aus.« Gordan deutete mit dem Kopf auf die überquellenden Regale voller Geschirr in der Form von Eulen, Hamstern und Regenwürmern. Der Goldjunge lieferte sich ein Blickduell mit einer Gürteltier-Kanne und runzelte die Stirn.

»Das ist nicht ganz das, was ich im Sinn hatte. Wo ist die Kunst?«

»Das ist Kunsthandwerk«, brummte Gordan.

»Ja.« Klang verächtlich. »Verkaufen Sie viel davon?«

»Genug, um die Miete zu zahlen.« Manchmal.

»Sehen Sie?« Der Goldjunge strahlte. »Mit einer neuen Plastik würden Sie nicht nur die Miete zahlen können. Noch ein paar wie die vom letzten Jahr und Sie können sich ein richtiges Haus kaufen.«

»Ich will kein Haus.«

»Eine Wohnung?«

»Brauch ich nicht.«

»Offensichtlich. Da liegt ein Schlafsack unter Ihrer Werkbank.«

Gordan ärgerte sich, dass er das Ding nicht woanders verstaut hatte. Dieser kleine Scheißer musste nicht wissen, wie pleite er war. Und wie lange er schon hier pennte, sich notdürftig am Waschbecken säuberte und am Wochenende zu seiner Schwester fuhr, um zu duschen und sich Vorwürfe anzuhören.

Wenn du nicht so besessen von der Arbeit wärst, wäre Tilmann noch da. Du hast ihn ja komplett aus deinem Leben ausgeschlossen. So wie alle anderen auch, während du in deiner Werkstatt gehockt hast.

Er verdrängte den Gedanken. Er musste im Jetzt leben, auch wenn da leider ein nerviger Snob in seiner Werkstatt stand. Gordan sah auf.

»Goldjunge. Verschwinde oder ich werf dich raus.«

»Warum sollten Sie das tun?« Ein Lächeln, das vermutlich charmant wirken sollte. Gordan hatte keine Zeit für Charme.

»Weil ich es kann. Oder hast du irgendeinen Zweifel daran?« Er richtete sich auf und ließ die Schultern kreisen. Er wusste, dass die Muskeln sich unter seinem Shirt wölbten, und dass seine bloßen Arme Baumstämmen glichen. Dunkel behaarten Baumstämmen. Und da er keinen Spiegel besaß, war sein Gesicht gerade ein Stoppelfeld.

Leichte Zweifel erschienen auf der glatten Miene. Leider verschwanden sie sofort, um einem Lächeln Platz zu machen.

»Das meinen Sie doch nicht ernst.« Und dann ging der blonde Mistkerl um Gordan herum und legte die Hand an die Klinke der Besenkammer.

»Wo ist die Kunst? Hier drin versteckt?« Er rüttelte an der Klinke und Gordan beglückwünschte sich selbst dazu, abgeschlossen zu haben.

Mit drei Schritten war er bei dem Blonden und packte ihn um die Taille. Erstaunlich schwer, der Trottel. Er wirbelte ihn herum, bis das Gewicht über seiner Schulter hing und stapfte auf die Tür zu.

»He! He, was machen Sie da?!« Der Snob wand sich wie ein Wurm. Wie ein elastischer, muskulöser Wurm. Der Körper, der versuchte, sich von Gordans Schulter zu schlängeln, war trainiert. Aber nicht trainiert genug.

»Ich hab dir gesagt, dass ich dich rausschmeiße«, sagte Gordan gleichmütig und öffnete die Tür zu seiner Werkstatt.

»Ja, aber … Sie blöder Vollarsch!« Nun versuchte der Kerl ernsthaft, von Gordan runter zu kommen. Sie schwankten. Nur einen Moment lang, dann hatte Gordan ihn wieder im Griff. Und seine Hand hatte den Arsch des Kleinen im Griff, was nicht geplant gewesen war. Schnell raus mit dem Ballast! Über den Hof und ab durch den Flur.

 

Klappernde Absätze und schlurfende Turnschuhe bewegten sich über das Kopfsteinpflaster. Schaufenster glänzten in der flimmernden Hitze. Die Fußgänger schauten erstaunt, als Gordan aus der schiefen Eichentür trat, den Snob auf der Schulter.

»Loslassen, verdammt!«, brüllte der.

»Zu Befehl.« Mit einer Drehung warf Gordan ihn auf die krummen Pflastersteine. Der Snob landete elegant, rollte sich ab und kam zum Sitzen. Tonmatsch bedeckte seinen dunkelgrauen Anzug, der von Gordan auf ihn abgerieben hatte. Vermutlich war da auch ein Handabdruck an seinem Hintern.

»Sie blöder Affe! Ich zeige Sie an!« Der Kopf des Blonden war dunkelrot.

Er wurde noch dunkler, als er merkte, dass sie Zuschauer hatten. Gordans Werkstatt lag im Hinterhof eines schiefen Fachwerkhauses, das in der Fußgängerzone von Lummerdingen stand. Und die war gut besucht. »Ja, ich verklage Sie! Darauf können Sie sich verlassen! Ich komme mit meinem Anwalt wieder!«

»Klar, weil bei mir ja so viel zu holen ist.« Gordan verdrehte die Augen.

Er achtete darauf, die Werkstatttür hinter sich zu verschließen, als er in sein Reich zurückkehrte. Normalerweise war sie offen, damit er in der Sommerhitze nicht erstickte. Aber den kleinen Snob wollte er auf gar keinen Fall wieder an der Backe haben … Er schluckte. Das Gefühl, eine sehr ansehnlich geformte Arschbacke unter der Handfläche zu spüren, kam zurück. Aber das war keine Absicht gewesen. Das war nur, weil der Trottel sich gewehrt hatte! Schlechtes Gewissen kroch durch Gordans Brust.

Na ja, das war ein Versehen. Und es ist ja nicht so, als würde ich Tilmann damit betrügen. Der ist ja längst weg.

Vorletztes Jahr hatte sein Ex sich verabschiedet. Und war gleich darauf mit Gordans altem Schulfeind Louis zusammengezogen. Louis, der Angeber, der früher immer die geilsten Matchbox-Autos gehabt hatte. Und die neusten Spiele, und beim Fußball hatte er auch immer die teuersten Schuhe gehabt. Louis war sich treu geblieben: Inzwischen hatte er eine Villa am Stadtrand, die die roten Dächer von Lummerdingen überblickte. Und ein Managergehalt. Und einen Pool. Und Tilmann.

Die hohle Stelle in Gordans Brust, wo Tilmann einmal gewohnt hatte, schmerzte. Rotblonde Haare und ein verschmitztes Grinsen kamen Gordan in den Sinn.

Hallo Künstler, hatte Tilmann gesagt, damals, als …

Ein Klopfen an der Tür. Sekundenschnell wurde es zu einem Hämmern. Dumpf hallte es durch die stickige Werkstatt.

»Herr Klingenschmied!« Der Snob.

»Bin nicht da!«, bellte Gordan.

»Ihre billigen Witze können Sie sich in die Haare schmieren!« Huch, der war sauer. Immerhin siezte er Gordan noch. »Sie hören sich jetzt mein Angebot an!«

»Junge.« Gordan stellte sich direkt vor die Tür, so, dass er kaum die Stimme heben musste, um auf der anderen Seite verstanden zu werden. »Du verpisst dich. Sofort, oder ich zieh dir die Hose runter und versohl dir den Hintern. Draußen, in der Fußgängerzone.«

Schweigen. Er hörte nichts als das Knacken des alten Hauses, das Knacksen des Ofens und das Rascheln unbezahlter Rechnungen. Lieblich.

»Das tun Sie nicht.« Klang, als wäre der Snob sich da nicht sicher.

»Und wie ich das tue. Bis dein Arsch rot wie eine Mohnblume ist.«

Erneutes Schweigen.

»Das ist mir egal«, sagte der Blonde. »Vielleicht steh ich ja drauf.«

»Was?«

»Ja, woher wissen Sie, dass öffentliche Demütigung nicht mein Fetisch ist? Eventuell tue ich das hier nur, um Sie zu provozieren.«

Gordan lachte. Er war so ungeübt darin, dass es in einem Husten mündete. »Dafür, dass du darauf stehst, hast du dich eben ganz schön aufgeregt.«

»Das … gehört zu meinem Fetisch.«

»Sag mal, Kleiner, wo genau endet diese Unterhaltung in deiner Vorstellung? Wie willst du vom Arschversohl-Fetisch zu dem Punkt kommen, an dem ich dir eine Plastik töpfere?«

Schweigen. Und diesmal hielt es richtig lange. Als er wieder sprach, war es so leise, dass Gordan ihn kaum verstand.

»Bitte. Bitte, Herr Klingenschmied. Es ist wirklich wichtig für mich.«

Hä? Gordan ächzte.

»Junge. Verschwinde. Ich hab zu tun.«

Erst fürchtete er, dass der hartnäckig bleiben würde. Aber dann knarzten die morschen Bretter, die über den Rasen führten. Schließlich klappte die Hoftür. Der Blödmann war weg.

Gordan atmete auf. Tief sog er die Luft in seine Lungen, die abgestanden und viel zu heiß war. Die ganze Werkstatt war zu heiß. Durch die rechte Wand, die zur Hälfte aus Fenstern bestand, knallte Sonnenlicht. Gordan öffnete eins der Fenster und ließ frische, zu heiße Luft in den Raum. Wann hörte diese elende Hitzewelle endlich auf? Zusammen mit seinem Brennofen schraubte sie die Temperaturen hier ins Unerträgliche. Und seinen Körpergeruch ebenfalls. Misstrauisch schnüffelte er an seinen Achseln und bereute es sogleich.

Sah aus, als wäre es Zeit, seine Schwester zu besuchen.

Heute Abend, dachte er. Wenn die Spitzmäuse fertig sind. Solange muss ich es noch mit mir selbst aushalten.

Egal, wie schwer es ihm fiel.

3. Haariger Affe

 

Kleiner! Dieser behaarte Muskelprotz hatte ihn »Kleiner« genannt! Diesen Spitznamen benutzte Robins ganze verdammte Familie und die Hälfte der Männer, mit denen er geschlafen hatte. Eine Menge Männer also. Dabei war er gar nicht klein. Mit 1,87 Metern war er sogar überdurchschnittlich groß. Aber daran lag es ja nicht.

Er steckte die Hände in die Hosentaschen und blickte in das nächstbeste Schaufenster. Blonde Haare und ein verdammt hübsches Gesicht starrten zurück. Glatt wie ein Babypopo und wesentlich wohlriechender. Aber es war nur so glatt, weil er wusste, wie man einen Rasierer benutzte, zur Hölle! Anders als dieser Affenmensch von Keramiker, der anscheinend noch nie etwas von Haarentfernung gehört hatte. Aus dessen straff gespanntem Unterhemd hatte verschwitzte Haut geschaut, die von dunklen Haaren bedeckt gewesen war. Na, nicht überall. Die Schultern waren glücklicherweise frei davon gewesen. Das kantige Kinn dagegen hatte ausgesehen wie mit Stahlwolle bedeckt. Ein Zehn-Tage-Bart, mindestens. Und wie der gestunken hatte! Wie ein Iltis! Robin war immer noch ganz schlecht.

Na ja.

Mürrisch marschierte er über das holprige Kopfsteinpflaster. Unter dem Gestank hatte eine zwar herbe, aber auch animalisch gute Note gelegen. Wenn so ein Kerl sich über ihn hermachte, würde er bestimmt noch Tage später nach ihm riechen. Widerlich, aber geil.

Nein. Robin reckte das Kinn in die Höhe. Nicht an Sex denken! Einmal im Leben durfte er nicht alles vermasseln, weil er mit dem Schwanz dachte.

»Das ist deine Chance, Robin«, murmelte er. »Versau’s nicht.«

Er würde es ihnen zeigen. Seiner Familie und allen, die ihn je »Kleiner« genannt hatten. Was, zugegeben, auch daran lag, dass er der jüngste Sohn der Familie war. Und daran, dass er sich bevorzugt ältere Liebhaber suchte. Aber sollte er etwa selbst Schuld an der Misere sein? Daran, dass sein Vater ihm so wenig zutraute, dass er ihn in die Postabteilung versetzt hatte, wo er angeblich keinen Schaden anrichten konnte? Nur, weil er …

Robin seufzte und erinnerte sich an die Liste seiner Verfehlungen:

 

- vom Internat Greifenfels geflogen, wegen illegaler Partys,

- vom Internat Lohenhöhe geflogen, wegen Sex mit einem heißen Mitschüler,

- vom Internat Überlauen geflogen, wegen Sex mit dem heißen Kunstlehrer,

- das Abi nur mit 3,7 bestanden, weil er beim Internats-Hopping zu viel Stoff verpasst hatte,

- das erste Praktikum vergeigt, weil er sich, endlich vom Internat befreit, mit zu vielen heißen Kerlen rumgetrieben hatte,

- das Studium gestartet, indem er eine Affäre mit einem heißen, aber eifersüchtigen Professor eingegangen war. Der ihn durchfallen ließ, als Robin die Affäre beendete,

- den Bachelor noch knapper geschafft als das Abi. Grund: Feiern und heiße Männer,

- bei einem Dreier von einer Drohne gefilmt worden, genau an dem Tag, an dem seine Mutter ihre Kandidatur als Bürgermeisterin bekannt gab,

- in den Familienbetrieb eingestiegen und gleich einen heißen Projektleiter vernascht. Auf dem Schreibtisch seines Vaters, der sie prompt erwischt hatte,

- wichtige Firmengeheimnisse an einen heißen Saarländer verraten.

 

Immerhin wusste seine Familie noch nicht, dass er während des Hinflugs Handjobs mit einem spanischen Geschäftsmann ausgetauscht hatte. Aber bei seinem Glück hatte die Stewardess sie dabei gefilmt und sandte gerade einen Erpresserbrief an seinen Vater. Der seinen missratenen Sohn bestimmt freikaufen würde. Wie damals, als die Nacktfotos von ihm und diesem Grafensohn aus Monaco aufgetaucht waren. Robin war zu besoffen gewesen, um sich an das Techtelmechtel zu erinnern. Ja, er hatte einen Anflug von Stolz gefühlt, als er sich auf den Fotos gesehen hatte. Bis sein Vater ihn zusammengefaltet hatte.

Wenn er so darüber nachdachte, sollte er sich wirklich von Männern und Alkohol fernhalten … Oh, da war ein Brauhaus.

»Zur Wachtelwirtin« stand in goldenen Lettern über der holzgetäfelten Front. Nun, eine Wirtin war immerhin kein heißer Kerl und würde ihm daher keine Probleme bereiten. Auf der Schiefertafel neben dem Eingang standen die magischen Worte »Biergarten im Hof«. Ein Bier wäre genau das Richtige gegen die Hitze, überlegte Robin und trat ein.

Minuten später saß er in einem lauschigen Hinterhof, schaute den Vögeln zu, die sich im Springbrunnen balgten, und genoss die Sonne. Und das Bier. Eine Lummerdinger Eigenmarke, malzig und so finster wie die Seele von diesem bekloppten Keramiker. Der Vollpfosten! Wenn der nur Ja gesagt hätte. Robin hatte ihn doch sogar gebeten! Wie konnte der so ein blöder Klappspaten sein? Immer noch spürte er die harten Hände, den unbarmherzigen Griff. Hatte der ihm an den Hintern gefasst? Nicht, dass Robin etwas dagegen gehabt hätte, seinen Körper einzusetzen, um den Kerl zu überzeugen. Wenn es funktioniert hätte! Ihm an den Arsch zu langen und ihn dann in den Dreck zu schmeißen, war eindeutig nicht in Ordnung!

Seine Finger tappten auf die gemaserte Tischplatte. Er saß auf einer langen Bank mit zwei anderen Männern, wohl Einheimischen, die ihm beim Setzen zugenickt und mit ihm angestoßen hatten. Jetzt waren die beiden in ein Gespräch über den traurigen Zustand des Fußballplatzes vertieft. Robin dachte nach. Er konnte nachdenken, egal, was alle sagten. Was sie sagten, war, dass er ein sexsüchtiger, ewig besoffener Nichtsnutz sei. Was er auch war. Aber er war ein kluger sexsüchtiger, ewig besoffener Nichtsnutz. Und er würde diesen stinkigen Keramiker dazu bringen, ihm eine Plastik zu töpfern und seiner Familie beweisen, dass er doch zu etwas zu gebrauchen war.

Ein Glühwürmchen war in Robins Brust aufgestiegen, als sein Bruder beim Abendessen von seinem Fehlschlag berichtet hatte. Roman war ungewöhnlich niedergeschlagen gewesen. Sonst strotzten Robins ältere Geschwister vor Siegesgewissheit, alle vier. Doch diesmal war Roman fast wütend gewesen.

Ich konnte ihn nicht umstimmen, hatte er geknurrt. Und jetzt würde ich gern das Thema wechseln.

Sie hatten das Thema gewechselt und von Ronjas Pferdezucht gesprochen, die selbstverständlich großartig lief. Sie verschwendete ja keine Zeit mit Männern und Alkohol. Aber in Robin hatte etwas gearbeitet.

Das ist deine Chance, hatte das Glühwürmchen der Hoffnung ihm zugeraunt. Mach es besser als Roman und beweis, dass du auch nützlich bist!

Also hatte er drei Tage Urlaub eingereicht und war nach Frankfurt geflogen und von da im Taxi nach Lummerdingen gedüst, was ihn lächerliche 139 Euro gekostet hatte, trotz Stau. Den ganzen Weg über hatte er das Gefühl gehabt, dass das hier seine Stunde war, seine Gelegenheit, allen zu beweisen, dass er nicht nur ein verwöhnter Adelsspross mit herrlichen Haaren war. Also, nicht nur.

Dann hatte dieser Affe ihn rausgeworfen.

Und jetzt saß er hier.

»Entschuldigen Sie«, unterbrach er die beiden Einheimischen. Die sahen ihn erstaunt an. »Kennen Sie zufällig diesen Gordan Klingenschmied?«

»Den Töpfermeister?« Die graugesprenkelte Augenbraue des einen hob sich. »Ludwigs Nichte ist mit dem in der Schule gewesen. Oder, Ludwig?«

»Jupp.« Ludwig nickte. »Guter Typ, der Gordan. Bisschen stürmisch vielleicht. Hat sich früher viel geprügelt. Die Luise-Marie hat ihn mal zwei Nächte bei sich pennen lassen, weil er Stress mit seinen Eltern hatte.«

»Was?« Der andere hob auch noch die zweite Braue. »Und die Eltern hatten nichts dagegen? Bei ’nem Kerl wie dem? Da hätt ich aber was gesagt, wenn der bei meiner Tochter …«

»Ne, der hatte doch selber einen Kerl. Hatte er damals schon, glaub ich.«

»Echt, so jung?« Anerkennendes Schmatzen. »Na, feige war der schon mal nicht. Kein Wunder, dass der sich so viel prügeln musste … Ah, seine Schwester, die wohnt auch hier, oder?«

»Ja, schon.« Ludwig sah Robin an. »Aber was interessiert dich das überhaupt?«

Robin lächelte. »Ich habe überlegt, ein paar Kunstobjekte von ihm zu erwerben. Letztes Jahr tauchten drei seiner Plastiken in unserer Galerie auf, und wir waren begeistert.« Nun, Roman und sein Vater waren begeistert gewesen. Robin kannte die Dinger nur von Fotos. Vorhin, als er hergeflogen war, hatte er sie durchgesehen.

Stolz leuchtete in Ludwigs Zügen auf. »Echt? Ja, der Gordan, der kann schon was, oder? Die Luise-Marie meint, bei ihm läuft es nicht, aber klar, war nur eine Frage der Zeit, bis der berühmt wird. Ist ja ein echter Lummerdinger, der Gordan.«

Was sollte das bitte aussagen? Robin war ein echter von Romberg-Krieger und trotzdem eine einzige Enttäuschung. Dennoch nickte er.

»Was für eine Plastik war das denn?«, fragte der Kerl mit den dicken Augenbrauen. »So ein Römer mit Locken und Mini-Schniepel?«

»Nein«, sagte Robin. So viel verstand er immerhin davon. »Aber ein nackter Kerl, wenn Sie das meinen. Allerdings war er kaum als Mensch erkennbar. Er war …« Er versuchte, den Eindruck zu beschreiben, den die Plastiken bei ihm hinterlassen hatten. »Wild. Schmerzvoll. Etwas ganz Besonderes, so etwas habe ich noch nie gesehen. Durchaus im Rahmen der gängigen Kunstmarkt-Trends, aber etwas wirklich Eigenes.« Die Plastiken hatten ihm gefallen, als er sie heute Morgen angeschaut hatte. Aber da hatte er ihren Erzeuger noch nicht gekannt.

Die beiden Männer wirkten noch stolzer. »Klar, ein Mann«, sagte Ludwig. »Macht ja Sinn.«

»Genau.« Augenbraue nickte. »Diese Schwulen haben eh ein besonderes Talent für … Du weißt schon.«

»Ackerbau?«, fragte Robin.

»Ne, Kunst. Malerei und so. Diese alten Maler waren auch alle schwul.«

»Stimmt.« Ludwig begutachtete sein Bierglas. Leer.

Robin verkniff sich einen Kommentar. Stattdessen winkte er die Kellnerin herbei und bestellte drei Bier. Die Männer dankten ihm und er verbrachte die nächsten Minuten damit, sie weiter nach Gordan Klingenschmied auszufragen. Doch die Antwort, die er suchte, kam aus einer anderen Quelle.

»Bist du nicht der Typ, den Gordan eben rausgeworfen hat?« Die Kellnerin grinste breit und knallte drei Humpen auf den Tisch. »Hab grad das Schild aufgestellt, da hat er dich rausgetragen.«

Robin versuchte, es zu verhindern, aber seine Wangen wurden heiß. »Rausgeworfen ist ein starkes Wort«, begann er, aber sie lachte.

»Wieso, er hat dich doch ziemlich weit geworfen.« Kopfschüttelnd wandte sie sich Ludwig und Augenbraue zu. »Das hättet ihr sehen sollen. Hat ihn über der Schulter getragen wie einen Mehlsack.«

»Was, echt?« Neugier blitzte unter Augenbraues Augenbrauen auf. »Warum das denn, Kleiner?«

Kleiner. Robin holte tief Luft und suchte nach seinem inneren, ruhigen Zentrum oder irgendeinem anderen Zen-Scheiß. Verkniffen lächelte er. »Wir hatten eine Meinungsverschiedenheit. Nichts Ernstes.«

»Wollte er dir etwa nichts verkaufen?«, fragte Augenbraue.

»Nein.« Robin packte sein Bier. »Aber das wird er noch. Zum Wohl!«

»Prost!« Die beiden grinsten. Ja, die machten sich über ihn lustig. Und die Kellnerin war immer noch da. Hm, hatte sie »Gordan« gesagt?

»Kennen Sie Herrn Klingenschmied etwa?«, fragte Robin sie.

»Sicher. Der ist hier Stammgast. Oder wäre er zumindest, wenn er sich noch ein Bier leisten könnte.«

»Lisbeth!« Augenbraue schaute vorwurfsvoll. »Das musst du nicht jedem erzählen.«

Vor allem keinen adligen Jünglingen, die etwas von ihm kaufen wollten. Robin schnaubte innerlich. Als ob er Klingenschmieds Armut nicht selbst bemerkt hätte, kaum, dass er die Werkstatt betreten hatte. Diesen Saustall.

»Ist halt so.« Lisbeth prustete. »Der Gordan ist pleite, das weiß doch jeder. Läuft halt nicht so, wie er will. Vor allem, seit er sich von seinem Kerl getrennt hat. Da hat er ein halbes Jahr lang nichts zustande gebracht.«

»Diese Künstler.« Augenbraue wischte sich den Schaum vom Bart. »Immer Liebeskummer und Sinnkrisen.«

Von seinem Kerl getrennt. Konnte Robin das nutzen? Aber die andere Info war noch besser: »Ludwig sagte, er hätte eine Schwester, die auch hier wohnt.« Er lächelte charmant zu Lisbeth hoch.

Sie grinste zurück. »Ja, die Erica. Ein vertrocknetes Miststück. Wohnt draußen im Muldengraben, mit dem Georg und den Kindern.« Sie beugte sich zu Robin hinunter und flüsterte: »Mit dem Georg hatte ich zu Schulzeiten mal was. Aber sag’s ihr nicht.«

Robin zweifelte nicht daran, dass Erica es wusste. Wenn er weitere Informationen brauchte, würde er definitiv zu Lisbeth gehen.

»Haben Sie Ericas Adresse?«

4. Unerwünschter Gast

 

»Erica!« Gordan rang sich ein Lächeln ab.

Seine Schwester rang sich ein Naserümpfen ab. »Du stinkst.«

»Stimmt. Ich spring schnell unter die Dusche, dann wird gekocht.«

»Du bist doch nur hier, um zu duschen. Ansonsten interessierst du dich überhaupt nicht für mich.« Bitterkeit färbte ihre Stimme.

»Ach was, Sister.« Er breitete die Arme aus und sie wich zurück. Zum Glück. Er hätte nicht gewusst, was er getan hätte, wenn sie ihn umarmt hätte. Sie hatte ihn seit Jahren nicht mehr umarmt.

Immerhin hatte sie den Weg freigegeben. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, schritt er in die staubfreie Diele und über den blütenreinen Teppich, von dem er vermutete, dass sie ihn bügelte. Es roch nach Sagrotan. Der Geruch hielt sich so hartnäckig wie der Geruch nach kalter Asche in einer Raucherbude. Bei Erica rauchte niemand. Keine Nikotinschwade hatte je die weißen Wände berührt, die noch exakt so aussahen wie vor fünf Jahren, als Erica und Georg eingezogen waren. Dabei hatten sie zwei Kinder. Sollten die nicht mit Fingerfarben umhertoben und alles zerstören, was ihnen in die kleinen Finger kam?

Die kleinen Finger waren damit beschäftigt, fein säuberlich ein Malbuch auszumalen. Stille herrschte im Wohnzimmer. Lucy und Luke waren sechs Jahre alt, hatten aber die Gesichtsausdrücke von vierzigjährigen Steuerberatern.

»Na, ihr Racker?«

»Guten Tag, Onkel Gordan«, flöteten sie einstimmig und beugten sich wieder über ihren Maltisch, der null Flecken und keinerlei Buntstiftstriche aufwies. Genau wie der Rest des geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmers. Gordan sah über Lukes Schulter. Der Kleine malte einen lachenden Hund mit abscheulich langen Wimpern und heraushängender Zunge aus. In Beige und Braun.

»Genau die richtigen Farben für einen Hund«, sagte Gordan. »Absolut korrekt.«

Ein verhalten stolzes Lächeln schlich sich in Lukes Gesicht. »Danke. Dein Freund ist in der Küche.«

Sein Freund? Tilmann? Aber der war sein Exfreund und … Gordan atmete tief ein und bekam eine Nase voll Körpergeruch ab. Seinen eigenen Körpergeruch.

»Ich stinke wirklich«, murmelte er.

»Ja«, sagte Lucy, die den Hörtest mit Auszeichnung bestanden hatte. »Bitte dusch endlich.«

»Wirst du etwa frech, Kleine?« Er wartete ab und bekam tatsächlich sowas wie ein Grinsen zu sehen.

»Wie ein Iltis«, ergänzte sie.

»Du hast doch keine Ahnung, was ein Iltis ist. Als ob Erica dich je nach draußen lassen würde, wo du wilde Tiere zu Gesicht bekommen würdest.«

»Wir durften eine lehrreiche Sendung über marderartige Tiere sehen«, sagte sie. Das winzige Grinsen war verschwunden. »Gestern. Weil wir drei Gedichte auswendig gelernt haben.«

»Ach so.«

»Kannst du drei Gedichte, Onkel Gordan?«

Auf Anhieb fiel ihm nur eins ein:

Ein Mädchen wollte Pilze pflücken

Musst sich dafür sehr tief bücken

Jetzt stilltse

Scheiß Pilze

»Nein«, sagte er.

Luke hob den Kopf. »Willst du sie hören, Onkel Gordan?«

»Später gern. Wer ist denn mein Freund?« Tilmann? Er schaffte es nicht, den Namen auszusprechen.

»Ein Mann, den Mama total toll findet«, flüsterte Lucy. »Sie hat dem schon zwei Tees gebracht. Den guten Tee.«

Frechheit. Gordan bekam immer nur den Earl Grey vom Discounter.

»Echt?« Er betrachtete seine Schwester, die in den Raum kam. Vermutlich, um zu verhindern, dass er ihre Kinder mit etwas Schädlichem wie Kunst ansteckte.

»Was erzählst du, Lucy?« Sie lachte hohl. »Herr von Romberg-Krieger ist nur hier, weil er eurem Onkel einen Vorschlag unterbreiten will. Einen Vorschlag, den Gordan besser annehmen sollte.« Sie beugte sich vor. Ihre Augen blitzten wie die einer tollwütigen Sumpfschnepfe. »Wenn er weiter hier duschen will.«

»Was?!« Von Romberg-Krieger? Den Namen kannte er doch. »Der schnöselige Goldjunge?«

»Genau der.« Der schnöselige Goldjunge lehnte im Türrahmen, eine Teetasse in der Hand und sah schnöselig und golden aus. Arschgeige. »Schön, Sie wiederzusehen, Herr Klingenschmied.« Mit seinem Lächeln hätte man Stahl fräsen können.

»Ja, dich auch, Kleiner. Kannst wieder gehen. Dir verkaufe ich nichts.«

»Nicht mal eine von diesen niedlichen Spitzmaustassen?« Oh, der Goldjunge trank seinen guten Tee aus einem von Gordans Meisterwerken. Dabei hatte Erica so viel edles Porzellan. War sie etwa doch stolz auf ihn? Fragend sah er sie an.

Sie seufzte. »Ich habe ihm eine vernünftige Tasse angeboten, aber er wollte die da.«

»Echtes Kunsthandwerk.« Ein blödes Grinsen erschien. »Wirklich beeindruckend.«

»Verbindlichsten Dank, Kleiner. Ich gehe duschen.« Lieber flüchten, bevor er dem Schnösel eine zimmerte. Nicht vor den Kindern.

»Gordan!« Erica stellte sich ihm in den Weg. »Du solltest dir Herrn von Romberg-Kriegers Vorschlag anhören.«

»Das kann ich auch, wenn ich nicht mehr stinke«, knurrte er. Sie wich keinen Millimeter zurück. »Wenn er es so eilig hat, kann er ja mit unter die Dusche kommen.«

»Gordan.« Ihre Augen wurden schmal. Einen Moment lang war sie wieder die fiese große Schwester, die ihn mit einem Kneifzwirbler zum Weinen bringen konnte. Dabei war er inzwischen zwei Köpfe größer als sie. »Nicht vor den Kindern.«

»Das war keine Anmache.« Verächtlich sah er den Goldjungen an.

»Schade.« Der seufzte und nippte an seinem Tee. »Borstige Primaten sind mein geheimer Fetisch.«

Erica schaute schockiert, doch dann lachte sie. »Ach. Sie sind ein Schlingel, Herr von Romberg-Krieger!«

Ein Muskel zuckte im Kiefer des Goldjungen. Schlingel war anscheinend nicht sein Lieblingswort. Musste Gordan sich merken. Bei nächster Gelegenheit würde er ihn als »Racker« bezeichnen.

»Ich dusche jetzt. Allein.« Er hob die Arme und verscheuchte Erica mit seinem Achselschweiß. Wütend wich sie dem Gestank aus.

»Seif dich zweimal ein«, zischte sie. »Und beeil dich.«

 

***

 

Er beeilte sich nicht. Ausgiebig genoss er die kühle Dusche, die in Wasserwerferstärke auf ihn herabschoss. Herrlich. In seiner letzten Wohnung hatte es aus der Brause nur getröpfelt. Er seifte seinen Leib (der überhaupt nicht so behaart war, wie dieser Klappspaten behauptete) zweimal ein und benutzte Georgs Rasierer, um zumindest im Gesicht spiegelglatt zu werden. Das würde höchstens bis morgen früh halten, aber immerhin sah er nicht mehr aus, als würde er unter einer Brücke hausen.

Erica war nicht immer nett, aber immer reinlich. Die Klamotten, die er beim letzten Mal hier gelassen hatte, waren sauber und dufteten nach Veilchen oder irgendeinem anderen Gewächs. Gordan hatte angeboten, seine Kleider selbst zu waschen, aber Erica hatte so entsetzt geschaut, als würde die Waschmaschine explodieren, wenn sie ihm in die Pranken geriet.

Das ist ein hochkomplexes Instrument, hatte sie gesagt. Klar, als Chemikerin kannte sie sich mit komplexem Zeug aus. Nicht wie er, der Höhlenmensch, der den ganzen Tag mit Ton rummatschte. So ähnlich war ihre Vorstellung von seinem Job und bisher hatte er sie nicht vom Gegenteil überzeugen können.

 

***

 

Der Schnösel schnöselte in der Küche rum, als Gordan veilchenduftend hereinkam. Genauer gesagt schnöselte er lässig an den Induktionsherd lehnend herum, umrahmt von antibakteriellen Edelstahlschränken und kindersicheren Schubladen.

»Wo ist Erica?«, fragte Gordan.

»Sie und die Kinder sind draußen im Garten.« Der Goldjunge deutete zum Fenster. »Sie machen eine Yogaübung, die die Konzentration fördert. Luke hat außerhalb der Linien gemalt.«

»Und jetzt muss er zur Strafe auf einem Bein stehen.« Gordan seufzte. »Alles klar.«

Die Nervensäge sah weiter zum Fenster hinaus. Leichte Verunsicherung legte sich über seine Züge, als er die Verrenkungen betrachtete, die Erica und die Kinder anstellten. »Ist das normal? Ich meine, in Ihren Kreisen?«

»In Ericas Kreisen bestimmt.« Gordan verschränkte die Arme. »Ich weiß, wie das aussieht. Aber sie gibt sich wirklich Mühe, eine gute Mutter zu sein. Andere kümmern sich gar nicht um ihre Kleinen.«

»Oh, ich meinte nicht … Ich weiß.« Ein Schatten flog über sein Gesicht und mit einem Mal wirkte der Goldjunge recht düster. Sekunden später war sein Gesicht wieder glatt und nichtssagend. Schade. »Nun, zumindest Ihre Schwester schien begeistert von meinem Angebot. Werden Sie …«

»Nein.« Selbst wenn er wollte, könnte er nicht. Aber das musste der kleine Scheißer ja nicht wissen. »Ich koche jetzt. Wenn du hierbleiben willst, musst du helfen.«

»Oh, kein Problem.« Die Augen des Blödmanns leuchteten auf. »Was gibt es zu tun?«

Kein Wunder, dass der sich so freute. Wie Gordan kurz darauf feststellte, hatte der Kerl noch nie gekocht und betrachtete es als neues, großes Abenteuer. Es war ein Wunder, dass er das Küchenmesser richtig rum hielt.

Trotz seiner Hilfe standen eine Stunde später fünf Teller mit Aberdeen Angus-Steaks auf dem blank polierten Esszimmertisch. Die Kinder strahlten. Sonntag war Fleischtag. Der einzige. Wenn Erica ihr Glas Weißwein geleert hatte, würde Gordan sie vielleicht sogar überreden können, den Kindern eine zweite Portion alkoholfreies Cranachan zu erlauben.

»Dann mal los«, sagte Gordan und wartete ab, bis die Kleinen ihre Dankbarkeitssätze aufgesagt hatten. Dann war Erica dran. Sie endete mit: »Ich bin dankbar, dass mein Bruder eine weitere Chance bekommt, und hoffe sehr, dass er es diesmal nicht verbockt.«

»Ich bin dankbar, dass ich eine Schwester habe, die mich nimmt, wie ich bin. Und, dass ich einen ausgezeichneten Neffen und eine wunderbare Nichte habe. Und dass die Tür zum Atelier abschließbar ist.« Gordan nickte dem Goldjungen zu. »Du bist dran.«

Der schaute leicht verwirrt.

»Du musst sagen, wofür du dankbar bist«, flüsterte Lucy.

»Ja, das habe ich verstanden.« Er lächelte. »Ich bin dankbar, dass …« Zögern. »Dass ich heute so ein wunderbares, selbstgemachtes Essen bekomme. Und dafür, dass ich mir mit dem Küchenmesser nicht den Daumen abgesäbelt habe. Und dafür, dass ich nicht mit einem miefigen Affen duschen musste.«

»Für jemand mit einem Arschversohl-Fetisch stellst du dich ganz schön an.«

»Gordan!« Erica zwang sich zu einem Lächeln. »Guten Appetit.«

Einen Moment lang herrschte wunderbares Schweigen. Die Steaks waren echt gut geworden. Das Fleisch zerging Gordan auf der Zunge, wenn er nur dagegen drückte. Weich und zartfaserig. Perfekt. Erica wusste halt, wo man das gute Zeug bekam. Vermutlich vom Sedlerhof. Mit deren Sohn hatte sie, lange vor Georg, mal ein Techtelmechtel gehabt.

»Gordan, hör dir das Angebot an, das Herr von Romberg-Krieger dir macht.« Mist, das Steak hatte ihr kaum fünf Minuten lang das Maul gestopft.

»Nein.«

»Gordan.« Einatmen. »Hör es dir an.«

»Gut.« Wütend sah er zu dem Goldjungen hinüber. Der feixte. »Aber ich nehme es nicht an.«

»Gordan, du …«

Ausgerechnet der Schnösel sprang ein und hinderte sie daran, weiterzureden.

»Fünfzig Prozent von dem, was die Plastiken einbringen«, sagte er. »Ich bin sicher, dass wir sie noch teurer verkaufen können als die letzten. Sie werden es nicht mitbekommen haben, so, wie Sie sich in Ihrem stinkenden Loch verkrochen haben, aber die ersten waren ein gigantischer Erfolg. Der Markt ist so heiß auf neue Werke von Gordan Klingenschmied, dass wir eine Auktion veranstalten könnten und ich wette, dass keine Plastik unter hunderttausend weggeht. Was sagen Sie?«

»Nein.«

»Gordan, du Hundsfott!«, brüllte Erica. Halb aufgerichtet erstarrte sie. Lucy und Luke sahen sie an, als hätte sie sich in einen feuerspeienden Drachen verwandelt. Sie wurde blass. »Ich … Lucy, Luke, geht auf eure Zimmer. Ihr könnt zum Nachtisch wieder herunterkommen. Onkel Gordan und ich müssen etwas besprechen, das«, eine Ader zuckte auf ihrer Schläfe, aber ihre Stimme war süß wie Sirup, »sehr langweilig für euch wäre. Husch, husch.«

»Das macht nichts«, sagte Lucy mit tellergroßen Augen. »Mir ist gar nicht langweilig.«

»Mir auch nicht.« Ein Salatblatt fiel aus Lukes Mund. »Gar nicht überhaupt nicht. Ich will hierbleiben.«

»Auf eure Zimmer.« Erica atmete ein. »Sofort.«

»Aber mir ist überhaupt nicht lang…«

»Sofort.«

Die beiden trollten sich. Gordan fragte sich, ob sie einen Weg finden würden, um zu lauschen. Erica und er hatten immer einen Weg gefunden, wenn ihre Eltern gestritten hatten.

Entnervt sah er den Goldjungen an, der sichtlichen Spaß an der Szene hatte. Ein fieses Lächeln zierte seinen Mundwinkel. Fehlte nur noch, dass er spöttisch mit den Augenbrauen … Der Mistkerl wackelte spöttisch mit den Augenbrauen! Gordan ballte die Finger zu einer Faust, aber bevor er etwas sagen konnte, schlug ihm Ericas geballte Wut ins Gesicht.

»Wie kannst du so ein Idiot sein, Gordan?!« Ihre Stirn war weiß, die Wangen rot. »Du dämlicher, egoistischer Mistkerl! Nagst am Hungertuch, pennst in deinem Atelier und lässt dich von mir aushalten und dann lehnst du vor meinen Augen so ein Angebot ab?!«

»Ich lasse mich nicht von dir aushalten!« Er sprang auf. Wut flammte in seinem Bauch hoch. »Ich dusche einmal pro Woche hier, und dafür koche ich! Besser als Georg das hinkriegt, falls du es gemerkt hast. Und besser als du!«

»Ja, mit meinen Zutaten!« Sie setzte das Weinglas an die Lippen und trank es in einem Zug aus. Leider besänftigte der Alkohol sie nicht. »Du verblödeter Hornochse! Was denkst du denn, wer für dich aufkommen wird, wenn du alt bist? Wenn du immer noch kein Geld hast und zu alt bist um zu arbeiten? Was für eine Rente hast du dann? Keine! Und nur, weil du unbedingt deinen Kopf durchsetzen musstest und ein nutzloser Künstler geworden bist. Genau wie Mum und Dad! Für die werde ich auch sorgen müssen, für euch alle, ihr elenden Schmarotzer! Und dann passiert einmal etwas Gutes, da hast du einmal eine Chance, und du sagst Nein?!«

»Ja, ich sage Nein«, presste Gordan heraus. »Das ist mein gutes Recht. Und du musst auch nicht für mich sorgen, wenn ich alt bin. Lieber jage ich mir eine Kugel in den Kopf, als dir zur Last zu fallen.«

»Schön.« Sie knallte das Weinglas auf die Tischplatte. »Aber für Mom und Dad muss ich alleine aufkommen, weil du nicht helfen kannst. Und wenn … wenn mir oder Georg etwas passiert, dann haben die Kleinen niemanden mehr. Ihr Onkel wird nicht für sie sorgen können, weil er … weil er ein sturer Blödmann ist …« Oh nein. Bitte nicht. Ihre Augen glitzerten und ihre Stimme wurde klein und rau. »Du Idiot. Ich kann doch nicht immer alles alleine machen. Du könntest doch auch mal …«

Verdammt. Alle Worte blieben in Gordans Kehle stecken, wie immer, wenn sie weinte. Was nicht oft vorkam. Und schon gar nicht vor Fremden. Gordan warf einen Blick auf den Goldjungen, der nicht länger griente. Er schaute, als wäre er an jedem Ort der Erde lieber als hier. So, wie seine Finger die Serviette kneteten, würden gleich nur noch weiße Fetzen vor ihm liegen.

»Erica.« Gordan atmete ein. »Ich kann dir das erklären. Später. Wenn du willst.«

»Ich will nicht.« Sie sah ihn nicht an. Eine einzelne Träne rann über ihr Kinn. »Noch einen Vortrag über Kunst und Freiheit ertrage ich nicht. Verschwinde, Gordan. Ich habe genug von dir.« Sie nahm das Glas und stiefelte aus dem Raum. Ihr schmaler Rücken war angespannt. Gordan wollte ihr hinterherlaufen, aber er wusste aus bitterer Erfahrung, wo das enden würde. In noch mehr Streit und Tränen. Trotz des guten Steaks in seinem Magen fühlte er sich leer und kalt.

»Komm mit, Goldjunge«, sagte er leise. »Ich kenn sie. Sie will jetzt alleine sein.«

Der Schönling warf seinen Stuhl fast um, als er aufstand. In Windeseile durchquerte er den Flur und war aus der Tür. Erst, als sie hinter ihnen zuklappte, atmete er aus. Es war dunkel und die Sommerluft kühlte ab. Sie roch nach frisch gemähtem Vorstadtrasen und Autopolitur.

»Es tut mir leid«, sagte der Goldjunge und sah Gordan an. Licht drang aus dem rautenförmigen Fenster in der Haustür. Es versenkte die Hälfte seines Gesichts im Schatten und verlieh ihm einen Hauch von Charakter. »Wirklich. Ich dachte, Ihre Schwester könnte Sie überreden. Ich wollte nicht, dass Sie sich streiten. Ich gehe morgen gern zu ihr und erkläre, dass …«

»Mach dir keinen Kopf, Goldjunge.« Gordan ließ eine Hand auf seine Schulter fallen. Der Schnösel hielt sich aufrecht. Kräftig war er ja. »Das warst nicht du. So endet jedes Sonntagsessen.«

»Bitte?!«

»Ja. Letzte Woche hat sie mich auch rausgeschmissen.« Gordan seufzte. »Es ist nicht so einfach.«

»Ja, das habe ich bemerkt.« Der türkisfarbene Blick schien ihn zu durchbohren. »Gibt es einen Grund dafür?«

»Wir sind Geschwister.« Gordan zuckte mit den Achseln und trottete die Stufen hinunter in die Einfahrt. »So ist das halt.«

»Bei uns nicht.«

»Das kann ich mir vorstellen.« Er grunzte. »Ihr sitzt vermutlich an einer drei Kilometer langen Tafel und schweigt.«

»Nein. Wir reden.« Der Kleine ging neben ihm her über die Straße. Er verzog den Mund und musterte die beigefarbenen Reihenhäuser hinter den Lichtkegeln der Straßenlaternen. »Wir reden darüber, welche Erfolge meine Geschwister vorzuweisen haben. Wir reden darüber, wie meine Eltern sich kennengelernt haben und warum sie nach vierzig Jahren noch so glücklich miteinander sind wie am ersten Tag. Dann reden wir darüber, wie gut es für Mutters Kandidatur aussieht. Wie Vater es schafft, die Umsätze mit jedem Jahr zu steigern. Und dann kramt irgendwer die alte Geschichte hervor, wie ich den Kunstlehrer gefickt habe und vom Internat geflogen bin.«

Gordan lachte. Überrascht darüber versuchte er, es wie ein Husten klingen zu lassen. »He, das ist doch auch ein schöner Erfolg. Schafft nicht jeder.«

»Nein.« Kurz sah es aus, als wollte ein Lächeln in den glatten Mundwinkel kriechen. Tat es aber nicht. Der Goldjunge steckte die Hände in die Hosentaschen und wippte wieder vor und zurück. »Das schafft nur Robin, die Schande der Familie von Romberg-Krieger. Das ist das Einzige, was er schafft. Vögeln, saufen und die Familie lächerlich machen.«

Gordan sah ihn überrascht an. »Warum erzählst du mir das? So viel Wein hast du auch nicht getrunken.«

»Das stimmt.« Ein Seufzen. »Würde ich aber gern.«

»Na dann …« Gordan atmete tief ein. Egal. Er hatte keine Kraft mehr, gegen den blonden Trottel zu kämpfen. »Gehen wir was trinken. Wenn du einem brotlosen Künstler ein paar Bier spendierst, erzählt er dir, warum er dein Angebot nicht annehmen kann.«

5. Gepflegte Unterhaltung

 

Warum war der behaarte Affe plötzlich freundlich? Okay, nicht freundlich, aber ganz umgänglich. Er ließ Robin sogar vorne im Taxi sitzen, das sie zurück in die Innenstadt fuhr. Robin fragte sich, wie der Primat hergekommen war. War er etwa gelaufen?

»Kannst uns hinter der Wachtelwirtin absetzen, Ludwig?«, fragte der und nickte dem Taxifahrer zu. »Der Kleine spendiert mir ein Bier.«

Der Taxifahrer sagte nichts, aber ein amüsiertes Schmunzeln lag unter seinem Bärtchen. Frechheit. He, Moment mal! Das war ja der Kerl aus der Wachtelwirtin!

»Der Kleine hat einen Namen«, sagte Robin. »Und er ist höflich genug, Sie zu siezen, Herr Klingenschmied. Sie sollten ihm die gleiche Ehre erweisen.«

»Nö.« Wie dieser Höhlenmensch sich auf dem Rücksitz lümmelte! »Kannst mich ja duzen.«

»Gerne, Gordy. Wie nett von dir.« Robin grinste.

Der Blödmann grinste zurück, das sah er im Rückspiegel. »Gordy hat mein Ex mich genannt. Für dich Gordan.«

Robin überlegte, ihn doch Gordy zu nennen, aber dann hätte der Affe vielleicht gedacht, dass er interessiert daran sei, den Platz seines Exfreundes einzunehmen. Was für ein absurder Gedanke. Natürlich nicht. Gut, mal mit dem Primaten im Bett zu landen, wäre bestimmt amüsant, und mit seinen Pranken konnte er auch gut zupacken, wie er an dem Ton heute Mittag bewiesen hatte. Und an Robins Arsch … Nein! Er würde nicht mal an Sex denken! Diesmal würde er nicht alles versauen. He, versauen.

»Gordan also«, sagte er, mit einiger Verspätung. Zumindest kam es ihm verspätet vor. Vielleicht waren die dreckigen Gedanken in Lichtgeschwindigkeit durch seinen Kopf gerast. »Und der Nachtisch, den wir wegen dir verpasst haben, war auch schottisch. Hast du Verwandte auf der Insel?«

»Meine Mum ist aus Lanark.« Gordan sah aus dem Fenster. »Sie ist vor fast vierzig Jahren hergekommen. Hat Dad so ziemlich sofort kennengelernt und war noch schneller schwanger. Wir waren früher öfter in Schottland, unsere Großeltern besuchen. Aber die sind tot.«

»Und seitdem waren Sie … warst du nicht mehr in Schottland?«

»Nein. Warum auch?«

»Wegen der Landschaft?«

Gordan schaute amüsiert. »Klar. Ich steh auf Landschaft.«

»Ich dachte nur. Du versprühst einen gewissen Holzfällercharme.« Was laberte er da? »Und mit Charme meine ich Gestank.«

»Stehst du auf Holzfäller, Kleiner?«

»Robin. Und ja, unter anderem stehe ich auf Holzfäller. Außerdem auf Feuerwehrmänner, Polizisten, Geschäftsmänner, Stripper, Elektriker, Finanzbuchhalter«, er überlegte, »Balletttänzer … Hattest du mal was mit einem Balletttänzer? Der, den ich kannte, hatte den reinsten Nussknackerarsch. Und Beine wie Baumstämme. Wenn wir zusammen unterwegs waren, dachten alle, er wäre mein Bodyguard.«

Ludwig der Taxifahrer wirkte leicht beunruhigt. Gordan nicht. Der lachte. Sein Lachen war ganz nett. Heiser und warm wie Kaminfeuer.

»Ne, aber als ich so alt war wie du, also dreizehn, hatte ich eine Affäre mit einem Rugbyspieler. Der konnte mich mit einer Hand hochheben.«

»Oooh.« Robin drehte sich zu ihm um. »Erzähl mir mehr!«

»Nicht, bevor ich ein Bier intus habe.«

»Das lässt sich einrichten. Wir sind da.«

Das Taxi bremste, Gordan stieg aus, Robin bezahlte. Der Taxifahrer winkte ihn zu sich her, als er ihm den Zwanziger reichte.

»Junge.«

»Ich bin kein Junge.«

»Gut, Kleiner«, knarzte der Alte. Kalter Rauch umhüllte ihn. Seine Augen waren fast schwarz. »Gordan ist ein guter Kerl.«

»Ah ja?« Robin wusste nicht, was der Mann ihm sagen wollte. »Na, abgrundtief böse scheint er nicht zu sein, aber nett wäre eine Übertreibung. Außerdem könnte man seinen Sinn für Hygiene durchaus beanstanden.«

»Er ist ein guter Kerl.« Ludwig ließ sich nicht beirren. »Brich ihm nicht das Herz.«

Robin wäre fast ausgerutscht und gegen die Autotür gefallen. »Ich soll ihm … Nein, werde ich nicht. Keine Sorge. Da läuft nichts, falls Sie das denken.«

Schwarze Augen blickten ihn zweifelnd an.

»Warum sollte da was laufen?« Robin wurde langsam wütend. »Nur, weil wir zwei schwule Männer sind, müssen wir doch nichts miteinander haben. Ich fühle mich diskriminiert.«

»Brich ihm nicht das Herz, Kleiner.«

»Ich bin kein Kleiner. Ich bin … Ach, vergessen Sie’s. Schönen Abend noch.« Äußerst erwachsen und gelassen straffte Robin sich und folgte Gordan, der zu einer hohen Bretterwand aufsah. Die Rückseite der Wachtelwirtin. Der Geräusch-Mischmasch angetrunkener Unterhaltungen drang durch die Ritzen zwischen den rissigen Brettern.

»Hat Ludwig dich angeflirtet, oder warum hat das so lange gedauert?« Der Keramiker öffnete eine halb verborgene Tür im Efeu. »Oder hast du ihn etwa angegraben?«

»Leider hat er abgelehnt. Er war so viel charmanter als du.« Robin verzog das Gesicht. »Nein, er hat mich gebeten, dir nicht das Herz zu brechen.«

Gordan strauchelte. Eine Augenbraue hob sich. »Was?!«

»Keine Ahnung. Vielleicht dachte er, wir hätten ein Date.«

Ein Kopfschütteln. »Der weiß doch nicht mehr, wie ein Date aussieht, wenn’s ihm die Eier leckt. Verheiratet, seit er zwanzig war, der Bursche.«

Robin schauderte. »Armer Kerl.«

Wieder dieses heisere Lachen. Es wäre interessant, das mal im Bett zu hören. Was er nicht tun würde. Erstmal war Robin dafür zu professionell und dann schien der Mann nicht sonderlich interessiert an ihm zu sein. Was eine Unverschämtheit war.

Die Holztür öffnete sich ins Paradies, also den Biergarten. Gläserklirren und Gelächter erwarteten sie, vermischt mit dem süßen Duft der Sommerblumen und dem herben der alten Backsteinmauern. Die Bänke waren voll besetzt mit Einheimischen jeden Alters. In der Ecke beim Springbrunnen kreischte eine Gruppe älterer Damen, an einer der Bierbänke hatte sich eine Fußballmannschaft versammelt. TSV Sportfreunde Lummerdingen, las Robin auf den durchschwitzten Trikots, bei deren Anblick ihm einfiel, dass er noch nie einen Fußballer gevögelt hatte. Dabei waren die sexy: pralle Muskeln, starke Körper und sogar ganz ansehnliche Gesichter, wenn man die gruseligen Frisuren außer Acht ließ.

»Sabber nicht, Kleiner«, raunte Gordan in sein Ohr. Frisch geduschter Primatengeruch stieg ihm in die Nase. Gar nicht schlecht. Jetzt, wo die Schweißschicht abgewaschen war, blieb nur noch der würzig-herbe Geruch nach Kerl. Und das, was er schon im Atelier gerochen hatte. Diese ganz eigene Note, weder süß noch salzig, sondern etwas ganz eigenes. Aufregend wie der Moment vor einem Fallschirmsprung. Robin schluckte.

»Tu nicht so.« Er schnalzte mit der Zunge. »Du findest die doch genau so geil.«

»Ich?«

»Na, nach dem, was du im Taxi erzählt hast, bist du auch nicht immun gegen hübsche Waden.«

»Das ist lange her, Kleiner.«

»Und jetzt bist du impotent?«

»Nein, erwachsen. Ich habe schon lange nicht mehr …« Ein düsterer Schatten flog über sein Gesicht. So ernst, wie der schaute, hatte er bestimmt seit einem Monat keinen Sex mehr gehabt. Gruselig.

»Gordan!« Lisbeth kam aus der offenen Tür, ein Tablett in den Händen, das randvoll mit schaumbedeckten Halbliterkrügen war. »Was machst du denn hier?«, brüllte sie über die Köpfe der Fußballer hinweg. Mehrere Menschen drehten sich nach ihnen um. »Anschreiben lass ich dich aber nicht, das sag ich dir gleich!«

»Nicht nötig.« Gordan zeigte mit beiden Zeigefingern auf Robin. »Der feine Herr lädt mich ein!«

Feiner Herr war besser als Kleiner.

»Das wird teuer!« Lisbeth lachte. »Gordan säuft wie ein Loch, wenn er will!«

»Will ich nicht.« Gordan schien leicht verstimmt.

»Echt?« Robin sah ihn herausfordernd an. »Ist der mächtige Silberrücken etwa ein Leichtgewicht?«

»Ich geb dir gleich Silberrücken, Kleiner.«

»Du gibst mir gar nichts, Stinker.«

»Huiuiui, ist das etwa ein Date?«, fragte Lisbeth. Wie von Zauberhand stand sie plötzlich vor ihnen. Das Tablett war leer. »Brich ihm nicht das Herz, Kleiner.«

»Das ist kein Date«, sagten sie, wie aus einem Mund. Wie nervige Zwillinge.

»Und ich gebe mir äußerste Mühe, dein Herz nicht zu brechen, Gordan.« Robin legte die Hand dahin, wo er sein eigenes Herz vermutete. »Fest versprochen.«

»Da bin ich ja beruhigt.« Gordan verzog den Mund. »Hab mir solche Sorgen um meine zarten Gefühle gemacht. Komm mit!«

Gib mir keine Befehle, wollte Robin sagen, aber Gordan war schon unterwegs. Er steuerte eine Bank an, auf der bereitwillig Platz gemacht wurde.

»Gordan, schön dich mal wiederzusehen«, hörte er. »Bist du immer noch knapp bei Kasse?«

»Geht so«, hörte er den alten Lügner murmeln. »Wird schon wieder.«

Für Robin machten sie auch Platz. Leider gab es sehr wenig Platz. Eingequetscht zwischen einer bebrillten Frau und Gordan saß er da und fühlte sich so bedrängt, als würde er in einem Akkordeon hocken. Egal, Hauptsache, es gab Bier. Lisbeth war neugierig und mitteilungsfreudig, aber kellnern konnte sie. In Lichtgeschwindigkeit stand ein eiskaltes Bier vor ihm, dessen Schaum verlockend an den Seiten des Kruges herablief.

»Prost!«, rief Gordan in die Runde.

»Prost!«, kam es von allen Seiten. Robin machte mit und dann versenkte er die Nase im Schaum. Wundervoll. Die Luft war abgekühlt, aber seine Kleider klebten ihm immer noch auf der Haut. Ob sein Rücken genau so ansprechend aussah wie die der Fußballer? Er hatte an Muskeln zugelegt, seit er wieder regelmäßig Polo spielte und wenn er sich im Spiegel sah, war er äußerst zufrieden …

Konzentrier dich! Du hast einen Plan!

Ob Gordan auch etwas plante? So, wie er ächzend das Bier abstellte, sich den Schaum aus dem frisch rasierten Gesicht wischte und die Ellenbogen auf die Platte stützte, wirkte er einfach nur entspannt. Und anziehender, als Robin bisher gedacht hatte. Okay, im allerersten Moment, als er die Werkstatt betreten hatte, da hatte er auch gedacht … Nein, nicht mal gedacht. Er hatte etwas gespürt. Tief in den Lenden. Dieser kräftige, struppige Muskelprotz, der mit beiden Händen Ton durchgeknetet hatte, der hatte eigentlich ganz …

Konzentration, habe ich gesagt!, bellte der vernünftige Teil von ihm. Der arme Kerl. Robin stellte ihn sich wie einen bebrillten, schmächtigen Winzling vor, der ständig von seinen großen Geschwistern Lust, Langeweile und Bierdurst ausgelacht wurde.

»Schmeckt’s, Goldstück?« Lisbeth grinste ihn im Vorbeigehen an.

»Ausgezeichnet.« Er lächelte. Goldstück war auch besser als Kleiner. Ein wenig. Er war auf dem richtigen Weg, eindeutig. Bevor sein Glück sich wenden konnte, drehte er sich zu Gordan um.

»Was ist, Goldstück?« Ein herablassendes Lächeln. Oder ein freundliches? Schwer zu sagen.

»Kann ich dich etwas fragen? Oder nein, eigentlich habe ich gleich zwei Fragen.«

»Dann will ich auch zwei Bier. Ne, frag ruhig. Kann nur nicht versprechen, dass die Antwort dir gefällt.«

»Das wird sie nicht, zweifellos.« Er seufzte. »Warum bist du plötzlich so friedlich? Hast du irgendetwas vor?«

»Ich?« Der Mann schien ernsthaft verwundert. »Ne. Was soll ich denn vorhaben? Mein einziger Plan ist, dich für zwei, drei Biere blechen zu lassen und dann nach Hause zu gehen.«

»In dein Atelier?«

»Ja.« Gordan verzog den Mund und sah in seinen Bierkrug. Eine schöne, starke Nase hatte er. Wie ein Felsvorsprung über den vollen Lippen. Der Kontrast zwischen hart und weich war wirklich ganz anziehend. »Ja, wie du gesehen hast, penne ich in meinem Atelier.«

»Ich habe ein Zimmer im Goldenen Ochsen«, sagte Robin, bevor er sich stoppen konnte. »Falls du mal wieder auf einer richtigen Matratze schlafen willst.«

Ein Moment der Stille, in dem Robin sich dafür verfluchte, so ein Angebot gemacht zu haben. Trottel, dachte er. Aber Gordans harter Oberschenkel presste sich gegen seinen und die Hitze, die zwischen ihnen entstand, vernebelte sein Gehirn.

»Bietest du mir nur die Matratze an oder noch mehr?« Eine kräftige Augenbraue hob sich.

Robins Ohren wurden heiß. Mist. »Mehr, wenn du willst.«

Ein trockenes Lachen. »Und dann? Überredest du mich dazu, dass ich neue Plastiken mache, während du mich reitest?«

Wer konnte eigentlich mithören? Sie sprachen ziemlich gedämpft, aber die Gefahr bestand, dass jemand viel zu viel erfuhr. Egal, er konnte jetzt keinen Rückzieher mehr machen. Todesmutig legte er die Hand auf den Schenkel des Primaten. »Würde das funktionieren?«

Ein trockenes Lachen. »Nein. Nichts, was du tust, kann mich dazu bringen, die Plastiken zu machen.« Er packte Robins Finger und legte sie zurück auf den Tisch.

»Warum? Was …« Robin unterdrückte ein frustriertes Stöhnen. »Hasst du Geld, Gordan? Ist das so ein Künstlerding?«

»Nein.« Gordans Stimme wurde noch leiser. Ein heiseres Flüstern. Einen Moment lang stellte Robin sich vor, dieses Flüstern im Dunkeln zu hören. Also nicht dem Dunkel des Biergartens, sondern dem Dunkel seines Hotelzimmers … »Ich hätte gern Geld, Kleiner. Tilmann hat immer gewollt, dass ich Erfolg habe. Und ich hab auch nie davon geträumt, in meinem Atelier zu pennen und … Ich würde Erica gern helfen. Ich …« Er verstummte.

»Noch zwei Bier, Lisbeth!«, rief Robin.

6. Tiefschürfende Gespräche

 

»Er ist einfach so verdammt niedlich«, murmelte Gordan in sein Bier. »So süß. Auf seiner Nase, da sind … da sind so kleine Fältchen, wenn er lächelt. In einem voll schönen Muster. So in etwa.« Er versuchte, es auf der Tischplatte nachzuzeichnen, aber das war schwer, mit acht Fingern an einer Hand. Mindestens.

»Hm«, brummte Robin. Sein Kopf ruhte auf dem Bierkrug. Dem siebten? Dem neunten? Gordan wusste es nicht. Dafür wusste er, dass der Kleine ihn besoffen machen wollte, um ihn auszuhorchen. Und, dass es ihm egal war. Freibier war gut und Gordans Geheimnisse eh nicht so geheim. Er hatte schon der halben Stadt vorgejammert, wie süß die Fältchen auf Tilmanns Nase waren.

Inzwischen war der Biergarten halb leer. Die Gespräche wurden spärlicher und lauter. Mindestens zwei andere Besucher beschwerten sich ebenfalls über ihre Ex-Partner. »Der Sack, der blöde!«, sagte eine blondgelockte Frau und übertönte das malerische Grillenzirpen aus der Hecke und das Plätschern des Springbrunnens. Es musste nach Mitternacht sein.

»Wie lange wart ihr zusammen?«, lallte der Goldjunge. »Bestimmt ewig, oder?«

»Sieben Jahre. Die besten sieben Jahre, die ich je …« Gordan verstummte. Nachdenklich lehnte er das Kinn auf die Hand. Fast hätte er sie verfehlt. »Er war so süß. Er ist … Weißt du, eine Zeit lang lief es richtig gut für uns. Ich war noch in Berlin, da habe ich studiert. Bildende Kunst. Ich hatte meine erste Ausstellung und … Ich dachte, jetzt geht’s aufwärts. Die Vernissage lief super, alle haben gemurmelt und wichtig getan und versucht, nicht zu begeistert zu wirken und dann … dann kommt dieser superniedliche Kerl auf mich zu und sagt ›Hallo Künstler‹ und grinst. Und ich bin einfach«, er seufzte, »verpufft.«

»Verpufft.« Ein feiner Mundwinkel verzog sich. »Schwer vorstellbar. Ein Kerl wie du. Du weißt schon, so … menschenäfflich.« Er wedelte mit den Fingern, um Gordans Gestalt zu umschreiben.

»Haarloser Frosch«, murrte Gordan. »Sei ruhig, ich versuch, dir gerad was Wichtiges mitzuteilen. Für dein Leben, jawohl.«

»Warum sollte ich den Rat von jemandem annehmen, der pleite ist und unter seiner Werkbank schläft?«

»Weil ich älter bin als du. Und viel weiser.«

»Wenn du so weise wärst, hättest du weniger gesoffen.« Der Goldjunge rülpste diskret. »Von dir kann ich gar nichts lernen. Höchstens, wie man ein unhöflicher Grantelarsch ist.«

»Was ist das denn für ein bekloppter Ausdruck?« Gordan rülpste indiskret. »Du kannst eine Menge von mir lernen. Weißt du, wie es sich anfühlt, geliebt zu werden?«

Kam die Röte in den Wangen vom Alkohol oder war die neu? Er betrachtete den Kleinen, was echt keine Strafe war. Hübsch. Leider zu glatt. Wie perfekt verarbeiteter Ton. Gordans Kollegen auf dem Wochenmarkt versuchten, makellos glatte Tassen und Teller herzustellen. Er nicht. Er liebte die Unebenheiten, die entstanden, wenn man Ton direkt brannte. Man wusste nie, wo ein interessanter Riss entstand, eine Furche, die …

»Was wollte ich dir erzählen?«, fragte er.

»Wie es sich anfühlt, geliebt zu werden.« Hörte er da einen Hauch von Sehnsucht? Ne, bestimmt nicht.

»Ach ja. Also. Das ist, als würde ein Feuer in dir entfacht. In einem Ofen, der immer leer war, immer kalt, aber wenn dich einer liebt, endlich, so richtig und du ihn auch liebst … Du wächst. Du gehst auf wie ein Hefeteig.«

»Ja, dass Pärchen fett werden, ist mir auch schon aufgefallen.«

»Innerlich, du Romantik-Legastheniker. Innerlich! Du … Na, du beginnst zu blühen. Wie diese Dings in der Dings.«

»Was? Wo?«

»Diese … diese Samenkörner. Im Wüstensand. Da regnet’s nur alle hundert Jahre oder so. Aber wenn … dann ist da am nächsten Tag ein Blütenmeer. All diese Samenkörner, die schlummern nur, die warten nur darauf, dass eines Tages der Richtige kommt, der …«

»Der richtige Regen.« Stirnrunzeln.

»Ja, verdammt. So war das bei Tilmann und mir. Ich war noch nie so glücklich.« Trübselig sah er in sein Bier.

»Bist du sehr sauer, dass er dich verlassen hat? Du … Wenn es so gut war, dann musst du ihn hassen, oder?«

»Ne. Hass ihn nicht. Nie.« Gordan seufzte. »Ich versteh doch, warum er gegangen ist.«

»Ich würde ihn hassen.« Träge legte der Kleine die Wange auf den Tisch. »Wenn jemand dir so ein Gefühl gibt und dann abhaut …«

Gordan betrachtete das nichtssagende Gesicht. »Warst du schon oft verliebt?«

»Bisschen.« Nachdenkliches Lippenbeißen. »Nicht … Ich meine, ich war schon verliebt, aber … das beruht nie auf Gegenseitigkeit. Ich …« Irgendetwas passierte in der glatten Miene. Etwas Atemberaubendes. »Ich bin zu … Ich bin nichts. Reine Oberfläche. Wie soll man einen wie mich …« Er verstummte. Gordan setzte sich auf. Sein Puls raste, ganz plötzlich. Da war etwas. Etwas Unerwartetes. Wie Gold, das aus einem Riss zwischen Felsen hervorblitzte. Wie …

»Jungs, letzte Runde.« Lisbeth klopfte auf den Tisch. Sofort schlossen sich alle Risse und der Goldjunge war so langweilig wie zuvor. »Wollt ihr noch was?«

»Nein, wir wollen doch nicht betrunken werden«, sagte der Kleine und richtete sich auf.

»Genau, dafür sind wir viel zu vernünftig.«

»Sicher?«

»Na gut, eins noch.« Gordan nickte gnädig. Sie verdrehte die Augen und schwebte davon. »He Kleiner, wolltest du nicht wissen, warum ich keine neuen Plastiken mache?«

»Richtig!« Der blonde Trottel zuckte zusammen. »Ja, genau. Warum töpferst du keine neuen Plastiken?«

»Weil du ein Trottel bist, haha.«

Der Goldjunge schubste ihn von der Bank. Mit einem winzigen Stupser, der kaum stark genug war, um ein Baby umzuhauen. Aber Gordan war besoffen und schwer.

»He!« Löwenzahn spross im Kies und kitzelte seine Wange. Es knirschte, als er sich aufrichtete. Der Junge schaute auf ihn nieder.

»Ups, tut mir leid.«

»Kein Problem, Süßer.«

»Süß bin ich jetzt auch noch, ja?« Schmollend verzogene Lippen. Ganz niedlich. Aber das Dings von eben, dieser Ausdruck, der Gordan einen Moment lang die Sprache verschlagen hatte, der kam nicht zurück. »Erzählst du jetzt endlich, warum ich keine Plastiken bekomme?«

»Weil du ein …« Gordan seufzte und richtete sich auf. Schwerfällig nahm er wieder neben dem Jungen Platz. Robin. Der Junge hieß Robin. »Passt irgendwie zu dir.«

»Was passt zu mir?«

»Nichts. Ich …« Gordan atmete tief ein. Sie waren die Letzten auf der Bierbank. Oh, frisches Bier! Direkt vor ihm! Wann war Lisbeth zurückgekommen? »Weißt du noch, was ich dir über die Liebe erzählt habe?«

»Natürlich weiß ich das! Das ist keine fünf Minuten her! Jetzt verrat mir endlich, warum du mein fantastisches Angebot ausschlägst.«

Gordan schloss die Hände um sein neues, kühles Bier. »Es war Tilmann. Wegen ihm habe ich … Er wollte immer, dass …« Er seufzte. »Ich wollte ein richtiger Künstler werden, weißt du? Als ich aus der Uni kam, da wollte ich … Ich wollte die Keramik als Kunstform weiterbringen, sie zurück ins Rampenlicht holen, in die Galerien …«

»Also die Plastiken waren eine Sensation. Immerhin das hat funktioniert.« Ein Nicken.

»Nicht so, wie ich wollte. Erst mal hat es gar nicht geklappt. Nach der ersten Vernissage hatte ich noch eine und noch eine und alle wurden gut besprochen und ich hatte ein paar Verkäufe und … und Tilmann und ich haben in einer schäbigen Bude gehaust, aber das war uns egal, weil wir dachten, der Durchbruch stünde kurz bevor …« Wenn er davon erzählte, spürte er Tilmanns schlanken Körper noch hinter sich, die Wärme, den Geruch nach Waldhonig, der von seinem Freund ausgegangen war. »Ne Weile hat es uns echt nichts ausgemacht. In Berlin konnte man auch feiern, wenn man pleite ist. Wir haben uns ausgelebt, nachts, und tagsüber stand ich in der Werkstatt. Er hat geschrieben und wir dachten, wir sind kurz davor, die Welt zu erobern.« Trübselig folgte er einem Schaumtropfen auf seinem Weg das Glas hinunter. »Haben wir aber nicht.«

»Offensichtlich.«

Gordan warf ihm einen genervten Blick zu.

»He, wenn ihr die Welt erobert hättet, hätte ich davon gehört.« Ein müdes, freches Grinsen. »Der große Präsident, Papst und Kaiser Gordan Klingenschmied, Herrscher des Planeten.« Er kicherte.

»Lach du nur. Nein, das wurde nichts. Drei Jahre später waren wir immer noch ganz am Anfang. Schlimmer. Die Galerien hatten neue, heiße Künstler. Mit meinen mittelmäßigen Verkäufen bin ich nicht mehr in die guten reingekommen. Und die Kunst wurde … Ich wurde schlechter. Ich habe versucht, das zu machen, was … was ich dachte, das die wollen. Was für eine Scheißidee.« Er versenkte sein Gesicht im Bierkrug und trank. Langsam schmeckte es nicht mehr. »Na ja, dann wurden wir aus der Wohnung geschmissen und konnten uns keine neue leisten. Erica hat mir angeboten, zurückzukommen. Ein alter Bekannter von uns hatte eine freie Werkstatt und … nach all den Enttäuschungen hatte ich eine neue Idee.«

»Und die wäre?« Misstrauisches Naserümpfen. »Hat es was mit Spitzmaustassen zu tun?«

»Ja. Das war mein Plan. Kunsthandwerk herstellen, so Zeug, das die breite Masse mag. Und damit auf den Wochenmärkten Geld verdienen und nebenher echte Kunst machen. Tilmann war nicht begeistert. Aber er ist mitgekommen.«

»Und?«

»Hat nicht funktioniert. Nicht gut. Ich hab mir den Arsch aufgerissen, aber auch mit den«, er wischte sich Schaum vom Mund und rülpste, »Spitzmaustassen lief es mittelmäßig. Immerhin besser als vorher. Und …« Er verstummte.

»Und was?«

»Und ich habe gemerkt, dass …«

»Ja?!« Robins Stimme nahm einen genervten Unterton an. Schnöselig, aber genervt.

»Dass mir das Spaß macht«, gab Gordan zu. »Die Spitzmaustassen und die Ameisenbärwindlichter und alles. Dieser Kitsch für gelangweilte Sonderschulpädagoginnen. So hat Tilmann es genannt.«

»Der war nicht begeistert davon, dass du dich dem kommerziellen Kunsthandwerk zugewandt hast?«

»Nein. Das kann man so sagen. Dass wir uns kaum noch gesehen haben, hat auch nicht geholfen. Er war daheim und hat geschrieben und ich war im Atelier. Na, und da ist seine Liebe leider … eingeschlafen wie ein abgeklemmter Fuß.«

»Hat er das auch so genannt?«

Unwillkürlich musste Gordan lächeln. »Ja. Er ist ein Poet.«

»In was für Gedichten kommen denn eingeschlafene Füße vor?«

»Du liest nicht viele Gedichte, oder?«

»Nein, das muss ich zugeben.« Robin starrte an die gegenüberliegende Wand. »Ich lese überhaupt nicht viel. Nur Menschen mit … mit Tiefgang lesen.«

»Gar nicht wahr. Tilmanns Neuer hat eine ganze Bücherwand und so viel Tiefgang wie ein Unterteller.«

Der Goldjunge schwieg. Gordan wartete. Mit angehaltenem Atem. Er wusste nicht, worauf, und es trat auch nicht ein.

»Ich schätze, Tilmann ist gegangen?«

»Ja.«

»Wohin? Zurück nach Berlin?«

»Nein.« Gordan räusperte sich. »Nein, es gefällt ihm hier wohl doch besser, als er anfangs dachte. Muss es ja. Sonst wäre er jetzt nicht mit Louis zusammen.«

»Und wer ist das jetzt?«

»Ein alter Bekannter.«

»Klingt mehr nach einem alten Feind.«

»Ist er auch, der Vollarsch.« Gordan befürchtete, dass der Bierkrug platzen würde, so, wie er ihn umklammerte. »Der wollte schon immer alles, was ich hatte. Der reiche Drecksack. Der hatte in der Grundschule alle Action-Octopus-Figuren, aber meine wollte er trotzdem haben. ›Gib her, du spielst eh falsch‹, hat er gesagt. Nur, weil Action-Octopus und Professor Bösius ab und zu geheiratet haben.«

»Hast du sie ihm gegeben?«

»Ne Maulschelle hab ich ihm gegeben.« Nach einem Blick auf Robins schockiertes Gesicht seufzte er. »Erst, als er mir den Action-Octopus wegnehmen wollte und getreten und gespuckt hat. Einfach so. Der hat immer alles gekriegt, was er wollte, aber … Ne. So ein Wichser. Mit dem hab ich mich mein ganzes Leben lang in die Haare gekriegt.«

»Und jetzt hat er deinen Tilmann geklaut.« Robin schnalzte mit der Zunge. »Schön blöd.«

»Der hat ihn nicht geklaut. Tilmann ist freiwillig mit zu ihm. Ich weiß nicht wie …« Er stoppte. Leider war der Kleine nicht so blöd, wie er aussah. Was auch schwer gewesen wäre.

»Du weißt nicht, wie lange das mit denen schon lief, bevor du davon erfahren hast?«

»Nein«, grollte Gordan. »Ist jetzt auch egal.«

»Du bist komisch«, lallte Robin. Schwankend musterte er ihn. »Sonst bist du so ein grantiges Arschloch, aber über deinen Ex beschwerst du dich nicht mal, obwohl der dich verlassen und betrogen hat.«

»Ich liebe ihn halt.« Schwere Trauer senkte sich auf Gordan hinab. Er fühlte sich alt und verbraucht. Seine Hände, die immer noch den Bierkrug umklammerten … Waren die schon immer so faltig und behaart gewesen?

»Du meinst, du hast ihn geliebt?«

»Ja. Ja, klar, das meine ich.« Dem kleinen Mistkerl würde er nicht erzählen, dass er … Mann, Gefühle änderten sich halt nicht von einem Tag auf den anderen. Und auch nicht von einem Jahr aufs andere. »Und, um endlich zum Punkt zu kommen: Die Plastiken habe ich … Ich kann mich kaum erinnern, wie ich die gemacht habe. Ich war total verzweifelt und fertig und außerdem besoffen. Ich … Ich musste irgendwohin mit dem Schmerz und da …«

»Da bist du zum Ton gegangen.« Leise Sehnsucht klang in der arroganten Stimme. »Muss schön sein, wenn man das so verarbeiten kann. So …« Er zögerte. »Egal. Hat ja anscheinend nicht geholfen.«

»Doch, mir geht’s viel besser. Nur davor … Da war ich wie weg. Wie ausgelöscht. Ich habe überhaupt nichts mehr hingekriegt und …« Gordan hasste es, diesem Schönling sein Herz auszuschütten. »Ich habe Schulden angehäuft. Bin nicht mehr auf die Märkte, habe getrunken und nichts getöpfert bis auf diese blöden Plastiken. Die meisten habe ich zerkloppt. Aber dann hat mein alter Agent angerufen und ich hab ihm ein Foto von denen geschickt. Die wollte er. Nicht, dass er das gezeigt hätte. Hat gesagt, er könnte mir ’nen Tausender dafür geben. Um der alten Zeiten willen. Weil er ein schlechtes Gewissen hatte, dass ich es nie bis zum großen Durchbruch geschafft hab.«

Stöhnen. Ungläubiges Stöhnen. »Und das hast du ihm abgenommen? Mann, Gordan! Du hast die Meisterwerke, die die ganze Kunstwelt in orgasmisches Verzücken versetzen, für tausend Euro verscherbelt?«

»Ich sag doch, ich war fertig!« Wütend starrte er in die hübschen, glanzlosen Augen. »Verkatert und … innerlich … zerbrochen.«

»Jetzt werd nicht kitschig.« Wieder dieses blöde, arrogante Zungenschnalzen.

»Soll ich dir doch den Arsch versohlen, Kleiner?«

»Na klar.« Besoffenes Lachen. »Ich hab dir doch gesagt, dass ich darauf stehe. Aber nur, wenn ich danach deinen haarigen Affenarsch ficken kann. Ich hatte seit ….« Schweres Überlegen. So schwer, dass Robins Kopf langsam auf die Tischplatte sank. »Seit über zehn Stunden keinen Sex mehr.«

»Grauenvoll. Du Armer. Wie hältst du das nur aus?« Gordan verdrehte die Augen.

»Und du?« Der besoffene Blick musterte ihn interessiert. »Wer war der Erste nach Tilmann?«

»Keiner.« Gordan hob seinen Krug und trank ihn in einem Zug leer. Als er ihn absetzte, sah er in ein zutiefst schockiertes Gesicht. Die Augen des Schnösels waren groß wie der Mond. Mindestens.

»Keiner? Aber das heißt ja, dass … Das sind ja Monate!«

»Fast zwei Jahre.« Gordan wiegte den Kopf hin und her. »Doch, im September sind’s zwei …«

»Zwei Jahre?!« Die Stimme des Schnösels überschlug sich fast. »Aber … Und da lebst du noch?!«

Wie dumm war der eigentlich? »Ich hab doch gesagt, dass ich ihn liebe.«

»Ja, aber selbst … damals, im Internat, als Eduard aus dem Volleyballteam mich nicht wollte, also nur körperlich, da … da war ich verdammt traurig, aber ich hab sofort was mit einem aus dem Rugbyteam angefangen. Sofort. So lange … Als erwachsener Mensch kommt man so lange gar nicht ohne aus. Also, außer als alter Mensch. Als sehr alter Mensch. Und so alt bist du auch nicht.«

»Dafür bist du so dumm.« Gordan schüttelte den Kopf. »Strunzdumm.«

Zungenschnalzen. Eingebildetes Mundverziehen. »Ich bin nicht halb so dumm, wie ich aussehe.«

»Das ist auch unmöglich, würde ich mal behaupten.«

»Jungs. Haut ab. Ich will abschließen.« Lisbeths Hände landeten auf ihren Schultern. Eine auf Robins, eine auf Gordans. »Ich bin so scheißmüde, ich fall gleich tot um.«

»Sollen wir noch mit was helfen?«, fragte Gordan. »Beim Aufräumen?«

»Ihr.« Sie lachte höhnisch. »Ne. Lass mal. Wenn ihr abhaut, ohne auf den Boden zu kotzen, bin ich schon glücklich.«

»Schaffen wir.« Gordan nickte. »So viel haben wir auch nicht getrunken.«

»Sicher.« Sie seufzte. »Geht gleich nach Hause, ja? Und kommt nicht auf blöde Ideen.«

Was für blöde Ideen denn?, dachte Gordan und hatte eine Idee.

»Kleiner«, sagte er, als sie aus der Tür taumelten. »Ist dir auch so heiß?«

»Heiß nicht mehr, aber ich klebe. Wie ein … Kleber.« Missmutig zupfte der Blonde an seinem hellen Hemd. Es pappte nicht unerotisch auf seiner Haut. »Schlägst du vor, dass wir duschen? Gemeinsam?«

»Besser.« Gordan legte einen Arm um seine Schultern. »Komm mit.«

7. Gefährliche Mitte

 

Es dröhnte. Und … wuschte. Ja, doch. Er kannte das Geräusch. Irgendwoher. Erst so ein anschwellendes Surren, ein hoher Ton, wie eine schlecht gestimmte Flöte oder so. Und dann Booom! Als würde ein Laster an ihm vorbeifahren.

»Moment mal«, krächzte Robin. »Das ist ein Laster.«

Er öffnete ein Auge und war blind. Mist. Helle Sterne funkelten hinter seinem Augenlid. Genau in die Sonne geschaut. Scheiß-Sonne. Nun, immerhin wärmte sie seine Haut. Das Gestrüpp unter seinem nackten Rücken war fies und stachelig, aber seine Vorderseite … Warm schien es auf seinen bloßen Bauch, wärmte die Arme, die Beine, den Schwanz, einfach alles …

Er war nackt?

Nackt und … Laster. Schlechte Kombination. Robin ächzte leise und erhob sich. Sofort kam ein drittes Gefühl dazu: Ihm war kotzübel. Er schaffte es gerade noch, sich zur Seite zu drehen, bevor er in die Disteln reiherte. Säure schoss aus seinem Mund und verätzte seine Lippen.

»Oh Gooott …« , stöhnte er.

»Auch wach, Goldjunge?« Ein knackiger Hintern lehnte an der Leitplanke. Leider befand sich ungefähr einen Meter über dem Hintern ein Kopf. Ein Kopf, dessen Wangen ein bläulicher Bartschatten zierte, obwohl sie gestern noch spiegelglatt geglänzt hatten. Der blöde Primat sah ihn müde an.

Leitplanke. Leitplanke war auch nicht gut.

Robin würgte ein letztes Mal, dann erhob er sich. Es roch scheußlich und nicht nur, weil sein Mageninhalt ihm durch die Nase gelaufen war. Benzin lag in der Luft. Viel zu nah. Er konnte kaum atmen.

Wusch

Wusch

Wusch

Autos schnellten vorbei, so rasant, dass er sie nur als farbige Schemen wahrnahm. Autos und Laster. Auf beiden Seiten.

»Wie sind wir auf dem Mittelstreifen einer verdammten Autobahn gelandet?«, brüllte er gegen den Lärm an. »War das deine Idee?«

»Keine Ahnung!« Zu Bekräftigung hob der Keramiker die Hände. Ja, er war nackt. Splitternackt. Genau wie Robin. »Ich kann mich an nichts erinnern!«

Oh, verdammt. Warum waren sie nackt? Was war geschehen? Hatten sie … War dieser Primat über ihn hergefallen? Oder Robin über ihn?

Das wäre zu schön, dachte Robin. Mist, warum habe ich alles vergessen?

»Wir waren in der Wachtelwirtin!«, rief er. »Und dann … dann hast du gesagt, wir sollten baden gehen!«

»Stimmt, im Lummersee!« Besorgnis huschte über Gordans Gesicht. Das stand ihm. Überhaupt war er ziemlich schön anzusehen. Ein Körper wie eine Herakles-Statue. Und diese hellen Augen unter der dunklen Matte seines Schopfes … Nett. »Das war eine Scheißidee! Im See ersaufen dauernd Leute! Vor ein paar Jahren hat’s einen Kumpel von einem Kumpel erwischt! Sorry, Kleiner!«

»Wenn es dir wirklich leidtut, dann hör auf, mich Kleiner zu nennen!«

»Okay, Robin.« Träges Grinsen. Weiße Zähne blitzten in der Morgensonne. Doch, sehr attraktiv. Selbst die getrocknete Kotze in den Brusthaaren trübte den Eindruck nicht. Robin stellte sich neben Gordan an die Leitplanke und sah dem morgendlichen Tummeln der Laster zu. Ihm war immer noch schlecht.

»Wie kommen wir hier runter?«, rief er. »Der Verkehr ist zu dicht!«

»Jou.« Gordan seufzte wohl, aber ein Laster schluckte das Geräusch. »Müssen auf Rettung warten.«

»Rettung?«

»Na, es hat uns bestimmt schon wer erspäht. Zwei Prachtkerle wie uns übersieht man nicht und schon gar nicht, wenn sie nackt sind. Die Polizei wird gleich da sein!«

»Die Polizei?!« Robins Stimme kippte. »Aber …«

Nein. Betrübt setzte er sich und wurde sofort von einer Distel gepikst. Nicht schon wieder. Vater würde ihn … Er sah auf die verstaubte Leitplanke vor sich. Selbst der gutaussehende, nackte Kerl, der an ihr lehnte, hob seine Stimmung nicht. Na gut, ein wenig.

»Schon wieder«, murmelte er. »Vater bringt mich um.«

Roman würde sich totlachen. Und seine anderen Geschwister würden betreten schweigen, wenn … wenn Vater ihm eine Standpauke halten würde, weil er der Familie schon wieder Schande bereitet hatte.

»Glaubst du, das kommt in den Nachrichten?«, fragte er, so leise, dass Gordan »Hä?« schrie. Er schüttelte den Kopf. Was für ein Scheiß. Fahrtwind wirbelte durch das Unkraut des Mittelstreifens und schoss durch seine Frisur. Wie die wohl aussah? Furchtbar, vermutlich. Nun, der Keramiker sah … Nein, der sah gut aus, obwohl ihm Disteln in den Haaren hingen. Er schaute auf Robin herunter.

»Musst du nochmal kotzen?«, rief er. Wirkte fast besorgt.

Robin schüttelte den Kopf, obwohl er nicht sicher war.

»Können wir abhauen?«, brüllte er. »Irgendwie? Wenn meine Familie mitkriegt, dass ich …«

Da hörte er es. Sirenengeheul. Das Wusch Wusch Wusch verstummte. Die Sirene kam näher.

»Nein.« Er vergrub das Gesicht in den Händen. Sein Kopf dröhnte und der schrille Schmerz hinter den Schläfen konnte ihn nicht davon ablenken, was für ein Versager er war.

 

***

 

Später, nachdem die Polizisten Gordan und ihn von dem begrünten Mittelstreifen herunter bugsiert hatten, nachdem sie sie an den See gefahren hatten, an dem sie ihre Kleider fanden und an den Robin sich beim besten Willen nicht erinnern konnte, rief er seinen Vater an. Sein Handy war noch in seiner Hosentasche. Immerhin gab es keine Taschendiebe in Lummerdingen.

»Musste das sein?«, war alles, was sein Vater sagte.

»Es tut mir leid.« Robin warf einen verstohlenen Blick auf Gordan, der in seine Hose stieg. Er wirkte elender, als Robin auf den ersten Blick angenommen hatte. Bleich, mit lila schimmernden Augenringen. Aber immer noch attraktiv … Nein! Er sollte sich verdammt nochmal konzentrieren! »Vater, es tut mir wirklich leid. Ich … Was soll ich tun?«

»Nichts.« Gernot Wilhelm von Romberg-Krieger klang müde. »Bleib erst mal in … Wo bist du?«

»Lummerdingen.« Robin schluckte. »Aber ich bin morgen pünktlich auf der Arbeit, wenn du …«

»Bleib erst mal da. Roman kümmert sich um die Polizei. Ich melde mich, wenn es Neuigkeiten gibt.«

»Aber …«

»Robin. Wir brauchen dich hier nicht.«

Nein, natürlich nicht. Er hatte keine speziellen Fähigkeiten. Nichts, was nicht jeder andere in der Firma hätte tun können.

»Vater? Bin ich gefeuert?«

Schweigen. »Was denkst du? Natürlich bist du gefeuert!« Wow. Einen Moment lang war sein Vater richtig laut geworden.

»Oh. Aber ich kann doch …«

»Nichts kannst du. Gar nichts.« Und dann war da nur noch ein Tuten.

Schale Enttäuschung schwappte in Robins Magen. Natürlich war er gefeuert. Natürlich. Jetzt würde Vater sich wieder darum kümmern müssen, dass nichts zur Presse durchdrang … Was nicht einfach werden würde, wenn auch nur einer der Vorbeifahrenden sie mit dem Handy gefilmt hatte. Hoffentlich war es zu schnell gegangen, als dass jemand sein Handy hätte zücken können. Hoffentlich.

Wie die Schlagzeile wohl lauten würde?

Adelsspross enttäuscht erneut Familie! Heißes Techtelmechtel auf dem Autobahnstreifen! Wer ist der geheimnisvolle Affenmensch, mit dem er erwischt wurde?

Wobei, so behaart war der Kerl nicht. Nur an den richtigen Stellen. Und es stand ihm.

Trübselig zog Robin seine klammen Sachen an. Sie hatten die halbe Nacht am Seeufer gelegen und rochen nach Moder und Tau.

Schweigend wurden sie zurück kutschiert. Also, Robin und Gordan schwiegen. Die Polizistin und ihr Partner machten ihnen abwechselnd Vorhaltungen. Sie hatten ja recht. Es war lebensgefährlich, nachts besoffen im See zu baden. Es war selbstmörderisch, nackt über die Autobahn zu taumeln. Wie waren sie da hingekommen? Robin erinnerte sich düster, dass … Nein, da waren nur winzige Ausschnitte. Der Weg zum See. Nasse Muskeln im Mondlicht. Helle Augen, die näherkamen …

War da doch etwas gelaufen? Er durchwühlte sein Hirn, konnte sich aber auf nichts konzentrieren. Und Gordan konnte er nicht fragen, vor den beiden Polizisten. Die Gordan übrigens kannten.

»Als du jung warst, hab ich noch ein Auge zugedrückt. Aber jetzt?« Die Frau sah ihn strafend an. Robin beachtete sie glücklicherweise nicht. »Mann, Gordan, du bist auch keine sechzehn mehr. Was soll das? Nur, weil dein Kerl weg ist?«

Gordan sank in die Sitze und schaute kurzzeitig wie ein verstockter Teenager. Dann seufzte er.

»Hast recht, Miriam. Ja, ich weiß.« Er wandte sich zu Robin um. »Sorry. Das war meine Idee, so viel weiß ich noch.«

»Ich hab ja mitgemacht«, murmelte Robin. »Schon gut.«

Egal, was Vater sagte, er musste weg von hier. Von diesem blöden Keramiker. Von diesen beiden Polizisten, die ihn nackt gesehen hatten. Wahrscheinlich hatte halb Lummerdingen ihn im Vorbeifahren gesehen. Wie viel hatte die Leitplanke verdeckt? Ja, ganz definitiv musste er weg. Sofort.

 

***

 

Kaum hatte er sein Hotelzimmer betreten, zerrte er schon sein Reisegepäck hervor. Gut. Duschen, umziehen, verschwinden. Seufzend warf er einen Blick auf die glatte Bettdecke. Es wäre so viel bequemer gewesen, hier zu schlafen statt in den Disteln. So viel gemütlicher. Irgendetwas nagte an seinem Unterbewusstsein, aber er kam nicht darauf.

Erst unter der Dusche fiel es ihm wieder ein. Zumindest ein paar Bruchstücke mehr.

Das kühle Wasser, das seine verkratzte Haut benetzte und in Sekundenschnelle reinspülte, klärte seinen Geist. Er erinnerte sich, etwas gesagt zu haben. Zu Gordan, der bis zur Hüfte im Wasser gestanden hatte.

Kannst du nicht so tun, als wäre ich er? Ich würde es gern wissen, nur einmal. Wie es ist …

Das Blut schoss in seine Wangen, je mehr Fetzen an die Oberfläche geschwemmt wurden.

Wie es ist, geliebt zu werden.

»Oh, verdammt«, stöhnte er und lehnte die Stirn gegen die Kacheln. Wasser prasselte auf seinen Rücken, aber es half nicht länger. Es schmerzte wie Nadelstiche.

Gordan hatte ihn geküsst. Es war nur ein einziges Bild, nein, ein Gefühl, ein Sekundenbruchteil. Weiche Lippen, kaltes Wasser um seine Schenkel, harte Hände in seinen Haaren, Plätschern, Summen, Sirren und dieser Geruch … Dieser herbe Geruch, in dem er versinken wollte.

Brennend vor Scham griff er nach dem Duschgel. Er benutzte die halbe Packung, um mit dem Lavendelgeruch die Erinnerung an diesen anderen zu überdecken. Es funktionierte nicht. Obwohl ihm immer noch übel war, wurde er hart.

»Was für einen peinlichen Scheiß habe ich dir erzählt, Gordan?«, flüsterte er und rieb gedankenverloren seinen Schwanz ein, der gleich weiter anschwoll. Ein paar Griffe später beschloss er, dass er es jetzt auch zu Ende bringen konnte. Bilder von Dingen heraufbeschwörend, die so ähnlich gestern bestimmt geschehen waren, wichste er sich. Er sah Gordan, der ihn angrinste. Dem das kalte Wasser über das Gesicht lief. Der langsam vor ihm niederkniete, immer noch lächelnd, dessen raue Pranken an Robins Seiten herunterfuhren.

Sein Stöhnen hallte von den Wänden der Dusche wider. Er biss sich auf die Lippen, um es zu unterdrücken. Wie viel hörte man in diesem Kasten? Dann wurde es ihm gleichgültig.

Ich bin eh so gut wie weg, dachte er und warf den Kopf in den Nacken. Eine Hand gegen die kühlen Kacheln gelehnt, die andere hektisch reibend, stöhnte er, dass die Wände der Kabine zitterten. Die Glut in seinem Inneren wurde zu einer Feuerwalze, die durch seinen Körper rollte. Mit einem letzten Ächzer kam er. Sein Samen schoss gegen die Kacheln und lief träge daran herunter. Bebend verfolgte er den Weg mit den Augen.

»Gut«, seufzte er. »Das wäre auch erledigt. Jetzt kann ich aufbrechen.«

Nur, dass sein Vater gesagt hatte, er sollte bleiben. Hatte er das ernst gemeint? Robin grübelte darüber nach, während sein Samen im Abfluss versickerte, zusammen mit einem Berg Lavendelschaum.

»Aber wenn ich nicht heimkomme, kann ich mich nicht entschuldigen. Also nicht richtig.« Wieder zögerte er. »Und hierbleiben kann ich nicht. Nicht, wenn dieser Gordan …«

Erinnerte Gordan sich daran, was Robin ihm erzählt hatte? Was genau er im See gelabert hatte, wusste er selbst nicht so genau, aber seine Worte aus der Wachtelwirtin prangten scharf gestochen in seinem Gedächtnis. Na ja, so halb. Irgendwas darüber, dass er zu glatt und nichtssagend war, um geliebt zu werden. Dabei stimmte das gar nicht. Er sah total gut aus, jawohl! Das hatten ihm zahlreiche schöne Männer ins Ohr geflüstert. Zahlreiche Männer, deren Augen aufgeleuchtet hatten, als sie seinen Namen gehört hatten. Männer, die unweigerlich mit unschlagbaren Deals ankamen, die er seinem Vater schmackhaft machen sollte. Männer, die von einem bequemen Leben an der Seite eines reichen Erben träumten.

Gut, es waren nicht alle so gewesen. Die anderen hatten so getan, als sei er, einmal benutzt, nichts mehr wert und hatten sich dem nächsten zugewandt. Egal, wie viel Mühe er sich gegeben hatte. Nun, irgendwann hatte er sich auch keine Mühe mehr gegeben. Irgendwann war es ihm egal gewesen und Sex war zu einem Sport geworden, den er zwar ausgiebig, aber halbherzig betrieb …

Woher kamen diese trübseligen Gedanken?

»Vielleicht daher, dass ich es schon wieder verbockt habe«, murmelte er. Langsam setzte er sich auf die frisch duftende Bettdecke. Wasser rann aus seinen nassen Haaren, lief den Rücken hinunter und kitzelte die Haut.

Es würde so laufen wie immer. Er würde sich entschuldigen, eine neue Chance bekommen, sie versauen, alle würden den Kopf über ihn schütteln, er würde sich wieder entschuldigen …

Seufzend warf er sich in die Kissen und starrte an die Decke. Ein überraschend gut gemalter Himmel mit watteweichen Wolken starrte zurück. Engelchen flatterten um den Stuck herum.

Wenn er hierblieb, musste er Gordan unter die Augen treten. Ob er wollte oder nicht. So klein, wie die Stadt war … Er würde ihn unweigerlich wiedertreffen. Aber Robins Vater hatte befohlen, dass er bleiben sollte. Vielleicht, wenn er einmal dem Befehl folgte, dann würde der …

»Stolz wird er nicht sein«, überlegte Robin laut. »Aber wenigstens besänftigt. Das ist wohl das Beste, was ich gerade …«

Er zögerte. Ein Gefühl, das er lange nicht mehr gespürt hatte, entfaltete sich in seiner Brust: Trotz. Nein, er würde nicht abhauen wie ein Feigling. Nur, weil die halbe Stadt ihn nackt gesehen hatte und weil er vor Gordan einen peinlichen Seelenstriptease hingelegt hatte. Nein. Er würde auch nicht ausharren, bis ihm erlaubt wurde, mit eingekniffenem Schwanz zurückzukehren. Er würde sein Heim mit erhobenem Kopf betreten, eine Plastik in jeder Hand. Plastiken von Gordan Klingenschmied, dem geheimnisvollen Künstler. Wenn der alte Primat so stur sein konnte, seinen Ex nach zwei (!) Jahren immer noch zu lieben, dann konnte Robin stur genug sein, ihm ein paar Plastiken aus den Rippen zu leiern.

»Ja, das kann ich«, sagte er entschlossen und stand auf. »Sofort.«

Spätestens, nachdem er sich angezogen und gefrühstückt hatte.

8. Neuer Vorschlag

 

Gordan schwitzte. Dünne Streifen rannen über seinen bloßen Oberkörper und tropften von seiner Nase. Warum hatte er sich überhaupt gewaschen, wenn er gleich wieder klatschnass wurde? Restalkohol strömte aus seinen Poren, während er die Waschbärschüsseln in den Ofen schob. Morgen würden die Spitzmäuse soweit sein. Bei den Temperaturen trocknete der Ton schnell durch.

Trübselig sah er in die flimmernde Hitze, in der die Tassen standen, aufgereiht wie Soldaten. Immerhin funktionierte der Ofen, ein Beweis, dass sie ihm noch nicht den Strom abgedreht hatten. Würden sie aber bald tun, wenn er nicht schleunigst zu Geld kam.

Der letzte Waschbär landete neben seinen Brüdern. Noch weiß und unbemalt. Nach dem ersten Brand würde er die Glasur auftragen und die Kleinen in augenberingte Tierchen verwandeln …

»Gordan!«

Er fuhr herum. Der Schnösel stand hinter ihm, ebenfalls augenberingt. Er sah so verkatert aus, wie Gordan sich fühlte.

»Mann, was schleichst du dich so an?«, brüllte Gordan. »Ich hantiere hier mit über tausend Grad!«

Unbeeindruckt schob Robin sich näher. Neugierig beäugte er die Waschbären. Gordan schlug die Tür des Ofens zu. Ein Schwall heiße Luft fegte über sie hinweg und versengte ein paar Brusthaare.

»Was wird das?«, fragte Robin. Sein Mund verzog sich zu einem herablassenden Lächeln. »Diese gelben Hunde? Shiba Inus?«

»Waschbären«, murrte Gordan. »Sieht man, sobald die Glasur drauf kommt.«

»Ah, sobald du sie anmalst.« Der Blonde nickte. »Läuft es gut mit dem Kunsthandwerk?«

»So gut wie immer.«

»Also schlecht.«

»Was willst du hier? Ich dachte, du wärst längst auf dem Heimweg?«

»Nein. Ich habe beschlossen, diesmal nicht aufzugeben«, sagte Robin und schaute, als erwartete er Applaus. Da konnte er lange warten.

»Nicht aufzugeben? Was soll das heißen? Willst du mich zwingen, dir ein paar Plastiken von Tilmann zu töpfern?« Gordan lachte heiser. »Da gibt es leider ein Problem.«

»Ich weiß.« Wieder steckte der Blödmann die Hände in die Taschen und wippte vor und zurück. »Ich meine, ich hab’s mir zusammengereimt, nach dem, was du gestern erzählt hast. Du fühlst es nicht mehr, richtig? Du könntest solche Plastiken nicht mehr machen, selbst wenn du wolltest.« Zögern. »Hast du es mal probiert?«

Nein, völlig verblödet war der Kerl nicht. »Ja. Klar. Als mein Agent mehr Plastiken wollte, hab ich den Braten endlich gewittert. Hab ihn gefeuert und beschlossen, nächstes Mal richtig beteiligt zu werden.« Gordan seufzte. »Aber als ich mich hingesetzt habe, um sie zu formen, ist nur Schrott dabei rausgekommen. Das Gefühl ist weg.«

»Das Gefühl der Verlassenheit? Der Trauer?« Robin legte den Kopf schief. »Das Gefühl, dass dein Herz in zwei Teile gehackt wurde? Mit einer rostigen Klinge?«

»Wie kommst du denn auf solche Ausdrücke? Liest du heimlich Arztromane?«

»So hast du es gestern im Suff beschrieben.«

»Du hast mir auch so einiges beschrieben«, sagte Gordan und verhinderte mit Mühe, rot anzulaufen. Obwohl, das konnte er jederzeit auf die Hitze schieben. Was hatte er gestern alles erzählt?

»Ach ja?« Robins Blick flackerte unsicher. »Was denn?«

»Dass niemand dich je lieben wird, weil du so aalglatt bist.«

Volltreffer, versenkt. Die Wangen des Schnösels ergrauten. »Das habe ich nicht! Ich … Das ist nur irgendein Blödsinn, den ich wegen … den ich aus Mitleid erzählt hab, damit du dir nicht ganz so erbärmlich vorkommst.«

»Wie nett von dir, Kleiner.« Gordan lachte.

»Du hast versprochen, mich nicht mehr Kleiner zu nennen«, murrte Robin und sah zu Boden. Irgendwie süß. Das bockige Gesicht, die Hände, die in den Hosentaschen vergraben waren. Trotz der teuren Kleidung wirkte er wie ein erwachsen gewordener Lausbub … Gordan schüttelte innerlich den Kopf über sich. Er stand doch nicht auf große Lausbuben. Er stand auf überhaupt niemanden, seit Tilmann gegangen war. Aber da war etwas. Ein winziges Sirren in seiner Magengrube. Ein haarfeiner Riss in dem dreifach gebrannten Panzer, den er um sein Herz gebaut hatte.

Was für ein Bockmist. Du warst zu lange alleine, das ist alles. Und so nervig der Kleine … Robin ist, so hübsch anzusehen ist er.

»Sorry, Robin«, sagte er und marschierte schnurstracks an ihm vorbei. Ein Duft stieg in seine Nase, etwas, das die erdige Nässe des Tons überlagerte. Lavendel und etwas Süßes, Würziges. Wie Ahornsirup. War das Robin? Versuchsweise stoppte er und schnupperte an dessen Kragen. Tatsächlich. Der roch wie ein kanadischer Ahornbaum.

»Was machst du da?« Röte schoss in Robins Wangen.

»Du riechst gut«, sagte Gordan, bevor er dazu kam, nachzudenken.

»Ich rieche …« Robins Wangen wurden dunkler. »Was?«

»Für jemand mit deiner Erfahrung wirst du aber schnell rot.« Gordan schnaubte. »Oder hast du mir das alles vorgelogen?«

»Was?« Robin wich einen Schritt zurück und richtete seinen Kragen. »Keine Ahnung. Ich weiß nicht mal, was ich dir alles erzählt habe … Und das ist auch egal! Ich habe einen Vorschlag.«

»Schon wieder?«

»Ja.« Entschlossenes Kinnheben. »Ich helfe dir, neue Plastiken anzufertigen.«

Gordans erster Impuls war, abzublocken. Dann wurde er neugierig.

»Wie? Bist du geschickter mit den Händen, als du aussiehst?«

»Ich bin sogar sehr geschickt mit den Händen.« Ein anzügliches Lächeln. »Aber ich kann nicht töpfern. Nein, ich meine es ernst. Was brauchst du, um wieder so zu arbeiten wie bei den Plastiken? Musst du besoffen sein? Brauchst du deinen Ex? Musst du besonders … glücklich oder traurig oder beschwipst sein?«

So ein naiver Trottel. Als ob er einfach so die Umstände von damals reproduzieren könnte. Wenn das möglich wäre, hätte er es doch längst getan!

»Ich brauche ein frisch gebrochenes Herz.« Herausfordernd sah er den Trottel an.

Achselzucken. »Soll ich dir das Herz brechen?«

Eins musste er dem Kerl lassen: So viel wie in den letzten beiden Tagen hatte Gordan seit zwei Jahren nicht mehr gelacht. Er wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln und war überrascht über die trübselige Miene des Schnösels.

»Nein, da hast du wohl recht«, sagte Robin. Etwas geschah. Etwas, das Gordan gestern bereits den Atem geraubt hatte. Als könnte er einen Moment lang hinter die spiegelglatte Maske schauen. »Ich bin kein Herzensbrecher.«

Ein Schnauben und schon war das Gesicht wieder undurchdringlich. Aber etwas blieb. Ein sachtes Gefühl. Etwas, das an Gordans Bewusstsein zupfte.

»Okay«, sagte er.

»Okay?« Robin sah auf. Türkishelle Augen leuchteten im Halbschatten zwischen den Regalen.

»Okay, versuchen wir’s. Bis die Waschbären aus dem Ofen kommen, habe ich eh nicht viel zu tun.«

Das Lächeln in Robins Gesicht trug noch einen Hauch des Gefühls von vorhin. Kaum erkennbar, wie ein leises Flüstern in einem überfüllten Schankraum. Aber Gordan hätte beinahe Hoffnung geschöpft. Beinahe.

»Also«, sagte der Schönling. »Was machen wir?«

9. Missglückte Erweckung

 

Gordan bot ihm einen grauenvollen Instantkaffee an, den Robin nur annahm, weil er hoffte, dass er gegen den Kater helfen würde. Das tat er nicht und zusätzlich sorgte er dafür, dass sein Mund nach nassem Köter schmeckte. Gordan trank das Gebräu so genießerisch, als wäre es Champagner und als herrschten draußen nicht 35 Grad.

»Ich habe an Tilmann gedacht, das weiß ich noch.« Er lehnte sich zurück. Der Holzstuhl knarrte. »Na, ich hab monatelang an nichts anderes gedacht. Hilft das?«

»Bestimmt.« Robin beugte sich vor. Hoffnung zog an ihm wie ein schüchternes Kind am Hosenbein seiner Mutter. »Wie wär’s, wenn du mir von Tilmann erzählst und dabei töpferst? Könnte das was … na, wachrütteln?«

»Können wir probieren.« Der Kerl wirkte immer noch nicht ganz überzeugt. Er legte den Kopf schief. »Hast du Lust, Modell zu stehen?«

»Ich?« Robin stutzte. »Hilft das denn?«

»Vielleicht.«

»Warum?« Er machte den Fehler, noch einen Schluck von dem grauenerregenden Gebräu zu trinken. Angewidert verzog er das Gesicht. »Was bringt es, wenn du ein Modell hast?«

»Ich hab was zum Festhalten. Wie ein Stützrad. Und, weißt du«, Gordan rieb sich das Kinn, dessen Bartschatten seit heute Morgen schon wieder dunkler geworden war, »ab und zu, wenn du … na, wenn du nicht ganz aufpasst, da … hm.«

»Was?«

»Da kommt was durch. Nur ab und zu, aber es ist da.«

»Was ist da?«

»Etwas Echtes.«

Robins Mund verharrte im Öffnen. Er weigerte sich, schon wieder rot zu werden. Wie schaffte dieser Mistkerl es, ihn immer so unvorbereitet zu erwischen? Etwas Echtes. So ein Schwachsinn.

»Ich bin echt«, sagte er schließlich.

»Nein, du bist ein Fake.« Gordan nippte an seiner Axolotl-Tasse. »Glattpoliert wie ein Kiesel und zutiefst langweilig. Nichts an dir ist wahr.«

»So ein Scheiß!« Robin sprang auf. Was erlaubte der Mistkerl sich? »Natürlich bin ich … He, niemand ist ganz echt! Das nennt sich … erwachsen sein!«

»Du armer Kerl.« Jetzt wagte er es auch noch, mitleidig zu schauen. »Wenn du denkst, dass sich verstellen bedeutet, erwachsen zu sein, tust du mir echt leid.«

»Du tust mir leid, weil du dir offensichtlich keinen Rasierer leisten kannst.« Er tippte gegen die dunklen Haare, die aus Gordans Achselshirt schauten. Schade, dass er das wieder angezogen hatte. Mit bloßem Oberkörper, vor der geöffneten Ofentür, die flirrende Hitze hinter sich, hatte er ausgesehen wie … Hephaistos, Gott der Schmiedekunst. Als er klein gewesen war, hatte seine Schwester Ronja ihm die griechischen Sagen vorgelesen. He, er kannte ja doch ein Buch!

»Ich bin halt echt«, brummte Gordan und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. So hatten seine Achseln freie Bahn, um Robin mit Geruchspfeilen zu beschießen. Wunderbar. Wirklich wunderbar, wie er erstaunt feststellte. Diese herbe Note war zurück. Dieser Duft, der Robin direkt zwischen die Beine fuhr. Wütend auf sich selbst kämpfte er eine Erektion nieder, die ihn garantiert wieder als dämlichen Jüngling ausgewiesen hätte.

»Wieso reden ungepflegte, unhöfliche Arschlöcher sich immer damit raus, dass sie ›echt‹ sind?«, gab er zurück. »Wenn meine Manieren mich unecht machen, dann bin ich gerne unecht.«

»Tolle Manieren.« Die vollen Lippen verzogen sich. »So, wie du dich gestern benommen hast, solltest du die dringend verbessern. Das war unter aller Sau.«

Robin wurde kalt. Er sah Gordan wieder vor sich, wie er näher kam. Im eisigen Wasser, Tropfen in den Wimpern, Mondlicht im nassen Haar …

»Was meinst du?«, schnappte er.

»Na, dass du erst in meine Werkstatt eingedrungen bist und dann in das Haus meiner Schwester.«

»Ach so.« Erleichterung spülte die Besorgnis weg. Robin klatschte sich auf die Oberschenkel. »Beenden wir diese sinnlose Unterhaltung. Du willst, dass ich Modell stehe? Das kannst du haben.«

Er erhob sich und knöpfte sein Hemd auf. Gordan sah ihm stumm zu. He. Robin unterdrückte ein Lächeln. Er spürte die Blicke auf sich wie brennende Spuren und drehte sich beim Ausziehen, so dass der Primat jeden einzelnen Zentimeter seiner sonnengebräunten Haut bewundern konnte. Und die Stellen, die nicht ganz so sonnengebräunt waren. Als er schließlich die Calvin Klein-Unterhose abstreifte, war er sicher, dass Gordans Atem schneller ging.

»Ist was?« Breitbeinig stellte er sich auf und sah herausfordernd auf den Keramiker hinab.

»Hab mich nur gefragt, warum du dich ausziehst.« Eine Augenbraue wanderte hoch. »Wie kommst du darauf, dass ich ein nacktes Modell brauche?«

Oh. Robin schluckte. Bevor er sich dumm vorkommen konnte, zuckte er mit den Achseln. »Hab ich mit meinem Kunstlehrer auch so gemacht. Und du hast mich doch eh schon nackt gesehen, oder?«

Zögern. »Stimmt auch wieder.« Gordan drehte sich um, nahm mit einer beiläufigen Bewegung ein Messer aus einer Mopstasse und schlitzte ein Paket braunen Tons auf.

»Willst du nicht das Zeug nehmen, aus dem du die Plastiken gemacht hast?« Robin hinderte seine Hand daran, seinen Schritt zu verbergen. »Dieses schwarzgraue Zeug?« Was laberte er da?

Ein Nicken. »Das ist das schwarzgraue Zeug. Es verändert die Farbe, wenn man es hoch genug brennt.«

»Ach so.«

»Ich finde die Farbe sonst zu düster. Aber damals hat es irgendwie gepasst.«

»Ja, das glaube ich.« Robin überzeugte sich selbst davon, dass es ihm nicht peinlich war, vollkommen nackt vor einem praktisch Fremden zu stehen, dem er sowieso schon zu viel enthüllt hatte. »Also, was soll ich machen? Soll ich mich auf dem Tisch räkeln? Auf einem Bein stehen? Einen Kopfstand machen?«

»Mach, was du willst.« Gordan nahm eine Schnur mit zwei Hölzern und säbelte eine breite Scheibe Ton ab. Sie glänzte feucht. »Sei einfach ganz du selbst.«

»Wunderschön also.« Robin sah sich um. Sollte er auf die Werkbank klettern? Dort oben würde seine ganze Attraktivität zum Vorschein kommen, allerdings würde sein … Intimbereich auch fast vor Gordans Nase liegen. Er war nicht sicher, ob er dafür bereit war. Andererseits hatte er eh schon viel zu viel gezeigt, und darauf kam es auch nicht mehr an. Elegant kletterte er auf den Tisch und breitete seinen Traumkörper vor Gordan aus. Der wirkte angemessen beeindruckt, nun, zumindest hob er eine Augenbraue.

»Das ist ein Anblick, den ich hier lange nicht mehr hatte.« Er wirkte fast unsicher, wie er dastand, die Scheibe Ton in den Händen, die Schultern hängend.

»Das ist ein Anblick, den du hier noch nie hattest«, sagte Robin. »Oder willst du behaupten, dass du je so einen feinen Kerl wie mich in deiner verlausten Bude hattest?«

Gordans Gesicht verdüsterte sich. Mal wieder. »Tilmann hat manchmal Modell für mich gestanden.«

»Oh.« Robin fragte sich, was für ein Kerl Tilmann gewesen war. Welche Art Mann vermochte es, einem unhöflichen Primaten wie Gordan das Herz zu brechen? Wie musste man sein, um fast zwei Jahre später noch so eine Macht über einen anderen Menschen zu haben? Dieser Tilmann war ein Hexenmeister. Ein höchst attraktiver, dunkler Magier, der Gordan nach all der Zeit immer noch in seinen Fängen hatte, dessen böse Finger immer noch mit Gordans Herz spielten. Ui, was für ein kitschiger Gedanke.

Aber er konnte nicht anders, als darüber nachzugrübeln. Er, der nie diese Wirkung auf einen anderen haben würde. Der für immer der leichtlebige, nutzlose Sohn eines alten Adelsgeschlechts sein würde, den man zwar gern ansah, aber danach sofort vergaß.

Trübselig sah er Gordan zu, dessen Pranken den Ton auf die Werkplatte klatschten. Genau wie gestern. Starke Finger gruben sich in die weiche Masse, nass glänzend quoll sie zwischen ihnen hervor. Ein erregender Anblick. Wenn man auf Halbaffen stand, die im Matsch wühlten, natürlich. Was Robin nicht tat. Er sog den feucht-erdigen Geruch, der durch die Luft zu ihm herüberwehte, tief in die Nasenlöcher. Es roch ein wenig nach … Heimat?

Nein, natürlich nicht. Er war noch verkatert, das war alles. Da hatte man halt seltsame Gedanken.

»Gordan?«, fragte er, nur, um sich abzulenken. »Wie war das, wenn Tilmann für dich Modell gestanden hat? War er da auch nackt? Oder hast du nur seinen Kopf modelliert?«

Er sah Gordan an, dass der nicht darauf antworten wollte. Dass er grübelte. Als er dann sprach, war seine Stimme rau, als wäre er schwer erkältet oder als hätte er stundenlang in einem Fußballstadion herumgebrüllt. »Mal so, mal so. Ich glaub, über die Jahre habe ich bestimmt hundert kleine Plastiken von ihm gemacht.«

»Echt? Wo sind die jetzt?« Robin sah sich um, erblickte aber nur Ameisenbären, Spitzmäuse und Mistkäfer in den überladenen Regalen.

»Manche habe ich verkauft.« Gordans Hände griffen in den Ton, als wollten sie ihn strangulieren.

Robin wartete, aber alles, was er hörte, war matschiges Tonkneten. »Und die anderen?«

»Weiß nicht mehr.«

»Du lügst.« Robin grinste träge. Wäre er nicht nackt gewesen, hätte er sich richtig wohl gefühlt. »Was ist damit passiert?«

»Ich hab sie kaputt gemacht, okay?«, knurrte Gordan. Sein Blick verließ den rotbraunen Ton nicht. »Alle. Irgendwann, als ich nicht mehr weiter wusste, da habe ich sie zerdeppert. Und dann habe ich heulend in den Scherben gesessen und nach Tilmann gerufen. Es war erbärmlich, wie du dir denken kannst.«

Nein, das ist einfach traurig, wollte Robin sagen. Niemand sollte so leiden. Aber das traute er sich nicht. Stattdessen verdrehte er die Augen.

»Verdammt erbärmlich. Aber du würdest es als »echt« bezeichnen, richtig?«

»Nein, als erbärmlich. Hab ich doch gerade gesagt.« In Gordans Blick lag eine Warnung.

Robin ignorierte sie. Er streckte sich und verschränkte die Hände hinter dem Nacken. Die staubige Werkbank war angenehm kühl unter seinem Rücken. »Bin ich froh, dass ich nie so leiden musste.«

»Bist du auch froh, dass du all die guten Sachen verpasst hast?«

»Was denn? Der ganzen Stadt zu erzählen wie niedlich die Falten auf der Nase von meinem Ex sind?« Robin schnalzte mit der Zunge.

Eine Ader pochte auf Gordans Stirn. Dunkle Strähnen hingen über die Augen und verliehen ihm das Aussehen eines unrasierten Piraten. »Daran erinnerst du dich noch, ja? Ist dir zufällig noch mehr eingefallen? Zum Beispiel, wessen bescheuerte Idee es war, mitten in der Nacht über die Autobahn zu torkeln? Oder was am See passiert ist?«

»Was am See passiert ist?«, fragte Robin schnell. Panik krallte sich in seinen Magen. »Was soll da passiert sein?«

Ganz langsam richtete Gordan sich auf. Mit einem schmatzenden Geräusch verließen seine Hände den Ton. »Du erinnerst dich an etwas.« Das war keine Frage. Mist.

»Nein, tue ich nicht. Das habe ich doch gerade gesagt. Hör mir einmal zu, du Halbaffe.« Mist, Mist, Mist.

»Du fieser kleiner Schnösel«, grollte Gordan. Er rieb sich die Hände an seiner Schürze ab, was überhaupt nichts brachte, und ging um seine Werkbank herum. »Du erinnerst dich an alles, richtig? Und du willst es mir nicht verraten. Warum? War das doch deine bescheuerte Idee, im See zu baden und auf der Autobahn herumzutanzen? Ich hab’s gewusst.«

»Du … Du hast doch selbst gesagt, dass das mit dem See deine Idee war. Und deine Schuld.« Panik wirbelte durch Robins Magen. Er richtete sich auf. »Was machst du da?«

Gordan baute sich vor ihm auf. Seine nassen Hände klatschten auf die Tischplatte, links und rechts von Robins Oberschenkeln. Gordan beugte sich vor und seine Hüftknochen drückten gegen Robins nackte Knie. Er konnte Gordan riechen. Würzig, herb und aufregend. Zum ersten Mal erkannte er seine Augenfarbe: schiefergrau mit goldenen Sprenkeln. Als würde die Abendsonne die schottischen Felsen in ihr warmes Licht tauchen. Hm, wieder ganz schön kitschig. Aber er war gerade nicht ganz er selbst. Wie sonst sollte er sich erklären, dass der Blick aus diesen schiefergoldenen Augen bis unter seine Haut zu dringen schien und sie zum Prickeln brachte? Seine nackte Haut. Immer noch war er vollkommen entblößt und Gordan komplett angezogen. Das war einfach nicht fair! Wenn Gordan, rein hypothetisch, eine unerwünschte Erektion bekommen würde, würde Robin nichts davon mitbekommen. Andersrum sah es, nun, anders aus. Er musste sich zusammenreißen. Er musste …

Gordans Atem streifte seine Lippen, und Robin wurde hart. Verdammt! Er ballte die Hände zu Fäusten, grub seine Fingernägel ins Fleisch bis der Schmerz seine Handgelenke hochschoss, aber nichts half.

»Es war deine Schuld«, presste Robin hervor. Gordan musste ihm weiter in die Augen sehen, denn wenn sein Blick nach unten wanderte, würde sich diese idiotische Situation in eine sehr peinliche verwandeln. »Du hast selbst gesagt, dass es deine Schuld war, also versuch jetzt nicht, dich herauszureden.«

»Stimmt, das mit dem See war meine bescheuerte Idee.« Die aufregenden Augen wurden schmal. »Aber was ist mit dem Rest? Du erinnerst dich an etwas, oder? Was ist passiert?«

»Nichts.« Glut züngelte um Robins Schwanz und ließ ihn weiter anschwellen. Die Spitze drückte in etwas Festes. Den Stoff der Schürze. So ein … Wenn Gordan näher kam, würde er Robins Ständer bemerken, weil der sich wie ein Pfeil in seine Lenden bohren würde. Wenn er zu weit abrückte, würde er ihn sehen. Robin musste ihn genau auf diesem Abstand festhalten, bis er sich abgeregt hatte. Und gerade sah es ganz und gar nicht danach aus, als würde er das tun. Die Nähe dieses Höhlenmenschen vernebelte seinen Verstand. Alle Sinne waren darauf ausgerichtet, ihn zu riechen, ihn zu schmecken … Wie er wohl schmeckte?

Vermutlich salzig, dachte Robin und verfluchte sich sogleich. Allein der Gedanke daran, mit der Zungenspitze über die dunklen Bartstoppeln zu lecken, über die zarte Haut in der Schulterbeuge, verwandelte seine Schwellung in ein Stahlrohr. Er atmete scharf ein.

Gordan blinzelte. So nah. »Hast du Angst vor mir?« Er klang verunsichert.

Zischend entließ Robin die Luft durch die Zähne. »Natürlich nicht. Lass mich in Ruhe, du Primat. Ich … gehe.«

»Wohin?«

Ins Gasthaus, wichsen. Schon wieder. »Ich habe eingesehen, dass das hier Zeitverschwendung ist. Totale Zeitverschwendung.« Er wandte sich ab und versuchte, sich so zu drehen, dass er Gordan den Hintern zuwandte. Es klappte nicht. Der Mistkerl hielt ihn fest. Mit seinen nassen Pranken umfasste er Robins Handgelenke. Sein Blick forschte in Robins Gesicht.

»Was ist los?«, flüsterte der Saubeutel. Er wirkte wie elektrisiert. Diese blöden Schiefergoldaugen leuchteten. »Du bist anders. Fast wie …«

»Lass mich los!«, brüllte Robin.

Gordan ließ los. Er taumelte zurück. Und sah abwärts. Ein leises Lächeln verzog seine Mundwinkel. Robin verschränkte die Arme, und versuchte, sich nicht wie ein Trottel vorzukommen, obwohl sein Schwanz fröhlich auf den Keramiker zeigte.

»Was?«, knurrte er und sah den Blödmann warnend an.

»Ist das wegen mir?« Das Grinsen wurde breiter und ein tonbeschmierter Finger deutete auf seine Körpermitte.

»Ich hab doch gesagt, dass ich seit Ewigkeiten keinen Sex mehr hatte.« Robin schaffte es nicht, ihn anzusehen. »Da passiert sowas schon mal. Selbst, wenn man von einem stinkenden Primaten bedroht wird.«

»Gestern waren es zehn Stunden«, sagte der Primat. »Jetzt also höchstens ein ganzer Tag.«

»Ich bin halt kein impotenter alter Zausel wie du«, fauchte Robin.

»He, wer sagt, dass ich unter meiner Schürze kein Ofenrohr verstecke?« Dieser unrasierte Trottel wirkte höchst amüsiert.

»Und?« Robin zögerte. »Tust du’s?«

»Nein.«

»Wirklich? Soll ich nachsehen?«

»Später vielleicht.« Weiße Zähne blitzten. Meinte er das ernst? Die Überlegung half Robin auch nicht, sich abzuregen.

Er hatte das Gefühl, weder vor noch zurück zu können. Alles, was er jetzt tun würde, würde ihn wie einen unreifen Jüngling oder einen notgeilen Lustmolch aussehen lassen. Er entschied sich für den Lustmolch. »Gordan, wie wär’s, wenn du mich zehn Minuten allein lässt? Ich hab da was zu erledigen.« Mit diesen Worten setzte er sich zurück auf den Tisch, spreizte die Schenkel und umfasste sein Rohr. Immerhin, Gordan wirkte beeindruckt.

»Zehn Minuten? Ein Küken wie du braucht doch höchstens zwei.«

»Nur wenn du mir hilfst.« Ein mittelmäßiger Witz, selbst für Robins Standards. Und wie sich herausstellte, hatte der Primat keinerlei Humor. Ein dunkler Schatten fiel in Robins Gesicht und dieser herbe Duft, der sein Blut prickeln ließ, umhüllte ihn.

»Soll ich dir helfen?« Eine Stimme, so dunkel wie ein Gewittergrollen.

Verdammt, meinte er das jetzt ernst? Robin konnte es nicht einschätzen. Nicht, wenn sein Gehirn ihm in der Hose hing wie jetzt. Und er trug nicht mal eine Hose.

»Ja, gern«, sagte er versuchsweise und lächelte. »Wie überaus zuvorkommend von dir.«

»Zuvorkommend ist mein zweiter Vorname«, raunte Gordan und packte zu. Warme, nasse Hände schlossen sich um Robins Schwanz. Feuchter Tongeruch stieg in seine Nase, das Blut schoss in seinen Unterleib und er schrie auf. Fast wäre er gekommen, nur davon. Von diesem einen Griff und diesem Geruch nach Erde und Mann und von dem Blick, scharf wie eine Klinge.

»Ja.« Die Schiefergoldaugen leuchteten auf. »Das.«

Robin stimmte ihm zu, aber er hatte keine Ahnung, was Gordan meinte. Er biss sich auf die Lippen. Wütend krallte er die Finger um die Tischkante und lehnte sich zurück. Er wusste, wie er am besten aussah. Er hatte oft genug Sex vor dem Spiegel gehabt, um seinen Körper ins rechte Licht zu rücken. Diesem Kerl würden die Augen übergehen.

Das Leuchten erlosch. »Nein.« Gordan runzelte die Stirn. »Nicht das. Das andere.«

»Wovon redest du?«, keuchte Robin. Er bewegte die Hüften, um seinen Schwanz in den glitschigen Händen zu reiben. Sein Hintern rutschte über die staubige Arbeitsfläche, und er konnte sich nicht erinnern, dass er je so erregt gewesen war. »Mach schon, weiter.«

»Das Gesicht.« Gordan sah ihn gespannt an. Seine Hand bewegte sich und Robin fühlte sich, als würden in seinem Schwanz Feuerwerkskörper gezündet.

»Ja«, murmelte er. Gerade rechtzeitig erinnerte er sich daran, den Kopf in den Nacken zu legen, damit kein Doppelkinn entstand. »Weiter.«

»Wo hast du es versteckt?« Was laberte der Kerl? Und warum wirkte er auf einmal so konzentriert wie ein Mathematiker, der eine komplizierte Gleichung lösen wollte?

»Was verste…« Der Rest des Satzes ging in einem Stöhnen auf. Die Pranken glitten weiter, auf und ab. Das Tosen in seinem Körper baute sich auf, schwoll an, stand kurz vorm Platzen …

Gordan hielt inne.

»Weiter!«

»Wo hast du es versteckt?« Der Keramiker legte den Kopf schief. »Da?« Sein Mittelfinger glitt tiefer, in die Spalte zwischen den festen Backen.

Robin verkrampfte sich. Schon spürte er die Fingerspitze, die Einlass begehrte.

Entspannen, blitzte es durch sein Gehirn. Versuch, es zu genießen.

Die Fingerspitze verschwand. Er unterdrückte ein erleichtertes Aufatmen und sah Gordan wütend an.

»Was suchst du, du Idiot, ich meine … lieber Gordan?« Hilfesuchend schaute er ihn an. »Großer Meister? Boss? Daddy?«

»Was laberst du da?«

»Keine Ahnung. Ich dachte, das ist so ein Dominanzdingsbums und dass du endlich weitermachst, wenn …«

»Wenn du mich Daddy nennst? Lass das bitte.« Ein verdrießlicher Zug erschien in Gordans Miene. »Bitte. Nie wieder.«

»Okay.« Robin packte die lehmbeschmierten Finger, die frustrierend ruhig um seine Wurzel lagen. »Wenn du es endlich zu Ende bringst. Schau doch, ich laufe schon aus.« Anklagend deutete er mit dem Kinn auf den hellen Tropfen, der aus seiner Spitze quoll und über den tonverschmierten Schaft lief.

Gedankenverloren wischte Gordan mit dem Daumen über die Eichel. Es fühlte sich an wie ein Mini-Stromstoß. »Ich bringe es zu Ende, wenn du mir das Gesicht zeigst.«

»Was für ein Gesicht? Das hier ist das Einzige, das ich habe und es ist perfekt!«

»Das andere.« Wieder der Daumen. Robin stöhnte, halb vor Frustration, halb vor Lust. »Du schaust manchmal so … unverfälscht wütend, oder geil oder traurig. Das kann ich brauchen, für die Plastiken. Nicht diese Räkel-Show, die du hier abziehst.«

Wut stieg in Robin auf. Heiße Wut. »Du mit deinem dämlichen Gelaber von Echtheit! Hol mir endlich einen runter, aber richtig! Ich platze gleich!« Ups, so deutlich hatte er es nicht sagen wollen.

Ein leises Lächeln erschien. »Ja, das ist besser«, raunte Gordan. »Zu Befehl, Boss. Großer Meister.«

»Klappe, du … Oh!« Es ging weiter. Robins Hand schoss vor und krallte sich in Gordans Schulter. Lust brodelte da, wo er so fachmännisch gewichst wurde. Gordan wusste wirklich, was er tat. Drei Griffe und Robins Blick verschwamm. Er spürte das kribblige Nahen, den kleinen Punkt, kurz bevor … Gordan wieder abbrach.

»Weiter!« Er packte Gordan, nun mit beiden Händen. Zähnefletschend sah er ihn an. So nah, dass er den warmen Atem im Gesicht spürte. »Weiter, du Hurensohn!« Er erkannte seine Stimme nicht mehr. Das musste ein Raubtier sein, ein hungriger Wolf, der da jaulte. »Weiter!«

»Ja …« Gordan forschte in seinem Gesicht. »Da kommt es.«

»Ich komme, du blöder … Ich will …« Entsetzt spürte Robin, dass ihm Speichel über das Kinn lief. Sabberte und schäumte er wie ein tollwütiger Köter? Doch selbst das konnte ihn nicht aus seiner Trance reißen. »Bitte«, flehte er. »Weiter, mach … ah!«

Mit ein paar entschlossenen Griffen brachte Gordan es zu Ende. Die Reibung sandte Schauer durch Robins Körper, dann ekstatische Raserei. Er zuckte und schrie, krümmte sich, presste das Kinn auf die Brust und kam. Alles verging in weißem Licht. Erlösung brach über ihn herein. Danach, als er wimmernd in Gordans Armen lag, konnte er sich nicht mehr erinnern, ob er geweint oder gelacht hatte … oder einfach nur gebrüllt wie ein ganzer Affenstall. Die beruhigende Wärme von Gordans Haut, der Geruch, aufregend und heimisch zugleich, wie Ruß und Asche. Wie ein Waldbrand und ein Kaminfeuer.

Er sabberte auf Gordans Schulter. Auch das noch. Scham schlug über ihm zusammen und brannte das gute Gefühl weg, das gerade noch seinen ganzen Körper entspannt hatte.

»Wow«, murmelte Gordan in sein Ohr. »Das war … echt.«

Unten, wo alles warm und nass war, spürte er Gordans wachsende Erektion an seiner erschlaffenden, trotz der Kleidung und der dicken Schürze. Die Geräusche kehrten zurück. Hinter den Fenstern zwitscherten Vögel, hell und melodisch … Fenster! Was, wenn dahinter ein Fotograf stand? Was, wenn sie beobachtet wurden, wenn morgen irgendein Journalist, den Vater nicht bestechen konnte, Bilder von ihm und Gordan veröffentlichte? Er würde nicht einmal gut darauf aussehen! Er würde ein Doppelkinn haben und Bauchfalten, so, wie er sich gekrümmt hatte …

Robin richtete sich auf und sah aus dem Fenster. Es ging auf einen grünen Garten hinaus, einen wilden Innenhof mit krummen Apfelbäumen und wucherndem Unkraut. Niemand zu sehen. Kein Fotograf, kein schockierter Rentner. Alte Feuerwerkskörper lagen im Gras verstreut, ausgehend von einem kahlen Platz in der Mitte. Aber wer auch immer sie abgefeuert hatte, war nicht da. Doch das nagende Gefühl blieb. Er hatte schon wieder versagt, sich schon wieder nicht zusammenreißen können.

Er rückte von Gordan ab, schaffte es aber nicht, ihn anzusehen. Wut färbte seine Stimme, als er knurrte: »Was sollte das? Gab es einen Grund, mich so zu quälen? Stehst du da drauf?« Er warf einen Blick nach unten, wo Gordans Schwanz die befleckten Stofflagen anhob. »Offensichtlich stehst du da drauf. Arschloch.«

»Nein.« Das klang so warm wie Milch mit Honig. So träumerisch, das Robin ihn doch anschauen musste. Sein Atem verfing sich in seiner Kehle. Gordan lächelte. Pures Glück schien aus seinen Augen und er schaute als ob … Aber nein, das konnte nicht sein. Woher sollte ausgerechnet Robin wissen, wie es aussah, wenn ihn jemand verliebt anschaute?

»Was schaust du so?«, murrte er. »Ich bin doch kein Hefeweizen.«

Gordan blinzelte. Verwirrung huschte über sein Gesicht, und er zog sich ein paar Zentimeter zurück. Schade.

»Nein, natürlich nicht. Ich meine, du … bist besser … also nicht …« Dann lachte er. Es war ein schönes Geräusch, immer noch. Und ein schöner Anblick. Gordans Stimme dröhnte von den Wänden wieder, seine Zähne blitzten und seine Augen verzogen sich zu kleinen Schlitzen, um die sich unzählige Fältchen kräuselten. »Kleiner, du machst mich fertig.«

So eine Unverschämtheit. Robin sprang vom Tisch und baute sich vor Gordan auf. »Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du mich nicht Kleiner nennen sollst? Wann geht das endlich in deinen uralten Schädel?« Er tippte mit dem Finger auf Gordans Brust, der belustigt darauf hinabsah.

»Sorry, Robin. Du bist ganz und gar nicht klein.« Sein Blick wanderte anerkennend an Robins Körper hinab und verharrte in der Mitte. »Überhaupt nicht.«

Wut und Scham vermischten sich zu einem giftigen Gebräu. Robin biss die Zähne aufeinander. Er hätte wenigstens nachschauen können, ob die Fenster Vorhänge hatten oder ob es angrenzende Gebäude gab. Hatte jemand sie gehört? Oder besser: ihn gehört?

Mit geballten Fäusten machte er drei Schritte, bis er so nah an Gordan stand, dass dessen Atem über sein Kinn strich.

»Du bist auch nicht klein, und das wundert mich überhaupt nicht.« Seine Hände fanden den Weg unter Gordans Schürze. Herausfordernd umkreisten sie die Umrisse von dessen Erektion. Ein heiseres Stöhnen. Gordan gab sich keine Mühe, seine Geräusche zu dämpfen und als Robin ihn weiter streichelte, als er den Gürtel öffnete und ihn ganz in der Hand hielt, wurde Gordan noch lauter. Er klang wie ein Auerochse, aber irgendwie gut. Dabei stand Robin überhaupt nicht auf Auerochsen, und schon gar nicht auf unverschämte, seltsame Auerochsen, die ständig von Echtheit faselten.

»Na, fühlt sich das auch echt an?«, flüsterte Robin in Gordans Ohr.

Ein wohliges Ächzen war die Antwort. »Verdammt echt.« Gordan lehnte sich gegen das überfüllte Regal hinter ihm. Er schob die Füße auseinander, um Robin besseren Zugang zu gewähren. Robin wartete noch ein Moment ab, um ganz sicher zu sein, dass Gordan bereit und willig war, dann zog er die Hände aus dessen Hose und wischte sie an seinen nackten Oberschenkeln ab.

»Einen schönen Tag noch«, sagte er freundlich. »Und ein schönes Leben. Ich habe beschlossen, nach Hause zu fahren.«

Gordan, der eben noch angestrengt das Kinn gesenkt hatte (Doppelkinn!), blickte ihn verwundert an. Robin wartete auf den Wutausbruch. Einen ähnlichen wie gestern, als er einfach in die Werkstatt marschiert war. Stattdessen erscholl wieder dieses warme, heisere Lachen. Es vibrierte durch seine Zehenspitzen bis in sein Trommelfell.

»Ist das deine Rache, Robin? Ziemlich kindisch.«

Robin schnalzte mit der Zunge. »Du hoffst doch nur, dass ich weitermache, wenn du mich beleidigst. Mach’s gut. Man sieht sich hoffentlich nicht.«

Es wäre der perfekte Abgang gewesen, wäre er nicht nackt und lehmbeschmiert gewesen. So stellte er, als er an sich herabsah, fest, dass der dünne Tonfilm bereits bröckelte.

»Wo ist das Waschbecken?«

Gordan deutete in eine Ecke des Raums. Seinen Gesichtsausdruck konnte Robin nicht deuten. Der Keramiker öffnete den Mund, um etwas zu sagen, wurde aber unterbrochen.

Die Tür ging auf und Robin starb innerlich. Also doch. Also wurde er doch erwischt, allein mit einem behaarten Affenmenschen, Gesicht und Schwanz voll mit getrocknetem Lehm und ansonsten völlig nackt. Schnell wandte er sich ab, aber der Neuankömmling hatte seine Vorderseite schon gesehen. Verwunderung machte seine Augen rund.

Wer war der Typ? Er war rotblond, braungebrannt, trug locker sitzende Kleidung aus Naturstoff, und sah aus, als hätte er 10.000 Instagram-Follower und einen Blog über veganes Surfen. Ein gutaussehender Kerl.

»Hallo«, sagte der Surfer. »Sorry, sieht aus, als würde ich stören.«

»Minimal«, bestätigte Robin. »Mit wem habe ich das Vergnügen?«

Gordan antwortete für den Surfer. »Tilmann«, krächzte er.

10. Unerwünschter Besuch

 

Tilmann war noch genauso schön wie früher. Genau wie damals, als sie Hand in Hand durch Berlin geschlendert waren, lachend, die Köpfe frei von Sorgen und die Brust voll mit Liebe. So schön wie damals, als sie nebeneinander am Wannsee gelegen hatten, als sie sich in der ranzigen Bude in Berlin gegenüber gesessen hatten, frischen Kaffee zwischen sich, die Köpfe voller Ideen.

Tilmanns Augen scannten den Raum. Die überladenen Regale, den dreckigen Boden und Robin, auf dessen nacktem Körper die Tonspuren in einem höchst attraktiven Muster trockneten.

Was zur Hölle war gerade geschehen? Was für ein Hexenwerk war das? Er hatte gerade … Zum ersten Mal seit fast zwei Jahren hatte er einen anderen Mann berührt, und schon stand Tilmann im Raum? So viel Pech konnte er doch gar nicht haben. Er versuchte, in dem bekannten, wunderschönen Gesicht zu lesen. So wie früher. Aber es wollte ihm nicht recht gelingen.

»Tilmann«, sagte er. »Wo kommst du denn her?« Was für eine dämliche Frage. Und was ging es ihn an?

»Ich war in der Papeterie. Neue Notizbücher besorgen.« Wieder blieb Tilmanns Blick an Robin hängen. »Die alten waren voll.«

»Ah. Läuft es gut mit dem Roman?« Verwirrt beobachtete Gordan, wie ein Schatten über Tilmanns Gesicht flog. Wegen des Romans oder wegen Robin? Der drehte ihnen den Rücken zu, hatte die Hände über dem Steißbein verschränkt und tat so, als würde er sehr interessiert die überfüllten Regale betrachten. Ein Teller in Form einer Schnappschildkröte schien es ihm besonders angetan zu haben. Wieder zupfte ein Lächeln an Gordans Mundwinkel. Der Kerl stand so aufrecht, als würde er sich in einer Galerie umsehen. Als wäre er nicht nackt, als wäre sein perfekter Körper nicht mit tönernen Handabdrücken bedeckt. Dann bemerkte er, dass Tilmanns Blick nun auf ihn gerichtet war.

»Was ist so lustig?«, fragte Tilmann. Ein säuerlicher Ausdruck glitt über seine Miene. »Nein, der Roman ist immer noch nicht fertig. Geht es dir darum?«

»Was? Nein.« Gordan fuhr sich durch die Haare und merkte zu spät, dass seine Finger immer noch mit einer Mischung aus halbgetrocknetem Ton und Sperma beschmiert waren. Großartig. Er räusperte sich. »Nur an was Lustiges gedacht. Sorry. Das mit dem Roman wird schon.« Wie oft hat er diese Worte in den letzten sieben Jahren wiederholt? Einen Moment lang wurde er wieder in die Vergangenheit katapultiert.

Dann räusperte Robin sich. »Ich wasche mich noch kurz, dann seid ihr allein.«

»Ach, bleib doch«, sagte Gordan, ohne darüber nachzudenken. Warum hatte er das gesagt? Er wusste es nicht. Und die Worte ließen einen weiteren Schatten über Tilmanns Gesicht ziehen.

»Es ist also wahr.« Er lächelte. »Horst meinte, du hättest einen neuen Kerl. Und Lisbeth auch.«

»Natürlich meint Lisbeth das.« Die alte Tratschtante, und er konnte ihr nicht mal böse sein. Sie hatte ihm im letzten Jahr einfach zu viele Trostbiere spendiert. Er wollte das Missverständnis gerade aufklären, als sich ein nackter Arm um seine Schulter legte und ein wohlriechender, seidiger Haarschopf sein Ohr kitzelte.

»Wir haben uns nicht gerade versteckt«, säuselte Robin. Ein dämliches Grinsen lag auf seinem Gesicht. Was hatte der Goldjunge vor? »Aber so ist das nun mal, wenn man frisch verliebt ist. Man kann es nicht verbergen. Das kennst du ja vermutlich, nicht wahr, Tilmann?«

Tilmann wirkt leicht verdutzt. »Ja. Ja, klar. Dann … Herzlichen Glückwunsch, ihr beiden. Wie schön, dass du wieder … Wie schön, dass du wieder jemanden gefunden hast, Gordan.«

»Vielen Dank«, antwortete Robin an Gordans Stelle. Was plante der kleine Teufel? Der kleine Teufel, der Gordan um fast einen halben Kopf überragte, wie er wieder einmal feststellte.

»Ja, danke, Tilmann.« Gordan wusste auch nicht, was ihn ritt, aber er wollte wissen, wohin dieses Spiel führte. »Tut mir leid, dass du uns so erwischt hast. Habe nicht mit Besuch gerechnet.«

»Nein, nein.« Tilmann hob die Hände und lächelte etwas verkrampft. »Kein Problem. Wir beide haben schließlich auch oft genug Schabernack getrieben, hier in der Werkstatt. Ebenfalls auf der Werkbank, wenn ich mich richtig erinnere. Und da, am Waschbecken. Und in der Abstellkammer. Ach ja, und auf dem Regal auch, oder Gordan?« Jetzt zwinkerte er auch noch. Das Zwinkern, das bei Gordan glückliches Magensausen verursachte. Verursacht hatte. Er wartete darauf, aber was da durch seinen Bauch zischte, war nur ein müder Abklatsch. Nichts im Vergleich zu dem, was er eben gefühlt hatte, als er Robin in den Händen gehabt hatte. Als Robin ihn in den Händen gehabt hatte.

»Das ist ja schön.« Samtige Lippen legten sich auf Gordans stoppelige Wange. Warum küsste Robin ihn jetzt? Nicht, dass er sich beschwerte … »Ihr habt es ja wild getrieben, Schatz. Gut zu hören, dass du nicht immer so ein arthritischer Zausel warst. Obwohl, so, wie ich dich gestern vorm Fenster genommen habe, hätte man meinen können, du wärst einundzwanzig.«

Tilmann lachte. Da war es wieder, dieses schwache Magensausen. Früher war so stark gewesen, und nun war es nur noch ein Echo. Die Erkenntnis sickerte langsam, sehr, langsam in Gordans Verstand: War er etwa dabei, über Tilmann hinwegzukommen? Das konnte nicht sein. Er hatte sich so daran gewöhnt, den Schmerz zu fühlen, das Loch in seinem Herzen zu beklagen. Verzweifelt versuchte er, die alten Gefühle wieder hochkochen zu lassen.

»Ja, danke, Darling.« Er gab Robin einen Kuss zurück, ebenfalls auf die Wange. »Schön, dass mein faltiger alter Arsch dich noch zufriedenstellen kann.«

»Immer, Liebling.« Robin kraulte durch Gordans Bartschatten. »Je oller, je doller … Das sagt man doch so, oder? In eurem Alter?« Die letzten Worte waren an Tilmann gerichtet. In dessen Gesicht zuckte ein Muskel.

»So alt sind wir nun auch nicht. Richtig, Gordan?«

Gordan zuckte mit den Achseln. »Wie läuft's mit Louis? Ist er immer noch dick im Geschäft?«

Ein Lächeln breitete sich auf Tilmanns Gesicht aus. Okay, jetzt fühlte Gordan wieder etwas Bekanntes: Eifersucht. »Wir waren gerade auf den Malediven. Einfach so, für zwei Wochen.«

»Schön.« Gordan ärgerte sich darüber, wie bitter er klang. »Habt ihr euch gut erholt?«

Als Antwort nickte Tilmann und streckte sich genießerisch, wie, um zu zeigen, dass er der erholteste Mensch der Welt war. Sein flacher Bauch blitzte auf, als er die Hände hinter dem Kopf verschränkte.

»Die Malediven?« Robins Hand klatschte auf Gordans Arsch, und er zuckte zusammen. »Das ist eine gute Idee! Da müssen wir auch hin. Meine Familie besitzt doch ein Haus auf Baros.«

»Ach echt?« Gordan sah ihn an.

»Ja, die werden sich total freuen, wenn das jemand nutzt. Wir haben viel zu viele Häuser auf der ganzen Welt, so viel Urlaub können wir gar nicht machen.« Robin lächelte. »Aber jetzt muss ich wirklich los. Ich bin zu wichtig, um mich den ganzen Tag von geilen Keramikern befingern zu lassen. Egal, wie viel Spaß ich dabei habe.«

»Ich fand’s auch nicht schlecht.« Gordan schmunzelte. Nur, dass Robin es hätte zu Ende bringen können, aber das sah er ihm nach. Mit Freude betrachtete er, wie der Schnösel sich am Waschbecken säuberte, mit einem Lappen und viel Wasser, das seine wohlgeformten Beine entlang lief. Es glitzerte auf der schimmernden Haut.

Er war atemberaubend gewesen, eben. Als er gekommen war, als er endlich losgelassen hatte, als all seine Masken von ihm abgefallen waren. Als hätte er sich in gleißendes Gold verwandelt. Dieser Gesichtsausdruck, diese süße Verzweiflung, dieser heisere Schrei, den Gordan immer noch in seiner Halsbeuge spürte. Es kribbelte in seinen Händen. Seine Finger flehten ihn an, etwas daraus zu machen, diesen Moment festzuhalten.

Robin trocknete sich mit dem staubigen Handtuch ab und stieg wieder in seinen Anzug. Gordan versuchte, ihn nicht anzustarren, doch es ging nicht. Zu viel erinnerte ihn an diesen Moment, in dem er endlich das wahre Ich des Schönlings gesehen hatte. Der Geruch von dessen frischem Schweiß schien noch in seinen Nasenlöchern zu hängen.

»Macht's gut!« Robin winkte lässig, zwinkerte Gordan zu und verschwand aus der Tür. Er hörte, wie er die Stufen zum Innenhof hinunterging und die Tür zum Haupthaus öffnete.

»Ich bin auch noch da.« Tilmann lehnte an einem der überbordenden Regale und musterte Gordan, als hätten sie sich sehr lange nicht gesehen. Das hatten sie auch. Seit der Trennung waren sie sich kaum noch über den Weg gelaufen.

»Sorry, war abgelenkt. Du merkst ja, dass …« Dass was? Dass dieser kleine Mistkerl (der größer war als Gordan) ihn so ablenkte, dass er selbst seinen Ex vergaß, dem er seit zwei Jahren hinterhertrauerte?

»Dass ihr frisch verliebt seid?« Tilmanns Lächeln hatte einen bitteren Beigeschmack. »Das ist schwer zu übersehen. Ich bin fast neidisch. Bei Louis und mir ist die Phase schon eine Weile her.«

»Ach, schade«, Gordan fuhr sich wieder durch die Haare. Trockene Brösel fielen von seiner Hand auf seine Nase. »Was willst du eigentlich hier?«

Tilmanns Augenbrauen zogen sich zusammen. »Hey, kann ich nicht einmal zu Besuch kommen? Wir sind jetzt lange genug kein Paar mehr, da dachte ich, wir könnten vielleicht … Freunde werden.«

Freunde? Wollte Gordan das? Er fühlte sich flau und leer, fast wie sonst. Nur, dass alles anders war: Denn da, wo seine Seele keine leere Wüste war, brannte ein Leuchtfeuer. Etwas, das ihn anschrie. Etwas, das erschaffen werden wollte.

»Willst du das wirklich?«, fragte er Tilmann. »Freunde sein?«

»Ja, warum denn nicht?« Sein Ex zuckte mit den Achseln. »Es ist nicht so, als hätte ich wahnsinnig viele Freunde hier. Lisbeth denkt immer noch, ich hätte dein Herz gebrochen. Dabei bist du doch längst über mich hinweg.« Ein Schnauben, als sein Blick auf das Waschbecken fiel. »Wie ich gerade live miterlebt habe.«

Gordan nickte langsam. War das wirklich eine gute Idee? Tilmanns Wirkung auf ihn war schwächer geworden, aber sie war alles andere als verschwunden. Doch er vermisste ihn. Niemand kannte ihn so, wie Tilmann ihn gekannt hatte. Niemanden verstand er so gut. Tilmann als Freund zu haben würde sich anfühlen, wie in einen alten, bequemen Schuh zu schlüpfen. Vermutlich. Er musste nur darauf achten, Tilmann nie laut als alten, bequemen Schuh zu bezeichnen, wenn er diese neue Freundschaft behalten wollte.

»Dann ist ja alles geklärt.« Gordan nickte seinem Ex zu. »Lass uns Freunde sein. War sonst noch was? Ich muss … Nein, ich will unbedingt heute noch etwas fertig bekommen.« Was die Untertreibung seines Lebens war. Er brannte darauf, endlich loszulegen.

»Nein, nein, das passt. Ich habe auch noch was zu erledigen«, sagte Tilmann. Etwas schien ihn zu beschäftigen. »Bis bald, Gordan.«

»Bis bald, Tilmann.« Die Tür war noch nicht hinter ihm zugeschlagen, als Gordan schon die Hände im Ton versenkte.

11. Peinliche Unterhaltung

 

Fantastisch, großartig und wundervoll. Es reichte nicht, dass die halbe Stadt Gordan und ihn nackt auf der Autobahn gesehen hatte. Nein, das war nicht genug für Robin, den peinlichen Alleinunterhalter. Jetzt hatte Gordans Ex sie auch noch erwischt, wie sie … Gut, erwischt war das falsche Wort. Aber die Zeichen waren eindeutig gewesen. Und mit »Zeichen« meinte er die Handabdrücke in seinem Intimbereich. Wenigstens beim zweiten Ereignis hatte er berechtigte Hoffnung gehabt, dass nicht jeder einzelne Mensch in Lummerdingen davon erfahren würde. Er hatte sich geirrt.

Tilmann, du Tretroller, dachte Robin und senkte den Kopf so tief über seinen Rostbraten mit Zwiebeln, wie er konnte. Gerda, die Bibliothekarin von Lummerdingen, haute ihm trotzdem auf den Rücken.

»Schön, dass unser Gordan wieder jemanden hat!«, röhrte sie. »Aber dass der gleich so rangeht … Ist das gesund? Hast du noch Krümel im Schritt?«

»Nein«, behauptete Robin. Was eine Lüge war. Er hätte wirklich noch einmal duschen sollen, bevor er zum Abendessen bei der Wachtelwirtin eingekehrt war. Unauffällig rutschte er auf der Bank hin und her, bis das Jucken etwas nachgelassen hatte. Warum war er auch zur Wachtelwirtin gegangen? Dem einzigen Ort in der Stadt, an dem er mehrere Leute kannte?

»Vielleicht war es kein Ton, sondern Heilerde!« Augenbraue jubelte.

Er saß Robin schräg gegenüber. Und nicht nur Augenbraue war hier. Sondern auch die Fußballmannschaft, die Rentnerinnen, und Ludwig, der Taxifahrer, samt seiner Frau. Jeder verdammte einzelne Mensch, den er kannte, weidete sich an seinem Unglück.

Die Tageshitze staute sich immer noch im kleinen Innenhof und das plätschernde Wasser des Springbrunnens brachte kaum Kühlung. Der Sonnenuntergang brachte die Dächer zum Glühen. Es war laut wie nie zuvor. Robin fühlte sich, als würde er nicht auf einer klapprigen Bierbank, sondern im Fußballstadion sitzen, fünf Minuten vor Schlusspfiff. Immerhin war das Bier kühl und herb, und das Fleisch zart.

»Kennst du dich mit Heilerde aus?«, fragte er Augenbraue. Nur, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. »Oder warum bist du so verstaubt?«

»Ne, der ist so staubig, weil er auf dem Ponyhof arbeitet«, erklärte Ludwig. »Der ist der einzige Mann da, glaube ich. Gar nicht schlecht.«

»Ui.« Dass man auf einem Gestüt dreckig wurde, war Robin … nun, nicht neu, aber er hatte stets darauf geachtet, sich nach dem Reiten umzuziehen. Früher hatten sie ganze Sommer dort verbracht, er und seine Schwester Ronja. »Und da wälzt du dich im Staub? Mit wem?«

»Mit keinem, leider.« Augenbraue lehnte sich zurück. »Falls das ein Angebot sein sollte: Lass mal.«

»Mein Herz ist gebrochen.« Robin packte das Bier, das ihm wie die allseligmachende Rettung erschien. »Wie ist die Arbeit auf dem Ponyhof? Schön?«

»Och«, sagte Augenbraue, der in Wahrheit Horst hieß. »Ungefähr so schön, wie splitternackt auf der Autobahn zu liegen. Nur angezogener.«

Der ganze Tisch jubelte. Robin lächelte verkrampft. Das war ja wie zu Studienzeiten, nur schlimmer. Seine Kommilitonen hatten sich nie zurückgehalten, wenn er wieder aus einer erotischen Katastrophe entkommen war.

»Nett, dass ich dir eine Freude machen konnte.« Robin grinste. »Ich hoffe, du hast den Anblick genossen. Oder gefiel Gordan dir besser?«

Erneutes Gejohle. Die Frau des Taxifahrers verschluckte sich und hustete ihren Caipirinha über den halben Tisch.

»Sorry.« Sie feixte. »Da hat der alte Gordan ja einen Glückstreffer gelandet. Reich und witzig. Und verdammt hübsch noch dazu.«

Ihr Mann schaute düster drein. »Hast du ihn etwa auch gesehen?«

»Na klar. Glück muss man haben. Der Junge hat zwei Grübchen über den Hinterbacken, als hätte der liebe Gott sie mit dem Finger reingedrückt.«

»Vielen Dank«, murrte Robin. Für Sarkasmus hatte sie wohl nicht so viel übrig, denn sie prostete ihm fröhlich zu.

»Und die Vorderseite ist auch …«, begann sie, aber ihr Mann unterbrach sie.

»Ich glaube, du hast genug.« Sein Gesicht ähnelte einer verbitterten Dörrpflaume.

»Na, aber noch lange nicht!« Sie sah ihn herausfordernd an. »Ich kann's doch sagen, wie es ist. Und der Kleine ist nun mal hübsch. Nicht wahr, Gerda?«

Die Bibliothekarin nickte. Ach du Scheiße. Die hatte sie also auch gesehen. Wie kam Gordan damit klar, dass jeder in dieser Stadt seinen blanken Arsch kannte? Und seine behaarten Unterarme. Seine muskulösen, ebenfalls behaarten Waden, die nach oben hin zu so kräftigen Schenkeln wurden, dass sie Säulen ähnelten … Robin schüttelte den Kopf.

»Können wir über etwas anderes reden?« Griesgrämig schaufelte er Beilagenkartoffeln in sich hinein. »So spannend ist das Thema nun auch wieder nicht.«

»Oh doch.« Augenbrauenhorst wiegte den Kopf hin und her. »Es ist total spannend, und außerdem passiert hier sonst nie etwas. Gut, dass wir Gordan haben. Sonst wäre noch viel weniger los.«

»Der sorgt für Unterhaltung, was?« Ohne es zu wollen, war Robin neugierig geworden. »Schon immer? Er lebt schon immer hier, oder?«

»Ne, der ist zugezogen. Als Kind, aber trotzdem«, sagte Augenbrauenhorst. »Da sind dem seine Eltern hergekommen. Hat er dir das nicht erzählt?«

»Nein, wir waren zu beschäftigt damit, auf dem Mittelstreifen Purzelbäume zu schlagen.«

Die Bibliothekarin kreischte. »Na, ihr schlagt noch was ganz anderes, oder?«

»Was soll das jetzt wieder bedeuten?«

»Na«, beeindrucktes Grinsen, »die Erica hat der Jacqueline erzählt, dass du einen kleinen Fetisch hast.«

Blieb in dieser Stadt nichts geheim? Und die Hälfte des Klatsches war auch noch vollkommen inkorrekt! Aber Robin wusste, dass eine Richtigstellung keinen Sinn hatte. Je mehr er seinen angeblichen Fetisch leugnen würde, desto mehr würden sie glauben, dass Gordan ihm wirklich regelmäßig die Kehrseite versohlte. Super. Er konnte es kaum erwarten, von hier wegzukommen.

Weg von Gordan.

Der ihn »echt« sehen wollte. So wie heute Nachmittag. »Echt« und peinlich und unattraktiv schien für ihn dasselbe zu sein. Trotzdem kribbelte Robins Haut, da, wo Gordan ihn berührt hatte. Konnte aber auch der getrocknete Ton sein. Bestimmt. Das leise Prickeln in seiner Bauchgegend ignorierte er. Das war Blödsinn und brachte nur Ärger.

»Kannst du überhaupt noch sitzen, wenn der Gordan dir so den Hintern vermöbelt?« Augenbrauenhorst schien wirklich interessiert.

»Klar, ist doch Heilerde drauf.«

Die Bibliothekarin kreischte vor Lachen, genau wie der ganze Tisch. Nur ihre Tochter, bebrillt und mausig, wie man sich eine Bibliothekarinnentochter vorstellt, hatte Mitleid mit Robin. Sie schenkte ihm ein äußerst vorsichtiges Lächeln.

»Hast du schon viel von Lummerdingen gesehen? Hast du den Säcker-Brunnen angeschaut? Oder die Burg?«

Endlich ein Mensch, der Erbarmen hatte. »Nein, leider nicht. Ich war zu beschäftigt damit, mich zu blamieren. Und Gordan zu überreden, neue Plastiken zur töpfern, aber das hat auch nicht geklappt.«

»Oh, das ist schade.« Ihre Stimme ging in dem Gejohle fast unter. »Lummerdingen ist ganz interessant, also geschichtlich.«

»Ach, echt?« Das war das Letzte, mit dem er gerechnet hätte.

»Ja, zum Beispiel ist schon Napoleon hier durchmarschiert. Er hat sogar eine Nacht in der Burg verbracht. Oben, im roten Zimmer. Der Herzog musste sie für ihn räumen, aber was sollte er machen?« Ihre Augen strahlten. Sie wirkte wie ein Pony, das nicht wusste, ob es schon losgaloppieren durfte und aufgeregt im Kreis tänzelte.

»Und, wie fand er das rote Zimmer?«

»Er hat es gehasst!« Sie strahlte. »Er meinte, es würde stinken wie eine Achselhöhle. Und Goethe, der hat auch in Lummerdingen übernachtet, allerdings nicht in der Burg, aber er war genau so angeekelt. Er meinte, das wäre das hässlichste Kaff Deutschlands.«

»Ach, wirklich.«

»Ja, es gibt eine ganze Reihe berühmter Persönlichkeiten, die eine Zeitlang in Lummerdingen gewohnt haben. Aber nie lange.«

»Wegen des Geruchs?«

»Ja, und weil es hier zwei Jahrhunderte lang eine Rattenplage gab.« Ihre Augen leuchteten wie Sterne. »Ich sammle Zitate von jedem, der hier war, und sobald ich das Abi geschafft habe, werde ich ein Buch daraus machen. Das ordne ich richtig nach Themen. Oder nach Jahrhunderten.«

»Nach was für Themen denn?«, fragte Robin. »Nach Rattenplage, feuchten Wänden und zu neugierigen Dorfbewohnern?«

»Das ist eine ausgezeichnete Idee. Über die Dorfbewohner haben sich die meisten Leute beschwert. Es heißt, sie wären aufdringlich, schaulustig und viel zu schadenfroh.« Sie sah ihn an, als sollte er sich darüber wundern.

»Sag Bescheid, wenn das Buch rauskommt. Ich kaufe ein paar.« Die würde er sich ins Regal stellen und ab und zu voll Dankbarkeit daran denken, dass er diesem Loch entkommen war. Er zögerte.

Vielleicht würde er auch an Gordan denken. Also, nur daran, dass er diesem Blödmann ebenfalls entkommen war. Keinesfalls würde er sich an den neugierigen Blick und die feuchten, nach Ton riechenden Hände erinnern. Wie der ihn angesehen hatte. Als ob jemand, der vollkommen die Kontrolle verlor und nicht mehr darauf achtete, wie er aussah oder (Robin schauderte) ob er sich vollsabberte, ein faszinierendes Spektakel wäre. Nein, anders. Wie ein Kind, das ein Feuerwerk beobachtete, hatte der geschaut. Mist, die Erinnerung fuhr direkt in Robins Magen und schüttete dort eine Packung Brausepulver aus. Das Kribbeln ging tiefer, und er musste sich mit aller Kraft daran erinnern, dass er mit einer Horde neugieriger Kleinstadtbewohner am Tisch saß, und sich nicht noch weiter blamieren konnte. Obwohl es eigentlich egal war. Schlimmer konnte es nicht werden.

»Ich glaube nicht, dass sich jemand für so ein Buch interessiert. Also, außer den Leuten hier. Die interessieren sich für alles.« Die Bibliothekarinnentochter sah unsicher auf ihren Teller.

»Stimmt, vor allem für Sachen, die sie nichts angehen«, brummte er. Und überlegte. »Ich glaube, ein Bekannter meiner Schwester führt einen Verlag. Ich weiß nicht, was sie verlegen. Kann aber mal nachfragen, wenn du willst.«

Er bereute es sofort. Ihr ganzes Gesicht leuchtete vor plötzlicher Hoffnung.

»Ich kann nichts versprechen«, wiederholte er und hob die Hände. »Ich habe keine Ahnung von Büchern. Aber hey, versuchen kann man es doch. Und man weiß ja nie.« Was für eine großartige Aussage. Aber sie nickte, offensichtlich kaum entmutigt.

»Hey, was labert ihr beiden?«, rief ein grobschlächtiger Kerl vom anderen Ende des Tisches. Einer aus der Fußballmannschaft. »Geht’s um mich?«

»Nein«, murrte die Bibliothekarinnentochter. Robin musste wirklich herausfinden, wie sie hieß.

»Warum nicht?« Der Kerl lachte ohrenbetäubend.

»Weil sich nicht alles um dich dreht, Kevin«, sagte sie.

»Sie hat mir von der interessanten Geschichte der Stadt erzählt.« Robin nickte dem Kerl zu. »Bevor ich gehe, sollte ich sie eigentlich noch besichtigen, aber ich fürchte, ich habe keine Zeit …«

»Ach, wieso denn?« Augenbrauenhorst donnerte seinen Bierkrug auf die Tischplatte. »Leute, zeigen wir Gordans Neuem die Stadt. Jetzt!«

»Ach, das ist doch nicht nötig …« Robin klammerte sich an seinem Bierglas fest. »Ich gehe einfach in mein Hotelzimmer und lese ein gutes Buch.« Wo auch immer er eins auftreiben würde. Wie fand man ein gutes Buch?

»Ne, ne. Keine Widerrede.« Ludwig stand zu Robins Erstaunen vom Tisch auf und alle machten mit. Sogar dieser Kevin. Und die Bibliothekarin und ihre Tochter. Die lächelte ihn scheu an.

»Hast du ein Glück«, raunte sie ihm zu. »Ludwig kennt die besten Geschichten über Lummerdingen.«

»Fantastisch. Ich kann’s kaum erwarten.«

 

***

 

Es wurde großartig. Die leicht angesäuselte Truppe schubste ihn durchs nächtliche Lummerdingen und jeder versuchte, ihm die historischen Orte näherzubringen. So laut wie möglich.

»In diesem Haus wohnte Georgette von Gründen, die Geliebte des Herzogs. Bei ihr hat er sich mit Krätze angesteckt.« Selbst die Bibliothekarinnentochter war dazu übergegangen, zu brüllen, um gegen die anderen anzukommen. Inzwischen hatte Robin herausgefunden, dass sie Kathi hieß.

Ludwig, der Taxifahrer, grätschte dazwischen. »Da hinten haben sie Wilderer geköpft, jeden Samstag, wenn Fischmarkt war. Einmal haben sie einem den Kopf so fest abgehauen, dass er in ein Fass Hering geflogen ist. Jeder, der einen der Heringe gegessen hat, ist kurz darauf gestorben. Den Fluch des Wilderers haben sie es genannt.«

»Da hinten habe ich meinen ersten Kuss bekommen!« Augenbrauenhorst wedelte begeistert mit den Armen. »Da stand früher eine Bank, und auf der habe ich mit dem süßesten Mädchen der Welt gesessen. Erinnerst du dich, Luise?«

»Klar, Horst.« Die Frau des Taxifahrers zwinkerte ihm zu. »Mann, wenn ich noch mal dreizehn wäre … Hey, in der Gasse ist doch einer abgestochen worden, oder, Schatz?«

»Ja, genau.« Ihr Mann warf Augenbrauenhorst einen bösen Blick zu. »Ging um ein Mädel, glaube ich.«

»Ah, ein Klassiker.« Robin nickte wissend. »Mord aus Eifersucht.«

»Was verstehst du denn davon?« Schwere Schritte erklangen neben Robin. Kevin, der Fußballer. Er wurde das Gefühl nicht los, dass der etwas gegen ihn hatte. »Von Mädels, meine ich?«

Trottel. »Von Mädels nicht, aber vom Abstechen. Nur, dass ich selten ein Messer dafür benutze.«

Gerda und Luise wieherten erneut los. Ihr Lachen hallte von den gedrungenen Fachwerkhäusern wider und der Vollmond spiegelte sich auf den blank gewetzten Pflastersteinen in der Mitte der Straße. Sie torkelten gerade durch die Fußgängerzone, die glücklicherweise besser roch, seit Anfang des 20. Jahrhunderts eine Kanalisation gegraben worden war. Robin hatte erst zwei Ratten gesehen. Gut, dass er jetzt lebte und nicht früher. Augenbrauenhorsts Bieratem schlug ihm ins Gesicht.

»Schau mal da drüben, in der Gasse, da hat mir zum ersten Mal eine in die Hose gefasst. Das war …«

Ein Fenster flog auf und prallte gegen die Wand. So fest, dass es fast zerschellt wäre. Ein rotwangiges, weißhaariges Gesicht sah zu ihnen hinunter. »Was veranstaltet ihr hier für einen Höllenlärm? Es ist nach elf!«

»Olga, meine Schöne!« Augenbrauenhorst warf ihr eine Kusshand zu. »Wir zeigen Gordans Neuem die Stadt!«

»Dem Tonpimmel?«, fragte sie.

»Das bin ich!« Robin winkte zu ihr hoch. Er hasste diese Stadt. Aber unterhaltsam war sie.

»Komm runter und hilf uns«, brüllte die Bibliothekarin.

»Ich bin schon im Nachthemd«, brüllte Olga zurück. Dann zuckte sie mit den Achseln »Ach, egal.«

Mit einem Bademantel und einer Schachtel Kippen bewaffnet stieß sie zu ihnen. Lärmend erreichten sie den Säckerbrunnen.

»Früher lebten in Lummerdingen viele Säcker«, erklärte Kathi, die Bibliothekarinnentochter. »Da gingen den ganzen Tag Lastkähne die Aar hoch und runter. Hoch wurden sie von Ackergäulen gezogen und die haben Lasten gehabt bis zu einer Tonne. Die Säcker von Lummerdingen haben die Mehlsäcke vom Aarufer bis hierher geschleppt. Dieser Brunnen wurde erbaut, um diesen tapferen Männern ein Denkmal zu errichten.«

Wasser plätscherte fröhlich aus zwei Löwenköpfen in ein achteckiges Becken aus rotem Stein. Über ihnen hockte ein einsamer Säcker, gebeugt unter der Last eines gigantischen Mehlsacks. Ein Arm schaute aus einer Ritze des Sacks heraus. Eine Erinnerung versuchte, Robins Gehirnwindungen hochzukriechen. Er kannte diesen Anblick. War er schon einmal hier gewesen?

»Was ist mit dem Arm?«, fragte er.

»Das ist eine grausame Geschichte.« Die Augen des Taxifahrers leuchteten. Seine Stimme wurde blutrünstig und gruselig. »Eine elend grausame Geschichte.« Robin spürte, wie die Atmosphäre sich änderte. Alle hörten gebannt zu. In der Stille konnte er selbst die Geräusche der nahegelegenen Straße vernehmen. Autos tuckerten vorbei, Motorräder röhrten. Sachter Sommerwind strich über seinen verschwitzten Nacken.

»Damals kamen drei Männer nach Lummerdingen«, sagte Ludwig, der Taxifahrer, mit Grabesstimme. »Reiche Männer. Sie kehrten im Gasthof ein und tranken und luden jeden ein, der sich zu ihnen setzte. Aber das waren keine guten Männer. Es waren Wölfe. Sie haben gewartet, bis alle besoffen unter den Tischen lagen und dann haben sie die Tochter eines Säckers in den Wald gelockt und …« Eine düstere Pause. »Ein Jäger hat sie entdeckt. Er hat nur einen Blick auf sie geworfen, da gefror ihm der Atem in der Kehle. Sie haben sie nicht nur geschändet. Sie haben ihr die Haut vom Gesicht gezogen, damit niemand sie identifizieren konnte, und sie in einer Mulde im Wald verscharrt. Doch ihre Mutter erkannte sie.«

»Woran?«, fragte Robin.

Die Schatten, die die Kappe auf das Gesicht des Taxifahrers warf, schienen sich zu verdunkeln. »An einem Muttermal auf ihrer Wade. Sie hat nicht geweint, die Mutter. Sie hatte nur eine Tochter, und als die tot war, da hatte sie keine Tränen mehr. Die Mörder waren weitergezogen, aber sie wusste, dass sie in den nächsten Ort wollten. Nach Löwersheim. Ihre Schwester leitete den Gasthof dort.«

Robin ahnte, dass es für die drei Mörder kein gutes Ende nehmen würde. Trotz der Wärme fröstelte er.

»Auch dort haben sie ein Mädchen in den Wald gelockt. In den Hain, wo niemand ihre Schreie hören konnte. Dachten sie zumindest. Doch diesmal wurden sie gehört. Mit einem Mal lösten sich Schatten aus den Farnen. Schatten mit scharfen Klingen.« Eine Kunstpause. »Die Lummerdinger haben ihnen die Kehlen durchgeschnitten, und nicht nur die.«

Am Schaudern der anderen Männer erkannte Robin, welche Körperteile das gewesen waren.

»Es waren reiche Männer. Söhne eines Grafen, der jeden strafen würde, der seinen Söhnen einen Schaden zufügte. Also mussten die Leichen verschwinden.«

Robin hob die Hand. »Lass mich raten: Sie haben sie zerstückelt und in Säcke gesteckt?«, fragte er den Taxifahrer, dessen Blick noch einmal düsterer wurde.

»In der Tat, sie zerteilten sie. Die Männer suchten Wackersteine und die Frauen nähten die Säcke zu. Und am nächsten Tag war die Schiffsladung noch schwerer als sonst. Am tiefsten Punkt der Aar haben sie sie versenkt.« Er hob einen Finger. »Aber die Mörder ruhen nicht. Wenn ein junges Mädchen da vorbeigeht, wo sie liegen, dann hört sie ein Wispern wie ein Schlangennest. Dann flüstern sie ihr zu, zu ihnen hinunter zu kommen. Sie versprechen ihr Gold und Liebe und süßen Wein. Doch wenn sie sich darauf einlässt, wenn sie die Kleider abstreift und in die Fluten steigt …«

»Dann fressen sie sie!«

Robin machte einen Satz.

Gordan stand hinter ihm und lachte. »Alles klar? Was macht ihr hier?«

»Sie zeigen mir die Stadt.« Robin deutete in die Runde. Sein Herz hämmerte. Hatte dieser Trottel ihn so erschrecken müssen?

»Aber den Säcker kennst du doch schon.« Gordan deutete auf den Brunnen.

Hä? Robin versuchte, sich zu erinnern. Leider funktionierte es. Mit einem Mal spürte er die rutschigen Platten der Brunnenumrandung unter seinen Füßen, kühle Luft an seinem Hintern, das Gefühl der Erleichterung und Gordans heiteres Lachen in den Ohren. Augenblicklich verdrängte er die Erinnerung. Er hatte nicht in den Säckerbrunnen gepinkelt. Und wenn, dann hatte ihn hoffentlich niemand dabei beobachtet. Obwohl, dann hätte er längst davon gehört.

»Ja, aber ich kannte die äußerst interessante Geschichte der Stadt noch nicht.« Er hob eine Augenbraue. »Was machst du hier? Ist dein Gespräch mit Tilmann schon beendet?«

»Mit Tilmann? Der ist schon seit Stunden weg.« Gordan schüttelte den Kopf. »Ne, ich wollte dir etwas zeigen.«

»Wir wissen doch alle, was du dem zeigen willst.« Luise schubste Gerda mit der Schulter an und sie brach wieder in Kichern aus.

»Meinst du nicht, dass er das schon oft genug gesehen hat?«, kreischte Gerda. »Du kannst ruhig einen Gang zurückschalten, Gordan.«

»Auf gar keinen Fall.« Gordan steckte die Hände in die Hosentaschen. »Nachher geht euch Tratschtanten noch der Klatsch aus und das Gejammer, das ihr dann veranstaltet, will sich keiner anhören.«

Gerda schaute verdutzt, aber Luise kicherte. »So, wie ihr beiden rangeht, geht uns der Tratsch nie wieder aus. Wahrscheinlich finden wir euch morgen nackt auf dem Kirchturm.«

»Was meinst du?« Gordan zwinkerte Robin zu. Der versuchte, das blöde Flattern in seinem Magen unten zu halten. »Tun wir ihnen den Gefallen?«

»Warum klettern wir nicht gleich da rauf?« Robin deutete auf die Säckerstatue. »Da ist ein Steinfinger, den man perfekt als Buttplug benutzen könnte.«

Gordans Grinsen leuchtete in der Dunkelheit. »Bereit, wenn du es bist.« Spaßeshalber legte er die Hände an die Gürtelschnalle. Ludwig und Kevin zuckten zusammen.

Es war bescheuert, aber Robin begann wirklich, sich hier wohl zu fühlen. Selbst wenn ihn alle immer und immer wieder an sein peinliches Verhalten erinnerten. Aber das taten sie mit jedem. Der Taxifahrer hatte vorhin ausführlich erzählt, wie Augenbrauenhorst versucht hatte, über die Umrandung des Parkplatzes zu springen, auf Hundekacke ausgerutscht war und sich das Steißbein gebrochen hatte.

Gerda hatte acht Jahre lang gedacht, der Pfarrer hieße Herr Schwanz. Dabei hieß er Herr Schanz. Acht Jahre lang hatte niemand sie korrigiert, wenn sie ihn freudestrahlend begrüßt hatte. Nicht mal Pfarrer Schanz selbst.

»Was wolltest du mir denn zeigen?« Er sah Gordan herausfordernd an. Irgendwie freute er sich, dass der Mann auf ihn zukam, nachdem Robin ihm seit gestern nachgerannt war.

Gordan hob die Achseln. »Siehst du dann.«

»Also doch«, sagte Gerda und kicherte.

»Hol mal deinen Kopf aus der Gosse, Gerda.« Gordan schüttelte, scheinbar enttäuscht, den Kopf. Er winkte Robin, mitzukommen. Der zögerte kurz, dann setzte er sich in Bewegung. Nach ein paar Schritten merkte er, dass die ganze Truppe ihnen folgte.

»Vergesst es!« Gordan wedelte mit den Händen, ohne sie anzusehen. Als wollte er eine Schar Tauben verscheuchen. Enttäuscht murmelnd blieben die anderen zurück.

»Bis morgen«, rief Robin.

Verabschiedungsrufe erklangen. Luise brüllte Gordan hinterher, dass er gut auf seinen Neuen aufpassen sollte.

»Der ist nämlich in Ordnung! Viel netter als du, alter Griesgram.« Augenbrauenhorst lachte.

Dann verklangen ihre Stimmen. Sie zogen weiter. Robin schloss zu Gordan auf und sah ihn neugierig an. Nur noch ihre Schritte hallten über das Pflaster. Die Luft kühlte ab und wechselte langsam von erträglich zu kühl.

»Irgendwann wirst du ihnen erklären müssen, dass ich nicht dein neuer Freund bin.« Robin steckte die Hände in die Hosentaschen und ging weiter.

»Mach du doch.« Gordans scharfes Profil sah entspannt aus. Ja, er wirkte anders. Energiegeladen, wie ein frisch genährtes Tier. »Oder lieber nicht. Sie freuen sich so, dass ich endlich wieder jemanden habe. Das kann ich ihnen doch nicht so schnell kaputt machen.«

»Die wollen nur was zum Lästern haben«, murrte Robin. »Aber sie waren nett, heute Abend. Also abgesehen davon, dass sie nicht aufhören konnten, über den verdammten Mittelstreifen zu reden.«

Gordan musterte ihn im Gehen. »Ja, das ist interessant. Normalerweise brauchen sie länger, bis sie sich an Fremde gewöhnt haben.«

Robin lachte trocken. »Der war gut.«

»Nein, echt.« Gordan betrachtete ihn weiter, weit über das Maß des Höflichen hinaus. »Es hat ewig gedauert, bis sie Tilmann endlich akzeptiert hatten. Und Erica und mich auch. Okay, damals hat es ungefähr zwei Monate gedauert. Unter Kindern ist es noch leichter.«

»Die Gabe, sich total zu blamieren, macht einen halt sympathisch.« Robin knurrte.

»Ja, das tut sie. Wirklich.« Gordan lächelte ihm zu. »Sogar Horst mag dich. Und Ludwig auch.«

»Die mögen mich nicht, die hoffen nur, dass ich etwas Unterhaltsames tue.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher.« Gordan zögerte sichtlich. Aber er löste endlich den Blick von Robin. »Warum hast du Tilmann erzählt, dass wir ein Paar wären?« Es klang nur so dahingesagt, aber Robin hörte Unsicherheit heraus.

Er schnaubte leise. »Weil er eifersüchtig war. Hast du das nicht kapiert?«

»Wirklich?« Gordan sah ihn verwundert an.

»Ja, das ist doch offensichtlich. Wer von uns beiden ist sein Exfreund? Das solltest du doch merken.«

Gordan schwieg. Etwas Fieses, Kleines nagte an Robins Herz.

»Na ja, und da du ihm hinterhertrauerst, dachte ich, ein neuer Kerl würde dich attraktiver für ihn machen. Vielleicht sieht er ja, was er hatte, wenn du in den Armen eines anderen liegst.«

Schweigen. »Nett von dir«, sagte Gordan schließlich. »Wirklich nett. Danke.«

»Bitte.« Robin fühlte sich ungewöhnlich schwer. Wo kam diese trübe Stimmung her, die ihn plötzlich befiel? Lief doch alles super. Gordan war viel umgänglicher als am Anfang und vielleicht, nur vielleicht, würde das irgendwann zu neuen Plastiken führen. »Was willst du mir denn zeigen?«

 

Die Tür zum Atelier öffnete sich knarrend. Drinnen brannte Licht und ergoss sich über die kleinen Holztreppenstufen. Robin hüpfte hinein und sah sich um. Staub lag in der Luft, aber auch der Geruch nach nassem Ton. So wie eben. So wie er selbst noch vor wenigen Stunden gerochen hatte. Er räusperte sich.

»Und?«

Gordan schloss die Tür hinter ihnen. »Er steht da hinten.« Er deutete auf eines der vollgestellten Regale.

Robins Atem stockte. Seine Ohren sausten und seine Füße waren auf einmal aus Blei.

Da stand eine Plastik, ähnlich denen aus der Galerie seines Vaters. Rötlicher Ton, geschwungene Formen, mutige Windungen … Und sie war ganz und gar abscheulich.

Trotz seiner Bleifüße schlurfte Robin heran, bis er sie fast mit der Nasenspitze berühren konnte.

»Was ist das?«, krächzte er.

»Siehst du doch«, sagte Gordan hinter ihm. »Was sagst du? Ist das … Verdammt, ich glaube, du hattest recht. Das ist noch nicht perfekt, aber ich bin wieder auf dem richtigen Weg. Ich muss ihn bis morgen Abend austrocknen lassen und dann kann ich ihn brennen und dann …«

Robin hörte ihm nicht mehr zu. Er starrte nur noch. Auf die Abscheulichkeit, die sich vor seinen Augen wand. Ein Männerkörper, viel zu realistisch, viel zu »echt«. Ein dämlicher Trottel mit blödem Gesichtsausdruck, unvorteilhafter Haltung, der das Kinn auf die Brust drückte (das Doppelkinn, das er dadurch erzeugte, war mit scharfen Strichen in den Ton geritzt), der seinen Schwanz mit beiden Händen umklammerte und die Hüften vorstieß. Er trug Robins Gesicht. Ja, es gab keinen Zweifel. Trotz des dämlich verzerrten, lüsternen Ausdrucks darauf waren das Robins Gesichtszüge. Seine verwuschelte Frisur, die Gordan liebevoll mit Ton nachgestellt hatte, seine Hände, die …

Robin würgte trocken.

»Die Farbe ändert sich, sobald er gebrannt ist.« Oh, Gordan redete immer noch. »Aber das kennst du ja schon, von den anderen Plastiken. Ich bin echt gespannt, wie er dann aussieht.« Er klang so aufgeregt, so voll Vorfreude.

Robin packte die Plastik mit beiden Händen und schmetterte sie auf den Boden. Sie zerbarst in tausend Teile. Mit einem dumpfen Ton, so enttäuschend wie ein feuchter Furz schossen Scherben über den staubigen Boden.

Das dämliche Gesicht war intakt geblieben und starrte ihm immer noch entgegen. Er ballte die Fäuste und atmete schwer.

»Was …«, begann er, kam aber nicht weit.

»Was soll das?!« Gordans Brüllen brachte die Keramik zum Klirren. »Bist du völlig bescheuert? Was … Das war das erste gute Stück, das ich seit einem Jahr getöpfert habe!«

Robin fuhr zu ihm herum, sah in sein bescheuertes, stoppeliges Gesicht. »Ob ich bescheuert bin? Bist du vollkommen wahnsinnig? Ich habe gerade meinen Job verloren und meine Familie schon wieder total blamiert und dann machst du sowas? Das Ding da … Man erkennt mich! Man erkennt mich und ich sehe auch noch scheiße aus! Was meinst du passiert, wenn das in einer Galerie landet? Vater enterbt mich!«

»Was … Du kannst ihn doch nicht einfach kaputtmachen! Er war gut!«

»Er war peinlich!« Robins Lautstärke näherte sich Fußballstadionniveau. »Einfach nur peinlich! So siehst du mich?«

»So habe ich dich gesehen, falls du dich an heute Mittag erinnerst!« Die Adern und Sehnen an Gordans Hals traten klar hervor.

Leise Angst mischte sich in die Wut. »So hässlich?« Robin konnte es nicht glauben. Dieses Arschloch. »Das reicht! Du kannst aufhören, mich zu verarschen. Ich hau ab.« Er drängte an Gordan vorbei und marschierte auf die Tür zu.

Gordan packte ihn am Arm.

12. Bodenlose Unverschämtheit

 

Gordan riss den Schnösel zu sich her. Der stolperte und prallte mit der Brust gegen ihn. Wütende Augen starrten auf Gordan nieder. Türkisfarbene Augen. Etwas in Gordans Brust verschob sich, aber er war zu zornig, um darauf zu achten.

»Du willst abhauen?!« Er packte Robins Kragen, grub die Finger in den glatten Stoff und zog ihn noch näher. So nah, dass warmer Atem seine Oberlippe streifte. »Einen Teufel tust du! Du hast versprochen, dass du mir hilfst und jetzt zerdepperst du die Plastik und willst verschwinden? Nicht mit mir!«

»Mit wem denn sonst?« Wut färbte Robins Stimme, aber sein Blick flackerte. Etwas lenkte ihn ab. »Ich haue ab, und du kannst mich nicht aufhalten.«

Schon warf er sich vorwärts, und drängte Gordan gegen die Werkbank. Die Position erinnerte so sehr an heute Mittag, dass ein heißer Schauer durch Gordans Mitte lief. Der Mistkerl hatte es nicht zu Ende gebracht. Gut, Gordan war auch nicht allzu nett zu ihm gewesen, auf seiner begeisterten Suche nach dem Gesicht. Dem Gesicht, das er schließlich zu sehen bekommen hatte und das ihm den Atem verschlagen hatte. Dem Gesicht, das nun auf einem feuchten Scherbenhaufen lag, dank des Vollidioten hier.

»Sieht das aus, als könnte ich dich nicht aufhalten?« Er schleuderte Robin herum, trat noch näher heran, presste die Oberschenkel gegen seine, pinnte ihn an der Werkbank fest. Robin versuchte, nach hinten auszuweichen. Aber da war kein Platz. Gordan hörte ein leises Stöhnen und hätte sich beinahe schlecht gefühlt, weil er dem Kerl weh tat. Bis er dessen Härte spürte, die gegen ihn drückte.

»Schon wieder?« Nicht zu fassen. »Ich habe doch eben erst …«

Robin sah an ihm vorbei. Sein Mund verzog sich mürrisch. »Das ist Stunden her. Und ich bin nicht so ein …«

»… impotenter alter Zausel wie ich, schon klar.« Gordan drängte sich noch näher, und ließ Robin hautnah an seiner wachsenden Erektion teilhaben. »Überraschung.«

Robin zuckte zusammen. Er spürte es an seiner gesamten Vorderseite. Unsicheres Lippenkauen. Gordans Wut verrauchte und die Hände, die den gebügelten Kragen gehalten hatten, glitten höher. Die Daumen streichelten Robins Kieferlinie. Er spürte millimeterkurze Bartstoppeln und harte Knochen unter heißer Haut. Schließlich verschränkte er die Finger in Robins Nacken.

»Was machst du da?« Wieder dieses Lippenkauen. Als wäre dem Schnösel nicht klar, wie er die Situation einzuschätzen hatte. Dabei war es doch offensichtlich.

»Ich befingere dich mit meinen arthritischen Rentnerhänden. Soll ich aufhören?«

»Nein«, flüsterte Robin und küsste ihn.

Es wirkte vertraut, es wirkte … als hätten sie das schon einmal … Gordan hörte auf zu denken. Weiche Hitze prallte gegen seinen Mund, presste seine Lippen auseinander und dann schob sich eine Zunge in ihn, die seine eigene begeistert begrüßte. Würziger, salziger Geschmack reizte seine Geschmacksknospen. Robins Geschmack, männlich und herb. Viel herber als der Duft des teuren After Shaves, der von ihm ausging. Der Goldjunge war, wie immer, sofort auf 180. Arme schlangen sich um Gordans Hinterkopf, die Zunge fickte seinen Mund und verzweifeltes Stöhnen vibrierte durch Gordans Lippen.

»Hose runter«, keuchte Robin. Er fummelte bereits seine Gürtelschnalle auf.

Gordan hätte sich gern Zeit gelassen, schließlich war es sein erster Kuss seit zwei Jahren. Aber er konnte dem Goldjungen nicht widerstehen. Nicht, wenn der so schaute wie jetzt. Verschleierte Augen und ein Gesichtsausdruck, so hungrig, als müsste er sterben, wenn Gordan nicht sofort seinem Befehl folgte. Also tat er es. Langsam öffnete er Knopf und Reißverschluss. Robin beobachtete ihn gierig, deshalb zögerte er es hinaus. Erst im letzten Moment streifte er die Unterhose hinunter und entließ seinen Schwanz in die staubige Luft. Robins eigener war längst befreit und deutete auf Gordan, als hätte er ihn erwählt. Hatte er wohl auch, denn Robin war sofort wieder bei ihm und packte ohne Umschweife zu. Starke, glatte Hände schlossen sich um Gordans Wurzel und Hodensack. Warm. Heiß. Funken tanzten durch seinen Körper, da, wo sie kneteten und rieben.

»Du auch«, murmelte Robin. Seine Augen waren geschlossen, die langen Wimpern zitterten. »Bitte, Gordan.«

»Du musst nicht bitte sagen.« Gordan hätte ihm nicht widerstehen können, selbst, wenn der Kerl noch zehn Plastiken zerstört und ihn weiter beleidigt hätte. Die Berührung war ein kleiner Schock. Sacht glitten seine Hände über die pralle Haut. Über die Runzeln des kleinen Beutels, über die Härte des Pfahls.

Robin lehnte die Stirn gegen Gordans und stöhnte wohlig. »Fester«, befahl er. »Komm schon, Gordan. Ich bin so scharf auf dich, ich …«

»Das merke ich.« Gordan hatte ruhig klingen wollen, aber es kam als heiseres Krächzen aus seinem Mund. Mist, was war jetzt los? Es war schlimmer als heute Mittag. Viel schlimmer. Er fühlte sich wie ein Süchtiger vor dem nächsten Schuss. Robin war noch gieriger. Wie ein Wahnsinniger rieb er über Gordans Länge, keuchte gegen dessen Lippen und bockte in die Hand.

»Weiter, komm schon, bitte …« Verzweifelt wimmernd stieß er in Gordans Faust, die locker um ihn lag. »Komm schon, fester …«

Gordan hatte Erbarmen. Er packte zu, und versuchte, sich dem aggressiven Rhythmus von Robins Händen anzupassen. Der wusste, was er tat. Funken tanzten durch Gordans Unterleib, verwandelten sich in Glut, dann flüssige Lava. Hitze flirrte vor seinen Augen und die zuckerige Note in Robins Atem, der seine Lippen kitzelte, gab ihm den Rest.

Sie kamen gleichzeitig. Gordan hatte es nicht geplant, und er war sicher, dass Robin gerade gar nichts im Griff hatte. Doch als die süßen Fluten ihn verschlangen, als er röhrte und noch einmal in Robins Faust wuchs, dehnte der auch Gordans Griff. Wohlige Erlösung schoss in Gordans Unterleib, schoss aus ihm heraus, direkt auf Robins gebügeltes Hemd. Er spürte, dass der sein T-Shirt durchnässte. Warme Tropfen fielen auf Gordans Leisten und rannen über die nackte Haut. Sie mussten sich aneinander festhalten, um nicht zu Boden zu gehen. Die Stirnen immer noch aneinander gelehnt bebten sie, bis aus dem Orkan ein sanfter Wirbel wurde.

»Danke«, raunte Gordan. Er schnappte nach Robins Lippen, die weich und nass waren. »Das tat gut. Aber können wir uns nächstes Mal ein bisschen mehr Zeit lassen? Ich bin noch viel zu angezogen …«

Robin schrak zurück. Panisch starrte er Gordan an. »Das Fenster! Nein! Es kann uns ja jeder sehen.« Gordan blickte sich um. Hinter den Fenstern lag dunkle Nacht. Alles, was er erkennen konnte, war ihr Spiegelbild. Zwei nackte Ärsche, umgeben von sich biegenden Regalen voller Tonwaren.

»Ach, da draußen ist schon keiner. Wer soll denn um Mitternacht noch auf dem Hof rumstehen?«

»Bei meinem Glück? Die halbe Stadt und zehn Reporter.« Robins Gesicht war totenblass. Hastig riss er seine Unterhose und Hose hoch und schloss den Reißverschluss, so schnell, dass Gordan fürchtete, er würde sich etwas einklemmen. Dann rieben die Hände, die ihn eben noch so hervorragend gewichst hatten, über das Hemd. Hektisch. »Nein, nein, nein. Ich bin so ein Vollidiot. Warum habe ich … Ich habe doch heute Mittag schon … Warum hast du nicht daran gedacht, dass man uns sehen kann?« Wütend schaute er Gordan an.

Gordan zuckte mit den Achseln. »Ich war abgelenkt. Sieh es doch mal so: Die anderen freuen sich, wenn es noch mehr Klatsch gibt.«

»Aber meine Familie nicht!« Robin sah aus, als würde er gleich losheulen. Er war … Gordan hasste sich für den Gedanken, aber er fand Robin wunderschön, besudelt und verzweifelt, wie er war. Rein aus schlechtem Gewissen zog er sich auch schnell wieder an und legte Robin beide Hände auf die Schultern.

»Da war niemand«, sagte er, so beruhigend, wie er sonst Ericas Kinder in den Schlaf sang. »Mach dir keine Sorgen, Robin. Niemand hat uns gesehen. Ich verspreche es dir.«

Robins Blick flackerte. Er schien etwas sagen zu wollen, kniff dann aber die Lippen aufeinander, bis sie zu einem weißen Band wurden. Er nickte.

»Warum hast du so eine Angst, was deine Familie sagt?«

»Weil sie meine Familie ist.« Robin blickte ihn an, als verstände er die Frage nicht einmal. »Wir müssen unseren Ruf wahren. Unser Ruf ist … Gut, der ist nicht alles, was wir haben. Wir haben auch noch die Aktien und die ganzen Häuser und das Gestüt, aber … Er ist wichtig. Meine Mutter kandidiert als Bürgermeisterin und mein Bruder will in den Gemeinderat, da können wir uns keine Skandale leisten. Ich bin der Einzige, der uns ständig in Gefahr bringt.«

»Läuft das immer so?« Eine dunkle Ahnung überkam Gordan. Fast hätte er Mitleid bekommen, aber er war sicher, dass Robin Mitleid hasste. »Ist das das Erste, woran du denkst, wenn du gekommen bist? Ob du die Familienehre beschmutzt hast?«

Das Schweigen war Antwort genug. Gordans Hände rutschten von Robins Schultern, langsam glitten sie über die Muskeln unter den glatten Ärmeln. Gordan seufzte. Dann umarmte er den Goldjungen, so fest er konnte. Der schwieg. So lange, dass Gordan das Ticken der Wanduhr und ein weit entferntes Zirpen hören konnte.

»Was machst du da?«, fragte Robin. Zögernd hob er die Hände und tätschelte Gordans Rücken.

»Kleiner …«

»Robin«, korrigierte der.

»Sorry, Robin. Mir tut’s nur leid. Hinterher ist es doch fast so gut wie mittendrin. Wenn man, na ja …« Er ahnte, dass der Schnösel auf das Wort »kuscheln« nicht gut reagieren würde. Aber genau das meinte er. Erinnerungen stiegen in ihm auf. Erinnerungen an Tilmanns schlanke Finger, die auf seinem verschwitzten Bauch kreisten. An geflüsterte Worte. An zärtliches Streicheln und an träge Küsse. An die Verbundenheit, die er gespürt hatte, wenn der Sturm sich kurz beruhigt hatte, nur um nach ausgiebigem Streicheln und Kuscheln neu entfacht zu werden.

»Hinterher ist furchtbar. Dann komme ich mir immer wie ein Vollidiot vor.« Es klang so endgültig. Viel zu niedergeschlagen für diese blonde Nervensäge. Die er nicht war. Okay, er nervte. Aber … Er sorgte auch dafür, dass Gordan sich nach zwei Jahren endlich wieder lebendig fühlte. Dass er die Einsamkeit und die Last seiner Schulden kaum noch spürte, dass seine Fingerspitzen kribbelten, wenn sie den Ton berührten, dass sein ganzer Körper vor Inspiration kribbelte und beinah platzte.

»Kann ich etwas für dich tun?« Gordan löste sich. Legte die Hände an Robins Wangen und forschte in seinem Gesicht. »Damit du dich besser fühlst?«

Robin wirkte verstimmt. »Ja, hör auf, mich wie ein Kleinkind zu behandeln. Warst du eben nicht noch sauer, weil ich die Plastik zerstört habe?«

Oh, richtig. Gordan suchte nach der Wut, die er verspürt hatte. Dann zuckte er mit den Achseln. »Komisch, irgendwie bin ich jetzt vollkommen entspannt.« Er grinste. »Ne, passt schon. Ich bin wieder auf dem richtigen Weg, aber das war noch nichts. Zu realistisch.«

»Ja, viel zu realistisch.« Eine tiefe Furche erschien zwischen Robins Augenbrauen. »Könntest du nicht … Könntest du nicht etwas töpfern, dass mir weniger ähnlich sieht?«

»Ich sollte etwas töpfern, das dir noch ähnlicher sieht.«

»Was?!« Robin verschluckte sich. »Auf gar keinen Fall! Oder wenn, dann … Dann lass mich verdammt noch mal gut aussehen! Und nicht in so einer Pose … Nicht in so einer Pose«, beendete er den Satz.

»Wenn ich sage, dass es dir noch ähnlicher sehen soll, dann meine ich damit, dass niemand dich erkennen wird. Ich will …« Gordan überlegte. »Ich will dein Inneres darstellen. Den echten Robin. Nicht das, was du allen vorspielst. Ich will den darstellen, der du bist.«

Robin schaute, als wäre das noch viel schlimmer. Sein Adamsapfel zuckte. Er löste sich von der Werkbank, marschierte zum Waschbecken, und wusch sich die Hände. Dann tigerte er in der Werkstatt auf und ab. Schließlich stoppte er vor Gordan.

»Aber niemand darf mich erkennen. Ist das klar?«

»Ja, das hast du sehr klargemacht.« Gordan sah zu dem Scherbenhaufen hinüber.

Robin steckte die Hände in die Hosentaschen und zog die Schultern hoch. »Es tut mir leid«, murmelte er. »Du warst so stolz darauf. Und sie war gut, wirklich gut. Ich hab nur … Ich hab überreagiert. Es tut mir leid.«

Wärme rann durch Gordans Brust. Dämliche Wärme. »Ist schon in Ordnung, wirklich. Sieh es als Wiedergutmachung dafür, dass ich dich nackt in den See gelockt habe. Und, dass ich dich aus der Werkstatt geworfen habe.«

Ein leises Lächeln, fast schüchtern. Da war es wieder, das Echte, Wahre. »Hey, vielleicht hätte ich dir nicht bei deiner Schwester auflauern sollen.«

»Ach, mir war eh langweilig.« Gordan konnte nicht anders als zurückzulächeln. Gemütliche Müdigkeit verwandelte seine Knochen in Blei. Er räkelte sich wohlig und gähnte. »Ich glaube, ich ziehe mich in meinen Schlafsack zurück, wenn der edle Herr es erlaubt. Dieses ganze Streiten und Streicheln hat mich müde gemacht.«

Robin wippte vor und zurück. Fußballen. Ferse. Fußballen. Ferse. »Du … Ich meine, wenn du willst …«

Es prickelte in Gordans Magen, als hätte er einen Liter Champagner verschluckt. So ein Blödsinn. Aber er hoffte auf die nächsten Worte wie ein Kind auf Weihnachten, und war doch erstaunt, als es die waren, die er sich gewünscht hatte.

»Ich habe ein Doppelbett im Gasthof.« Robin räusperte sich. »Und eine Dusche. Du könntest … duschen, wenn du willst. Du stinkst.«

»Bist du sicher?«

»Dass du stinkst? Ja.« Robin sah so fest auf eine Gürteltiergießkanne, als wollte er sich selbst daran hindern, zu erröten.

»Nein, dass ich duschen soll. Ich glaube, du magst meinen Geruch.«

Robin verlor den Kampf. Seine Wangen färbten sich rosa. »Ja, na gut. Du hast mich erwischt.« Dann erschien ein Grinsen, das den ganzen Raum heller werden ließ. »Was ist jetzt? Kommst du mit?«

Etwas krachte und sie schraken zusammen. Panik weitete Robins Augen. Ein helles Sirren, dann explodierte Feuerwerk, irgendwo über Lummerdingen. Der rötliche Schein strahlte durch den verwilderten Garten und die beiden gekrümmten Gestalten darin. Gordan marschierte zum Fenster und riss es auf. Schwefelgeruch schlug ihm entgegen und brannte in seiner Nase.

»Gordan.« Eberhards vergilbtes Gebiss schälte sich aus dem Dunkel. »Arbeitest du etwa noch, Junge?«

»Ich hör jetzt auf.« Gordan winkte Kunigunde, die Eberhard schon den nächsten Feuerwerkskörper hinhielt. »Hallo Kunigunde. Zündelt der Verrückte schon wieder?«

Sie grinste bucklig. »Ja, für mich.« Sie drückte Eberhard den Feuerwerkskörper in die Hand. Der bückte sich ächzend und drückte das Ende des Holzstabs in die Erde. Ziemlich wacklig. »Ich mag Feuerwerk doch so gerne. Und wenn wir bis Silvester warten … na, du weißt schon. Ist nicht gesagt, dass wir nächstes Jahr noch da sind.«

»Was, ihr jungen Hüpfer?«

Eberhard erhob sich mit Kunigundes Hilfe. Er kniff die Augen zusammen und blinzelte. Angestrengt starrte er auf etwas hinter Gordan. »Hast du Besuch oder ist das eine von deinen Plastiken?«

Robin war blass und starr genug, um als Plastik durchzugehen. Er winkte steif und krächzte: »Guten Abend.«

»Guten Abend«, riefen Eberhard und Kunigunde im Chor.

»Ist das der Tilmann?«, hörte er Kunigunde fragen.

»Ne, das ist sein Neuer.« Eberhard kniff die Augen zusammen. »Glaub ich. He, Junge!«

»Ja, bitte?« Robins Schultern entspannten sich. Er hatte offenbar kapiert, dass die beiden nichts gesehen hätten, selbst, wenn sie die ganze Zeit im Garten gestanden hätten.

»Behandel den Gordan gut, hörst du? Der ist ein ganz Feiner.«

»Mach ich. Versprochen.« Robin bekam eine aufsehenerregende Mischung aus aufrichtigem Nicken und dreckigem Grinsen hin. »So gut ist der noch nie behandelt worden, versprochen.«

»Das hoffe ich«, murmelte Gordan, so laut, dass nur der Goldjunge es hören konnte. Er atmete tief ein. »Eberhard, ich zahl dir die Miete für die Werkstatt nächste Woche, ja? Nach dem Markt habe ich hoffentlich wieder Kohle.«

»Das wär gut.« Eberhard räusperte sich. »Mir ist es nicht so wichtig, aber die Danielle macht Druck. Die will sogar, dass ich dich rauswerfe.«

Eberhards Enkelin war knallhart. Zum Glück gehörte die Werkstatt noch ihm. Gordan gab sich Mühe, sein schlechtes Gewissen herunterzuschlucken. »Muss sie nicht, versprochen. Nächste Woche habt ihr die Miete. Tut mir leid, dass es so lange dauert.«

»Ach, nächste Woche reicht. Macht euch einen schönen Abend, Jungs.« Tausend Lachfältchen erschienen in Eberhards und Kunigundes Gesichtern. »Wir haben auch einen.«

»Das sehe ich.« Gordan lächelte. »Bin fast ein wenig neidisch.«

»Das solltest du, Junge.« Kunigunde holte eine Packung Streichhölzer aus ihrer Schürze. »Los, zünd das nächste an, Eberhardchen. Das ist eins von den Guten.«

Gordan wünschte ihnen viel Spaß und schloss das Fenster. Er seufzte leise. »Seit sechzig Jahren verheiratet und haben immer noch Spaß. Unglaublich.«

Robin musterte ihn stumm.

»Was?«

»Bist du wirklich neidisch?«

»Ach was«, log Gordan. »Gehen wir.«

13. Traute Zweisamkeit

 

»Kann ich dich was fragen?« Gordan, schon halb auf dem Weg ins Bad, drehte sich noch einmal um. Er rieb sich den Nacken und grinste schief.

»Was denn?« Robin streckte sich auf dem Bett aus. Der Duft der frisch gewaschenen Laken war unwiderstehlich. Fast so unwiderstehlich wie der Anblick von Gordans nacktem Rücken. Warum hatte der sich schon hier ausgezogen? Nicht, dass Robin das alles nicht schon auf dem Mittelstreifen gesehen hätte, aber … Was war los mit ihm? Er war wirklich keine verschämte Jungfrau. Aber je länger er mit diesem behaarten Primaten zusammen war, desto dämlicher und peinlicher benahm er sich.

Gordan stand im Türrahmen und wandte ihm nun auch seine Vorderseite zu. Robins Blick glitt natürlich sofort zwischen seine Beine und auf das, was da schwer und entspannt baumelte. Er konnte ihn immer noch zwischen seinen Handflächen fühlen. Robin schluckte trocken.

»Wir … haben uns vor heute noch nie geküsst, oder?« Gordan runzelte die Stirn. »Am See oder auf der Autobahn, oder so. Richtig? Ich hatte eben das Gefühl …«

»Nein. Weiß ich nicht. Keine Ahnung.« Robin räusperte sich. »Ich habe auch eine Frage, falls du … Du hast eben eine Andeutung gemacht, wegen …«

Gordan wirkte ein wenig enttäuscht, zumindest bildete Robin sich das ein. »Ja?«

»Habe ich gestern in den Brunnen gepinkelt?« Robin sah an die Decke. An den wunderschön gezeichneten Himmel, über dem watteweiche Wölkchen schwebten.

»Ja, hast du.« Er hörte das Grinsen in Gordans Stimme. »Fast fünf Minuten lang.«

»Oh.« Robin ächzte. »War das zufällig deine Idee?«

»Nein, das war deine.« Leises Lachen. »Du wolltest mir unbedingt beweisen, dass du länger pissen kannst als ich.«

Düstere Schwere senkte sich über Robin. Natürlich. Was auch sonst? Er sollte wirklich weniger trinken, und die Finger von Männern lassen und … Er fand sich selbst nicht besonders überzeugend. Schließlich hatte er die Finger erst vor einer halben Stunde um Gordans Schwanz gelegt und der letzte Vollrausch war noch keine vierundzwanzig Stunden her. Immerhin hatte er gerade nur läppische zwei Bier intus, aber was die Männer betraf … In seinem Bauch summte es schon vor Vorfreude, weil Gordan gleich neben ihm im Bett liegen würde, frisch gewaschen und … Er wandte den Kopf. Gordan stand immer noch da und beobachtete ihn, offensichtlich recht angetan, von dem, was er sah.

»Habe ich den Pisswettbewerb wenigstens gewonnen?«, fragte Robin.

»Hast du.« Gordans Zähne blitzten in seinem unrasierten Gesicht. »Ich war schwer beeindruckt.« Ein letztes Lachen, dann klappte die Badtür zu.

Robin starrte an die Decke und versuchte, nicht stolz zu sein. Vielleicht konnte er … Vielleicht konnte er es heute endlich schaffen, erwachsen zu werden. Vielleicht konnte er neben Gordan liegen und nicht mit ihm schlafen. Vielleicht konnte er einmal vernünftig sein. Oder auf dem Sofa übernachten.

Aber immerhin konnte ihn hier niemand entdecken oder? Das Prasseln der Dusche drang hinter der Tür hervor. Robin starrte an die Decke. Er stellte sich vor, wie das Wasser auf Gordans Körper niederging, wie nasse Bahnen über den glatten Rücken und die behaarten Unterarme zogen, wie die dunklen Härchen, die er eigentlich gar nicht so schlecht fand, Muster bildeten, während das Wasser über sie rann. Er stand auf und ging zum Fenster. Über den Dächern leuchteten und knallten immer noch Eberhardts Feuerwerkskörper. Immerhin schaffte er es, die Vorhänge fest zu schließen. Und die Tür zu verriegeln. Dann klopfte er an die Tür.

»Gordan?«

»Was ist?«, kam es dumpf hinter dem Holz hervor. Das Wasser prasselte immer noch und das Geräusch drang direkt in Robins Unterleib. Er kam sich wie ein peinlicher Lustmolch vor, aber er konnte mal wieder nicht anders. Vorsichtig legte er die Hände auf die Tür, als wäre sie Gordans Brust. Dann ballte er die Finger zur Faust.

»Nichts. Alles gut«, sagte er und wandte sich ab. Willensstark marschierte er zum Bett, warf sich darauf und vergrub den Kopf unter dem Kissen. Er presste es so fest auf seinen Schädel, dass er die Duschgeräusche nicht mehr hörte. Nur noch das tiefe Dröhnen seines Pulses. Er konnte kaum noch atmen. Garstiges Kribbeln rann durch seinen Körper und ausnahmsweise bündelte es sich nicht in seinem Unterleib, den er hart in die Matratze presste, sondern in seinem Magen.

»Hör auf damit«, wimmerte er in das Bettlaken. In seinem eigenen Atem roch er immer noch Gordans Kuss. Was tat dieser Mistkerl, um ihn so durcheinanderzubringen? Er wusste nicht mehr, ob es je so gewesen war. Dass sein Schwanz ihn in Schwierigkeiten brachte, war nichts Neues. Dass er alle Vernunft vergaß, sobald ein williger Kerl in der Nähe war, ebenfalls. Aber das hier … Normalerweise hätte er wenigstens geschaut, ob man sie sehen konnte. Wenigstens beim zweiten Mal. Und normalerweise kam er danach für ein paar Stunden zu Verstand, und lud den Kerl nicht gleich auf sein Hotelzimmer ein, wo sie … Nein, vermutlich war es unausweichlich. Sie würden es wieder tun. Es sei denn, er riss sich einmal im Leben zusammen.

»Nur einmal«, flüsterte er gegen den feuchten Stoff. »Nur einmal, das schaffst du.«

Er lüpfte das Kissen ein winziges Stück und lauschte. Das Prasseln hatte aufgehört. Vermutlich seifte Gordan sich gerade ein. Er hörte fröhliches Pfeifen. Eine Melodie, die ihm vage bekannt vorkam, vielleicht ein altes schottisches Lied? Ob Gordans Mutter immer noch hier wohnte? Er hatte ihn bisher nicht gefragt. Wann auch? Sie waren ja zu beschäftigt damit gewesen, sich anzuschreien, zu saufen und sich in peinliche und geile Situationen zu bringen. Er nahm sich vor, Gordan danach zu fragen. Vielleicht konnten sie, nun, da ihre Lust gestillt war, ein normales, erwachsenes Gespräch führen. Nur, dass Robins Lust nicht gestillt war. Sie erwachte schon wieder zu neuem Leben, wie ein Kampfhund, der immer und immer wieder angriff, egal wie oft man ihn fortscheuchte.

Gordan duschte lange und ausgiebig. Und er genoss es. Robin hörte tiefes Seufzen und glückliches Stöhnen. Wie konnte der Mann sich so laut waschen? Konnte er sich nicht zusammenreißen? Konnte er nicht … so tun, als wäre er normal? Robin schaffte das doch auch, nun, bis es ihn wieder überkam.

»Ich muss lernen, mich zusammenzureißen«, sagte er und setzte sich in den Schneidersitz. Die Matratze war weich und bequem und er verspürte fast so etwas wie Seelenfrieden, als er langsam ein- und ausatmete. »Nein, ich werde mich zusammenreißen. Keine peinlichen Situationen mehr. Kein Bier und keine Männer.« Hey, das war ein gutes Mantra. Er schloss die Augen »Kein Bier und keine Männer. Kein Bier und keine Männer. Kein Bier und …«

»Hör auf, solche furchtbaren Dinge zu sagen.«

Robin schrak hoch. Er riss die Augen auf. Gordan stand vor ihm und tropfte den Teppich voll. Wie konnte jemand, der so laut duschte, sich so leise anschleichen?

»Sag mir nicht, was ich sagen soll«, stotterte er. »Ich meine …«

Gordan schaute ihn fragend an. Lässig rieb er sich mit einem Handtuch ab und sorgte dafür, dass die Tropfen von seiner Haut verschwanden. Es war schwer, den Blick von ihm abzuwenden. Harte Muskeln, breite Schultern, und ein leichter Bauchansatz. Sexy.

»Eigentlich siehst du mehr aus wie ein Holzfäller als wie ein Töpfer«, murrte er.

»Das hat Tilmann auch immer gesagt.« Ein wehmütiger Ausdruck huschte über Gordans Miene. Es war einfach unfair. Wieso durfte einer, der so wild und ungezähmt aussah, sich so einen zarten Gesichtsausdruck erlauben? »Na ja, manchmal hat er mich auch mit einem Bären verglichen.«

»Etwas klischeebeladen, meinst du nicht?« Robin wusste auch nicht, warum er sauer war. Vielleicht, weil allein Gordans Anblick ihn schon wieder meilenweit von seinen guten Vorsätzen wegriss. »Ich dusche auch, wenn du fertig bist. Dann gehe ich schlafen. Ich bin sehr müde.« Er gähnte ausgiebig, um Gordan zu beweisen, dass er viel zu müde war, um weiter mit ihm Schindluder zu treiben. Was immer dieser Ausdruck bedeutete.

Frecherweise widersprach Gordan nicht. Selbst, als Robin an ihm vorbei ins Bad ging, sah er ihn nur so seltsam an.

Robin atmete aus, als er die Tür hinter sich schloss.

»Du benimmst dich wie ein Vollidiot, Kleiner«, flüsterte er.

Er hörte Gordan lachen und zuckte zusammen. Hatte der ihn gehört? Robins Puls hämmerte und sein Schwanz war schon wieder halbsteif. Er duschte, ebenso ausgiebig wie Gordan, aber weniger laut. Zur Sicherheit holte er sich fast stumm noch einen runter, um den Reizen dieses Primaten nicht wieder zu erliegen. Er putzte sich die Zähne und föhnte sich ausgiebig die Haare. Vielleicht würde Gordan auch schon schlafen, wenn er aus dem Bad kam. Vielleicht würden sie wirklich nebeneinanderliegen und es würde nichts passieren.

Als er aus dem Bad trat, war Gordan immer noch wach. Und immer noch nackt. Wie ein Geburtstagsgeschenk saß er im Bett, die Decke locker um die Hüften drapiert und las. Richtig, er hatte ein abgegriffenes Taschenbuch mitgebracht, zusätzlich zu Zahnbürste und Wechselklamotten. Einen Pyjama offenbar nicht. Robin besaß einen, hatte ihn aber leider im Schrank verstaut, und musste sich nun mit einem Handtuch begnügen, das er so fest um seine Taille geknotet hatte wie möglich. Er schaute missbilligend. Zumindest versuchte er es.

»Du verkühlst dich noch«, sagte er. »Und sollte ein älterer Mitbürger wie du nach Mitternacht nicht längst schlafen?«

»Ab 60 braucht man weniger Schlaf, das weiß doch jeder.« Gordan legte das Buch weg und lächelte ihn einladend an. »Was hast du solange da drinnen gemacht? Hast du noch mal Zehnfingerflöte gespielt?«

»Nein«, log Robin. »Und jetzt zieh dir was an. Soll ich dir einen Pyjama leihen? Ich habe zwei.«

Eine dunkle Augenbraue hob sich. Gordan legte das Buch endgültig weg. Und Robin wurde bewusst, dass er das große Licht ausgemacht hatte und ihre Körper nur noch vom viel zu sanften, fast romantischen Licht der Nachttischlampe beschienen wurden.

»Robin.« Gordans Stimme war sanft. »Kann ich dich etwas fragen?«

»Was denn jetzt schon wieder?« Robin kam sich doof dabei vor, weiter in der Badezimmertür zu stehen wie festgewachsen. Also ging er zum Schrank, löste das Handtuch von seinen Hüften und zog sich den Pyjama an. Die Schranktür öffnete er so, dass Gordan ihn dabei nicht beobachten konnte.

»Hast du Angst vor mir?«

»Was?« Robin streckte den Kopf hinter der Tür hervor. »Wieso das denn? Kommt es dir vor, als hätte ich Angst vor dir? Sonst hätte ich dich doch nicht hierher eingeladen.«

»Ja, nur benimmst du dich total seltsam, seit wir hier sind.« Gordan zog die Beine an und legte die Hände auf die Knie. »Denkst du, dass das eine blöde Idee war? Störe ich dich? Ich kann wieder gehen, gar kein Problem. Der Schlafsack ist nicht so unbequem, und ich will nicht, dass du dich unwohl fühlst.«

Robin schluckte. Wenn er jetzt ja sagte, oder behauptete … Irgendetwas behauptete. Dass er vergessen hätte, dass er neben anderen Leuten nicht schlafen konnte, weil selbst das leiseste Schnarchen ihn aufweckte, zum Beispiel. Er seufzte.

»Ich habe keine Angst vor dir«, sagte er. »Ich habe Angst vor mir. Ich habe … Weißt du, immer … na, fast immer, wenn ich mich gehen lasse, passiert etwas, das ich bereue.«

»Du meinst etwas, das deiner Familie peinlich ist?«

»Ja, das auch.« Robin erinnerte sich daran, wie seine Mutter geschaut hatte. Damals, als sie vor dem Direktor gestanden hatten und der erklärt hatte, was vorgefallen war. Dass man ihn mit dem Kunstlehrer erwischt hatte. Es war ein sehr verschwiegenes Meeting gewesen. Hinterher hatte er kapiert, dass der Direktor Angst vor seinen Eltern gehabt hatte. Man hätte ihm vorwerfen können, dass der Kunstlehrer Robin missbraucht hätte.

Dabei war das Robins Idee gewesen. Er hatte Herrn Decker angemacht. Ja, er war sogar ziemlich verliebt in Herrn Decker gewesen, der seine Gefühle, wie all die anderen, leider nicht erwidert hatte. Aber er hatte sich von ihm ficken lassen. Als man sie erwischt hatte, hatte Robin gerade bis zum Anschlag in ihm gesteckt, was auch der Grund war, dass der Direktor es gewagt hatte, ihn vom Internat zu werfen, statt alles unter den Teppich zu kehren. Hätte Herr Decker in Robin gesteckt, wäre es vermutlich anders gelaufen.

»Was ist?« Gordan wirkte besorgt. »Möchtest du … Komm doch her.« Er schlug die Decke auf und die leere Matratze neben ihm und sein mächtiger Körper sahen so einladend aus, dass Robin wie hypnotisiert zu ihm hinüber trottete. Das Bett war weich. Und sehr gemütlich. Und Gordans Arme, die sich um ihn schlossen, waren einfach perfekt. Als hätten sie sich abgesprochen, sanken sie gemeinsam auf die Matratze. Nackte Arme umschlangen Robin, ein nackter Bauch wärmte seinen, ein Bein schob sich zwischen seine. Er bettete das Gesicht in Gordans Halsgrube und seufzte leise. Sich halb wund zu wichsen hatte nichts gebracht, er stand schon wieder. In wenigen Minuten würde er so notgeil sein, dass er Gordan anflehen würde, ihn zum Höhepunkt zu bringen. Dessen raue Fingerspitzen kreisten über Robins Nacken und sandten wohlige Schauer hindurch. Keine Lustschauer, wie er erstaunt feststellte. Nein es waren … schöne Schauer. Auch das noch.

»Was ist denn?« Gordan klang heiser. »Machst du dir wirklich solche Sorgen, dass uns jemand erwischen könnte? Die Tür ist abgeschlossen. Und, Mann, ich verrate doch keinem was. So gut kennst du … Ich meine, wir kennen uns erst seit gestern, aber …«

»Es fühlt sich an, als wäre es vorgestern, richtig?« Er spürte Gordans Lächeln auf seinem Scheitel und drückte sich noch fester gegen den warmen Leib. Bald schon würde er es nicht mehr aushalten.

»Mindestens«, raunte Gordan. »Okay, klar, die halbe Stadt weiß, dass wir was miteinander haben. Aber ist das so schlimm?«

»Nur, wenn Fotos auftauchen.«

»Tauchen oft Fotos auf?«

»Manchmal.« Robin schluckte. »Ich bin anscheinend zu blöd, um Erpresser zu erkennen. Aber die meisten geben sich damit zufrieden, dass sie meinen hübschen Körper benutzen durften. Manche tun sogar so, als wollten sie«, er zögerte, »mich. Aber eigentlich wollen sie nur mein Geld.«

»Ich kenne das«, brummte Gordan. Seine Finger hatten aufgehört zu kreisen.

»Du?« Robin zog den guten Duft tief in seine Nase. So gut. So köstlich wie der Geruch von frischgebackenem Brot. »Warst du mal reich?«

»Nie, aber ich war jung. Da gab es auch viele, die nur meinen Körper wollten. Hat mich meistens nicht gestört. Ich konnte mir echt lange einreden, dass ich nichts anderes will. Dass ich in Wahrheit nach Liebe suche, statt von einem Bett ins andere zu springen.«

Robin erstarrte. Was für einen Blödsinn laberte dieser Blödmann? »Was für einen Blödsinn laberst du, du Blödmann? Ich suche doch nicht nach Liebe. Ich will nur nicht, dass morgen Nacktfotos von uns in der Adelspostille auftauchen.«

»Rede dir das nur weiter ein.« An der Stimme erkannte er, dass Gordan ihn neckte. Ach so. Der hatte das gar nicht ernst gemeint.

»Ich hab wirklich Angst«, sagte Robin, obwohl er etwas anderes hatte sagen wollen. Plötzlich sprudelte es aus ihm heraus, als hätte man den Kronkorken von seiner Seele entfernt. »Ich hab so eine furchtbare Angst, weil ich mich nie zusammenreißen kann. Weil ich dauernd nur Scheiße bau. Es ist ja nicht nur der Sex. Es ist … alles. Ich bin zu leichtsinnig und zu übereifrig und zu schnell. Wie, als ich diese dämliche Idee hatte, herzukommen. Nur, weil ich dachte, ich könnte mich endlich beweisen. Ich … Ich versuche so sehr, mich zusammenzureißen. Wirklich. Manchmal schaffe ich es, einen Monat lang, einmal sogar zwei. Aber dann passiert wieder so etwas. Ich weiß einfach nicht mehr weiter. Ich … Ich wäre so gern … erwachsen. Wirklich erwachsen. Nicht … Ach, keine Ahnung. Aber ich bin vierundzwanzig, da könnte ich es doch langsam schaffen, oder? Wie macht man das?«

Gordan brummte irgendetwas. Dann räusperte er sich. »Erwachsenwerden ist das Überschätzteste, das es gibt. So, wie du bist, hast du bestimmt viel mehr Spaß.«

»Du meinst, es gibt keine Hoffnung?« Robin schauderte. »Meinst du, ich werde immer noch nackt auf Autobahnen aufwachen, wenn ich so alt bin wie du?«

»Mach ich ja auch«, sagte Gordan unbekümmert.

Robin wimmerte leise. »Bitte nicht. Bitte, lass mich nicht … Das wird Mutter ins Grab bringen.«

»Hey, du verkrampfst ja total.« Gordans Finger nahmen ihr Streicheln wieder auf. Ganz langsam arbeiteten sie sich Robins Wirbelsäule entlang nach unten. »Robin, du … du kommst mir vor wie ein Wildpferd, das in einer zu engen Box gehalten wird. Und ab und zu brichst du mal aus, und sie fangen dich sofort wieder ein. Du musst nicht … Ich meine, die Lösung ist doch nicht, dein Leben in so einem Gefängnis zu verbringen. Du musst dich nicht die ganze Zeit selbst bestrafen. Du musst wieder ausbrechen, und zwar endgültig. Du musst frei sein. So weit laufen, wie du kannst. Nicht, bis sie dich einfangen. Sondern, bis du müde wirst. Dann wirst du ruhiger.«

Was war denn das für ein fragwürdiger Vergleich? Robin ersparte sich eine Antwort und atmete tief ein. Er versuchte, die aufsteigende Lust zurückzudrängen, sie tief in sich einzusaugen. Alles auszulöschen, was Gordans nackter Körper in seinem auslöste. Er spürte drahtige Härchen an seinem Bauchnabel. Und Robins Körper schien Gordan auch nicht ganz unberührt zu lassen. Soweit er das mit seinem unteren Bauch ertasten konnte, war der schon halb steif.

»Nein.« Robin kniff die Augen zusammen und grub die Nase tief in Gordans Fleisch. »Ich bin kein Wildpferd. Ich bin kein … Tier. Ich will nicht …« Er verstummte. Panik stieg in ihm auf.

»Du willst nicht frei sein?«

»Ich kann mir nicht vorstellen, was dann passieren würde. Ich … Ich habe jetzt schon so viel Ärger am Hals. Jetzt, wo ich mich zurückhalte. Was würde passieren, wenn ich alle Zurückhaltung vergesse und einfach tue, was ich will?«

Gordan bewegte sich. Sanfte Lippen drückten sich auf Robins Scheitel. »Wahrscheinlich weniger, als du denkst. Ich glaube, das Problem ist, dass du dich zurückhältst. Der Druck wird größer, wenn man sich zurückhält.«

»Ach ja?« Robin fühlte sich wie ein Dampfkochtopf. Kurz vorm Platzen, weil er versuchte, einen kühlen Kopf zu bewahren, während er sich an einen nackten Traum schmiegte. Er wollte das nicht. Wenigstens jetzt, eine Stunde nachdem sie es in der Werkstatt getan hatten, musste er sich doch zusammenreißen können, oder? Der Druck konnte gar nicht so groß sein.

Aber er war es. Robins Finger krallten sich in Gordans Rücken, dieser köstliche Geruch umhüllte ihn, die Wärme drang in ihn ein und die aufgestaute Hitze im Raum kitzelte über seine bloße Haut. Er biss sich auf die Lippen, um nicht zu wimmern. Aber er musste den Unterleib gegen Gordans Schenkel drücken, musste sich an ihn pressen, als würden sie hier, auf dem frisch gewaschenen Laken ertrinken.

»Gordan, ich glaube, ich will … noch mal …« Er wollte nicht darüber reden. Er wollte es tun. Hastig packte er Gordans Schulter, legte den Kopf in den Nacken und sah auf. »Küssen«, keuchte er. »Jetzt.«

Gordan sah ihn verwundert an. »Sicher? Bist du …«

»Nein«, keuchte Robin. »Ich hasse mich. Aber ich will es. Ich kann nicht anders.« Er wusste auch nicht, wo die plötzliche Ehrlichkeit herkam. Verzweifelt versuchte er, an Gordans Lippen zu gelangen. Aber der wich vor ihm zurück. Klar, Robin verstand ihn. Mit jemandem, der so bedürftig war wie er, so erbärmlich, so … peinlich, wollte Gordan bestimmt nicht …

»Ich mach's dir gleich, wenn du willst.« Gordan erhob sich. Seine Pranken landeten rechts und links von Robins Gesicht. Wie ein besorgter Gorilla schaute er auf ihn herab. »Aber du … Mann, du musst dich nicht schämen. Du musst nicht verkrampfen. Hier sieht uns keiner, und ich würde doch keinem Reporter verraten, was wir gemacht haben. Selbst, wenn ich einen Reporter kennen würde. Also entspann dich.«

»Entspannen?«, stammelte Robin. »Was?«

»Entspann dich«, wiederholte Gordan. Sein Daumen strich über Robins Wangenknochen. »Ich blase dir jetzt einen und ich bringe es zu Ende, versprochen. Also entspann dich.«

Ein Beben ging durch Robins Körper.

14. Völliges Loslassen

 

Robins Stimme war süß wie Honig und rau wie zehn Kilometer Autobahn. Er schmeckte nach Salz und Ahornsirup. Das Aroma sorgte dafür, dass Gordans Speichel lief, als wäre er ein Hund, der sich über ein saftiges Steak hermachte. Kein Wunder, dass Robin ihn als Primaten bezeichnete. Wobei der gerade nichts dagegen zu haben schien, von einem Primaten geblasen zu werden. Seine Finger krallten sich in das Laken, zogen scharfe Falten in den Stoff und er hob Gordan die Hüften entgegen. Der entließ den glänzenden Pfahl einen Moment lang aus seinem Mund. Nur, um sein Werk zu bewundern. Die rote Spitze glitzerte im Licht der Nachttischlampe, die Adern traten prall hervor und ein Tropfen Speichel rann über die samtige Haut.

»Was machst du?«, keuchte Robin. Er sah Gordan nicht an, seine dicht bewimperten Augen waren fest geschlossen. »Weiter. Bitte.«

»Entspann dich.« Gordan sah ihn prüfend an. »Ich hab dir versprochen, dass ich es zu Ende bringe. Und das tue ich auch.«

»Ja. Zu Ende. Jetzt.« Die Worte gingen in ein heiseres Stöhnen über, als Gordan seine Pranke um Robins Schwanz schloss und ihn langsam wichste.

Heiß, dachte Gordan. Er hatte nicht einmal daran gedacht, Robin sein wahres Gesicht zu entlocken. Doch da war es: lustverzerrt, rot glänzend und wunderschön. Der Körper wand sich zitternd auf der Matratze. Aber wenn es vorbei war, würde Robin sich wieder elend fühlen. Wieder ein schlechtes Gewissen haben, warum auch immer. Wegen seiner Familie. Weil es schon so oft schief gegangen war, anscheinend. Gordan hatte keinen Zweifel daran, dass Robin in der Hinsicht ein Pechvogel war. Er hatte es heute Nachmittag schließlich live miterlebt. Also was konnte er tun? Wie konnte er Robin danach ablenken, damit der seine Gewissensbisse vergaß?

Zeit für ein Experiment.

»Du auch.« Gordan drehte sich, bis sein vor Geilheit kribbelnder Unterleib direkt über Robins Nase hing. Er konnte ihn nicht sehen, aber er spürte das Keuchen auf seinen Eiern. Dann verschlang Robin ihn. Es fühlte sich an, wie in einen Traum zu tauchen. Die nasse, hektisch leckende Zunge. Die fahrigen Bewegungen, die Finger, die sich in Gordans nackte Hüfte krallten. Robin war viel zu nah am Höhepunkt, um es richtig gut zu machen, aber … es war gut. Großartig, gerade, weil es nicht perfekt war. Das fieberhafte Saugen, die gestöhnten Laute, die durch Gordans Pfahl vibrierten. Trotz seines angeblich so hohen Alters musste er sich zusammenreißen, um dem Goldjungen nicht direkt in die Fresse zu spritzen. Eilig nahm Gordan sein eigenes Lecken wieder auf. Und spürte sofort ein tiefes Stöhnen um seinen Schwanz herum. Gemurmelte Worte, bebende Hüften, die auf mühsam unterdrücktes Bocken hinwiesen.

Immerhin schaffte er es, sich zurückzuhalten. Und er schmeckte so gut.

Wie salziger Honig floss Robins Vorsaft über seine Geschmacksknospen. Dessen Pfahl weitete Gordans Lippen und ohne Vorwarnung verkrampfte sich der Körper unter ihm und hob halb vom Laken ab. Der Geschmack auf seiner Zunge wurde bitter und sämig. Gut. Gordan behielt ihn im Mund, bis Robins Leib erschlaffte und zitternd auf die Matratze zurücksank. Er gönnte ihm ein paar Augenblicke, um zu verschnaufen. Am liebsten hätte er in Robins Mund gestoßen wie ein Wilder. Mit weit gespreizten Beinen bemühte er sich, in diesem nassen Traum zu bleiben, aus dem warme Atemwolken aufstiegen. Vorsichtig entließ er Robin aus seinen Lippen, stützte sich auf die Hände und sah hinter sich. Er erblickte seinen eigenen Hintern und einen Schopf blonder Haare, mehr nicht, was schade war. Er hätte gern Robins Gesicht gesehen.

»Du Lügner.« Gordan grinste. »Was war das denn für eine Mini-Ladung? Du hast es dir doch in der Dusche gemacht. Richtig?«

Schweigen. Und dann saugte Robin ihn so tief in seinen Mund, dass Gordan brüllte. Verdammt, ja. Der wusste wirklich, was er tat. Zu der eifrigen, rauen Zunge gesellten sich geschickte Hände, die Gordans Bälle durchkneteten. Lustschauer rasten durch seinen Unterleib. Die Hitze wurde unerträglich. Nicht nur die im Zimmer, das nach zwei schwitzenden Männern roch. Auch die in seinem Inneren.

Nun, da er nicht mehr abgelenkt war, legte Robin richtig los. Flimmern tanzte vor Gordans Augen, während die Lust sich in ihm staute, zusammenballte, wie die Wassermassen hinter einem Staudamm.

»Ja«, stöhnte er »Gut.«

Er hörte ein Murmeln, das wie »Das weiß ich« klang, aber er war nicht sicher. Das Blut rauschte zu stark durch seine Adern, zu laut in seinen Ohren. Nun gruben sich seine Finger ins Laken, die Knie pressten sich in die Matratze, die Zehen verkrampften sich und dann brach der Damm. Er brüllte wie ein Tier. Die Flut raste durch seinen Körper, strömte in Robins Mund. Es war fantastisch. Fabelhaft. Unbeschreiblich. Als das Tosen leiser wurde, lag er schwer auf Robins Körper. Er hörte gedämpftes Protestieren. Sein Schwanz rutschte aus der heißen Höhle und Robin schnappte nach Luft.

»Willst du mich zerquetschen, du Primat? Du … Ich meine: lieber Gordan?«

»Sorry.« Gordan hob den Unterleib und streckte sich wie ein vollgefressener Kater. Sein Schwanz strich durch Robins Gesicht. Zwischen seinen Armen hindurch sah Gordan die nasse Spur, die er dort hinterließ. Zufrieden grinste er.

»Nicht schlecht, mein Adelsspross. Überhaupt nicht schlecht.«

»Ich hab halt viel Übung.« Robin starrte an die Decke. Mist. Gordan musste ihn ablenken, und zwar sofort. Er drehte sich um, warf sich auf Robin und verschloss seinen Mund mit einem nassen, salzigen Kuss. Robin reagierte sofort. Er schlang Arme und Beine um Gordan und schmiegte sich an ihn, als wollte er keinen Millimeter Luft zwischen ihnen dulden. Es war ein schöner Kuss. Geil und wild und … ein bisschen wie früher. Ganz anders, aber ein wenig wie mit Tilmann, wie am Anfang, als …

Gordan verdrängte den Gedanken. Es war nicht fair. Robin gegenüber und außerdem wollte er diesen Moment nicht mit der Erinnerung an Tilmann füllen. Das hier war etwas ganz Neues. Aufregend wie seine erste Achterbahnfahrt, dabei hatte er doch schon so oft … Doch Robin benahm sich genauso. Küssend rollten sie über die Matratze, bis die Wand sie bremste. Die kühle Tapete drückte gegen Gordans verschwitzte Schulter. Robin lag halb auf ihm. Er hob den Kopf und lächelte. Es schien, als wollte er etwas sagen, doch dann biss er sich nur auf die wund geküssten Lippen und vergrub den Kopf in Gordans Halsbeuge. Gordans Finger wanderten den glatten Rücken entlang, zeichneten jeden Wirbel nach und fuhren träge durch die Grübchen über dem Hintern. Er seufzte. Dann griff er nach dem Hauptgewinn. Die Backen waren fest unter seinen gierigen Pranken. Perfekt, aber nicht langweilig. Nichts an Robin war mehr langweilig. Seine Linke näherte sich der feuchten Spalte, als er etwas spürte. Etwas verkrampfte sich. Robins harter Bauch wurde noch härter. Er zögerte.

»Warum machst du nicht weiter?«, fragte Robin.

Gordan zögerte. »Nicht wichtig«, flüsterte er und nahm die Hände ganz von Robins Arsch. Er wollte jetzt nicht reden. Er wollte küssen. Und das tat er, so ausgiebig, als wären sie frisch verliebt und als wäre das hier nicht nur ein hastiges Techtelmechtel zwischen zwei Männern, die überhaupt nicht zusammenpassten. Er küsste Robin, bis der wieder hart war, bis er selbst es zumindest wieder auf einen halben Ständer brachte, und es erneut Zeit zum Saugen war. Vorsichtig, weil sie beide schon ziemlich empfindlich waren. Aber sie wollten nicht aufhören. Sie konnten nicht.

Robin redete nicht mehr von seiner Familie oder irgendwelchen Journalisten. Als er wieder gekommen war, schlummerte er wohlig grinsend weg, die Stirn an Gordans gelehnt, die Arme um ihn geschlungen.

15. Friedliches Erwachen

 

Gordan schnarchte nicht. Eigentlich hatte Robin erwartet, dass der ihm die ganze Nacht über etwas vorsägen würde. Tat er aber nicht. Er blies seinen warmen Atem fast lautlos in Robins Nacken, während er ihn im Arm hielt. Noch etwas, mit dem Robin nicht gerechnet hätte. Er hatte gedacht, der Kerl würde sich irgendwann von ihm herunterwälzen, sich auf den Rücken drehen und schlafen. Und schnarchen.

Stattdessen hielt Gordan ihn im Arm, seit Stunden schon. Einmal hatte er sich herumgewälzt, aber er hatte mit einem verschlafenen Brummeln Robins Hand gepackt und auf seinen Bauch gelegt, so dass Robin sich nun an ihn gekuschelt hatte.

Seltsam, dachte Robin. Es ist fast wie … Ja, doch. So muss es sich anfühlen, wenn man frisch verliebt ist.

Es war anders gewesen. Der Sex und … alles drumherum. Robin starrte an die Wand, deren Muster sich langsam aus dem Dämmerlicht schälte. Gordan hatte ihn nicht gefickt, er hatte ihn geliebt. Na ja, was hatte er erwartet? Von einem, der sieben Jahre lang in einer Beziehung gewesen war? Vielleicht konnte er nur so Sex haben. So liebevoll. So zärtlich. So ganz und gar, ohne darauf zu achten, wie man dabei aussah. Sich selbst vergessend.

Das hat nichts mit mir zu tun, sagte Robin sich. Und spürte Gordans warmen Leib an seinem. Er fühlte sich so geborgen wie … wie noch nie, wenn er ehrlich war. Aber es hatte nichts mit ihm zu tun. Das war wohl einfach die Art, wie dieser Kerl Sex hatte. Liebe machte. Ja, es war liebevoll gewesen. Wunderschön. Jetzt verstand Robin besser, wie dieser unhöfliche Primat einen Mann wie Tilmann hatte halten können. Wobei dieser Tilmann eigentlich nichts Besonderes war. Klar, ein hübsches Gesicht hatte der, und einen muskulösen Körper und er hatte selbstsicher gewirkt, männlich und erwachsen. Viel erwachsener als Robin. Aber einen miesen Charakter hatte er trotzdem. Wer kam denn gleich bei seinem Ex vorbei, sobald er hörte, dass der einen Neuen hatte? Was hatte Tilmann damit bezweckt? Ob er Gordan jetzt zurück wollte? Ob Gordan ihn …

Was für eine Frage, dachte Robin. Natürlich wollte Gordan ihn zurück. Wie der von Tilmann geschwärmt hatte, obwohl der Mistkerl ihn verlassen hatte!

Ein Brummen hinter ihm ließ sein Herz abstürzen. Gordan wachte auf, und die Nacht war vorbei und …

»Süßer.« Gordan klang wie ein verliebter Bär. Sein Atem kitzelte Robins nackte Haut und zuckrige Schauer liefen durch seine Magengegend. »Bist du wach?«

»Erst Kleiner und dann Süßer?« Robin spürte, wie seine Ohren heiß wurden. »Es wird nicht besser, du Primat.«

Die gemütliche Wärme verschwand. Gordan rückte von ihm ab, und richtete sich auf. Robin drehte sich um und sah in ein verwundertes Gesicht.

Gordan kratzte sich im Nacken. »Robin?« Ein verschlafenes Blinzeln.

Oh. Das Kribbeln verschwand und bleierne Leere machte sich in ihm breit. Natürlich hatte Gordan nicht ihn gemeint. Bestimmt hatte er im ersten Moment geglaubt, neben … neben Tilmann aufzuwachen. So wie früher.

»Ja, ich.« Robin rang sich ein spöttisches Grinsen ab. »Du hast mich mit deinem Ex verwechselt, richtig?«

Gordan zögerte. »Ich … Ja. Sorry.«

»Keine Angst, ich bin nicht beleidigt. Ist besser, wenn du dich nicht noch mehr in mich verliebst.« Er schnaubte. »Ich will dir nicht das Herz brechen, wenn ich gehe.«

Gordan lachte und es tat weh. »Nett, dass du an meine Gefühle denkst. Wann gibt’s hier Frühstück?«

»Ab sieben Uhr dreißig. Falls du auf Rührei mit Speck stehst, ist heute dein Glückstag. Ich lade dich ein.«

Gordan warf einen Blick auf die Wanduhr. Sie hatten noch zwanzig Minuten Zeit. Er kratzte sich gemächlich am Bauch und schaute Robin an. »Sieht aus, als könnte ich noch mal duschen. Es sei denn, du hast Lust auf eine neue Runde mit einem verschwitzten …« Er konnte den Satz nicht zu Ende bringen, denn Robin warf sich auf ihn.

 

***

 

Um 8:47 Uhr stolperten sie in den Frühstücksraum. Geduscht, zerzaust und glücklich. Im Frühstücksraum, wo dunkle Möbel und dicke Teppiche gutbürgerlichen Charme versprühten, saßen nur drei weitere Gäste. Das Büfett war trotzdem halb geplündert. Das Rührei war beinahe leer. Kein Wunder, zwischen den beiden Männern, die sich gegenüber saßen, türmte sich ein wahrer Berg aus weiß-orangefarbener Masse auf. Der dritte Gast war eine Frau. Eine Frau, die Robin kannte.

»Gordan.« Erica schaute wie eine strenge Lehrerin. »Da bist du ja.«

Gordan zuckte zusammen. Einen Moment lang schaute er wie ein schuldbewusster Junge. Dann breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus. Er öffnete die Arme und stürmte auf seine Schwester zu.

»Was machst du denn hier?« Sie hatte sich kaum erhoben, da umarmte er sie und wirbelte sie herum. Warum war er jetzt so verdammt fröhlich? Erica war nicht fröhlich. Sie ließ die Umarmung über sich ergehen und machte sich dann los.

»Ich habe gehört, dass du doch zur Vernunft gekommen bist.« Sie nickte Robin zu. »Guten Morgen, Herr von Romberg-Krieger.« Ein leises Räuspern. »Lisbeth meinte, ich würde meinen Bruder hier finden, wenn er nicht in der Werkstatt ist. Anscheinend seid ihr ihr neues Lieblingspärchen. Zumindest behauptet sie das.«

Ein etwas peinliches Schweigen entstand. Selbst die beiden Männer hielten in ihrem Rührei-Vernichtungsakt inne.

»Ach, was Lisbeth so erzählt.« Gordan rieb sich den Nacken. »Warum bist du nicht hochgekommen?«

»Die Luise«, Erica zeigte in Richtung der Rezeption, »meinte, das wäre eine ganz blöde Idee. Ich würde euch nur stören.«

Eiswasser floss in Robins Magen. Hatte diese Luise sie gehört oder gingen nur alle davon aus, dass Gordan und er eine heiße Affäre hatten? Na ja, inzwischen hätten sie damit recht gehabt. Eine Pranke legte sich auf seinen unteren Rücken. Ihre Wärme drang durch den Stoff seines Hemdes und er merkte, dass er den Atem angehalten hatte. Gordans Blick war eindeutig besorgt.

»Ach, die Luise denkt sich immer irgendeinen Scheiß zusammen«, sagte Gordan. »Wollen wir frühstücken?«

Ericas Blick wanderte über ihre zerzausten Haare, die wunden Lippen und Gordans zerknitterte Klamotten. Aber sie sagte nichts. Eine Augenbraue minimal hebend nickte sie.

»Ich habe bereits angefangen. Ich hoffe, ihr habt nichts dagegen.« Sie sah nicht ihren Bruder, sondern Robin an.

»Aber nein.« Robin lächelte. »Soll ich Sie beide allein lassen? Sie scheinen etwas zu besprechen zu haben.«

»Nein, das haben wir nicht. Ich wollte nur sehen, ob mein Bruder wirklich auf Ihr Angebot eingegangen ist. Ich habe nicht zu hoffen gewagt …« Sie runzelte die Stirn »Du bist darauf eingegangen, oder, Gordan? Ihr seid nicht nur …« Den Rest ließ sie unausgesprochen, aber es war klar, was sie meinte.

»Wir arbeiten zusammen.« Gordan lächelte beruhigend. »Noch haben wir es nicht geschafft, aber wir sind gerade auf einem guten Weg. Und Herr von Romberg-Krieger ist wirklich eine große Hilfe.«

Stolz weitete Robins Brust. Er wurde so selten gelobt, na, außer für sein Aussehen, dass er sich fühlte, als würde er zum ersten Mal Schokolade probieren.

»Vielen Dank. Das ist zu freundlich, Herr Klingenschmied.«

»Bitte, bitte.«

Er überhörte den Spott in Gordans Stimme. Nicht diesen schönen Moment versauen. »Du bist auch nicht schlecht, Gordan.«

Robin betrachtete die spärliche Essensauswahl. Gut, diese Unterkunft war nicht das Hilton. Aber schließlich kam es auf die Gesellschaft an, in der man sich befand. Und die war gut. Eigentlich erstaunlich, wenn man das letzte Abendessen mit den Geschwistern bedachte.

Ja, die beiden waren plötzlich ein Herz und eine Seele. Als hätten sie sich nie angeschrien, als hätte es nie Vorwürfe gegeben. Einträchtig unterhielten sie Robin mit Geschichten aus ihrer Kindheit. Wie ihre Eltern beschlossen hatten, Hühner zu züchten, wie sein Vater eine Live Performance vor dem Rathaus gegeben hatte, verkleidet als nackter Napoleon und wie ihre Mutter damals in der Schule den Sexualkundeunterricht übernommen hatte.

»Wie bitte?« Robin hielt im Buttern seines Brötchens inne. »Was hat sie getan?«

»Sie meinte, dass wir mit diesen veralteten Materialien nur eine verkopfte, lustfeindliche Sexualität beigebracht bekommen.« Ericas Miene nahm eine saure Note an.

»Keine Ahnung, wie sie die Schule überredet hat. Aber sie hat Dad überredet, ein Diagramm der Vulva samt Lustpunkten zu zeichnen, und hat das als Lehrmaterial genommen.« Gordan lachte.

Erica lachte nicht. »Das war der peinlichste Moment meines Lebens.« Zwischen ihren Augenbrauen entstand eine tiefe Furche. Ihre Mundwinkel hingen bis zu den Schultern. »Wie sie das Lied von unserer Freundin, der Klitoris, gesungen hat. Ich bin fast gestorben.«

»Bist du aber nicht.« Gordan klopfte ihr auf die Schulter. »Was dich nicht umbringt, macht dich härter.«

Sie wischte seine Hand von ihrer Schulter. »Was mich nicht umbringt, sorgt dafür, dass ich das ganze restliche Schuljahr ausgelacht worden bin.«

»Ach, aber Johannes-Jürgen hat dich doch gefragt, ob du mit ihm ins Kino willst. Direkt danach. Der war wohl beeindruckt.«

»Ja. Toll. Und da hat er gleich versucht, den Wahrheitsgehalt des verdammten Klitorisliedchens zu überprüfen.« Verstimmt nippte sie an ihrem Tee. »Bin ich froh, dass die beiden nicht mehr hier sind. Ich will gar nicht wissen, was Luke und Lucy ertragen müssten, wenn ihre bescheuerten Großeltern noch in Lummerdingen wären.«

»Sie sind nicht mehr hier?« Robin sah zwischen beiden hin und her.

»Ne, die wollten immer weiter ziehen.« Gordan sah in seine Kaffeetasse. Sie war leer. »Wundert mich, dass sie es so lange hier ausgehalten haben. Die hassen die Provinz, na, behaupten sie zumindest. Inzwischen wohnen sie auf einem Bauernhof in Brandenburg. So schlimm kann's also auch nicht gewesen sein.«

»In Brandenburg? Warum?«

»Wieder so ein idiotisches Kunstprojekt.« Erica erstach ein Brötchen und schnitt es auf. »Ein Mehrgenerationen-Kunstprojekt, in dem sie irgendeinen Scheiß machen, den kein Mensch braucht.«

Robin fragte sich, ob sie Gordan mit diesen Worten verletzte. Aber der stand auf und ging zum Büfett rüber. Scheinbar unverletzt nahm er die Thermoskanne und füllte seine Tasse auf.

»Dann sind Sie wohl die Rebellin der Familie.« Robin sah Erica an. »Die Einzige, die keine Künstlerlaufbahn eingeschlagen hat.«

»Mama und Papa werfen mir immer noch vor, dass ich keine professionelle Querflötistin geworden bin.« Ein Lächeln zuckte in ihrem Mundwinkel. Sie warf einen Blick auf ihren Bruder, der sich gerade einen neuen Teller belud. »Herr von Romberg-Krieger …«

»Ja?«

»Welche Absichten verfolgen Sie bezüglich meines Bruders?« Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Ist es Ihnen ernst?«

Das Brötchen fiel aus Robins Hand und plumpste auf seinen Teller. »Bitte? Ich meine …« Natürlich ist es mir ernst, hätte er beinahe gesagt. Aber das war Blödsinn. Absoluter Blödsinn. »Ich glaube, Sie müssen sich keine Sorgen um Gordan machen. Der ist ein erwachsener Mann und überhaupt, warum machen sich alle Sorgen um ihn? Warum zur Hölle denkt jeder in dieser Stadt, dass ich sein Herz brechen will?«

Ihr Blick war kühl. »Sie sehen doch, was dieser Scheißkerl, ich meine: sein reizender Exfreund, ihm angetan hat. Wie es ihn aus der Bahn geworfen hat, dass dieser … dass Tilmann sich etwas Neues gesucht hat.« Sie räusperte sich. Beherrscht führte sie ihre Teetasse zum Mund und nahm einen winzigen Schluck.

Robin starrte sie an. »Sie mögen Tilmann nicht?«

»Das geht Sie nichts an.« Ihr strenger Lehrerinnenblick traf ihn mit voller Wucht. »Herr von Romberg-Krieger …«

»Robin.«

»Robin. Ich hoffe, Ihnen ist klar, dass Sie es mit einem gebrochenen Mann zu tun haben. Keiner der Träume meines Bruders hat sich erfüllt und er befindet sich in einer schweren Krise, die ihn sehr verletzlich macht.«

Robin sah zu Gordan hinüber, der Wurstscheiben auf seinem Teller stapelte und dabei wirkte wie ein fröhlicher Bär. Seine Rückenmuskeln spannten das Shirt, als er sich über die Butterschale beugte.

»So verletzlich wirkt er gar nicht.« Außerdem bin ich auch sehr verletzlich, wollte er sagen. Tat er aber nicht.

»Natürlich nicht.« Sie verdrehte die Augen. »Er ist ja ein echter Kerl.« Als sie Kerl sagte, krümmte sie beide Zeige- und Mittelfinger und verstärkte das Augenrollen.

»Wollen Sie damit sagen, dass der Mann, der immer von Ehrlichkeit und Echtheit faselt, genauso ein Lügner ist wie wir anderen?« Als er ihren Gesichtsausdruck sah, verbesserte er sich schnell. »Also, mit wir anderen meine ich natürlich nicht Sie.«

Unerwartet lächelte sie. »Warum nicht? Ich bin … Hallo Gordan! Hast du etwas Schönes gefunden?«

Misstrauisch sah Gordan sie an. »Hast du über mich geredet? Was hast du erzählt?«

»Das Übliche.« Robin seufzte. »Dass du sehr sensibel bist und dass ich dir auf keinen Fall das Herz brechen soll. Warum sorgt sich eigentlich niemand um mein Herz?«

Gordan küsste ihn. Nur flüchtig, und er schmeckte nach Frühstücksspeck und Salz. Und doch … Etwas flatterte in Robins Brust.

»Ich kann mich um dich sorgen, wenn du willst.« Gordan tätschelte ihm die Schulter. »Armer, armer, kleiner Robin …«

Robin wischte die Hand von seiner Schulter und schnaubte. »Nein danke. Im Gegensatz zu dir brauche ich nicht eine ganze Stadt als Babysitter.«

»Haben das wirklich so viele gesagt?« Gordan setzte sich neben ihn. Er wirkte beinahe verunsichert. »Echt jetzt?«

»Es ist doch offensichtlich, dass es dir nicht gut geht, Gordan.« Erica schüttelte den Kopf. »So, wie du dich in den letzten zwei Jahren aufgeführt hast.«

Gordan blickte auf seinen Teller. Er schwieg. Nun hätte Robin ihm gern die Schulter getätschelt, aber er traute sich nicht. Das Schweigen dauerte unangenehm lange.

»Aber ich bin froh, dass es dir besser geht.« Wärme färbte Ericas Stimme. »Ich habe dich lange nicht mehr lächeln gesehen.«

Das Schweigen kehrte zurück. Die Geschwister schienen nicht daran gewöhnt zu sein, über ihre Gefühle zu reden. Zumindest, wenn noch jemand dabei war. Robin fühlte sich unwohl, aber auch ein wenig stolz. Es ging Gordan besser, seit er hier war, richtig? Das würde ja fast heißen, dass er einmal im Leben etwas gut gemacht hätte. Nicht, dass »Gordan zum Lächeln gebracht« seinen Vater besonders beeindruckt hätte. Der hatte sich immer noch nicht gemeldet. Robin hatte ihn heute Morgen angerufen, als Gordan im Bad gewesen war. Aber wie so oft hatte er nur die Mailbox erwischt.

»Erica.« Gordan sah seine Schwester an und strahlte so viel Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit aus, dass Robin ganz warm wurde. »Robin und ich kriegen das hin. Ich werde neue Plastiken töpfern und scheißviel Geld verdienen. Und dann kann ich mir nicht nur wieder eine Wohnung leisten und vielleicht sogar was zu essen. Ich kann dir mit dem Haus helfen.«

Ihre Wangen verloren an Farbe. »Mit dem Haus? Warum?«

»Der Schulte von der Bank meinte …« Gordan zögerte. »Also, es geht das Gerücht um, dass Georg die Gehaltserhöhung nicht bekommen hat und dass ihr Probleme habt, weil die Heizung letzten Winter ausgetauscht werden musste …«

Erica knurrte. »Kann in dieser beschissenen Kleinstadt nichts geheim bleiben? Ich meine, ist das zu viel verlangt? Kann man seine schmutzige Wäsche einmal nicht in der Öffentlichkeit waschen?«

»Anscheinend nicht.« Robin drapierte eine Wurstscheibe auf seiner Brötchenhälfte. »Sonst wüsste nicht die ganze Stadt, dass Ihr Bruder mir die Kehrseite blau prügelt.« Bei »wüsste« krümmte er Zeige- und Mittelfinger, so wie sie eben.

Sie sah weg. »Oh, das.« Sie hüstelte. »Ich hab’s wirklich nur einem Menschen erzählt, und der …«

»Hat es absolut jedem erzählt.« Robin sah sie böse an. »Vielen Dank.«

Gordan kicherte. Robin hätte ihm am liebsten eine verpasst.

»Es tut mir leid«, sagte Erica. »Ich fürchte, ich kann gutem Klatsch genauso wenig widerstehen wie der Rest von Lummerdingen. Eine furchtbare Angewohnheit, ich weiß.«

»Eine furchtbare Kleinstadt«, murmelte Robin. Er zögerte, dann sah er auf und schüttelte den Kopf. »Aber irgendwie gefällt es mir hier.«

»Wirklich?« Gordan blickte ihn verwundert an. Seine Schwester schien genauso erstaunt.

»Ja, schon.« Mist, hoffentlich dachte Gordan jetzt nicht, dass es an ihm lag, dass er diese Kleinstadt … Also, es lag nicht an ihm. Nur weil sie heute Nacht ein wenig Spaß gehabt hatten. »Ihr seid viel zu neugierig und viel zu laut. Aber im Vergleich zu daheim ist es … erfrischend.« Nachdenklich betrachtete er sein Wurstbrötchen. »In meiner Familie wird wenig offen ausgesprochen, um es diplomatisch auszudrücken. Bei meinen Freunden auch nicht. Und ich mache niemandem eine Freude damit, nackt auf der Autobahn aufzuwachen. Ihr hättet diesen Horst hören müssen. Der ist fast übergeschnappt vor Glück.«

»Ja, das kann ich mir vorstellen.« Gordan schüttelte den Kopf. »Du hast allen eine große Freude gemacht. Gerade Horst, der hat ja sonst nicht viel. Der kann seinen Job nicht leiden und seine Frau ist weg und …«

»Seine Tochter hat jetzt auch einen Hass auf ihn«, ergänzte Erica, als wären sie Zwillinge. »Na, zumindest heißt es, die wäre stinksauer. Weil er ihr den Abiball versaut hat.«

»Was? Wie hat er denn …« Bevor er endlich Munition gegen diesen Augenbrauenhorst bekam, wurde Robin unterbrochen. Eine wohlklingende Stimme ertönte hinter ihm. Er kannte diese Stimme doch irgendwoher … Ach Mist.

»Tilmann.« Gordans Stimme war nicht wohlklingend, sondern so rau, als hätte man sie über die Landstraße geschleift.

»Ach, ihr seid auch hier?« Dieser blöde vegane Surfer löste sich vom Arm des halbglatzköpfigen Kerls, an dem er gerade noch lachend gehangen hatte. »Na, so ein Zufall.«

»Ja, ja. Zufall«, murmelte Erica und Robin schloss sie ins Herz. Tilmann und der Glatzenkerl standen im altmodischen Frühstücksraum, als wären sie aus der Zeit gefallen. Sie wirkten wie Fremdkörper zwischen den Kuckucksuhren und Ölgemälden. Tilmann trug ein halb durchsichtiges Achselshirt, eine weite Hose und Flipflops. Er hatte perfekte Zehen. Natürlich.

Halbglatze war weniger perfekt, aber reich. Die Art reich, auf die Robins Familie herabsah. Die offensichtlich reiche Art. Der gesamte Baukasten war vorhanden: die protzige Rolex, die glänzende Cavalli-Krawatte, die hochglanzpolierten italienischen Schuhe und das durch den gesamten Raum wabernde Eau de Toilette für 500 Euro pro Flakon. Und die weiß gebleichten Zähne. Keine Falte bewegte sich auf der Stirn des Halbglatzenkerls. Botox? In seinem Alter? Er musste in etwa so alt wie Gordan und Tilmann sein, wirkte aber jetzt schon wie 50, mit seinem runden Kopf und den glänzenden Wangen.

»Klingenschmied! Also so ein Zufall!«, dröhnte der Halbglatzenkerl. »Kannst du dir das Frühstück hier überhaupt leisten? Oder zahlt dein Toyboy für dich?«

»Louis.« Gordans Stimme war so warm wie ein Gletscher im Winter. »Schön, dich zu sehen. Da gibt’s auch so viel zu sehen, seit Tilmann für dich kocht.«

»Klar, jetzt kann er sich auch richtige Zutaten leisten.« Halbglatze Louis kicherte. »Was hast du ihm geboten? Rattenfleisch?«

»Schatz.« Tilmann legte einen Arm um Louis. »Bitte nicht streiten. Wir sind doch alle Freunde.«

»Stimmt, das hätte ich fast vergessen.« Gordan war eine Spur bleicher geworden, als Tilmann Louis umarmt hatte. »Louis, mein Freund, setz dich doch zu uns.« Er klopfte auf den leeren Stuhl neben ihm. Doch statt Louis ließ Tilmann sich dort nieder.

»Schön, dich zu sehen, Gordan. Du siehst glücklich aus.« Zähne blitzten. Mist, der war richtig hübsch.

Robin lehnte sich betont entspannt zurück und hob seine Kaffeetasse. »Natürlich ist er glücklich. Er hat ja mich.«

»Stimmt, das neue Traumpaar von Lummerdingen.« Louis betrachtete Robin neugierig. »Hab schon gehört, dass du einen neuen Fisch an Land gezogen hast, Gordan. Oder eine Kaulquappe.« Er lachte dröhnend.

Robin hätte ihm am liebsten eine gescheuert. Stattdessen lächelte er so herablassend, als säße er auf einem der edlen Vollblüter, die seine Schwester züchtete. »Witzig, dein Neuer.« Er nickte Tilmann zu. »Tröstet dich bestimmt über sein Aussehen hinweg.«

Tilmanns Lächeln gefror. Ein Muskel in Louis' Gesicht zuckte. Erica sah in ihre Teetasse.

»Schatz.« Gordan legte eine Hand auf Robins und drückte zu. »Bitte bleib höflich.« Er zwinkerte. Wärme breitete sich in Robins Körper aus.

»Entschuldige.« Robin setzte seine Kaffeetasse ab. »Und bitte entschuldige, Louis. Ich werde schnell übermütig, wenn ich frisch verliebt bin. All die Hormone und so.«

»Ach, das kann ich vertragen.« Louis sah sich um. »Mann, ist das eine Absteige. Kannst du dir nichts Besseres leisten, Toyboy?«

»Ich habe nicht damit gerechnet, mehr als eine Nacht hier zu verbringen.«

»Ach, so frisch ist das mit euch beiden?« Tilmann wirkte hochinteressiert. »Erst, seit du in der Stadt bist?«

»Liebe auf den ersten Blick«, sagte Robin hastig. »Nicht wahr, Gordan? Schatz?«

»Hm? Was?« Gordan schreckte hoch. Der Blödmann hatte Tilmann angestarrt. Tilmann, der viel zu nah neben ihm saß, dafür, dass Gordan angeblich ein vergebener Mann war. »Was hast du gesagt?«

»Nicht so wichtig.« Robin packte sein Wurstbrot und biss hinein, als wäre es Gordans Kopf. Musste der Blödmann seinen Ex so anschmachten? Der hatte schließlich einen Neuen, der mit am Tisch saß. Ihn.

Kauend sah er zu Louis hinüber. Es war, als würde er in ein Spiegelbild schauen. Also nicht, weil Louis so perfekt und nichtssagend aussah wie er. Er wirkte wie sein Spiegelbild, weil sein Gesicht vor Eifersucht so verkniffen war, als hätte man es verknotet.

Ich bin nicht eifersüchtig, versuchte Robin, sich selbst anzulügen. Es hätte funktioniert, wenn Tilmann sich nicht noch näher an Gordan gelehnt hätte. Wenn nicht dieses Haifischlächeln über seine Surfermiene geglitten wäre.

»Ich muss mal wieder in der Werkstatt vorbeikommen.« Er nahm Gordans Kaffeetasse und trank daraus, als wäre es seine. Unbewusste Geste? Immerhin hatten sie jahrelang zusammengewohnt. Oder war das eine Provokation? Waren Robins Beine lang genug, um Tilmann unter dem Tisch hinweg zu treten? »Ich will sehen, was ihr macht. Also, was ihr zusammen töpfert. Was ihr sonst macht, habe ich ja schon mitbekommen.«

Und ausgeplaudert. Robin tat so, als würde ihn nichts mehr interessieren als das Wurstbrötchen in seinen Händen. Er kam sich blöd vor. Sie hatten eine Affäre. Seit nicht einmal vierundzwanzig Stunden. Warum benahm er sich wie ein Trottel?

Blöde Frage du Trottel, dachte er. Weil du dich immer wie ein Trottel verhältst.

»Ach, wir haben eigentlich noch nicht richtig angefangen.« Tilmanns plötzliche Nähe schien Gordan zu verwirren. »Nächste Woche vielleicht. Dann müsste man schon was sehen können.«

»Na gut.« Tilmann lächelte und erhob sich. »Dann nächste Woche. It’s a date.«

»Ist es nicht«, murmelte Robin. Hoffentlich nicht. Er hätte sich freuen sollen, dass seine falsche Beziehung Gordan und seinen Ex wieder näher zusammenbrachte. Aber er freute sich überhaupt nicht. Und das, obwohl einmal ein Plan von ihm funktionierte.

»Du bringst mir was mit, ja?« Louis lehnte sich in seinem Stuhl zurück und gab den Alpha-Gorilla.

»Muss ich?« Tilmann verzog den Mund. »Hab keine Lust, so viel auf einmal zu tragen.«

»Schließlich zahle ich für alles, Baby.« Geweißte Zähne blitzten.

Verdrossen schlappte Tilmann zum Büfett. Mit widerwilligen Bewegungen kratzte er Butter aus der Schale und türmte Brötchen auf zwei Teller. Sogar sein Rücken war hübsch. Das dachte bestimmt auch Gordan, der ihn ansah, als wäre er eine Erscheinung oder so ähnlich.

Blödmann.

»Ich muss los«, sagte Erica und erhob sich. Sie schulterte ihre helle Ledertasche. »Eigentlich sollte ich längst im Labor sein. Mach’s gut, Gordan. Und bleib vernünftig.«

»Bin ich doch immer.« Gordan prostete ihr mit der Kaffeetasse zu. Immerhin starrte er seinem Ex nicht mehr nach.

»Einen Scheiß bist … Darauf verlasse ich mich.« Sie nickte hoheitsvoll und schenkte Robin ein warmes Lächeln. »Pass gut auf ihn auf, ja, Robin?«

»Verlass dich auf mich, Erica.« Es fühlte sich gut an, diese Worte zu sagen. Am liebsten hätte er Tilmann, der gerade am Büfett mit dem Lachs kämpfte, »Ich passe gut auf ihn auf, weil er mein Freund ist!« zugerufen. Doch er beherrschte sich.

»Wundervoll. Louis, mach’s gut.« Tilmann bekam keine Verabschiedung. Erica wurde Robin immer sympathischer. Wie eine gestresste Königin stolzierte sie aus dem Frühstückssaal. Ihre Schritte verhallten im Flur.

»Sie hält sich gut.« Louis schüttelte langsam den Kopf. »Die arme Sau.«

Gordans ganzer Körper versteifte sich. »Du redest über meine Schwester, du Protzbacke.«

Louis wirkte äußerst zufrieden, dass seine Provokation funktioniert hatte. »Die arme Sau«, wiederholte er. »Und damit meine ich natürlich ihren Mann, wenn sie das mit ihm und der Blattschneider herausfindet.«

»Die Blattschneider?« Gordan schaute, als hätte Louis sie nicht mehr alle. »Die Tochter vom alten Blattschneider? Das glaubst du doch nicht im Ernst.«

Louis hob die Hände in einer Geste süffisanter Hilflosigkeit. »Hab ich so gehört. Du weißt doch, dass ich rumkomme. Die Blattschneider ist bei uns in der Personalabteilung und was von da kommt, hat Hand und Fuß.«

»Aber kein Hirn.« Gordan schüttelte den Kopf. »Die kleine Blattschneider kenne ich vom Fußball. Die musste sich schon immer aufspielen.«

»Ich hab gehört, was ich gehört habe.«

»Einen Scheiß hast du gehört. Der Georg, der betet die Erica an. Warst du nicht bei der Hochzeit dabei? Da hat er vorm Altar geheult, als sie Ja gesagt hat. So einer betrügt sie nicht.«

Louis öffnete den Mund, aber Tilmann unterbrach ihn, indem er einen vollbeladenen Teller vor ihm auf den Tisch warf. Zwei Weintrauben fielen hinunter und rollten über die Tischdecke.

»Für dich«, schnauzte Tilmann. Als er sich neben Gordan niederließ, wurde sein Blick weicher. »Wo waren wir gerade?«

»Gordan. Wir müssen los. Wir sind schon viel zu spät dran.« Robin schmiss den Rest seines Brotes auf den Teller und sprang auf. »Los jetzt, auf in die Werkstatt. Wir können es uns nicht leisten, noch länger auf der faulen Haut zu liegen.«

»Der kann sich gar nichts leisten.« Louis lachte scheppernd. Tilmann verdrehte die Augen.

»Stimmt, Darling.« Gordan erhob sich. Beinahe hastig klopfte er die Krümel von seinem Hosenbein und stapelte ihre Teller aufeinander. »Macht's gut, ihr beiden. Genießt euer Glück.« Er stellte die Teller auf den metallenen Servierwagen und strebte dem Ausgang zu.

»Ja, habt einen wunderschönen Tag.« Robin versuchte, ehrlich zu klingen. Es fiel ihm schwer. Er flüchtete beinahe aus dem Raum. Nicht, dass dieser Tilmann sich doch noch für diese Woche einlud. So verliebt und gebrochen wie Gordan war, würde der glatt Ja sagen.

Auf dem dicken Teppich im Flur hörte man ihre Schritte kaum. Robin holte zu Gordan auf, der den Blick starr auf den Boden gerichtet hielt. Der Geruch nach altem Haus umwehte sie. Sie verabschiedeten sich im Vorbeigehen von der alten Dame an der Rezeption, die ihnen zuzwinkerte. Wohl noch eine, die sich über Gordans neues Glück freute.

Wenn es doch nur so einfach wäre, dachte Robin. Laut sagte er: »Ich glaube, mein genialer Plan funktioniert. Dieser Tilmann hätte dich wohl am liebsten angegrabbelt.«

Gordan sah ihn immer noch nicht an. »Er hat mich angegrabbelt. Unter dem Tisch. Er hat mir an den Oberschenkel gefasst.«

16. Abgekühlte Gefühle

 

»Was?!« Der Goldjunge blieb stehen. Was gut war, denn in diesem Moment eierte ein Volvo um die Ecke und hätte sie fast überfahren. Linda Lühnemann, die Rettungssanitäterin, die auch im Privatleben fuhr, als hätte sie drei Schwerverletzte im Kofferraum.

Die Hitze war weniger drückend als zuvor. Ein sanftes Lüftchen streichelte Gordans bloße Arme. Er trug ein schwarzes Shirt, mit hochgekrempelten Ärmeln, weil ihm Robins bewundernder Blick aufgefallen war, wann immer er den Bizeps anspannte. Das Anspannen machte er peinlich oft. Und jedes Mal schielte er auf eine Reaktion.

Dämlich. Der Goldjunge würde in ein paar Tagen wieder auf seinem Anwesen sein. Oder seiner Villa?

»Wo wohnst du eigentlich?«, fragte er.

Der Goldjunge sah wutentbrannt auf ihn hinunter. »Lenk nicht ab. Der Mistkerl hat dich angegrabbelt? Dazu hatte er kein Recht. Warum …« Ein Hüsteln. »Na, darüber freust du dich bestimmt. Dass er offensichtlich noch Interesse hat.«

Nein, darüber freute er sich nicht. Es war seltsam gewesen. Beinahe unangenehm. Lass das, ich bin vergeben, hätte er fast gesagt. Aber er hatte Tilmann nicht vor Louis bloßstellen wollen. Warum eigentlich?

»Ja, freut mich sehr.« Er versuchte, erfreut auszusehen. Sich erfreut zu fühlen. Aber die furchtbare Ahnung, dass er über Tilmann hinwegkam, verfestigte sich. Wann war das passiert? Vor zwei Tagen war er doch noch am Boden gewesen … Was hatte sich verändert?

Nur eins.

Er wagte es nicht, den Goldjungen anzusehen.

Ich bin ein alter Volltrottel, dachte Gordan und räusperte sich. »Wann fährst du nochmal?«

»Wieso, damit du freie Bahn bei Tilmann hast?« Klang das wütend? »Keine Sorge, in ein paar Tagen bin ich weg. Sobald mein Vater mich zurückholt. Oder wir Erfolg mit den Plastiken haben. Tilmann wird begeistert sein, wenn du ihn aushalten kannst. Genau so reich wie Louis, aber sexy. Super. Der wird sich überschlagen vor Glück.«

»Du findest mich sexy?«

»Wenn dir das nicht aufgefallen ist, bist du noch blöder als du aussiehst«, knurrte Robin.

Er schritt über das unregelmäßige Pflaster des Bürgersteigs. Ein weiterer willkommener Windstoß zerzauste seine Haare. Grelle Sonnenstrahlen ließen seine Augen leuchten, bis sie hell waren wie das Meer in Griechenland. Das kannte Gordan nur von Ericas Urlaubspostkarten. Er war immer zu pleite gewesen, um dort hinzufahren. Der Goldjunge musste noch bessere Strände kennen. Mit juwelenfarbenem Wasser und schneefarbenem Sand, der an Robins Haut kleben würde wie Puderzucker. Ja, an so einen Strand gehörte der Kerl. An einen Ort, der so perfekt war wie er. Nicht länger langweilig, wie Gordan sich eingestand. Perfekt in jeder Hinsicht, gerade, weil er nun ein paar kleine Macken, ein paar Unregelmäßigkeiten entdeckt hatte.

Robin gehörte nicht nach Lummerdingen. Er wirkte wie ein Fremdkörper in der ranzigen Fußgängerzone, durch die sie schritten. Über das schräge Kopfsteinpflaster, das dringend repariert gehörte. Vorbei an den Häusern, die sich krumm aneinander lehnten. Wenn eins in der Reihe entfernt würde, würden die anderen garantiert umkippen wie Dominosteine. Er verglich Robin mit den anderen, die ihnen begegneten. Perfekt sitzendes Hemd gegen übergroße T-Shirts. Glänzende Lederschuhe gegen abgetragene Sneakers. Jeder trug hier Sneakers, fiel Gordan auf. Selbst die Omi, die ihnen entgegen schlurfte. Ihre waren rosa-silber und bedeckt von Straßenstaub. Ihr Gesicht hellte sich auf, als sie Robin erblickte.

»He! Gordans Neuer! Wie geht’s dir, Junge?«

»Ausgezeichnet, vielen Dank.« Robin stoppte und wirkte leicht verwirrt. »Und Ihnen?«

»Super.« Sie kicherte. »Was machst du? Bist du unterwegs zu neuen Schandtaten? He, und du musst dieser Gordan sein.«

»Bin ich.« Er streckte ihr die Hand hin und schüttelte sie. Sie fühlte sich an wie ein alter Ast. Außen knorrig, innen lebendig. »Hallo.«

»Ihr Jungs.« Die weißen Locken flogen, als sie den Kopf schüttelte. »Macht nur weiter so. Hab gehört, ihr hättet gestern ein bisschen Spaß auf der Säckerstatue gehabt.«

Robin barg das Gesicht in einer Hand. Er atmete tief ein, sagte aber nichts.

Gordan grinste. »He, ich muss dem Süßen doch zeigen, was Lummerdingen so zu bieten hat.«

Sie lachte dreckig, klopfte ihm auf die Schulter und schlurfte weiter.

Robin murmelte etwas. Klang wie »Ich hasse diese Stadt und alle, die hier leben«. Ein tiefer Seufzer hob seine Brust.

»Wie hältst du es hier aus?«, fragte er Gordan. »Du warst in Berlin, warum bist du nicht dageblieben?«

»Ach, das hier ist mein Zuhause. Das Einzige, das ich richtig kenne.« Gordan steckte die Hände in die Hosentaschen. Eine Geste, die ihn an Robin erinnerte. »Ich mag’s.«

»Warum?«

»He, beim Frühstück hast du noch behauptet, du würdest es auch mögen.«

»Das war vor dem ersten Kaffee. Nichts, was ich vor dem ersten Koffeinschub sage, darf gegen mich verwendet werden.«

»Klar.« Schade, wäre doch nett, wenn es Robin hier gefallen würde. Wenn er … Gordan riss sich zusammen. »He, in Berlin wird man selten auf der Straße erkannt.«

»Die kannte mich gar nicht.« Robin runzelte die Stirn. »Und dich noch weniger. Warum kannte sie dich nicht?«

»So klein ist Lummerdingen auch nicht«, sagte Gordan. »Da kennt nicht jeder jeden. Es sei denn, man schafft es, in 48 Stunden nackt auf der Autobahn zu stehen, bei Tonspielchen erwischt zu werden und einen Brunnen zu besteigen.«

»Das haben wir nicht getan, oder? Vorgestern? Immerhin das?« Der Goldjunge schaute wie ein adoptionswilliger Welpe.

»Glaub nicht. Hoffentlich.« Gordan legte einen Arm um ihn. Es fühlte sich gut an. Unter dem Geruch nach Shampoo lag der nach Ahornsirup. »Lass dich nicht unterkriegen, Darling.«

»Niemals, Spätzlein«, murrte Robin. »Liebling. Kuschelbärchen.«

»So ist’s recht, Zuckerstückchen.«

»Danke, Schnuffi.« Robin grinste. »He, lass uns Händchen halten. Tilmann wird davon hören, garantiert.«

Hand in Hand schlenderten sie zur Werkstatt. Robins Finger waren trocken und stark. Es fühlte sich so richtig an, dass Gordan absichtlich langsam ging. Ausgiebigst erzählte er Robin von der interessanten Geschichte der Stadt, von all ihren Adligen, Huren und Mördern. Er erzählte sie extra gut, um das warme Lachen zu hören, das die türkisfarbenen Augen schmal werden ließ und das Gesicht weich und glücklich. Als sie ankamen, hätte er Robins Hand am liebsten nie wieder losgelassen.

Gordan, du Trottel, dachte er.

 

***

 

»Am Wochenende ist Markt«, sagte Gordan und schlitzte den neuen Tonpacken auf. »Da müssen wir eine Pause einlegen.«

»Natürlich, du musst ja Gürteltierkannen verkaufen.« Robin saß wieder auf der Werkbank, diesmal angezogen. Im Schneidersitz, ein Glas Wasser in der Hand. Es war so unerträglich heiß, dass die Haut auf seiner Stirn schimmerte. Gordan hatte alle Fenster geöffnet, aber die leichte Brise, die den Geruch nach Apfelbäumen hineinwehte, half wenig. Sie vermischte sich mit dem Geruch nach trockener Erde und wirbelte den glitzernden Staub in der Luft durcheinander. Robin saß genau in einem Sonnenstrahl. Die um ihn herumtanzenden Partikel ließen ihn wie eine Heiligenstatue wirken.

»Gürteltierkannen, Spitzmaustassen, Eulenvasen, Regenwurmteller, Froschschälchen …« Gordan riss die Verpackung auf und schleuderte den Ton auf die Arbeitsfläche. Liebevoll griff er hinein. Das wunderbare Gefühl, mit dem die weiche Masse zwischen seinen Fingern hervorquoll, erfasste ihn und er wurde ganz ruhig. Der Zweifel in ihm kam zum Stillstand, wenigstens für einen Moment. »Erica meint, ich sollte beliebtere Tiere nehmen.«

»Was für Tiere denn?« Robin legte den Kopf schief und stellte sein Glas auf einem schiefen Zeitschriftenstapel ab. »Töpfertrends«, »Professional Pottery« und »Ton für Ton« drohten, jederzeit umzustürzen und sich über den Boden zu verteilen.

»Keine Ahnung. Einhörner.«

»Ah, das Einhorn. Lieblingstier aller Deutschen.«

Gordan knetete weiter, sah Robin aber an. Es war einfach zu verlockend. »Was ist dein Lieblingstier, Darling?«

Robin wippte im Schneidersitz vor und zurück und sah so jung aus, dass es beinah weh tat. Nachdenklich knetete er seine Unterlippe. »Pferd«, sagte er schließlich.

»Was kann man denn aus einem Pferd machen?«, fragte Gordan. »Einen Kerzenleuchter? Eine Vase? Was für ein Pferd genau?«

Robins Mundwinkel kräuselten sich. »Meine Schwester züchtet arabische Vollblute. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich Isländer immer gemocht. Ich habe mal eine Trekkingtour auf einem gemacht.«

»In Begleitung?« Gordan ahnte schon, was jetzt kam.

»Ja, am Anfang. Ich hatte kurzzeitig eine Schwäche für Naturburschen. Bis der Naturbursche nach drei Tagen genug von mir hatte.« Robin drehte den Becher in den Händen. »Aber das Pferd ist geblieben. Auf Männer kann man sich nicht verlassen, aber auf Isländer immer.«

»Ah ja. Die Männer …« Gordan zögerte. Einen Moment lang hielten seine knetenden Hände inne.

»Was ist?«

Gordan hasste sich dafür, dass er überhaupt darüber nachdachte. Aber das tat er. »Dieser Scheiß, den Louis gelabert hat …« Wütend griff er in den Ton. »Ach, vergiss es.«

»Dass dein Schwager eine Affäre hat?«

Gordan nickte. »Totaler Scheiß. Du kennst ihn nicht, aber der behandelt sie gut. Der betet sie förmlich an. So, wie sie es verdient hat.«

»Hey, was Louis sagt, ist genauso wahr wie mein Arschversohlfetisch und unser wilder Sex auf dem Säckerbrunnen.« Robin grinste. »Denk nicht weiter darüber nach.«

Gordan brummte, dass es ihn überhaupt nicht beschäftigte, aber er fühlte sich besser. Robin holte sein Handy hervor, um seine Schwester wegen irgendeines Verlags anzurufen. Doch bevor er darauf tippte, sah er noch einmal auf.

»Wenn du willst, kann ich mit zum Markt kommen.«

»Wenn du magst.« Gordan gab sich Mühe, ebenso lässig wie Robin zu klingen. Das bedeutete ja wohl, dass der Goldjunge wenigstens bis Sonntag hier bleiben würde.

»Ich habe nichts Besseres zu tun. Also, bis ich nach Hause zurückbeordert werde. Da kann ich dir genauso gut helfen, Gürteltiere und andere Viecher zu schleppen.«

»Ich hoffe, deine niedlichen Händchen werden dabei nicht schmutzig.«

»Ich hoffe, du brichst dir nicht deinen Affenrücken. Ich habe noch viel mit dir vor.« Robin lächelte und hob den Hörer ans Ohr.

17. Verkaufsoffener Samstag

 

Auf den Markt mitzukommen, war schön. Sehr schön.

Es war einfach zu gemütlich, neben Gordan in dessen klapprigem Transporter zu sitzen, sich in dem löchrigen Sitz zurückzulehnen und den scharfen Wind zu genießen, der durch die geöffneten Seitenfenster schoss. Schostakowitschs Walzer Nummer 2 dröhnte aus den Boxen und machte jedes Gespräch unmöglich. Sie mussten gar nicht reden. Es war genug, nebeneinanderzusitzen, sich von Musik und Fahrtwind die Haare durcheinanderpusten zu lassen und den hügeligen Weiden zuzusehen, die mit gemütlichen 90 km/h an ihnen vorbeizogen.

Beinahe kitschig, wie die Kühe dort grasten und die Sonne am Himmel strahlte. Wie blau der Himmel war und wie sehr die Luft nach Sommerblumen roch. Absolut zu kitschig. Das versuchte Robin zumindest, sich einzureden.

Er sah zu Gordan hinüber. Dessen Pranken lagen locker auf dem mit Panzertape umwickelten Lenkrad. Robin erinnerte sich, wie diese breiten Finger sich auf seiner Haut angefühlt hatten. Heute Morgen. Und gestern Abend. Und gestern am noch früheren Abend. Und davor. Sein ganzer Körper war entspannt und wohlig und glücklich. Seit Tagen.

Mist. Er spürte das dämliche Grinsen in seinem Gesicht und zwang sich wegzusehen. Die Augen von dem wunderschönen, rauen Kerl neben sich zu nehmen und den Blick auf etwas anderes zu richten. Die Kühe. Kühe waren gut. Kühe brachten ihn nicht durcheinander.

»Passt das?«, rief Gordan plötzlich. »Soll ich das leiser stellen?«

Robin schüttelte den Kopf und lächelte schon wieder dämlich. Etwas in seinem Magen hatte Schluckauf. »Deinen Musikgeschmack hätte ich nicht erraten können!«, brüllte er zurück.

Gordan sah ihn an. Seine Zähne blitzten. »Bei Mum und Dad durften wir nichts anderes hören! Klassik fördert die Künstlerseele! Oder so ähnlich!«

Robin lachte. »Mir gefällt’s! Erinnert mich an früher! Ich habe als Kind Klavier und Cello gelernt!«

»Wundert mich nicht! Und, warst du gut?«

»Annehmbar!«

Gordan lächelte. Lächelte atemberaubend und sah wieder auf die Fahrbahn. Robin schloss die Augen. Er hatte annehmbar gespielt, seine Geschwister hervorragend. Selbstverständlich.

Der Walzer ist mein Lieblingsstück, wollte er sagen. Schon immer. Das muss Schicksal sein.

Aber er traute sich nicht. Das wäre einfach zu kitschig gewesen.

 

***

 

Der Wind, der ihnen seit Tagen um die Ohren wehte, fegte durch das plattgetrampelte Gras. Das schnalzende Geräusch der flatternden Planen war überall. Es war noch früh, Robins Meinung nach viel zu früh, um irgendetwas zu tun. Aber überall waren Menschen. Handwerker wie Gordan, die Stände aufbauten, Waren hineinräumten, deren neue und alte Transporter auf der Wiese herumstanden.

»Handwerkermarkt Mülsingen«, stand auf der blauen Plane, die über dem Eingang hing. Der Platz war nicht umzäunt. Es war einfach eine grüne, leicht schräge Wiese an der Landstraße, hinter der der Wald begann.

Gordan begrüßte seine Standnachbarn, winkte irgendwelchen Bekannten zu und öffnete die Türen des Transporters. Sein Bizeps wölbte sich, als er die erste Kiste packte. Gekonnt wuchtete er sie hinaus und trug sie an Robin vorbei.

»Ich helfe dir«, sagte Robin.

Eine Falte erschien zwischen Gordans Augenbrauen. »Bist du sicher?« Er musterte Robins weißes Hemd und die hellgraue, scharf gebügelte Hose.

»Ich hab keine Angst, mich schmutzig zu machen.« Mist, er klang wie ein trotziges Kind. Entschlossen packte er die nächste Kiste, ignorierte den Splitter, den er sich dabei einfing und schleppte sie dahin, wo der Stand sein würde. Viel zu schwer. Ein erleichtertes Seufzen unterdrückend stellte er sie neben die, die Gordan gerade öffnete.

Sie bauten den Stand auf, okay, Gordan baute ihn auf. Robin stand kunstvoll im Weg. Dann schleppten sie die anderen Kisten heran. Die mit den Tieren darin.

Schnabeltierseifenschalen erschienen. Glitzernd im Morgenlicht, getrennt von Schaumstoffplatten. Gordan nahm sie so liebevoll und vorsichtig in die Hand, dass Robin schlucken musste.

Ich bin ein Volltrottel, dachte er. Warum heule ich fast vor Glück, weil dieser Kerl ein paar Schnabeltiere aufreiht?

Ziemlich eng, wie Robin auffiel.

»Soll ich das machen?«, fragte er. »Was ist das Konzept?«

Gordan sah ihn an, als spräche er eine Fremdsprache. »Konzept? So viel Zeug wie möglich hierhin zu stellen und die Preisschilder rechtzeitig dran zu pappen, bevor die ersten Besucher kommen. Ein großartiges Konzept, richtig?«

Robin ignorierte, dass er schon wieder aufgezogen wurde. »Absolut fantastisch«, sagte er und öffnete seine Kiste. »Die Großen hinten, die Kleinen nach vorne, vermute ich.«

»Genau. Du bist der geborene Aufsteller, Darling.«

»Danke, Zuckerstückchen.«

Gordan lachte und holte die nächste Kiste.

 

***

 

Gordan hatte überhaupt kein Konzept! Die Verkaufsfläche des kleinen Standes barst förmlich vor Tongetier. Ein Erdmännchensalzstreuer war schon ins Gras gekippt. Die Karpfenschalen dahinter konnte man kaum erkennen. Und der Stapel aus Regenwurmtellern war so hoch, dass er die Axolotl-Becher dahinter verdeckte. Die Hälfte der Preisschilder verschwand ebenfalls in dem Gewühl.

»Und, was denkst du?« Gordan stand vor der Auslage und stemmte die Fäuste in die Hüften. Er wirkte sehr zufrieden mit sich.

»Da steht viel zu viel Kram und die Preise sind zu niedrig«, sagte Robin. »Die Fläche quillt über, das sieht aus wie ein drittklassiger Kramladen. Und du bräuchtest sowas wie der Mann da hinten.« Er deutete auf den bärtigen Jüngling am Honigstand. »Diese Stufen, damit nicht alles auf der gleichen Höhe steht. Diese Auslage muss vertikaler werden.«

Gordan schaute ihn an, als hätte er gerülpst. »Du klingst wie mein alter Agent.«

»Na, der hat immerhin deine Plastiken verkauft.«

»Und mir einen Hungerlohn dafür bezahlt.« Gordan verzog den Mund. »Glaub mir, wie der willst du nicht klingen.«

»Nein, aber …«

»Das ist mein Stand, Darling.« Das Kosewort klang nicht so nett wie sonst. Ein Schatten lag über Gordans Gesicht. »Hör mal, ich muss heute Geld verdienen. Wenn ich nicht mindestens tausend Euro einnehme, bin ich im Arsch. Eberhards Enkelin hat heute Morgen wieder angerufen und nach der Miete gefragt. Und die Standgebühr ist auch nicht ohne.«

»Wie hoch ist sie denn?«

»Dreihundert für zwei Tage. Glaub mir, das ist günstig.« Etwas Düsteres hatte sich in Gordans Züge geschlichen. Im Taumel der letzten Tage hatte Robin völlig verdrängt, wie schlecht es um dessen Finanzen stand. Und wie sehr es ihn offenbar belastete.

»Dreihundert plus Benzinkosten plus Materialkosten plus Arbeitszeit …« Robin überschlug die Kosten im Kopf. »Deine Preise sind zu niedrig. Die Gürteltier-Gießkannen müssten mindestens fünfzig Euro kosten.«

»Die sind gut, wie sie sind. Ich will niemanden ausnehmen.« Gordans Stimme war lauter geworden.

»Außer dich, meinst du.« Robin verdrehte die Augen. »Gordan, rein wirtschaftlich gesehen …«

»Robin.« Gordans Pranke landete auf seiner Schulter. »Es geht gleich los und ich muss Geld verdienen. Lass uns später darüber reden. Ich kann jetzt nicht noch alles umbauen.«

Robin schwieg, auch wenn es ihm schwerfiel. Er betrachtete die Stände um sie herum. Einige waren so überladen wie Gordans, doch die meisten stellten viel weniger Stücke aus. Die Frau mit den regenbogenfarbenen Vasen hatte nur elf Stück vor sich stehen. Jede davon thronte auf einem kleinen Sockel.

Er öffnete den Mund, sagte dann aber doch nichts. Gordans düsterer Blick reichte aus, um ihn verstummen zu lassen.

 

***

 

Spitzmaustassen zu verkaufen machte Spaß. Insgeheim hatte Robin damit gerechnet. Alles, was er mit Gordan tat, machte Spaß. Ob es streiten, vögeln oder Tonwaren anpreisen war. Sie waren ein fantastisches Team, zumindest fand Robin das. Gordan schien sich da nicht ganz so sicher zu sein.

»Hey, Sie! Sie sehen aus, als wüssten Sie einen Regenwurmteller zu schätzen!« Robin lächelte zwei Damen zu, die schnell die Köpfe senkten, dann aber doch interessiert schauten. Zufriedenheit machte sich in ihm breit, als ihr Blick über die vollgestopfte Auslage wanderte.

»Mensch, das ist ja schön. Oder, Leni?« Die mit den dunkelblonden Haaren hielt eine mit Grashüpfern geschmückte Schale hoch. Die andere lachte.

»Ja, die passt zu dir, mit deinem Grünfimmel. Wie viel macht das, junger Mann? Ich kann das Preisschild nicht lesen.«

Kein Wunder, bei Gordans Sauklaue. »Dreißig Euro«, sagte Robin.

»Zwölf«, korrigierte Gordan und rempelte Robin an. Immerhin sehr sachte. »Wenn Sie zwei kaufen, nur zwanzig für beide.«

Die beiden kauften zwei. Zufrieden zogen sie weiter, die Schalen gut in ihren Bambusfaserbeuteln verstaut. Robin schnaubte.

»Die hätten auch dreißig bezahlt«, sagte er. »Die Preise sind …«

»Die Preise sind genau richtig!«, schnauzte Gordan. Mist, was war denn jetzt los? Feuer loderte hinter seinen Augen. Sein Mund war ein weißer Strich.

Robin schluckte. »Ist in Ordnung, du bist der Boss. Ich wollte doch nur …«

Ich wollte dir doch nur beweisen, wie nützlich ich sein kann. Damit du denkst, dass es eventuell ganz furchtbar schön wäre, wenn ich bleibe.

»Gut erkannt, ich bin der Boss.« Gordan kramte in seiner abgetragenen Jeans herum und förderte ein paar Münzen zutage. »Hier. Hol uns was zu essen.«

»Ich kann das bezahlen«, sagte Robin.

»Ich wohne gerade in deinem Hotelzimmer.« Gordan hielt ihm die Münzen hin. Mit Nachdruck. »Ich kann dich wenigstens zum Essen einladen, richtig?«

»Aber …« Robin räusperte sich. Meinetwegen kannst du für immer in meinem Hotelzimmer wohnen, wollte er sagen. Tat er aber nicht. »Dafür kriegen wir doch höchstens zwei Bockwürste.«

Gordans Miene wurde noch missmutiger. Im Schatten der Plane sah er wieder fast aus wie am Anfang. Wie der Mistkerl, der Robin aus seiner Werkstatt geworfen hatte. Er wollte nicht, dass dieser Mistkerl zurückkam. Er wollte seinen Gordan, der entspannt war, der grinste und Witze riss. Der ihm ganz und gar ironische Kosenamen gab.

»Schon gut«, murmelte Robin und nahm das Geld entgegen. »Was willst du? Was soll ich dir holen?«

»Egal«, brummte Gordan und wandte den Blick ab. Er ordnete zwei Gänselöffel, die ganz bestimmt nicht geordnet werden mussten.

Alles klar, du willst mich loswerden. Bleierne Schwere drückte Robin nieder. Schnell wandte er sich ab und schlurfte aus dem Stand, bevor Gordan ihm noch ansah, dass er ihn verletzt hatte.

Dabei hatte es so gut angefangen. Warum konnte er nicht aufhören, sich in Gordans Angelegenheiten einzumischen? Nur, weil er ihm helfen wollte? Nur, weil er ihm unbedingt beweisen wollte, wie nützlich er war?

Das hat noch nie funktioniert. Bei niemandem.

Missmutig erinnerte er sich daran, wie er versucht hatte, auf Ronjas Gestüt zu helfen. Wie er Roman in der Galerie geholfen hatte. Wie er Pläne geschmiedet hatte, um neue Künstler zu finden, über die sein Bruder nur gelacht hatte. Du bist kein Marketing-Genie, Kleiner, hatte er gesagt. Besinn dich auf deine Stärken.

Leider hatte er keine Stärken. Nun, bis auf Rumhuren und zu viel Saufen.

Der Himmel war bewölkter als sonst. Schnell vorbeiziehende Schatten tauchten Robin in Düsternis. Und wenn das Licht zurückkam, war es so grell, dass er blinzeln musste. Er trottete über das zertrampelte Gras, vorbei an unzähligen Kunden, die herumschlenderten, sich unterhielten, griesgrämig schauten und feilschten. Bei Gordan mussten sie nicht feilschen. Der verschenkte ja alles.

Die Schlange am Wurststand war lang. So lang, dass Robin seine Brieftasche hervorkramte und zum Spanferkelstand ging. Das war teurer, aber es war weniger los. Missmutig sah er zu, wie die rotgesichtige Frau eine triefende Scheibe von dem Ferkel abschnitt. Es brutzelte und heißer Fettgeruch umhüllte ihn. Es würde ewig dauern, den aus seinem Hemd zu bekommen. Egal.

Er verschmierte ein paar Fettspritzer auf der Theke. Sehnsuchtsvoll versuchte er, Gordans Gesicht nachzuzeichnen. Es sah aus wie ein böser Troll. In Kunst war er nie gut gewesen, aber er hatte immer eine Schwäche für Künstler gehabt. Beweisstück A: sein Kunstlehrer. Beweisstück B: Alejandro, der Maler aus Barcelona. Beweisstück C: Gordan, natürlich. Er schluckte.

Aber es war schwer, zwischen all dem Kinderlachen und Sonnenschein in eine anständige Depression zu fallen. Also schnappte er sich die beiden Pappteller, die die Rotgesichtige ihm hinhielt und bedankte sich strahlend. Sie wurde noch rotgesichtiger. Immerhin war er noch hübsch. Noch. Nicht mehr lange und er wäre fünfundzwanzig und jeder wusste, dass danach der Lack ab war.

»Robin!«

Er stoppte. Eine Familie kam winkend auf ihn zu. Erica und die Kleinen. Und ein Mann. Ihr Mann vermutlich, ein blonder Kerl mit einem sanftmütigen Gesicht.

»Erica«, rief Robin. »Seid ihr hier, um Gordan zu besuchen?«

Im Näherkommen wirkte sie noch müder als bei ihrem Frühstück mit Tilmann und Louis. Tiefe Ringe lagen unter ihren Augen, trotz der Schminke, die sie großzügig im Gesicht verteilt hatte. Die Kinder schienen gut drauf zu sein. Als Erica einen Moment lang wegsah, schubsten sie sich gegenseitig ins Gras.

»Ja, aber wir haben seinen Stand noch nicht gefunden.« Erica nickte ihm freundlich zu. »So ein Glück, dass wir dich treffen. Kannst du uns hinbringen? Ah, bitte entschuldige.« Sie nahm die Hand des Blonden. »Das ist Georg. Mein Mann.«

»Hallo.« Georg streckte ihm die Hand hin. Um seine hellen Augen kräuselten sich die Fältchen, als er lächelte.

Robin begrüßte ihn, nachdem er den zweiten Teller Erica gegeben hatte. »Sehr erfreut. Robin von Romberg-Krieger. Ich wollte Gordan gerade etwas zu essen bringen.«

»Großartig«, sagte Erica und wirkte fast, als würde sie es ernst meinen. Tiefe Müdigkeit färbte ihre Stimme. Und auch Georg wirkte nicht mehr taufrisch. Na ja, das taten Eltern eher selten. Selbst bei Kindern wie Lucy und Luke, die ihren kurzen Temperamentsausbruch überwunden hatten und wieder stocksteif dastanden.

»Onkel Gordan hat mir versprochen, dass ich eine Spitzmaustasse bekomme«, sagte Luke ernsthaft. »Auf lateinisch heißt Spitzmaus Soricidae

»Spitzmäuse sind keine Nagetiere, sondern Insektenfresser.« Lucy faltete die Hände hinter dem Rücken. »Ein Weibchen wirft bis zu zehn Kleine. Weißt du, wie lange sie brauchen, bis sie geschlechtsreif sind?«

Nicht Robins Spezialgebiet. Er schüttelte den Kopf.

»Nur zwei bis drei Monate.« Ihre Augen leuchteten. »Stell dir vor, wenn das bei Menschen auch so schnell ginge, dann wäre ich jetzt schon … uralt. Dann könnte ich schon zur Uni gehen und was Vernünftiges studieren.«

Großartig, selbst diese Sechsjährige benahm sich erwachsener als Robin. »Was denn? Wirtschaftsinformatik?«, fragte er.

»Nein, Medizin. Alles andere ist unsicher.« Sie sah zu ihrer Mutter hoch. »Richtig?«

Erica nickte.

Gordan und sie sind sich wirklich nicht sehr ähnlich, dachte Robin. Er geleitete Erica und ihre Familie durch die Zeltreihen, Spanferkel in beiden Händen. Als sie ankamen, hellte sich das Gesicht von Gordans Schwester auf. Auch er lächelte.

»Schwesterchen!« Er kam hinter dem Stand hervor und schloss sie fest in die Arme »Ihr habt es geschafft!«

»Natürlich.« Erica wirkte verärgert. »Wir haben doch gesagt, dass wir vorbeikommen würden.«

»Ist das meine Spitzmaustasse?« Luke deutete auf einen der gigantischen Stapel. »Die ganz oben?«

»Woher hast du das gewusst?« Gordan grinste breit. »Lucy, willst du auch eine Spitzmaustasse?«

»Einen Heuschreckenteller, bitte.« Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte geknickst.

»Kannst du haben. Du auch was, Georg?«

Georg schüttelte den Kopf. Er schien leicht verspannt. Robin hielt Gordan einen der dampfenden Pappteller hin. »Für dich, Schatz.«

Gordan hob eine Augenbraue. »Danke, Darling. Hm, Spanferkel. Das gab’s früher schon immer, erinnerst du dich, Erica? Auf dem Malermarkt in Sosingen?«

»Stimmt.« Erica lächelte. »Mum hat uns immer Ferkel essen geschickt, wenn wir ihr auf die Nerven gegangen sind.«

»Ziemlich oft also.« Gordan schenkte Robin ein Lächeln, das warme Schauer durch seinen Magen jagte. »Du wirst es nicht glauben, aber wir waren früher unerträglich.«

»Nein!« Robin tat sein Möglichstes, um erstaunt auszusehen. Er klimperte sogar mit den Wimpern. »Das ist doch ganz und gar unmöglich!«

Lucy und Luke kicherten. Gordan nahm sie mit zum Stand, mit einer Hand auf seine Waren zeigend, mit der anderen Spanferkel in sich hineinstopfend. Den Teller platzierte er auf einem Stapel Puffottervasen. Robin verkniff sich eine Bemerkung. Zumindest, solange Gordan in Hörweite war.

»Total überfüllt und jetzt stellt er da auch noch Schwein drauf«, murmelte er, sobald die Drei weit genug entfernt waren.

»Furchtbar arrangiert ist es auch.«

Robin fuhr herum. Mist, Erica stand direkt neben ihm. Sie sah zu Gordan und den Kindern, zu denen sich nun auch Georg gesellt hatte, und seufzte.

»Ich meinte nicht …« Robin zögerte. »Er hat keine Ahnung, wie man Sachen verkauft, oder?«

»Nein. Hatte er noch nie. Sein Agent hat das alles gemacht und jetzt, wo er auf sich allein gestellt ist … Aber er ist gut. Deshalb verkauft er immer gerade genug. Nur nicht so viel, wie er verkaufen könnte, bei seinem Talent.«

Er sah Erica an. Seit wann lobte sie ihren Bruder? Vermutlich, seit der außer Hörweite war. Robins Blick glitt über die Gürteltiergießkannen und die Maulwurfvasen. Er war dabei gewesen, als Gordan die Vasen angefertigt hatte. In jedem Boden hatte er sein Zeichen eingeritzt: zwei gekreuzte Klingen.

Für Klingenschmied, hatte er erklärt. Jeder Künstler signiert sein Werk.

Er hatte sogar Robin eins einritzen lassen, obwohl der kaum einen geraden Strich hinkriegte. Irgendwie fühlte Robin sich jetzt, als wäre diese Vase ihr gemeinsames Projekt gewesen, obwohl Gordan die ganze Arbeit gemacht hatte.

»Er bräuchte sowas wie die Frau da, oder?« Er steckte sich ein Stück Spanferkel in den Mund und deutete auf einen Stand mit Metalltieren zum Aufziehen. Weinkisten stapelten sich dort und ihr unlackiertes Holz bildete einen hübschen Kontrast zum schimmernden Metall. Man konnte sie schon von weitem erkennen. »Und er könnte dekorieren. Blumen in den Vasen, zum Beispiel oder was Saisonales. Sonnenblumen und Weizen für den Sommer, Kastanien und Hagebutten für den Herbst … So etwas. Schau mal, am Honigstand.« Der Honigstand war mit echten Waben dekoriert. Der süße Geruch wehte zu ihnen herüber, wenn die Brise günstig war. Hatte allerdings den Nachteil, dass der Stand auch mit echten Bienen dekoriert war, die verliebt um die Waben herumschwirrten. Trotzdem verkaufte der Honigtyp mehr als Gordan.

»Kannst du ihm nicht gut zureden?« Erica blickte ihn hoffnungsvoll an. »Auf dich hört er eventuell.«

»Nein, tut er nicht.« Eine Idee keimte in Robins Kopf, während er auf dem überwürzten Ferkel herumkaute. »Aber ich könnte ihn überzeugen. Ja, ich glaube, das könnte ich. Meinst du, du kannst ihn überreden, eine Stunde lang mit dir über den Markt zu schlendern? Oder zwei?«

Ihr Lächeln war verschwörerisch »Was denkst du denn? Er ist doch mein Bruder.«

Er lächelte zurück.

 

Fünf Minuten später hatte sie Gordan, mithilfe der Kinder, überzeugt, mit ihnen Karussell zu fahren. Ganz am anderen Ende des Marktes. Und Robin hatte sich freundlicherweise bereiterklärt, so lange auf den Stand aufzupassen.

»Keine Sorge, ich schaffe das.« Er gab Gordan einen Schmatzer auf die Nasenspitze. »Schnuffelbär. Die Preise stehen ja dran. Und ich trage alles ordentlich in die Liste ein.«

»Sicher?« Es wirkte fast, als wollte er sich nicht von Robin trennen. Na ja, das war vermutlich Wunschdenken.

»Ja.« Robin tätschelte ihm die Schultern. »Hab Spaß mit deiner Familie. Du hast letzte Woche genug gearbeitet.«

»Ach, ich hatte auch eine Menge Spaß.« Gordan grinste dreckig. So dreckig, dass Robin ihn beinahe daran erinnert hätte, dass Kinder anwesend waren.

Er winkte ihm nach, bis er sie nicht mehr sehen konnte. Dann holte er die leeren Kisten aus dem Transporter und begann, sie einzuräumen.

Er brauchte eine halbe Stunde, um das Sortiment auszudünnen. Und die Keramik nach Farben zu sortieren, jedem Teil den angemessenen Raum zu geben und sie auf leeren Kisten zu drapieren. Von einer Standnachbarin kaufte er einen Strauß Blumen und verteilte sie in den Vasen und Gießkannen. Ja, er war richtig zufrieden, als er sein Werk betrachtete. Jetzt war noch eins zu tun: Er sammelte die Preisschilder ein und verbesserte sie.

»Gordan, du wirst mich lieben«, murmelte er und schrieb feinsäuberlich »75 €« auf ein weißes Stück Pappe.

Ich wünschte, du würdest mich lieben.

18. Ungefragte Verbesserung

 

»Ich mag Robin«, sagte Erica unvermittelt.

Gordan verharrte, eine Pommes auf halbem Weg zum Mund. »Ah.« Mehr fiel ihm dazu nicht ein. Er mochte Robin auch, aber er wollte nicht darüber reden. Und schon gar nicht mit Erica.

»Er tut dir gut, glaube ich. Du siehst glücklich aus und … Na, zumindest glücklicher als vorher. Lass den nicht entwischen, hörst du?«

»Nein, nein.« Mürrisch kaute er auf der Pommes herum. Salz und Fett vermischten sich in seinem Mund. »Glaubst du, ich mache ihn auch glücklich?«

Sie sah ihn an. Hinter ihr drehte sich das Karussell, auf dem ihre Kinder mit orthopädisch korrektem geraden Rücken saßen. Georg passte auf sie auf. Ab und zu drehte er sich zu Erica um und warf ihr eine Kusshand zu. Jedes Mal trat sachter Glanz in ihre müden Augen.

Die Dudelmusik des Karussells vermischte sich mit Schlagern aus den Boxen des Bockwurststandes. Der Duft nach Braten übertünchte den nach getrocknetem Gras und Räucherstäbchen. Um die Fressstände herum bestand der Boden nur noch aus staubiger Erde, abgesehen von vereinzelten Halmen.

»Natürlich machst du ihn glücklich, Gordan. Sehr glücklich.« Eine Falte erschien zwischen ihren Augenbrauen. »Wehe, du tust das nicht.«

Wow, die hatte Robin ja richtig ins Herz geschlossen. Tilmann hatte sie auch gemocht, aber nicht so. Lag das daran, dass der Goldjunge reich war? War er überhaupt reich? Oder war das nur seine Familie?

»Bestimmt mache ich ihn glücklich. Ich versuch’s zumindest. Weißt du, er hatte früher ein bisschen Pech mit Männern und ich würde das gern wieder ausbügeln. Ein wenig zumindest.« Er räusperte sich. »Er hat es verdient, finde ich.«

Erica wirkte zufrieden. Ja, seit seiner »Beziehung« mit Robin war sie beinahe herzlich, für ihre Verhältnisse. »Ich finde, ihr seid ein tolles Paar. Und ich hatte die Hoffnung fast aufgegeben, dass du doch noch etwas aus dir machst. Wie geht es mit den Plastiken voran?«

»Mal so, mal so.« Er versuchte, einen sehr dreckigen Gesichtsausdruck niederzukämpfen, und versagte. »Er steht mir manchmal Modell.«

»Gut, gut.« Sie winkte Luke, der steif zurückwinkte. Seine Wangen schimmerten leicht grünlich. Klar, so etwas Actionreiches wie ein Karussell, das sich mit 5 km/h drehte, war er nicht gewohnt.

Ja, sehr gut, dachte Gordan. Viel zu gut. Ich weiß gar nicht, was ich tun soll, wenn Robin geht. Denn das konnte nicht mehr lange dauern. Wie lange konnte dessen Vater schon sauer auf ihn sein? Sein eigener Vater hatte es maximal 20 Minuten lang durchgehalten, ihm böse zu sein. Aber wenn Robin bleiben würde … Der Gedanke kam ihm immer öfter. Dabei würde er nicht bleiben. Der heutige Morgen hatte Gordan mal wieder vor Augen geführt, dass er dem Goldjungen nichts bieten konnte. Klar, seinen Körper. Guten Sex und zugegeben, immer interessantere Gespräche. Aber das reichte nicht, wie er aus Erfahrung wusste. Tilmann hatte es nicht gereicht. Irgendwann hatte man genug von fantastischem Sex auf löchrigen Matratzen, von guten Gesprächen unter undichten Dächern. Irgendwann wollte man nicht mehr frieren, weil die Wände zu dünn waren und man es sich nicht leisten konnte, die Heizung anzumachen. Robin würde es genauso gehen. Wahrscheinlich noch früher, der war ja mehr gewohnt. Viel mehr. Mehr, als Gordan sich vorstellen konnte.

Das war ihm klar geworden, als sie seinen klapprigen Transporter beladen hatten. Ohne Klimaanlage, mit einem kaputten Lenkrad, das mit Panzertape umwickelt war und einem uralten CD-Player. Mit abgefahrenen Reifen und einem Motor, der nur durch Gebete zum Anspringen überredet werden konnte.

Er musste heute genug verkaufen. Er musste. Das Wasser stand ihm nicht bis zum Hals, sondern drang bereits in seine Nasenlöcher. Wenn das heute nicht gut lief … Mit einem schlechten Gewissen dachte er daran, wie er Robin abgewürgt hatte. Seine Ideen waren nicht schlecht gewesen, aber Gordan hatte gerade keinen Kopf dafür. Er musste Geld verdienen. Sonst würde er nie …

Mach dir doch nichts vor, du Trottel, dachte er. Robin bleibt nicht. Selbst, wenn das mit den Plastiken klappen sollte und du reich wirst. Wobei du dann vielleicht, nur vielleicht eine Chance hättest. Schade, dass er Lummerdingen hasst. Aber wir könnten woanders wohnen und …

»Ich bin ein Idiot«, murmelte er zwischen zerkauten Pommes hervor. Ein Vollidiot. Was malte er sich da aus?

»Und, wie geht es mit euch weiter?«, stach Erica zielgenau in die Wunde. »Ihr könnt nicht für immer im Hotel wohnen, oder? Sucht ihr euch was? Würde er ein Haus hier kaufen?«

»Keine Ahnung.« Er knüllte die leere Pappschale zusammen und warf sie in den nächstgelegenen Mülleimer. Wespen schwirrten herum und labten sich an Colaresten in grellbunten Pappbechern. »Soweit sind wir auch noch nicht. Müssen mal schauen, ob das hält.«

»Gordan …« Sie wirkte, als wollte sie ihm einen längeren Vortrag darüber halten, dass er Robin auf keinen Fall ziehen lassen durfte. Erstaunlicherweise beherrschte sie sich. »Ach, lass uns nicht streiten. Hast du noch ein bisschen Zeit? Ich würde gern deine Meinung zu dem Stoff hören, den ich da hinten gesehen habe.«

Was war heute los mit ihr? Das war fast wie früher. »Na klar.« Er lächelte.

 

***

 

Erica entspannte sich zusehends. Schon am Stoffstand alberten sie herum wie damals, als Kinder. Eins ihrer Lieblingshobbys war es gewesen, möglichst ekelhafte Farben zu erfinden. Sie hatten immer viel Fantasie besessen und nie viel Geld.

»Wie findest du den ohrenwachsgelben Samt?«, flüsterte sie in sein Ohr.

»Meinst du den neben dem arschfusselgrauen?« Er verzog anerkennend das Gesicht. »Nicht übel.«

»Es gibt keine Arschfusseln.«

»Gibt es wohl, man muss nur nachschauen.«

Kurz sah sie sich nach ihren Kindern um, aber die waren außer Hörweite. »Georg hat keine Arschfusseln. Und auch sonst niemand. Höchstens du.«

»Als ob du nachgeschaut hättest.« Er hob eine Augenbraue. »He, was ist mit dem klobürstenweißen? Der würde sich gut im Bad machen.«

»Du hast ja keine Ahnung. Das ist nicht klobürstenweiß, sondern eiterweiß. Eiterpickelweiß.«

Wow, sie war fast so in Form wie früher. Damals hatte sie das schöne Wort »Überfahrene-Ratteninnereien-Lila« erfunden. Gordan hatte daran denken müssen, wann immer ihm in Berlin Ratten begegnet waren. Oft also.

»Erica, du bist meine Lieblingsschwester. Hab ich dir das eigentlich oft genug gesagt?« Er legte eine Hand auf ihre Schulter.

»Öfter, als ich dir gesagt habe, dass du mein Lieblingsbruder bist.« Ihr Lächeln wirkte beinahe schuldbewusst. »Hör mal, ich … ich war in letzter Zeit nicht gerade nett zu dir. In den letzten Jahren. Ich hab mir Sorgen um dich gemacht, aber das hätte ich wirklich anders ausdrücken können.«

Er zögerte. »Hey, ich konnte mich immer auf dich verlassen. Du hast mich bei euch duschen lassen und hast meine Wäsche gewaschen, obwohl du eh so viel um die Ohren hast. Du warst für mich da, Eri. Auch, wenn du nicht nett warst. Und ich habe dir auch nichts geschenkt. Ich … Das wird wieder besser, okay? Bald musst du dir keine Sorgen mehr um mich machen.«

»Das weiß ich doch.« Ihr Lächeln wurde breiter. »Du packst das, kleiner Bruder. Du hast es immer gepackt.«

Na ja. Er wünschte, er würde es ebenso sehen können. »Eri?«

»Ja?«

»Läuft es gut mit Georg?« Gordan sah sich nach seinem Schwager um, konnte ihn aber nicht entdecken.

Erica versteifte sich. »Natürlich. Warum?«

»Ach, er wirkt ein wenig erschöpft.« Gordan verfluchte sich dafür, dass er auf diesen Blödsinn hörte, den Louis verzapft hatte.

»Gordan …« Mit ihrem Blick hätte man Stahl schmelzen können. »Was hast du …« Sie kniff die Lippen aufeinander.

Gordan zögerte. Etwas stimmte nicht. Seit wann riss sie sich zusammen, statt ihm Vorträge zu halten? Seit wann beherrschte sie sich, statt ihn anzugreifen?

»Was wolltest du sagen?« Er ließ den Stoffballen in Rosettenrosa sinken, den er eben noch betrachtet hatte.

»Nichts.« Sie strich den Ballen glatt. Und sah ihn nicht an. »Wollen wir etwas essen? Wir hatten noch keinen Nachtisch und einmal in der Woche darf man ein wenig sündigen, finde ich.«

Gordan sah, wie die Kinder die Ohren spitzten. Erstaunt blickte er zwischen Erica und ihnen hin und her. Lucy und Luke schauten wie ein Hund, dem man ein blutiges Steak hinhielt.

»Diesmal fällt das Sonntagsmahl mit dir ja aus.« Sie sah ihn an, okay sie sah knapp an seiner Schläfe vorbei. »Lass uns Waffeln essen.«

»Ja, Waffeln essen!« Plötzlich standen die Kinder neben Gordans Ellenbogen. »Mit Pflaumen und Sahne und Eis.«

»Und Schokostreuseln«, sagte Luke.

»Und Schokosauce«, ergänzte Lucy.

»Erica, lügst du mich an?« Gordan schaute streng. Seine Schwester wich seinem Blick nicht aus, und daran erkannte er, dass sie log. Verdammt, war da doch was mit Georg? Vor den Kindern konnte er sie das nicht fragen.

»Erzähl keinen Blödsinn, Gordan. Komm, wir holen uns Waffeln.« Energisch drehte sie sich um und marschierte los, um Georg zu suchen. Gordan und die Kinder gingen in einigem Abstand hinterher.

»Bringen wir Robin auch eine Waffel mit?«, fragte Luke. »Er hat bestimmt Hunger, weil er die ganze Zeit allein auf den Stand aufpassen muss.«

Eine Ahnung keimte in Gordan auf. Eine leise.

»Ja, und er musste den ganzen Stand alleine umräumen.« Lucy nickte.

»Was musste er?«, knurrte Gordan.

»Alles umräumen.« Sie hüpfte auf einem Bein. »Gehen wir zum Waffelstand? Schnell, bevor Mama einfällt, was Zucker mit unserem Gehirn macht.«

»Warum denkst du, dass Robin alles umräumen muss?« Gordan ballte die Fäuste.

»Er und Mama haben darüber geredet, als wir uns die Tassen ausgesucht haben. Gehen wir zum Waffelstand?«

»Wie hast du das mitbekommen?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Ich habe gute Ohren. Die beste Hörleistung, die er je erlebt hat, sagt unser Arzt.«

»Was sind Arschfusseln?«, fragte Luke.

Gordan atmete tief ein. Sehr tief. Er ließ die Luft langsam über seine Unterlippe gleiten und versuchte, die aufsteigende Wut zu kontrollieren.

»Robin!«, brüllte er und lief los.

 

Fast hätte er seinen eigenen verdammten Stand nicht erkannt, obwohl da seine eigenen verdammten Spitzmaustassen standen. Na ja, zwei davon. Da war fast nichts mehr und es war so angerichtet, als wäre jede ein Unikat, okay, das waren sie auch, aber … Sein Blick fiel auf die Preise.

»Fünfundzwanzig Euro?! Sag mal, spinnst du?!« Wutschnaubend starrte er Robin an, dem das Lächeln aus dem Gesicht rutschte. Er thronte hinter Gordans Stand, als würde der ihm gehören, als wäre es völlig in Ordnung, hier alles hinter seinem Rücken umzuräumen! Das war es nicht!

»Was soll die Scheiße?!«, brüllte Gordan und verscheuchte damit eine Gruppe Rentnerinnen, die sich um die Regenwurmteller geschart hatten. Viel zu viele Leute hier. Er musste sich an zwei Kerlen in grünen Shirts vorbeidrängen, um direkt vor Robin zu stehen. Der wurde bleich.

»Hi.« Er räusperte sich. Das hübsche Gesicht war zu einer panischen Maske erstarrt. »Ich wollte … Schau mal, ich hab umdekoriert, weil ich dachte, dass du so mehr verkaufst.«

»Es geht dich einen Scheiß an, wie viel ich verkaufe!« Gordan wusste selbst nicht, warum er so wütend war. Aber das war sein verdammter Stand! Und dieser Goldjunge hatte kein Recht, sich in seine Angelegenheiten zu drängen und überhaupt … war das Gordans Stand!

»Das ist mein Stand!«, rief er noch einmal. »Meiner!«

»Ich weiß!« Robin warf die Hände in die Luft. »Aber er war furchtbar! Deine Sachen kamen überhaupt nicht zur Geltung, weil der so zugemüllt war! Du hast sogar deinen Pappteller auf den Puffottervasen vergessen!« Wunderbar, sein Kampfgeist war zurück. Gordan hätte ihn knutschen, äh, erwürgen können. Erwürgen. Genau. Keinesfalls dachte er, dass das zornig verzogene Gesicht und die geballten Fäuste sexy waren. Seine Finger juckten vor Lust, Robin zu berüh… zu erwürgen.

War Erwürgen wirklich die bessere Option?

»Hinter den Stand«, zischte er. »Sofort!«

Robin bleckte die Zähne. »Von mir aus!«

»Wie viel kostet die Schnabeltierbutterdose?«, fragte eine Frau mit Bürstenhaarschnitt und Butterblumenohrringen.

»Fünfundfünfzig Euro«, sagte Robin.

»Fünfundzwanzig!«, brüllte Gordan. »Hinter den Stand, aber sofort!«

Robin schaute, als wollte er alle Schnabeltierbutterdosen der Welt zerschmettern. »Schön«, knurrte er. »Aber beschwer dich nicht, wenn der Stand leer geklaut ist, wenn wir zurückkommen.«

»Der sieht schon leer geklaut aus!« Gordan verlor ihn einen Moment lang aus den Augen, als die weiße Plane an ihm vorbeirauschte. Dann flog der hintere Teil des Standes auf und Robin stolzierte hinter dem Stoff hervor wie ein Sonnenkönig. Wut blitzte aus seinen Augen. Heiß. Er schwieg, bis sie um den Transporter herumgegangen und außer Sichtweite waren. Hinter ihnen befanden sich nur weitere Transportfahrzeuge und der Waldrand.

Robin wirbelte herum. »Ich hab das alles für dich getan, weißt du?!«

»Oh, danke.« Gordan verdrehte die Augen. »Wirklich großartig, wie du hinter meinem Rücken alles umgeräumt hast. Ich hatte meinen Plan bei dem Aufbau!«

»Dein Plan war scheiße!« Robins Fingerknöchel traten weiß hervor. Gordan packte ihn und drängte ihn rückwärts gegen den Transporter.

»Sag das noch mal«, knurrte er in Robins glattes Gesicht. Türkisfarbene Augen funkelten ihn an und sein Magen wagte es, einen Salto zu schlagen. Ja, er fühlte sich, als würde er fallen.

»Dein Plan war scheiße«, krächzte Robin. Seine Fingerspitzen fuhren über Gordans bloße Oberarme. Schon schoben sie sich unter das verblasste T-Shirt. »Gordan …«

»Ich weiß.« Gordan wollte wütend sein, wirklich. Aber um ausreichend Zorn aufzubauen, musste er erst mal Druck ablassen. Der Puls unter seinen Händen schlug zu schnell, der Körper, gegen den er sich presste, war zu geschmeidig, als dass er hätte denken können. Er roch Pfefferminz in Robins warmem Atem, der seine Lippen streifte. Sein Schwanz drängte gegen die Jeans, gegen Robins Erektion in der feinen Anzugshose. »Aber erinner mich hinterher daran, dass ich sauer auf dich bin.«

»Mach ich.« Robin biss sich auf die Lippen. Dieser Versuch, klar zu denken, war anbetungswürdig. »Aber hier kann uns jeder sehen, der vorbeikommt … Ach, egal.«

»Nein.« Gordan wollte nicht, dass Robin es gleich wieder bereute, nachdem es vorbei war. »Nicht hier.«

»Im Transporter?« Heiße Lippen streiften Gordans stoppelige Wange.

»Nein«, flüsterte er in die perfekt geformte Ohrmuschel. Vorsichtig knabberte er am Ohrläppchen, dann riss er sich los. Packte Robins Hand und zog ihn mit sich. In den Wald.

Sie stapften durch Farnbüschel, die ihnen bis zur Hüfte gingen. Es war kühl und die Geräusche des Marktes, die Dudelmusik und die furchtbaren Schlager verstummten. Vögel zwitscherten über ihnen und ihre Schritte raschelten durch die trockenen Blätter am Boden. Kälte legte sich auf ihre Haut. Sie liefen durch tiefe Schatten und vereinzelte Sonnenflecken, die durch die Baumkronen stachen. Die Luft roch feucht und schmeckte nach Erde. Robins Griff wurde fester.

»Gordan.« Er klang atemlos, obwohl sie höchstens hundert Meter gegangen waren. »Das ist weit genug. Tun wir es endlich.«

»Gleich. Ich will dir was zeigen.« Gordan drehte sich um. Obwohl er wirklich wütend und wirklich geil war, konnte er nicht anders als zu lächeln. Es war immer schön, Robin zu sehen. Nicht nur, weil er so verdammt hübsch war. Sondern weil er Robin war. Gordan vergaß mal wieder alles um sich herum und störte sich nicht mal daran, dass Dornen sich in sein Hosenbein gruben. »Kannst du noch kurz warten?«

Zähne blitzten. »Wofür hältst du mich? Für einen dauergeilen Lustmolch?«

Gordans Lachen ließ zwei Spechte aufflattern. Er beschleunigte.

Minuten später standen sie auf der kleinen Lichtung. Gordan hatte sie auf einem früheren Markt entdeckt, als er nach dem ganzen Trubel ein paar Momente allein gebraucht hatte. Junge Farne leuchteten hellgrün und das Moos auf dem großen Felsbrocken in der Mitte war weich wie ein Teppichboden. Der Felsen war groß genug für zwei Männer und oben beinahe flach. Gordan sprang hoch und streckte Robin die Hand hin.

Der ergriff sie. Seine Augen leuchteten. Mit einem Ruck wuchtete Gordan ihn auf den moosbedeckten Felsen, ließ sich rückwärts fallen und zog Robin mit sich. Beinah wären sie wieder heruntergerollt. Aber nur beinahe. Goldenes Haar glänzte im Sonnenlicht. Perfekte Schultermuskeln wölbten sich unter einem kurzärmligen weißen Hemd. Es roch nach Ahornsirup und frischem Schweiß.

Hungrige Lippen drückten sich auf Gordans, gierige Finger rissen an seinem T-Shirt. Er spürte die Härte zwischen ihnen, ihre beiden Härten. Entschlossen packte er Robin und warf ihn herum. Mit drei Handgriffen hatte er ihm die Hose bis zu den Knöcheln heruntergezogen und die Unterhose gleich mit. Ein Pfahl ragte vor ihm auf, wie er schöner nicht sein konnte.

»Gordan …« Das Drängen in Robins Stimme hatte einen verzweifelten Unterton. Gordan lächelte, beugte sich vor und leckte über Robins Eichel. Salz prickelte auf seiner Zunge. Ein heiseres Stöhnen schallte über die Lichtung. »Gordan … Willst du nicht …«

»Will ich was?« Gordan hob den Kopf und sah in ein Gesicht, das erstaunlich beherrscht war.

»Du hast nie …« Scharfe Zähne gruben sich in die pralle Unterlippe. Robins Blick war starr an Gordan vorbeigerichtet. »Ich meine, du hast nie versucht … Willst du mich gar nicht …« Ein düsterer Ausdruck trübte Robins Mine. Er schaute drein, als säße er beim Zahnarzt. Dann stützte er sich auf die Ellenbogen, wuchtete seinen göttlichen Körper in die Höhe und drehte sich um. Auf allen vieren kniend murmelte er: »Jetzt mach schon.«

»Was denn?«, fragte Gordan, obwohl es offensichtlich war. Der perfekte Arsch, der sich ihm entgegenreckte, war unmissverständlich.

»Fick mich. Das willst du doch, oder? Das musst du doch wollen.«

Gordan erstarrte. Mitleid wallte in ihm auf, als er Robins gepresste Stimme hörte, als er sah, wie dessen schöner Kopf sich neigte wie eine verwelkte Blume. Die Erregung ließ nach. Und das, obwohl er die schönsten Halbkugeln der Welt vor sich hatte. Obwohl Robin die Beine noch ein wenig spreizte und er bereits die ringförmigen Falten erkennen konnte.

»Aber du willst nicht, oder?«, fragte Gordan. »Robin. Schau mich an.«

Ganz langsam hob Robin den Kopf. Verwirrt sah er Gordan an. »Was?«

»Setz dich.« Gordan streckte die Hand nach ihm aus und Robin ließ sich neben ihm nieder. Er verschränkte die Finger mit Gordans und kleine Glücksschauer rieselten durch Gordans Magen. Ließ sich wohl nicht verhindern. Er zögerte. »Du magst es nicht, oder? Ich bin doch nicht blind … oder blöd. Immer, wenn ich deinem Arsch zu nahe komme, verkrampfst du.«

»Einen Scheiß tue ich.« Robins Augen blitzten wütend. »Ich verkrampfe kein Stück. Ich … steh total auf …« Langsam ließ er den Kopf sinken und stützte die Stirn auf seine Hand.

»Robin?«

Der murmelte etwas.

»Was?«

»Ich bin ein Versager.« Müde sah Robin auf. Sein Blick ging durch die schattigen Bäume hindurch. »Ich bin … Mann. Ich bin ein sexsüchtiger Lustmolch, aber nicht mal darin bin ich wirklich gut.«

»Du?« Du bist ein erstklassiger sexsüchtiger Lustmolch, wollte Gordan sagen, aber das war vermutlich nicht das, was sein Goldjunge gerade hören wollte. He. »Sein« Goldjunge.

»Ich …« Robins Lippen verzogen sich entnervt. »Du hast recht. Ich weiß nicht, wie du … Du bist der Erste, der es merkt.«

»Wirklich? Aber das ist so offensichtlich. Wenn man aufpasst.«

»Ja.« Nachdenklichkeit stand Robin ziemlich gut. »Ich schätze, bisher war ich niemandem so wichtig, dass er es gemerkt hätte.« Ein winziges Zucken der Kiefermuskeln. »Ich meine … Nicht, dass ich sage, dass ich dir wichtig bin. Ich … Du musst dich nicht bedrängt fühlen …«

Gordan verstärkte den Druck seiner Finger. Warme Gefühle strömten durch seine Brust und er fühlte sich wie ein dämlicher Teenager. Ein dämlicher, verliebter Teenager. »Du bist mir wichtig.«

»Ehrlich?« Endlich sah Robin ihn an. Er schien verblüfft. »Ich … wirklich? Du …« Er räusperte sich. Seine Ohren färbten sich rötlich. Ein Lächeln versuchte, sich auf die vollen Lippen zu stehlen, wurde aber weggepresst. Robin sah zu Boden.. »Du bist mir auch wichtig, Gordan.«

Die dämlichen, kribbligen Verliebtheitsgefühle tobten. Mit 300 Sachen wirbelten sie durch Gordans Herz. Er schluckte. »Das … Danke. Ich freu mich.«

»Echt?« Was war los mit dem Kerl? Warum schaute er so verwundert?

»Ja.« Gordan lachte, rau und männlich und verschluckte sich ein wenig. »Siehst du das blöde Grinsen hier?« Er deutete mit dem Daumen darauf.

Robin strahlte. »Ja.« Die Sonne schien ihre Strahlkraft zu verdoppeln, um seine geraden Zähne blitzen zu lassen. »So sehe ich auch aus, oder?«

»Ja. Steht dir.« Gordan fürchtete, dass er nur noch Blödsinn zusammenstammeln würde, wenn er beim Thema blieb. »Und wir müssen nichts machen, was dir nicht gefällt.«

»Aber …« Stirnrunzeln. »Sicher? Das gehört doch dazu.«

»Wozu?«

Schulterzucken. »Sex. Besonders, wenn man … nichts.«

Wenn man zusammen ist? Wenn man frisch verliebt ist und eventuell überlegt, noch ein wenig länger zu bleiben? Wie endete der verdammte Satz?

»Bleibst du noch ein wenig?«, fragte Gordan. »In Lummerdingen?«

»Ja.« Das kam von Herzen. Robins perfekte Züge wurden richtig sanft. »Ja, gern. Ich … Bist du sicher, dass ich nicht … Ich mag’s nicht, aber ich kann es machen. Ich krieg es immer hin.«

»Warum?«

»Weil es halt sein muss. Weil du sonst nicht genug kriegst?« Robin betrachtete wieder seine Füße. Er seufzte. »Ich hasse es. Ich habe alles probiert, echt. Entspannen, vorbereiten, Drogen, Schmerzmittel. Es ist einfach nur unangenehm.«

»Dann lassen wir es.«

»Aber was, wenn ich«, tiefes Einatmen, »länger bleibe? Wirst du es nicht irgendwann vermissen?«

»Länger« hieß »für immer«, oder? Gordan versteinerte. Wann hatte er angefangen, so einen Schwachsinn wie »Für immer« zu denken? Sie kannten sich seit kaum einer Woche und er war kein verdammter Jungspund mehr. Auch wenn er sich gerade so fühlte. Außerdem fühlte er sich ziemlich exzellent.

»Ich werde nichts vermissen.« Er lächelte. »Versprochen.«

»Echt?«

»Echt.«

Tiefes Ausatmen wölbte die vollen Lippen. »Danke, Gordan.«

»Bitte, Robin.« Er schloss die Augen. »Danke, dass du mir mit dem Stand geholfen hast. Ich war ein stures Arschloch.«

Das Schweigen war so absolut, dass er die Vögel zwitschern hörte. Selbst die Leierkastenmusik drang kaum vernehmbar herüber.

»Wow. Also, ich hätte nicht einfach den Stand umbauen sollen. Sorry.«

»Und Erica hat sich auch noch mit dir verbündet.« Eben war er so wütend gewesen. Wo war der Zorn hin? Verpufft. Es war gerade unmöglich, Robin böse zu sein.

»Sie mag mich. Genau wie du.« Robin schaute, als würde er Widerspruch erwarten. Der kam nicht. Stattdessen beugte Gordan sich vor und küsste ihn. Zart.

»Genau wie ich«, flüsterte er. »Und jetzt leg dich hin.«

19. Standhaftes Geldverdienen

 

»Und, wie viel hast du verdient?«, fragte Gordan danach. Danach, als sie Hand in Hand zurückgingen. Sie hatten nicht darüber reden müssen. Wie von selbst hatten ihre Finger sich verschränkt. Der Waldboden federte unter Robins Füßen, aber er hätte sich überall gefühlt, als würde er auf Wolken laufen. Sein blödes Herz klopfte so hart, hämmerte in seiner Kehle, dass er kaum noch Luft bekam.

Trottel, dachte er. Dummer Trottel. Nicht schon wieder.

Aber diesmal war es anders. Fühlte es sich anders an. Viel stärker und … anders halt. Gordan hatte ihn gebeten, zu bleiben. Okay, er hatte gefragt, ob er noch bleiben würde, das war nicht ganz das Gleiche. Aber es war egal. Unter den kühlen Schatten der Bäume, auf dem wolkenweichen Boden war es vollkommen egal.

Es war perfekt.

»Ungefähr 700 Euro.« Seine Stimme klang, als hätte er gerade Sprechen gelernt. Er räusperte sich. »Mehr oder weniger.«

»Was?!« Gordan sah ihn an. Fast wäre er über eine Baumwurzel gestolpert. »Bist du sicher?«

»Ich bin blöd, aber ein wenig Addieren kann ich«, murrte Robin. »692 Euro, um genau zu sein.«

»In der kurzen Zeit?!« Oh, Gordan war beeindruckt. Von ihm!

»Ja.« Robin grinste. Stolz weitete seine Brust. »Das ist gut, oder?«

»Das ist mehr, als ich auf dem ganzen letzten Markt eingenommen habe.«

»Ich hab doch gesagt, dass du es anders aufziehen musst. Das war alles viel zu dicht gedrängt. Sobald ein wenig Luft dazwischen ist, können die Gürteltiere und die Spitzmäuse richtig wirken.« Er holte tief Luft. So aufgeschlossen für neue Impulse würde Gordan vermutlich nie wieder sein. »Hast du mal darüber nachgedacht, Sets zu töpfern? Nicht nur Spitzmaustassen, sondern auch Untertassen und Teller? Es gibt genug Leute, die das kaufen würden. Die ganze Garnitur. Einige haben danach gefragt.«

»Ja, das tun sie immer«, knurrte Gordan. »So ein …. Aber vielleicht könnte ich das mal probieren.«

Nun wäre Robin fast gestolpert. »Meinst du wirklich?« Das ist ja … Erstaunlich un-arschig von dir, hätte er fast gesagt. »Du bist so aufgeschlossen heute.«

»Vielleicht wird’s Zeit, was Neues auszuprobieren«, sagte Gordan, und obwohl er Robin nicht ansah, war der absolut sicher, dass er ihn meinte. Na ja, fast.

Robin holte Luft und sprach, bevor er es sich anders überlegen konnte. »Für mich auch.«

Gordan sah ihn fragend an.

»Ich könnte wirklich eine Weile bleiben«, sagte Robin. »Ein wenig länger vielleicht. Mir, also, eine Wohnung suchen. Wenn mein Vater einverstanden ist.«

»Wenn dein Vater einverstanden … Wie alt bist du nochmal genau?« Gordans Augenbrauen schnellten nach oben.

»Vater verwaltet meine Finanzen. Das macht er bei uns allen. Er hat Zugriff auf unser gemeinsames Konto.« Robin sah ihn nicht an. »Er behält gern den Überblick. Das ist ganz … Normal vielleicht nicht. Aber er muss aufpassen, dass niemand dem Ruf der Familie schadet.«

»Bei deinen Geschwistern macht er das auch? Wie alt sind die? Dein schleimiger Bruder, der bei mir war, der war doch mindestens so alt wie ich.«

»Älter. Ich bin das Nesthäkchen.« Wieso ging Gordan gar nicht auf seinen Vorschlag ein, sich eine Wohnung in Lummerdingen zu suchen? Wollte er das nicht? Natürlich nicht. Bestimmt nicht. Robins Kehle wurde eng. Aber als er in Gordans Gesicht nach der bekannten Panik suchte, dieser »Verdammt-der-Langweiler-hat sich-verliebt«-Miene, sah er nur ehrliche Verwirrung.

»Na, wenn ihr das so macht.« Er zuckte mit den Achseln. »Ich freu mich, wenn du länger bleibst. Ich werde auch nicht für immer bei dir pennen, ich versprech’s. Wenn der Markt weiter so läuft, kann ich mir glatt wieder eine Wohnung mieten.«

»Du kannst bei mir bleiben, solange du willst. Wirklich.«

Ein Lächeln, das Robins Inneres schmelzen ließ wie heiße Butter. »Danke.«

»Es macht dir wirklich nichts aus?« Es platzte aus Robin heraus, bevor er es verhindern konnte.

»Dass du dich nicht ficken lässt? Nein.« Der Druck von Gordans Fingern wurde fester. »Aber nur dass du’s weißt: Ich werde ganz gerne mal durchgenommen.«

»Ach, echt?«

»Ja.« Ein dreckiges Grinsen. »Wenn ich erst mal Vertrauen gefasst habe. Ich bin sehr schüchtern, weißt du?«

Robin lachte.

Die Zelte schimmerten zwischen den Baumstämmen hervor und der Marktlärm schallte ihnen entgegen. Robin schloss die Augen, nur einen Herzschlag lang. Tief sog er den erdigen Geruch des Waldbodens in seine Lungen. Ließ die Wärme von Gordans kräftiger Hand auf sich wirken, ließ das gute Gefühl seinen Arm hinauffließen. Dann öffnete er die Lider und sah nach vorn.

»Hey, also wenn du willst …« Farne raschelten unter Gordans Füßen. »Ich glaube, ich habe mich inzwischen an dich gewöhnt. Heute Abend sollten wir den erfolgreichen Verkaufstag feiern.«

»Sehr gern«, sagte Robin würdevoll und führte innerlich einen Freudentanz auf.

»Ausgezeichnet, Goldjunge.«

»Wie war das?«

»Nichts, nichts. Ich frag mich, wie viele Tassen gestohlen wurden, seit wir weggegangen sind. Waren wir lange weg?«

»Um ehrlich zu sein, habe ich ein wenig das Zeitgefühl verloren. Deine Zunge schaltet mein Gehirn aus.«

Gordan schaute, als wollte er etwas Dreckiges sagen. Aber er stockte. »Oh. Na, das hätte ich nicht erwartet.«

Der Stand war besetzt. Sie sahen einen breiten Rücken, das TSV Sportfreunde Lummerdingen-Trikot und einen entsetzlichen Haarschnitt.

»Kevin?«

Der Fußballer fuhr herum, als er Robins Stimme vernahm. Neben ihm stand Kathi, die Tochter der Bibliothekarin. Sie sah sich ebenfalls um, schaute aber deutlich freundlicher.

»Na endlich«, knurrte Kevin. »Schlechte Nachrichten: Ihr seid ausgeraubt worden.«

20. Tatkräftige Hilfe

 

Kaltes Wasser rann durch Gordans Magen, aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Robin schaute schließlich zu.

»Wie meinst du das, ausgeraubt?« Er forschte in Kevins Gesicht, fand aber nur mürrische Mundwinkel und schwindende Akne. »Und was machst du überhaupt hier?«

»Ihre Mutter hat meine Mutter dazu überredet, dass ich sie herfahre.« Der Fußballer verdrehte die Augen und schaute Kathi an, als wäre sie die Ursache all seiner Probleme. Zumindest versuchte er eindeutig, so zu schauen. »Sie wollte unbedingt herkommen.« Er senkte die Stimme auf ein Flüstern, sodass nur noch Gordan ihn verstehen konnte. »Pass bloß auf, ich glaube, die ist hinter deinem Neuen her. Sie steht total auf ihn. Die ist extra hergekommen, nur um mit ihm über ein Buch zu reden.«

Wirklich? Gordan sah zu Robin und Kathi hinüber. Die beiden hatten sich begrüßt und waren schon in ein lebhaftes Gespräch vertieft. Kathis Gesicht leuchtete förmlich. Die war doch nicht wirklich … Und wenn schon. Hoffentlich nicht. Das arme Mädchen. Robin war eindeutig in ihn … Also zumindest hatte er zugestimmt, noch ein wenig länger zu bleiben, und das bedeutete garantiert sehr viel. Sehr, sehr viel.

»Ach, da mache ich mir keine Sorgen.« Gordan ließ den Blick über die Auslage schweifen. Er hätte schwören können, dass es schon wieder andere Tassen und Teller waren als vor einer Stunde, als er wutschnaubend hergekommen war. »Und wann wurden wir ausgeraubt?«

»Als wir hergekommen sind, hat sich gerade 'ne Gruppe Omis mit einem Stapel Regenwurmteller aus dem Staub gemacht. Und da fehlte auch was, die Stelle war leer.« Kevin deutete auf die Nashornbutterdose. »Die haben wir im Transporter gefunden. Kathi meinte, das passt gut zum Rest. Die sieht sowas.« Wieder sah er zu Kathi hinüber und sein Gesicht wurde wütend und verkniffen. Immer noch redete sie angeregt mit Robin. »Du könntest auch mal den Transporter abschließen, Gordan. Wie lange machst du das schon mit diesen komischen Märkten? Und was ist das hier überhaupt? Sind ja nur Rentner und Weiber unterwegs.«

»Ich mag die Märkte«, sagte Gordan gleichmütig. »Und es zahlt die Miete, wenn das so weitergeht. Danke für eure Hilfe. Die Kasse ist nicht geklaut worden?«

»Ne, ist sie nicht. Es sei denn, Kathi hat die mitgehen lassen.«

»Ja, das wäre ihr durchaus zuzutrauen«, sagte Gordan versuchsweise. Wie erwartet wurde Kevins Gesicht noch wütender.

»Was soll das denn jetzt? Wenn Kathi nicht gewesen wäre, dann wär der Stand jetzt leer! Und der Transporter auch! Sei mal nicht so undankbar, du … Ton-Spacken. Die Kathi hat dich gerettet!«

Gordan unterdrückte ein Kichern. Bloß nicht kichern. Vor Robin wollte er alt, erfahren und würdevoll wirken. Na gut, alt nicht. Aber wie ein Mann von Welt. »Sorry, war nicht so gemeint.«

»Aber echt. Als ob die Kathi …« Kevin steckte die Hände in die Hosentaschen und schaute die Gürteltierkanne an, als hätte die Kathi auch beleidigt. »Die ist eine nervige Nervkuh, aber die würde doch nichts klauen.«

»Ihr kennt euch seit der Grundschule, oder?« Gordan war nicht ganz sicher, aber immer wenn er in die Bibliothek ging, brachte Gerda ihn auf den neuesten Stand, was ihre Tochter betraf.

»Ja.«

»Und sie kann dich nicht leiden, richtig?« Gordan warf einen Blick zur Seite, aber Robin und Kathi waren immer noch in ihr Gespräch vertieft. Kathi schüttelte gerade lächelnd den Kopf und sah richtig hübsch aus. Die war doch nicht wirklich in Robin verliebt, oder?

»Nur, weil ich ihren blöden Zopf abgeschnitten habe. Mit der blöden Bastelschere. Mann, da war ich sechs, da ist man halt blöd.« Kevin knurrte leise. Aber irgendwie schaute er auch ziemlich traurig.

»Hast du dich entschuldigt?«

»Was, jetzt noch? Das ist doch ewig her. Außerdem hat sie mir danach Kleber auf den Stuhl gekippt, damit ich daran festklebe. Das war total gemein.«

»Hat eh nicht funktioniert.« Kathi stand plötzlich neben ihnen. Kevin zuckte zusammen. Sein Gesicht nahm einen zornigen Rotton an.

»Ne, weil du blöde Kuh Flaschen-Uhu genommen hast. Alle dachten, ich hätte mich eingepullert. «

Sie zuckte mit den Achseln und wirkte überhaupt nicht mehr schüchtern. »Es hat drei Jahre gedauert, bis mein Zopf so lang war. Und du hast ihn mir genommen! Du Schuft!«

»Du … Mann, wie redest du wieder? Du hast schon immer so … so doof geschwätzt, als wärst du eine Gräfin oder so.«

»Und du klingst wie ein Fußballer.«

»Danke.« Kevin verschränkte die Arme.

»Wenn du denkst, dass das ein Kompliment war, ist dein Intellekt noch beschränkter, als ich dachte.« Sie rückte ihre Brille zurecht.

»Selber beschränkt. Können wir jetzt fahren?«, murrte er.

»Ich will mir noch den Markt anschauen.« Sie hob das Kinn. »Was du machst, ist mir egal. Aber denk dran, was deine Mutter sagt, wenn du mich nicht nach Hause bringst. «

»Mir egal. Meinetwegen kannst du hierbleiben. Ich fahre.«

»Mach doch, was du willst.« Sie streckte Robin die Hand hin. Der schüttelte sie feierlich. »Vielen Dank, Robin. Ich … Ich schulde dir was. Wirklich.«

»Ach, das war doch nichts. Bedank dich lieber bei meiner Schwester, die hat schließlich den Kontakt hergestellt.« Robin lächelte. Obwohl seine Klamotten verdreckt und moosgrün befleckt waren, sah er wie ein Herzog aus. Mindestens.

»Bis später, Kathi.« Gordan winkte. Sie winkte zurück und verschwand, ohne Kevin auch nur eines Blickes zu würdigen.

»Mistkuh«, brummte der und schaute elend.

»Du Vollidiot«, sagte Robin.

Kevins Kopf ruckte hoch. »Wie hast du mich genannt, du Schleimer? Du … Dackel!« Er ballte die Fäuste. »Ich zeig dir gleich, wer ein Vollidiot ist. Ein Vollidiot, der blutet. Und so.«

»Vollidiot«, sagte Robin unbeeindruckt. »Du läufst ihr jetzt hinterher, sofort. Und dann unterhältst du dich mit ihr, und zwar schön nett und zivilisiert.«

»Das habe ich doch schon versucht, du Vollhorst!« Kevin warf die Hände in die Luft. Was für ein Umschwung. Von Wut zu Verzweiflung in unter einer Sekunde. »Dann streiten wir uns immer! Und ich weiß nicht, was ich mit der reden soll! Ich hab keine Ahnung von Büchern. «

»Die habe ich auch nicht. Und ich schaffe es trotzdem, freundlich mit ihr zu reden.« Robin knibbelte an einem Fleck in seinem Hemd. »Na großartig, das kann ich wegwerfen. Kevin, hast du mal daran gedacht, sie nach ihrem Buch zu fragen?«

»Das, das sie schreibt?« Kevin sah zu Boden. »Ne. Will ich nicht. Wenn sie mir erzählt, was sie alles weiß, fällt doch noch mehr auf, wie blöd ich bin. Was soll ich denn dazu sagen?«

»Du sollst nichts sagen, du sollst zuhören. «

Einen Moment lang befürchtete Gordan, dass er sich gleich auf Kevin stürzen müsste, um Robin zu retten. Dann sackte der in sich zusammen. Also Kevin. Wie ein Blumenstängel, der nicht genug gewässert worden war, neigte sich sein Kopf.

»Meinst du, ich schaff das?« Er räusperte sich. »Irgendwie streiten wir uns immer. Und wenn ich plötzlich so voll nett bin, dann … « Er räusperte sich erneut.

»Dann könnte sie merken, dass du in sie verliebt bist?« Robin zuckte mit den Achseln. »Na und? Vielleicht freut sie sich. «

»Glaube ich nicht.«

Aber zu hundert Prozent war er nicht überzeugt, denn er straffte sich und machte sich tatsächlich auf den Weg. Energisch riss er die weiße Plane zu Seite und verschwand. Sie waren allein. Fast allein. Die Leute drängten sich vor dem Stand. Ungeduldige Gesichter sahen zu Gordan und Robin auf.

»He, Sie! Sie wollen nichts verkaufen, was?« Eine Dame mit blondgrauem Zopf blitzte ihn wütend an. »Sagen Sie mir endlich, was die Spitzmaustasse kostet?«

»Fünfundzwanzig Euro«, sagte Robin, bevor Gordan auch nur den Mund aufgemacht hatte.

Es dauerte ewig, alle Kunden zufriedenzustellen. Als sie endlich einen Moment hatten, trat Gordan so nah an Robin heran, dass sich ihre Hüften berührten.

»Warum hast du ihm geholfen?«, fragte er. »Dem kleinen Kevin? Der war nicht gerade nett zu dir. Warum hast du ihm verraten, wie er sich an die Kathi ran machen kann?«

Robin wickelte gerade einen Regenwurmteller in Zeitungspapier ein. Mit schönen präzisen Falten. »Na, weil sie auf ihn steht. Und weil er es alleine nicht geschafft hätte.«

Gordan stutzte. »Sie mag ihn? Na, das hat sie gut versteckt. Woher weißt du das? Hat sie es dir etwa verraten?«

»Nein, wir haben vor allem über einen möglichen Buchvertrag gesprochen. Anscheinend hat der Verleger, den meine Schwester kennt, Interesse. Sie soll ein Exposé schicken.« Robin reichte den verpackten Teller nach unten und nahm vierzig Euro entgegen. »Viel Spaß damit«, sagte er, bevor er sich wieder Gordan zuwandte. »Ich wusste es, weil sie sich die ganze Zeit über Kevin beschwert hat. Sie meinte, er wäre ein sturer, verblödeter Primat.«

Schauer sickerten durch Gordans Bauch. Sehr angenehme Schauer. »Hat sie das, ja?«

Robin nickte. »Außerdem meinte sie, dass er ein Trottel und ein Blödmann wäre. Ich meine, wie klar kann der Fall noch sein?«

Ich finde, dass du ein Trottel und ein Blödmann bist, wollte Gordan sagen. Tat er aber nicht. Noch mehr Romantik traute er sich heute nicht zu.

»Ich frage mich, wo Erica und die Kinder sind. Schätze mal, die haben sich aus dem Staub gemacht. Sie hat ja gesehen, wie wütend ich war und hatte wohl Angst, dass sie die Nächste ist.«

»Und, bist du sauer auf sie?« Robin sah ihn neugierig an.

»Ja, schon. Aber ihr hattet vielleicht auch recht. Nein, ihr hattet recht. Ich sehe es ja selbst.« Er deutete auf die acht Leute, die gerade die Auslage begutachteten. »So voll war es hier noch nie.«

»Gern geschehen.« Robin lächelte. »Weißt du was? Ich hab richtig Spaß daran, ein Marktschreier zu sein.« Er senkte die Stimme. »Und ich freue mich auf heute Abend.«

21. Romantische Beleuchtung

 

Gleich ist er hier, dachte Robin und zündete die letzte Kerze an. Gleich kommt Gordan zur Tür rein. Gleich.

Er hatte es längst aufgegeben, gegen das Herzklopfen anzukämpfen. Es war zu mächtig. Zu schön. Er trat zurück und betrachtete zufrieden sein Werk. Klar, es war viel zu heiß, um so viele Kerzen anzuzünden. Sie flackerten im Luftzug, der aus dem geöffneten Fenster hereinstrich. Aber sie waren auch verdammt romantisch. Ihr Licht machte die Schatten weich und tauchte den Raum in goldenes Licht. Ja, dieses mittelmäßige Hotelzimmer sah richtig gemütlich aus. Fast wie ein Zuhause.

»Nicht schlecht.« Robin rieb sich die schweißfeuchten Hände an der Hose ab. Er hatte geduscht und sich umgezogen, da konnte er doch nicht schon wieder so viel schwitzen. Irgendwie war er nervös, aber auf eine sehr, sehr schöne Art.

Morgen würden sie wieder losfahren. Zurück auf den Markt. Vielleicht konnten sie irgendjemanden engagieren, der eine halbe Stunde auf den Stand aufpasste, und erneut im Wald verschwinden. Der Felsen war alles andere als bequem gewesen, aber Robin hatte den Duft des Mooses auf der Haut geliebt. Und die Sonnenstrahlen, die durch das dichte Blätterdach gefallen waren und seine Haut gewärmt hatten. Gordan hatte beinah unwirklich ausgesehen. Die dichten Haare angestrahlt von der Sonne, der starke Körper hell vor dem satten Grün. Wie ein … ähem. Wie ein sexy Holzfäller. Als würde er den Wald bewohnen, nein, als wäre er der Herr des Waldes. Ein wilder, furchtloser König …

Robin räusperte sich. Nicht so voreilig werden. Nicht zu viel hineininterpretieren, dass Gordan ganz angetan von der Idee gewesen war, dass er länger blieb.

Gut, dass der Motor so seltsame Geräusche gemacht hatte, auf dem Rückweg. Also eigentlich nicht gut, denn im schlimmsten Fall würde all das verdiente Geld für die Reparatur draufgehen. Nun, nicht alles. Sie hatten eine Rekordsumme verdient. Dank ihm und dank Gordans tollen Tassen und Tellern und … Inzwischen mochte Robin das Kunsthandwerk. Seit er gesehen hatte, wie Gordans Pranken zarte Spitzmaus-Ohren formten, fand er sie wunderschön. Die Hände und die Tassen. Nein, es war gut, dass Gordan noch in die Werkstatt fahren musste, die Ludwig gehörte. Jeder dieser Stadt schien zwei Jobs zu haben. Die Bibliothekarin zum Beispiel gab nebenher Yogakurse. Und Ludwig reparierte Autos. Und hielt Gordan lange genug auf, dass Robin Zeit gehabt hatte, alles vorzubereiten.

Hoffentlich gefällt es ihm, dachte er. Ist das zu kitschig? Ist das zu …

Panik rammte seinen Magen. Es war zu offensichtlich, oder? Also erst mal war es saumäßig schmalzig, und dann … Wenn ein Raum voll brennender Kerzen mit einem frisch gemachten Bett in der Mitte nicht sagte »Ich liebe dich«, was dann? Mist, wie peinlich. Robin sprang zum Nachttisch, wo sein Handy romantische Pianomusik dudelte. Er drückte auf Pause und sah sich hektisch um. Als Erstes musste er die Kerzen ausblasen.

Aber Gordan wird sie riechen, dachte er. Ich muss das Fenster ganz aufmachen, nicht bloß kippen. Vielleicht ist noch Zeit, vielleicht …

Sein Handy dudelte schon wieder. Und vibrierte. Er warf einen panischen Blick darauf und hoffte, dass es Gordan sei, der ihm mitteilte, dass er noch länger brauchen würde. Dann könnte er diesen Raum zurück in ein normales Hotelzimmer verwandeln, in dem sich zwei Männer vergnügten, die zwar viel Spaß miteinander hatten, aber …

»Vater«, las er auf dem Display. Ups. Auch das noch.

»Guten Abend«, sagte er und versuchte, ganz normal zu klingen. »Wie geht es dir? Gibt es Neuigkeiten?«

Ein tiefer Seufzer, der in »Du kannst nach Hause kommen« überging. Schweigen.

Robin zögerte. Er konnte den tiefen, gleichmäßigen Atem seines Vaters hören. Er sah ihn vor sich, in seinem Arbeitszimmer mit den schweren Vorhängen. Wie er hinter seinem ergonomischen Schreibtisch saß. Höhenverstellbar, weil er auf seinen Rücken achten musste. Gigantische expressionistische Gemälde zierten die Wände. Die waren das Letzte, was in dem Raum noch Robins Großvater gehört hatte, dem Gründer der Galerie Romberg-Krieger. Früher hatten sich die Aktenschränke an den Wänden gereiht. Aber Robins Vater war den Schnickschnack losgeworden, sobald Festplatten groß genug gewesen waren, um alle notwendigen Unterlagen zu fassen.

»Robin.«

»Ja, genau, ich meine …« Er musste sich zusammenreißen. Vater dachte schon schlecht genug von ihm. Und endlich ließ er ihn zurückkommen, nur … »Ich bleibe noch ein bisschen hier.«

Erneutes Schweigen. Dieses war schwer wie Blei.

»In Lummerdingen.« Robin überlegte. »Mir gefällt es. Und hier kann ich wenigstens keinen Blödsinn machen, oder?«

»Du hast dort bereits Blödsinn gemacht.« Die Stimme seines Vaters war scharf wie ein Skalpell. »Falls du dich erinnerst. Also hör auf mit dem Gefasel und komm heim. Du kannst den Flieger morgen früh nehmen. Und wenn dir das nicht schnell genug geht, sag Roman, dass du den Privatjet brauchst.«

Die Kerzen flackerten im leichten Windhauch. Robin roch das Bienenwachs und spürte die Wärme, die von ihnen ausging. Schöne Wärme. Auch den Sommerwind würde er schmerzlich vermissen, wenn er zurück nach Hause kam. Es roch dort anders als hier.

»Vielen Dank, Vater.« Er räusperte sich. »Aber ich glaube, ich bleibe trotzdem. Ein, zwei Wochen noch. Oder länger.«

Erneut vernahm er Schweigen. Als sein Vater wieder sprach, klang er so entnervt, als würde er mit einem bockigen Kleinkind reden, das sich weigerte, sein Gemüse zu essen. »Robin, du kommst nach Hause. Morgen.«

»Nein.« Robin legte auf. Eine Schockwelle raste durch seinen Körper und er starrte das Handy an. Was hatte er getan? Er hatte … Gut, er hatte vieles getan, das seinem Vater nicht gefallen hatte. Aber er hatte ihm nie eine Bitte abgeschlagen oder einen Befehl nicht befolgt, also bis auf den Befehl, keinen Blödsinn zu machen. Schon klingelte das Handy wieder. Robin schaltete es aus. Komplett. Erneut raste sein Puls, aber es war weit weniger angenehm als vor fünf Minuten.

Mist, Mist, Mist. Ich will nicht nach Hause. Ich will hierbleiben.

Konnte er hierbleiben? Er hatte keinen Job und kein Geld. Nun, er hatte Geld, aber nur, wenn sein Vater es zuließ. Seinem Vater gehörte das Familienvermögen, und wenn seine Kinder etwas davon nutzen wollten, mussten sie ihn fragen. Selbst Roman, der schon Anfang vierzig war. So alt wie Gordan. Dessen wunderbare Stimme plötzlich hinter ihm erklang.

»Ist das für mich?«

Robin wirbelte herum. Gordan stand im Raum und die Tür klappte gerade hinter ihm zu. Interessiert wanderte sein Blick über das Meer aus Kerzen. Doppelmist. Robin schluckte.

»Na ja … Ja. Ich dachte, das gefällt dir.«

Gordan kratzte seine Nase. »Was, mir? Wie kommst du denn darauf?«

Ach, egal. Über seinen Vater konnte er später nachdenken. Und wenn Gordan ihn zu schmalzig fand, dann konnte er zur Hölle fahren. »Weil du ein Romantiker bist, Gordan.« Er sah ihm fest in die Augen. »Ich habe deine Plastiken gesehen. Die von Tilmann. Du trauerst ihm seit zwei Jahren hinterher, weil du … Na ja, so wie du von ihm geschwärmt hast, das war …«

»Peinlich?« Eine Augenbraue hob sich.

»Nein, romantisch.« Robin zwang sich, den Blickkontakt zu halten. »Und immer, wenn du von Kunigunde und Eberhard redest und davon, wie lange die schon zusammen sind, kriegst du Leuchtaugen. Da dachte ich, du stehst bestimmt auf Kerzenlicht.«

»Und Rosen hast du nicht besorgt?« Gordan lachte. Etwas verschämt, aber glücklich. »Na gut, ich glaube, ich gebe mich dir trotzdem hin, Süßer.«

Ein Kosename! Ohne, dass jemand mithörte! Robin unterdrückte ein blödes Grinsen und schaffte es, es in ein ironisches Grinsen umzuwandeln. »Wie gewählt Ihr Euch ausdrückt, edelster Primat.«

»Da stehst du doch drauf, du kleiner Mistkerl.« Raue Pranken umschlossen Robins Wangen. Erdiger Tongeruch haftete daran. »Dem Wagen geht's übrigens gut. War nur 'ne Kleinigkeit, die kaum was kostet.«

»Das sind ja gute Neuigkeiten.« Robin brachte die Worte kaum hervor. Sein Hals war wie zugeschnürt, seit Gordans dunkle Augen zu ihm aufschauten. »Dann könntest du mich ja küssen.«

»Könnte ich«, bestätigte Gordan und tat es.

Der sanfte Kuss wurde zu einem innigen, die ruhigen Atemzüge, die Robins Lippen streiften, zu hektischen. Hastig zerrten sie sich gegenseitig die Kleider herunter. Das Umziehen hätte ich mir sparen können, dachte Robin, als seine frisch gebügelte Hose zu Boden fiel. Das Duschen auch.

Gordan hatte nicht geduscht, und roch wunderbar männlich. Der Duft färbte auf Robin ab, als Haut auf Haut traf. Als Gordans Arme ihn umschlossen und ihn noch tiefer in den Kuss zogen. Robin spürte ein Beben und er wusste nicht, ob es über seine oder über Gordans Haut lief.

Langsam sanken sie auf die Matratze nieder. Das Kerzenlicht färbte Gordans Körper golden, beleuchtete die behaarte Brust. Er lag unter Robin, und wirkte ganz und gar entspannt. Interessiert sah er zu ihm hoch.

»Und? «, fragte er. Sein unrasiertes Gesicht war zu einer spöttischen Grimasse verzogen. »Bist du bereit?«

Robin war mehr als bereit. Er war hart, angespannt und fürchtete, dass er viel zu früh losschießen würde. »Bin ich … soll ich …«

Gordan nickte. Er verschränkte die Hände im Nacken und schloss die Augen. Ein Bein winkelte er an, sodass Robin bereits die Hinterbacken sehen konnte, da, wo sein Sack aufhörte.

Robin riss die Nachttischschublade auf und wühlte darin herum, bis er alles gefunden hatte. Ungeduldig drückte er Gleitgel auf seine linke Hand. Eine viel zu große Portion, aber das war egal. So konnte er Gordans aufgerichtetem Schwanz noch eine Massage verpassen, die den wohlig stöhnen ließ. Erst dann, als er sich in kreisenden Bewegungen um die Hoden abwärts gearbeitet hatte, fuhr er mit zwei Fingern in die feste Spalte. Er spürte die harten Muskeln. Den Muskelring. Er zögerte.

»Mach schon.« Ein Schmunzeln lag auf Gordans vollen Lippen. »Oder hast du Angst gekriegt?«

»Natürlich nicht.« Robin konnte sich nicht erinnern, je so scharf auf jemanden gewesen zu sein. Und er war ziemlich scharf auf ziemlich viele Männer gewesen. Aber das hier …

Er spürte den Luftzug auf seinem nackten Rücken. Die Vorhänge waren zugezogen, die Tür verschlossen und niemand konnte sie sehen. Hoffentlich konnte niemand sie hören. Denn er war bereits an einem Punkt, an dem es ihm egal war. Vorsichtig drang er mit dem Zeigefinger in das enge Loch ein, weitete es und schmierte es ausgiebig ein.

Gordan gab Geräusche von sich, als würde er gerade aufs Angenehmste massiert. Wurde er auch, nur eben … da. Es sah berauschend aus, der kräftige Holzfällerkörper, der sich in die Laken drückte.

Sein Bauchnabel ist hinreißend, dachte Robin, der fürchtete, langsam den Verstand zu verlieren. Ein wunderbarer Bauchnabel auf einem nicht ganz festen, aber definierten Bauch. Daneben lag Gordans Schwanz, und wirkte so entspannt wie er selbst. Und sehr, sehr hart.

»Ich bin ein bisschen nervös«, rutschte es Robin heraus.

Träge öffnete Gordan ein Auge. »Ich auch.« Das Auge schloss sich wieder.

»So wirkst du aber gar nicht.« Verarschte der Kerl ihn?

»Ich schwöre es dir.« Gordan räkelte sich wohlig und stieß ein zufriedenes Stöhnen aus. »Ist lange her. Und es ist noch länger her, dass ich es mit jemand anderem als Tilmann getan habe.«

Das war ein Axtschlag für Robins Erregung. Na gut, er war immer noch so scharf wie vorher. Aber das Gefühl der Eifersucht vergällte ihm den bevorstehenden Fick. »Vermisst du ihn immer noch? Ich meine, sehr?« Blöde, blöde Frage. Natürlich tat er das. Robin hatte die Plastiken doch gesehen. Er hatte doch selbst gehört, wie Gordan …

»Kaum. Nein, eigentlich gar nicht mehr.« Gordan sprach leise, als könnte er es selbst nicht fassen. »Ich glaube, ich bin über ihn hinweg.«

Feuer prasselte in Robins Brust, von einem Moment auf den anderen. Er grinste. »Den Eindruck habe ich auch. Keine Ahnung, warum. Intuition, schätze ich.«

»Du bist halt ein Genie, Darling.« Gordan grinste ebenfalls, mit geschlossenen Augen. Und das reichte, um die letzten Reste der Eifersucht zu vernichten.

Robin riss die Kondompackung auf, rollte das Gummi über sein Glied und atmete tief ein.

Mach es gut, sagte eine Stimme in seinem Kopf. Mach es richtig gut, oder …

Oder was?, dachte er. Gordan würde mich nicht auslachen. Je mehr Macken ich habe, desto mehr scheint der mich zu mögen. Ja, wahrscheinlich freut er sich sogar, wenn ich irgendwas Blödes mache. Wenn ich zu früh komme, oder abrutsche oder einen Hänger habe … Ja. Es ist ihm egal. Vollkommen egal, dass ich nicht perfekt bin.

Gordan hatte hinter Robins glatte Fassade geblickt und, so unglaublich es schien, ihm gefiel das Chaos dort. Das wusste Robin. Verliebt sah er auf das Gesicht seines Holzfällers hinunter. So ein schöner Mann. Wie hatte er ihn je als Halbaffen bezeichnen können?

»Du bist wunderschön«, flüsterte er und setzte seine Spitze an. Er schob sich vorwärts, nur ein wenig, und glitt problemlos in Gordan hinein. Klar, es war eng, so eng wie ein fester Griff. Aber Gordan stöhnte und sein Gesicht verzog sich glücklich.

Als seine Eier Gordans Hintern berührten, atmete Robin aus. Und wieder ein. Ganz ruhig. Er hatte keine Angst mehr, zu früh zu kommen. Er war einfach nur glücklich, so glücklich. Mit klopfendem Herzen beugte er sich zu Gordan hinunter und küsste ihn. Erst sacht, dann nahm er dessen Unterlippe zwischen die Zähne und biss vorsichtig zu. Er fuhr mit den Händen durch die chaotische Frisur. Er kostete ihn, spürte Salz, Metall und auch Ton. Er roch frischen Schweiß und seinen Gordan und hätte vor Glück heulen können. Die heiße Enge da unten, das wohlige Keuchen hier oben. Gordans Augenlider öffneten sich und pures Glück strahlte Robin entgegen.

»Ich bin also wunderschön«, flüsterte Gordan. »Das sind ja gute Neuigkeiten.«

»Dass das Neuigkeiten für dich sind, ist mir klar.« Verdammt, was hatte er da schon wieder gelabert? Es schien unaufhaltsam. Unmöglich, Gordan keine Schwärmereien zuzuflüstern, ihm nicht zu sagen, wie sehr er ihn brauchte. Wie sehr er ihn liebte. Er wollte sich zurückhalten, wirklich. Aber in Zurückhaltung war er noch nie besonders gut gewesen.

Gordan rettete ihn, indem er sich bewegte. Indem er die Arme um Robins Rücken schloss, die Füße aufstellte und das Becken hob. Heiße Lust fuhr durch Robins Unterleib und er vergaß, was er beinahe gesagt hätte.

Sie taten es langsam. Erstaunlich langsam. Nie zuvor hatte Robin so etwas erlebt, diese Bewegungen, träge, als wären sie im Halbschlaf, obwohl Hitze und Erregung in seinem Körper tobten und sein Puls so raste, dass er kaum noch etwas hörte. Gordans Keuchen drang an sein Ohr. Sie umschlangen sich, so fest, als könnten sie zu einem Körper werden, als könnten sie für immer auf diesem Laken liegen, sich aneinander festkrallen und die Welt vergessen. Die Flammen wärmten ihre Haut. Der Geruch nach Honig und Wachs vermischte sich mit dem von zwei schwer atmenden Männerkörpern. Ja, langsam verloren ihre Bewegungen die Behäbigkeit. Robin schmeckte salzige Haut, spürte Lippen, die nach ihm schnappten. Unfokussiert. Gordans Schwanz rieb über seinen Bauch.

Robin stieß in ihn hinein, verzweifelt hämmerte er in das enge Loch. Er fühlte sich, als wäre er kurz vorm Bersten. Es war zu viel, viel zu viel. Wie konnte er so voller Liebe sein, so verdammt geil, dass er alles vergaß? Unkontrolliertes Japsen drang an sein Ohr und er fürchtete, dass es von ihm kam. Seine Bewegungen verloren jede Eleganz. Er packte Gordans Hüften, grub die Finger hinein. Und rammelte. Der Gipfel tauchte vor ihm auf, und er streckte sich ihm entgegen. Der Knoten zerbarst. Tausend kleine Explosionen erschütterten seinen Unterleib. Er hörte sich schreien, rau und wütend. Er spürte Gordans Zucken. Plötzlich wurde er hochgehoben, der Körper unter ihm riss ihn mit sich. Sein Kopf sackte vor, und gerade, als sein Orgasmus in sanften Wellen ausklang, brüllte Gordan. Zwischen ihnen wurde es nass.

Gordan war laut. Lauter, als Robin ihn je erlebt hatte.

»Ja! Ja, verdammt, ja!«, röhrte Gordan, bis alle Worte in einem undefinierbaren Laut aufgingen. Er zitterte und zuckte. Er war so stark und hart und hilflos, dass Robin fast geheult hätte.

Danach redeten sie lange nicht. Robin hatte keine Ahnung, warum Gordan schwieg. Er selbst war zu erschüttert, als dass er irgendetwas in Worte fassen könnte. »Das war schön« erschien ihm unsäglich banal, also sagte er es nicht. Angemessenere Worte fand er aber auch nicht. Also blieb er auf Gordan liegen, die Nase an dessen Ohr. Haare kitzelten seine Stirn und seine Wangen.

»Was ist dein Lieblingsessen?«, fragte Gordan. Robin blinzelte. Beinahe wäre er weggedöst.

»Mein Lieblingsessen? Warum?«

»Nur so.« Gordans Stimme war kratzig. »Ich dachte, ich koche mal für dich. Sobald ich wieder eine Küche habe. Wär das was?«

»Das wäre schön«, murmelte Robin. »Für mich hat noch nie jemand gekocht. Also, bis auf unseren Koch.«

»Vermisst du es sehr?« Es klang zu beiläufig, um echt zu sein. »Den Luxus?«

»Gar nicht.« Robin schmiegte sich an Gordan. »Gerade bin ich wunschlos glücklich.«

Gordan antwortete nicht, aber Robin spürte sein Lächeln. An der Nasenspitze, die er in die stoppelige Wange drückte. Leise seufzend sog er den würzigen Geruch ihrer verschwitzten Haut ein.

Er sah nicht auf das Handy, das immer noch auf dem Nachttisch lag.

22. Unerwartete Geldsorgen

 

Wieder fuhren sie in dem klapprigen Transporter über die Landstraße. Aber diesmal schämte Gordan sich nicht, weil das Lenkrad mit Panzertape repariert war oder weil das Polster an manchen Stellen, okay, an den meisten Stellen, abgewetzt war. Er genoss es. Es war das Schönste auf der Welt, mit Robin an seiner Seite in den Sonnenuntergang zu fahren. Goldenes Licht tanzte über die zerbeulte Motorhaube. Es umhüllte Robins Profil und zauberte gleißende Reflexe in seine Haare. Der Geruch von Sommerwiesen und staubigem Straßenbelag umwehte sie und der Fahrtwind kühlte das Wageninnere auf die perfekte Temperatur ab.

Robin hatte die Augen geschlossen. Ein Lächeln machte seine Gesichtszüge weich und entspannt.

»Woran denkst du?«, fragte Gordan.

»Daran, wie viel Geld wir verdient haben.« Das Lächeln wurde breiter. Gordan sollte wirklich auf die Straße achten, aber es fiel ihm schwer. »Über fünftausend Euro. Hast du wirklich noch nie so viel kassiert?«

»Noch nie«, bestätigte Gordan. Er wusste, dass es Robin stolz machte. »Wir sind ein gutes Team.«

»Das sind wir.« Robin sah ihn an, auf die Art, die sein Herz flattern ließ.

Gordan nickte zufrieden. Ein gutes Team. Vielleicht ein Liebespaar. Eines Tages. Sie hatten nicht von Liebe gesprochen, aber das bedeutete ja nicht, dass sie nicht da war. Denn auf seiner Seite war sie es. Er kämpfte nicht mehr gegen die blöden, glücklichen Gefühle an, die in ihn strömten. Immer, wenn er Robins Blick auf sich spürte. Wenn dessen Fingerspitzen seine Handfläche berührten und eine kribblige Spur hinterließen. Wie vorhin am Stand. Bei jeder Gelegenheit hatten sie sich angefasst, unter immer dünneren Vorwänden. Hatten angeboten, Schnabeltiertassen für den anderen einzupacken, nur weil sich bei der Übergabe der Töpferwaren für einen Moment ihre Hände berührten. Als hätten sie nicht genug Gelegenheit, sich zu berühren. Aber es reichte nicht. Es würde erst genug sein, wenn sie Tag und Nacht miteinander verschmolzen. Und selbst dann nicht, vielleicht.

Jupp, du bist verliebt, mein Alterchen, dachte Gordan. Sein Handy klingelte. Irgendwo im Auto. Robin fand es schließlich im Fußraum und reichte es ihm grinsend.

»Bitte, Schatz.«

»Danke, Darling.« Den Blick verträumt auf den Mittelstreifen gerichtet, ging Gordan ran. »Nur, dass du’s weißt, Erica: Ich bin immer noch sauer auf dich. Aber du hattest recht.«

Schweigen. Dann ein Schniefen. Und ein verzweifeltes Jaulen.

Gordan gefror. »Erica?«

»Er ist weg«, schluchzte sie. »Einfach so. Ich … Er ist weg, Gordan.«

Gordan musste nicht fragen, wen sie meinte. Grimmig drückte er das Gaspedal durch. »Durchhalten, Eri. Ich bin gleich bei dir.«

Robin sah ihn fragend an.

 

***

 

Eine halbe Stunde später bremste er vor Ericas Einfahrt. Seine Reifen hinterließen Spuren auf dem sauberen Asphalt. Die ganze Straße war reinlich wie immer. Als würde sie sonntags ordentlich durchgeklopft und gestaubsaugt. Die Neubauten standen aufgereiht zu beiden Seiten. Und keins der beigefarbenen Häuschen traute sich, einen Schritt nach vorne oder hinten zu tun.

Gordan riss die Tür auf und war schon halb die Einfahrt hochgelaufen, als er hinter sich die Autotür klappen hörte. Robin stand vor dem schrottreifen Transporter und sah Gordan fragend an.

»Ich geh erst mal alleine rein«, sagte Gordan. »Ich weiß nicht, ob sie Zeugen will.«

Robin neigte den Kopf. »Viel Glück.«

Das würde er brauchen können. Wann hatte er Erica das letzte Mal derart aufgelöst gehört? Höchstens, wenn sie sich bei seinen Sonntagsbesuchen stritten. Das war normal. Dass sie brüllte und wütend wurde. Dass sie verzweifelte, nicht.

Er klingelte. Augenblicke später war die Tür offen und Erica lag schluchzend in seinen Armen. Vorsichtig bugsierte er sie zurück ins Haus. Wenn sie sich abgeregt hatte, würde ihr wieder wichtig sein, was die Nachbarn von ihr dachten.

»Er ist wirklich weg, Gordan.« Ihr Gesicht war rot, verquollen, feucht und immer noch das seiner Lieblingsschwester. Ja, sie sah wieder aus wie mit 14, als jeder Streit mit ihrer besten Freundin sie zum Weinen gebracht hatte. »Georg ist weg. Wirklich weg. Er hat … Er ist … Mit dem Fahrrad.«

Er schloss die Arme um ihre bebenden Schultern und tätschelte sie etwas hilflos. »Ganz ruhig«, brummte er. Als er aufsah, blickte er direkt in Lukes Gesicht. Der Kleine schaute um die Ecke am Ende des Flurs und sah aus wie ein kleines Gespenst. Ein ordentlich gekämmtes kleines Gespenst.

»Sind die Kinder beide hier?«, fragte Gordan. »Lucy auch?«

»Natürlich sind sie hier«, schniefte sie. »Nur Georg nicht. Der …«

»Den schlag ich grün und blau.« Gordan hätte sich beinahe vor seiner eigenen Stimme erschreckt. Er klang wie ein Massenmörder. Schien Luke auch zu finden, denn er verschwand hinter der Ecke.

»Was?« Erica lehnte sich zurück und sah ihn verwirrt an. Tränen hingen in ihren Wimpern.

»Georg, der miese Mistkerl«, knurrte Gordan. »Der kleine Scheißer. Hatte dieser Vollidiot Louis also doch recht. Hat Georg wirklich was mit seiner Kollegin? Ist er bei ihr?«

»Was? Nein!« Sie schüttelte den Kopf. »Wie kommst du denn darauf?! Nein, er hat nur … Er ist nur …« Sie holte tief Luft. Sie straffte sich, und von einem Moment auf den anderen wirkte sie nicht mehr verzweifelt, sondern entschlossen. »Egal. Wir schaffen das. Irgendwie.« Energisch wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und hinterließ schwarze Mascaraspuren. »Als Erstes müssen wir Georg finden.«

»Eri, ich verstehe gar nichts mehr.« Er suchte nach einem Taschentuch und fand keins. »Was genau ist passiert?«

Sie seufzte. »Wir sind verschuldet. Hoch verschuldet. Hör mal, kann ich dir das später erklären? Wir müssen Georg finden.«

Eigentlich hatte er noch eine Menge Fragen. Aber ihr zuliebe schluckte er sie hinunter. »Klar. Ich hab den Transporter hier. Wo soll ich suchen?«

»Nein, wir nehmen unser Auto. Da sind die Kindersitze drin und wir … wir sollten alle zusammenbleiben. Ich ertrage es nicht, wenn heute noch jemand verloren geht.«

»Robin ist auch hier. Mach dir keine Sorgen, der kann dichthalten. Der ist ja nicht aus Lummerdingen.«

Sie grunzte abfällig. »Scheiß drauf. So wie ich die Trulla von nebenan kenne, weiß schon die ganze Stadt Bescheid, dass Georg abgehauen ist.«

»Aber nicht zu seiner Geliebten?«

»Was für einer Geliebten?« Sie sah ihn an, als hätte er behauptet, dass Georg in einer Rakete zum Mond entschwunden sei. »Wo hast du sowas denn her? Er ist weg, weil er sich geschämt hat. Wir hatten Streit und … Verdammt, warum geht es immer nur um Geld?«

Das fragte er sich auch. Kaum entspannte sich seine Lage, wurde Ericas verzweifelter.

 

Als sie aus der Tür traten, telefonierte Robin. Genauer gesagt lauschte er. Die Stimme, die aus dem Handy drang, war so laut, dass Gordan sie hörte, sobald er die Tür öffnete. Leider verstand er nicht, was der wütende Mann sagte.

Was für ein Arschlauch, dachte er. Robin sieht doch schon ganz elend aus, warum hört der Kerl nicht auf zu brüllen?

Elend war noch untertrieben: Sein Goldjunge schaute, als würde er sich gleich übergeben. Bleich und elend lehnte er am Transporter und sah zu Boden.

»Aber …«, murmelte er, wurde aber gleich unterbrochen.

»Wer ist das?«, fragte Gordan.

Robin machte einen Satz und stieß gegen den klapprigen Transporter. Der schwankte bedrohlich. Mit einer schnellen Handbewegung hatte Robin das Handy ausgeschaltet und es in seiner Hosentasche versteckt.

»Niemand. Unwichtig.« Er räusperte sich. »Und, wie ist die Lage?«

Gordan nahm ihm seine Unberührtheit keine Sekunde lang ab. Aber gerade gab es andere Probleme. »Erica bringt die Kinder mit raus, wir nehmen ihren Wagen. Bist du dabei?«

»Natürlich.« Robin zögerte. »Geht es dir gut? Geht es ihr gut?«

»Mittelmäßig«, brummte Gordan. Eigentlich ging es ihm großartig, aber wenn seine Schwester litt …

Das Garagentor öffnete sich mit einem leisen Summen. Scheinwerfer durchschnitten das Dunkel und irgendwie wirkte der silberne Passat wie die besessene Karre aus diesem einen Horrorfilm.

»Springt rein!« Erica lehnte sich aus dem Fenster.

 

Stumm fuhren sie durch die Nacht. Selbst die Kinder schwiegen brav und hielten Ausschau. Erica fuhr und hielt ebenfalls Ausschau. Gordan und Robin telefonierten.

»Probier als Nächstes Gerda«, sagte Gordan. »Oder halt, ihre Tochter. Deren Nummer hast du ja bestimmt.«

»Ja. Bist du etwa eifersüchtig?«

Gordan wollte sich beschweren, dass Robin die Lage nicht ernst genug nahm, aber der tippte bereits. Zwischen seinen Augenbrauen hatte sich eine Falte gebildet. Ernsthaftigkeit stand ihm, sehr. Selbst auf dem Rücksitz zwischen den Kindern sah er aus, als würde er in Saint Tropez am Strand liegen.

Die Kinder wirkten gelassener als die Erwachsenen, was vielleicht an dem Yoga-Mäuse-Kurs lag, in den Erica sie jeden Dienstag fuhr. Hätte sie mal lieber Georg dahin gefahren. Was war überhaupt passiert? Sie hatte nicht mehr erklärt, als dass sie verschuldet waren und er abgehauen sei.

Gordan konnte sich einfach nicht vorstellen, dass sein Schwager für immer abgehauen war. Er sah Georg vor sich: leicht nervös, lachte viel und hatte eckige Waden vom Radfahren. Überhaupt war Radfahren das einzige Thema, über das er mit wahrer Begeisterung sprach. Also abgesehen von seiner Frau. Und seinen Kindern. Wohin ging so ein Typ, wenn er flüchtete? Sollten sie ihn überhaupt stören?

Gordan versuchte erneut, Lisbeth zu erreichen. Wenn irgendjemand in Lummerdingen Georg gesehen hatte, dann wusste Lisbeth Bescheid. Aber er hörte nun schon zum dritten Mal die Mailboxansage. Fluchend legte er auf. Im Rückspiegel sah er, dass Robin eine Augenbraue hob. Er wollte fragen was war, aber in diesem Moment wurde er angerufen.

»Horst? Was gibt’s?« Hatte sich etwa herumgesprochen, dass sie Georg suchten?

»Gordan.« Horst klang angepisst. »Du musst deinen Schwager abholen.«

Ein Seufzer der Erleichterung entkam Gordan. Er hatte gar nicht gemerkt, wie große Sorgen er sich gemacht hatte. »Ist Georg bei dir? Wie geht's ihm?« Um ihn herum hielt der ganze Wagen den Atem an.

»Ne, ich bin auf der Arbeit. Also, ich würde gern arbeiten, aber solange dein blöder Schwager herumschaukelt, wird das nichts.«

»Was? Was macht der auf dem Ponyhof?«

»Dem Ponyhof!«, rief Lucy. »Kauft er uns ein Pferd?«

Luke schnaubte. »Papa kann uns kein Pferd kaufen. Wir sind pleite und abgebrannt. Hast du doch selbst gehört.«

Erica wurde blass. »Wie habt ihr das denn … Ich hab euch doch gesagt, dass ihr nicht lauschen sollt!«

»Ihr habt so laut gebrüllt, da mussten wir gar nicht lauschen.« Lucy sah aus dem Fenster und schob die Unterlippe vor.

»Ich! Hab! Gesagt! Dass ihr nicht lauschen sollt, verdammt!« Die Bremsen quietschen und sie alle wurden in ihren Sicherheitsgurten nach vorne geschleudert.

»Erica«, sagte Gordan.

Seine Schwester hielt das Lenkrad umklammert und starrte ausdruckslos auf die nachtdunkle Straße. Sie war totenbleich.

»Ich hätte sie fast überfahren«, murmelte sie. Da sah Gordan die beiden Igel, die vor ihnen über die Landstraße wackelten. Ihre maronenbraunen Stacheln glänzten im Scheinwerferlicht. »Ich hätte sie fast überfahren. Ich …«

Eine Träne kippte aus Ericas Augen und lief über ihre Wange. Ihr Mascara war nicht mehr zu retten. Schwarze Spuren rannen kreuz und quer über ihr gesamtes Gesicht.

»Erica, hey …« Gordan warf einen kurzen Blick auf die Rückbank. Drei Augenpaare starrten ihn an, als könnte er sie retten. »Jetzt sag doch endlich, was passiert ist.«

»Nichts ist passiert.« Sie presste die Lippen aufeinander. Ein tiefer Seufzer hob ihre Brust. »Das Dach ist kaputt. Und wir können uns die Reparatur nicht leisten. Und wir sind … Wir haben uns so darauf verlassen, dass Georg die Gehaltserhöhung bekommt. Er war ganz sicher … Und es tut mir so leid, dass ich ihn so dazu gedrängt habe. Aber jetzt können wir die nächste Rate nicht zahlen und … Gordan, wir brauchen Geld. Oder wir verlieren das Haus.«

Gordan dachte an das saubere Reihenhäuschen, das so anders war als die Bruchbuden, die er bewohnt hatte. An das Neubaugebiet, von dem Erica schon als Kind gesprochen hatte, als sei es das Wunderland. Damals, als gerade die ersten Häuser gebaut wurden. Sie hatte sich so gefreut, als sie eingezogen war. Wie stolz sie ihn herumgeführt hatte. Wie viele Pläne sie gehabt hatte, um das Haus einzurichten, um es noch klimafreundlicher zu machen, um die ideale Lern-Atmosphäre im Kinderzimmer zu erzeugen.

»Es ist alles hin. Die ganzen Schulden …« Sie schüttelte den Kopf. »All die Arbeit und all das Geld und jetzt war es das. Wir werden uns irgendeine miese Bude mieten müssen und versuchen, die Schulden abzubezahlen. Naja, immerhin bekommen wir das Haus verkauft, schätze ich. Unser … Zuhause. Mann, Gordan. Ich war so stolz darauf, was ich aus mir gemacht habe. Dass ich meinen Kindern was anderes bieten kann als … als Armut und Chaos.«

»Aber das kannst du doch.« Er tätschelte ihren Rücken »Sogar wenn ihr ausziehen müsst, egal wohin, dann kümmerst du dich immer noch besser um Lucy und Luke als unsere Eltern sich um uns gekümmert haben. Außerdem war eh nicht alles schlecht. Manchmal könntest du sogar … Weißt du, du könntest manchmal sogar mehr wie Mum und Dad sein.«

Sie sah ihn an, als hätte er sie mit einem Massenmörder verglichen. Er machte sich auf eine Standpauke gefasst, aber seine Schwester ließ nur sanft den Kopf auf das Lenkrad sinken.

»Ja, vielleicht.«

Er war zu schockiert, um zu antworten.

»Vielleicht hab ich’s ein wenig übertrieben. Vielleicht … Diese Yogastunden sind so teuer, und die Kinder mögen sie sowieso nicht. Vielleicht müssen sie nicht jeden Tag in einen anderen Kurs …« Sie seufzte.

»Ich mag Yoga«, sagte Luke. »Aber kann ich mit der Musikwiese aufhören?«

»Aber die fördert die Synapsenverknüpfung … Ach, warum nicht?« Erica wandte sich Gordan zu. »Hast du gesagt, dass du Georg gefunden hast? Auf dem Ponyhof?«

»Ja. Oh, ich glaube, ich habe Horst noch dran.« Ja, sein Handy leuchtete. »Horst? Hast du alles mitgekriegt?«

»Ja, und es interessiert mich nicht«, log Horst. »Wann kommt ihr Georg holen?«

»Jetzt.«

»Gut.« Er hörte, wie Horst tief Luft holte. »He, Georg! Deine Familie kommt dich holen!« Ein leises Ächzen. »Baumelt einfach weiter, der Kerl.«

Baumelt?!

 

Georg hing in dem gigantischen Hufeisen, das über der Zufahrt zum Ponyhof angebracht war. Ungewohnt locker lag er in dem großen »U«, wie ein trübsinniger Mann im Mond. Seine Haare wehten in der Brise. Er zuckte zusammen, als Erica knapp unter ihm bremste.

»Georg!«, rief sie aus dem Fenster zu ihm hoch.

»Eri!« Er richtete sich ein Stück weit auf, zuckte dann aber zusammen und klammerte sich an dem lackierten Blech fest.

Ganz schön hoch, dachte Gordan. Vier Meter mindestens. Würde Georg sich abrollen können, wenn er stürzte?

Hinter ihnen lag der Ponyhof. An dem Geruch nach Heuballen und Pferdeäpfeln hätte man ihn erkannt, selbst, wenn man das gigantische Hufeisen übersehen hätte.

Neben der beleuchteten Auffahrt stand Horst, die Hände in die Hüften gestützt.

»Kommst du da jetzt runter?«, brüllte er hoch.

»Kann nicht!«, rief Georg. »Ich hab doch Höhenangst.«

»Warum bist du dann hochgeklettert?«

»Ich komm dich holen«, schrie Erica, stellte sich auf den Fahrersitz und kletterte aus dem Dach. Gordan sah ihre giftgrünen Crocs verschwinden. Dumpfe Schritte erklangen auf dem Autodach.

»Es ist zu hoch! Gordan!« Zwei Schläge, vermutlich mit der flachen Hand aufs Dach. »Gordan, hilf mir mal!«

Er öffnete die Wagentür. Erica und Georg sahen aus wie Romeo und Julia. Erica auf dem Dach reckte die Hand nach Georg aus, der in seinem Hufeisen hing und sie schmachtend ansah.

Letzten Endes musste Gordan über die Pfosten auf das Hufeisen klettern, Georg auf den Rücken nehmen und wieder hinunterkraxeln. Der zweite Weg war eindeutig der schwerere. Nicht nur wegen des Gewichts, auch, weil Erica und Robin unten auf dem Weg standen und hilfreiche Ratschläge gaben.

»Fuß nach links!«, rief Robin. »Nein, zu weit. Weiter rechts!«

»Pass auf ihn auf! Pass bitte auf ihn auf!«, brüllte Erica, als wären sie 30 Meter vom Boden entfernt statt drei. Dann nur noch zwei. Dann nur noch einen. Dann berührten Gordans Füße den mit Hufabdrücken übersäten Boden und Georg löste sich von seinem Rücken, um Erica in die Arme zu fallen.

»Eri!«

»Georg!«

Seine Schwester und ihr Mann klammerten sich aneinander, als wollten sie zu einem Wesen verschmelzen.

»Es tut mir leid«, sagte Erica.

»Nein, mir tut es leid. Ich hätte sowas nicht sagen sollen. Und schon gar nicht weglaufen.«

»Ach, ich war doch auch nicht besser. Gut, dass dir nichts passiert ist.«

Die Kinder sahen aus dem Autofenster zu und winkten. So gelassen, als hätten sie ähnliche Szenen schon öfter erlebt. Hatten sie das? War Ericas Leben gar nicht so spießig und langweilig, wie Gordan gedacht hatte?

»Kann es sein, dass deine Schwester einen Hang zum Pathos hat?«, flüsterte Robin in sein Ohr und allein der Geruch nach Ahornsirup, der von ihm ausging, ließ Gordan wieder auf ganz andere Gedanken kommen.

»Das hat sie von Mum und Dad«, flüsterte Gordan zurück. »Sag's ihr lieber nicht.«

»Kannst du sie wegschaffen?«, raunzte Horst von der anderen Seite. »Ich hab noch Boxen auszumisten und euer Drama stört.«

»Du stehst doch auf Drama.« Robin schnalzte mit der Zunge. »Das hier muss dir ein Fest sein.«

»Nicht, wenn ihr das blöde Fest auf unserer Auffahrt veranstaltet.« Horst schenkte ihm einen vernichtenden Blick.

Robin lächelte. »Ach komm, als würdest du nicht schon halb am Handy hängen, um Olga davon zu erzählen.«

»Wieso denn Olga? Hat sie was über mich gesagt?«

»Ja, dass sie sich total nach dir verzehrt.« Robin wackelte mit den Augenbrauen.

Der Sarkasmus war an Horst verschwendet. Dessen Gesicht leuchtete auf. »Was, echt?« Er straffte sich und rieb sich das staubige Kinn. »Hat sie noch was gesagt?«

»Das muss sie dir schon selber erzählen.« Robin wandte sich den Kindern zu. »Alles in Ordnung bei euch?«

»Horst liiiebt Olgaaa!«, sang Lucy und grinste breit. Und zahnlückig. Ihr Bruder fiel ein. Ab und zu machte Gordan sich Sorgen um diese beiden, die von einer Frau großgezogen wurden, die stets übers Ziel hinausschoss. Aber sie schienen es gut zu verkraften. So wie Erica und er die Erziehung durch ihre Chaos-Eltern verkraftet hatten. Er dachte an das blitzsaubere neue Haus und seufzte. Daran, wie Erica mit den Kindern auf dem Rasen Tai Chi trainiert hatte. An Grillabende, bei denen Georg ihm stets die Verantwortung für den Grill überlassen hatte, ohne mit der Wimper zu zucken.

Die beiden lagen sich immer noch in den Armen, als könnte der nächste Windstoß sie auseinanderreißen. Er sah das glückliche Lächeln in Georgs Gesicht.

Und seufzte. »Robin, pass auf die Kinder auf. Und auf Horst. Ich muss nach meiner Schwester sehen.«

»Jawohl, Schatz«, sagte Robin.

Erica folgte seinem Winken. Widerstrebend löste sie sich von ihrem Gatten, und folgte ihm ein Stück den Weg entlang. Der Geruch nach benutztem Stroh wurde intensiver. Wind raschelte durch die hohen Gräser am Wegesrand und durch Ericas zerrupfte Frisur. Gordan nahm sein Portemonnaie aus der hinteren Hosentasche und wog es in der Hand. So ungewöhnlich gut gefüllt. Nicht mehr lange.

»Was ist?« Erica strich sich eine braune Strähne aus dem Gesicht.

»Mach dir keine Sorgen. Ihr werdet das Haus nicht verlieren.« Er öffnete seine Brieftasche und reichte ihr das komplette Bündel Scheine. »Hier. Reicht das?«

Sie starrte auf die Geldscheine und hob abwehrend die Hände. »Was, woher hast du so viel Geld? Habt ihr etwa so viel …«

»Ja, haben wir. Nimm es.«

»Auf gar keinen Fall.« Sie schüttelte den Kopf. »Niemals. Ich kann doch nicht dein Geld nehmen, wenn du endlich etwas hast. Damit kannst du die Miete für die Werkstatt bezahlen und eine neue Wohnung suchen und …« sie seufzte. »Nein, ich kann das auf keinen Fall annehmen.«

»Erica, du bist meine absolute Lieblingsschwester. Und ein Dach über dem Kopf ist dir wichtiger als mir.«

»Nein.« Sie presste die Lippen aufeinander. »Das kann ich dir nicht antun.«

»Du tust mir nichts an. Auf dem nächsten Markt verdiene ich wieder Geld. So lange kann ich warten.«

»Aber …«

»Wenn du es nicht für dich nimmst, dann für Luke und Lucy.«

Er sah das Flackern in ihrem Blick und wusste, dass er einen Nerv getroffen hatte.

»Erica, bitte.«

23. Weitere Probleme

 

Die Rückfahrt war unbequem, aber ganz lustig. Robin saß auf der Rückbank, auf Gordans Schoß. Der schien in Gedanken versunken, aber Robin wollte ihn nicht fragen warum. Das hatte Zeit. Nachher, im Hotelzimmer. Da würde er sich ausgiebig darum kümmern, dass Gordan wieder lächelte und nicht so grimmig guckte wie jetzt. Zwischen den beiden Kindern in ihren Autositzen war das leider nicht möglich. Er hatte das Gefühl, dass die beiden sehr genau darauf lauschten, was Gordan und er sprachen.

Die Polizei hielt sie zum Glück nicht an. Und selbst wenn, hätten Erica und Gordan sich wahrscheinlich rausreden können. Trotzdem stockte Robins Herz einen Moment lang, als er Sirenen hörte. Aber das Feuerwehrauto rauschte an ihnen vorbei und beachtete sie nicht.

 

Auch als sie wieder in Gordans Transporter saßen, um die restlichen Keramikwaren zurück in die Werkstatt zu bringen, war es ruhig. Nicht unangenehm ruhig, aber Gordan schien über etwas nachzugrübeln. Sehr gründlich. Robin interessierte brennend, was das war, aber unter Aufbietung all seiner Kräfte hielt er die Klappe.

Vielleicht überlegt er, wie er mir am besten seine Liebe erklären kann. Oder, wie er mich gleich verwöhnen will. Garantiert.

Das nächtliche Lummerdingen zog an ihnen vorbei. Die schiefen Häuser im trüben Licht der Straßenlaternen sahen richtig gemütlich aus. Fast wie ein Zuhause. Inzwischen kannte Robin die Rückseite der Wachtelwirtin und die Fachwerkhäuser der Hauptstraße.

Selbst der Parkplatz in der Fußgängerzone war ihm bekannt. Von dem aus würden sie die Kisten mit dem kleinsten Aufwand zurück in die Werkstatt schleppen können.

Konnten sie aber nicht.

Schwatzende Grüppchen standen vor der Eingangstür. Grüppchen, die zusammenzuckten, als sie Gordan erblickten. Die Luft stank nach Rauch und verbranntem Holz. Eiswasser rann durch Robins Adern.

»Gordan!« Ludwig kam auf sie zu. »Mensch, das tut mir jetzt echt leid …«

»So eine Katastrophe.« Mitleid glitzerte in Lisbeths Augen.

»Was ist passiert?« Gordan sah sich um. Alles wirkte wie immer, wenn man von dem Geruch absah. Und der Feuerwehr, die gerade ihre Sachen zusammenpackte.

»Deine Werkstatt …«

Gordan setzte die Kiste ab, so abrupt, dass die Keramik darin schepperte. »Was?!«

»Eberhard hat wieder gezündelt und …«

»Geht es ihm gut?« Gordan klang absolut panisch.

»Ne, dem ist nichts passiert. Aber der Feuerwerkskörper, der ist in das Fenster von deiner Werkstatt geflogen. Das gekippte.« Die Worte waren Ludwig sichtlich unangenehm. »Es sieht nicht gut aus. Also das, was wir sehen konnten, bevor Danielle uns rausgeworfen hat.«

Gordan klemmte sich die Kiste unter den Arm, riss die Eingangstür auf und stürmte den Flur entlang. Robin folgte ihm. Über den fadenscheinigen Läufer, durch die Hoftür. Zu dem, was von der Werkstatt übriggeblieben war: geborstene Fenster, geschwärzte Rahmen. Und Wasser, das in schwarzen Rinnsalen über die Treppenstufen tröpfelte.

Das Licht im Hof war an. Eine hübsche Rothaarige in ausgebeulten Jeans stand auf der obersten Treppenstufe zur Werkstatt. Sie mochte Mitte zwanzig sein.

Gordan stöhnte leise, als er sie erblickte. »Danielle. Was ist mit der Werkstatt?«

»Nichts ist mit der Werkstatt. Das war's.« Sie sah über ihre Schulter in den dunklen, nassen Raum. Ein paar Regalpfeiler standen noch, aber die Bretter waren zusammengebrochen. Überall lagen Scherben. So viele Scherben. Robin erkannte eine Spitzmaus, deren geschwärzte Nase sich traurig gen Decke reckte. Der Gestank nach Ruß und Feuer war kaum zu ertragen.

»Nein«, flüsterte Gordan. Mit steifen Beinen stapfte er die Stufen hinauf.

»Du sollst da nicht rein«, sagte Danielle. »Sie wissen noch nicht, ob es einsturzgefährdet ist.«

Gordan hörte nicht auf sie. Erst, als Robin hinterherhechtete und seinen Arm packte, blieb er stehen. Stumm betrachtete er die schwarzen Skelette, die einmal seine Werkbank und die Drehscheibe gewesen waren. Der Ofen stand noch, aber Robin sah, dass die Kabel und die Anzeige verschmort waren. Der Geruch nach verbranntem Plastik hing in der Luft. Vielleicht hatte der Feuerwerkskörper zuerst hier eingeschlagen. Oder in der Ecke, in der die Rumflasche stand. Gestanden hatte. Die, die Robin gekauft hatte, um das Modellstehen lustiger zu gestalten. War das etwa seine Schuld? Aber vielleicht war es auch einer der Zeitschriftenstapel gewesen.

»Bist du versichert?«, fragte Robin.

Gordans Gesichtsausdruck sagte alles, was er wissen musste. Natürlich nicht, eine Versicherung kostete schließlich Geld.

»Schau mal, der Teller da ist heil geblieben«, sagte Robin, verzweifelt. »Den muss man nur noch abwischen, dann kann man ihn verkaufen. Und wir haben noch die restlichen Waren vom Markt. Und von dem Geld, das wir heute verdient haben, kannst du dir einen neuen Ofen kaufen. Und Ton. Wir finden ein neues Atelier, bestimmt.«

»Ich habe kein Geld«, krächzte Gordan.

»Was, aber … natürlich hast du Geld. Was erzählst du?«

»Gordan.« Eine kratzige Stimme erklang im Hof. Als sie sich umdrehten, sahen sie Eberhard und Kunigunde. Danielle stand hinter ihnen wie eine Leibwächterin. »Gordan, das tut mir so leid. Ich bin abgerutscht und …« Eberhards Stimme verklang.

»Passiert.« Gordan rang sich allen Ernstes ein Lächeln ab. »War ja nicht deine Absicht, richtig?«

»Ach, Junge.« Kunigunde humpelte auf sie zu. Gordan ging die Stufen hinunter, als wäre er tonnenschwer. Kunigunde nahm seine Hände.

»All die schönen Dinge.« Tränen schimmerten zwischen weißen Wimpern. »Alles hin.«

»Ach, da lässt sich bestimmt noch was retten …« Gordans Stimme verklang.

»Du schuldest uns noch drei Monatsmieten.« Danielles Stimme schnitt durch die Nachtluft. »Wann kannst du die zahlen?«

»Aber Dani, der Gordan …« Eberhard sah sie bittend an.

»Der Gordan hat hier jahrelang gehaust und die Miete war immer zu spät.« Sie verschränkte die Arme. »Mietschulden sind Mietschulden.«

»Im Moment hat Ihr Großvater ja wohl Schulden bei Gordan.« Robin trat vor. »Da drin sind Gegenstände im Wert von mindestens 10.000 Euro zerstört worden. Vermutlich mehr.«

Danielles Gesicht wurde hart und blass. »So teuer war der Krempel nie und nimmer.«

»Ich versichere Ihnen, dass er das war. Ich hoffe, wenigstens Ihr Großvater ist haftpflichtversichert.«

Schweigen. Was stimmte mit diesen Lummerdingern nicht?

»Ist das euer Ernst?« Robin blickte in die Runde. »Dann …«

»Lass gut sein, Robin.« Eine müde Pranke legte sich auf seinen Arm. »Der Eberhard war der beste Vermieter, den ich mir wünschen konnte. Und der netteste. Wenn's nach mir geht, sind wir quitt. Niemand hat mehr Schulden bei keinem.«

Erleichterung breitete sich auf den drei Gesichtern vor ihnen aus.

»Danke, Gordan.« Kunigunde lächelte zaghaft. »Du armer Kerl. Kann ich … Magst du eine Tasse Tee? Oder ein Bierchen? Dann können wir überlegen, wie es weitergeht.«

»Das ist lieb.« Gordan hustete, als hätte er Ruß in der Lunge. »Aber ich brauch einen Moment allein. Muss erst mal alles verdauen. Morgen gern.«

Sie nickte. Schweigend verzogen die drei sich. Gordan stolperte zu der umgedrehten Weinkiste, die mitten auf dem Rasen stand und ließ sich darauf fallen. Holz knackste. Gordan legte die Hände auf die Schenkel und seufzte. Sein Blick ruhte auf der offenen Ateliertür und den geborstenen Fenstern wie auf einem alten Liebhaber, der die Liebe nicht länger erwiderte.

»Das war es dann also.« Wie konnte man so traurig lächeln? Und dabei so begehrenswert aussehen?

»Was zur Hölle tust du da?« Robin setzte seine eigene Kiste unsanft ab. Zornig starrte er Gordan an. »Das war eindeutig Eberhards Schuld. Der soll dir wenigstens einen neuen Ofen kaufen.«

»Eberhards Rente reicht kaum für ihn und Kunigunde. Die hätten mich längst rauswerfen sollen. Und sich jemanden suchen, der zahlt.«

Robin ballte die Fäuste. »Okay, dann zahl den neuen Ofen halt selbst. Mir egal. Aber sag nicht, dass es vorbei ist. Es ist nicht vorbei.«

»Doch, ist es. Ich habe kein Geld.«

»Natürlich hast du Geld. Wir haben es heute erst verdient.«

»Ich habe es Erica gegeben.«

Die folgende Stille wog schwer. Grillenzirpen durchbrach sie punktuell, aber sie lag über ihnen wie eine Betondecke.

»Du hast es Erica gegeben? Warum? Du …« Robin atmete tief ein. Er schloss die Augen und atmete ganz langsam aus. »Bist du bescheuert?!« Er sprang auf. »Du wirfst einfach alles weg, für das wir gearbeitet haben? Und jetzt hast du keine Werkstatt mehr und keinen Ofen und … nicht mal Ton!«

»Nein.« Gordan betrachtete seine Pranken. »Vielleicht suche ich mir einen richtigen Job. Erica braucht Hilfe und wenn ich irgendwas Solides finde, kann ich sie unterstützen.«

»Sag mal, spinnst du? Du … Du töpferst gefälligst weiter!« Robins Hände zuckten vor Lust, Gordan eine zu scheuern. Was war los mit dem Kerl?

»Vergiss es.« Gordan rieb seinen Nacken. Immer noch wich er Robins Blick aus.

»Ich vergesse gar nichts!« Robins Stimme hallte von den alten Außenwänden wider. »Du … Du Vollidiot! Du hast alles kaputt gemacht, was wir geschafft haben! Du kannst doch nicht einfach so aufgeben!«

Er war so verdammt wütend. Gordan wehrte sich nicht einmal. Wie ein trübsinniger Bär saß er da, die Unterarme auf die Oberschenkel gestützt und sah zu Boden.

»Steh auf!« Der Anblick tat Robin weh. Wo war der Mann, der ihn bei ihrer ersten Begegnung vor die Tür gesetzt hatte? Wo war der Kerl, der über jeden dreckigen Witz grinste?

»Kannst du mich kurz allein lassen? Ich brauche einen Moment.«

»Aber …«

»Robin. Geh bitte.«

»Gordan, ich …«

»Hau endlich ab!«

Die Worte schmerzten. Ja, sie krallten sich in Robins Brust wie eine Kneifzange.

Lass mich in Ruhe. Ich brauche dich nicht. Was machst du überhaupt hier, du nutzloser Schnösel?

Er hob das Kinn. Stumm ging er an Gordan vorbei und schritt über die unebenen Pflastersteine. Durch den Hausflur, auf die Straße. Die Grüppchen zerstreuten sich gerade und die, die ihn ansprachen, ignorierte er. Wütend marschierte er weiter. Er wusste nicht, ob er heulen oder brüllen sollte.

Krieg dich wieder ein, du Idiot. Er braucht nur einen Moment alleine, mit seinem zerbrochenen Traum. Mit seinem Atelier, das er nicht mehr hat. Wo soll er denn jetzt hin? Na gut, zu mir ins Hotelzimmer, nur … Was dann?

Ohne Atelier konnte Gordan kein Geld verdienen. Ohne einen Ort, an dem er töpfern konnte, weil er Erica anscheinend seinen letzten Cent gegeben hatte. Robins Seufzen huschte durch die Fußgängerzone von Lummerdingen. Es war fast Mitternacht und totenstill.

Trübsinnig schlurfte er die Straße entlang, so wie am ersten Tag. Diesmal ging er an der Wachtelwirtin vorbei, wanderte ziellos durch die Straßen und stand schließlich vor dem Säckerbrunnen. Die Hand, die aus dem Sack des gebeugten Mannes schaute, schien ihm höhnisch zuzuwinken.

»Hallo, du Sack«, murmelte Robin. Er sah ins fröhlich schimmernde Wasser.

Nein, Gordan hatte das bestimmt nicht so gemeint. Er hatte ihn bestimmt nicht wegschicken wollen, weil er ihn satthatte. Gordan sagte die Dinge, wie er sie meinte. Natürlich brauchte er einen Moment allein. Und es war lieb von ihm gewesen, Erica das Geld zu geben. Sehr lieb. Es war lieb gewesen, Eberhard zu verzeihen. Und es war nicht sehr lieb von Robin gewesen, ihn anzuschnauzen. Er hätte Gordan in den Arm nehmen sollen und … Er hätte ihm beistehen sollen, statt zu brüllen. Und jetzt?

Erst mal brauchten sie ein neues Atelier und neues Equipment. Sie brauchten Geld. Wenn Gordan sich schon nicht darum kümmerte, konnte Robin es wenigstens tun. Wenn er mit einem Bündel Scheine vor Gordan auftauchte, würde der sich hoffentlich freuen. Dann würde er hoffentlich sehen, dass es weiterging.

 

***

 

Lieber Kunde, die Auszahlung ist leider nicht möglich, da Ihr Konto nicht ausreichend gedeckt ist.

Verwirrt blickte Robin auf das Display des Geldautomaten. Was? Diese Anzeige hatte er noch nie gesehen. Waren 10.000 Euro etwa zu viel? Er probierte es mit 5.000. Dann mit 1.000. Alles wurde verweigert. Als er schließlich darauf kam, seinen Kontostand abzurufen, sah er, dass er bis zum Hals im Minus steckte. Das Konto war komplett überzogen.

»Das kann doch nicht …« Er zögerte. Nein, selbst er hatte einen Überblick über seine Finanzen. Sein Konto war voll gewesen, als er das letzte Mal Geld abgehoben hatte. Was war …

Oh nein.

Er dachte an das Gespräch zurück, das er vorhin mit seinem Vater geführt hatte. Robin hatte sich einiges geleistet, aber so wütend hatte er ihn noch nie gemacht.

Du kommst zurück! Sofort!, hörte er seinen Vater in den Hörer brüllen.

Aber er wollte nicht. Nicht weil er sich vor Strafe fürchtete, so erwachsen war sogar er. Er wollte bei Gordan bleiben. Für immer, wenn das ging. Sah aus, als ginge es nicht. Er atmete tief ein. Vater erwartete wohl, dass er sich meldete, sobald er das geräumte Konto bemerkte. Da konnte der lange warten. Aber was war jetzt mit Gordan?

Die Antwort war offensichtlich, aber er wollte sie nicht wahrhaben.

24. Später Besuch

 

Er saß lange da und betrachtete sein Atelier. Trauerte um die schönen Stunden, in denen er den Ton zwischen den Fingern gespürt hatte. Das völlige Loslassen, die absolute Konzentration, wenn er an der Drehscheibe gesessen hatte. Das raue Lachen eines schönen Mannes. Nicht Tilmanns. Robins. Er konnte an nichts anderes mehr denken als an Robin. Na gut, an Robin und daran, dass er jetzt am Ende war.

Die Mauern kühlten die Nachtluft, aber es war immer noch angenehm. Ja, es hätte ein wunderbarer Abend sein können. Wenn es nicht nach Ruß und Brand gestunken hätte. Wenn er jetzt mit Robin im Bett gelegen hätte, eng umschlungen und leise flüsternd und laut stöhnend.

»Hätte, hätte, Fahrradkette«, brummte er und erhob sich endlich. Sein Rücken knackte. Er wurde alt. Und was hatte er erreicht? »Nichts, außer ein selbstmitleidiger Zausel zu werden.«

»Was erzählst du da?« Die Tür zum Flur knarrte. Er hielt die Stimme für Robins, bis er sich umdrehte und Tilmann vor ihm stand.

Er war hübsch wie eh und je, aber auch an Tilmann war die Zeit nicht spurlos vorbeigegangen. Um seine Augen lagen Fältchen und er wirkte müde. Ja, sein Gesichtsausdruck war fast etwas griesgrämig, so, als würde er gleich in eine Tirade darüber ausbrechen, wie schlecht erzogen die Kinder heutzutage waren.

»Nichts.« Gordan rieb seinen Rücken. »Wir sind alt geworden, was?«

Tilmann schwieg. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und sah zu Boden.

»Ja, vielleicht«, sagte er schließlich.

Damit hatte Gordan nicht gerechnet. »Was machst du hier?« Er legte den Kopf schief.

Tilmann zuckte mit den Achseln. Früher hatte Gordan diese Geste äußerst erotisch gefunden. Sein wunderbarer Freund, der alles mit einem Lächeln abtat und zutiefst entspannt war.

»Ich hab gehört, was passiert ist und dachte, du musst vielleicht getröstet werden. Weißt du, ich denke oft an die alten Zeiten.« Tilmann machte einen Schritt auf ihn zu. Seine hellen Augen wirkten trüb. »An früher. Als wir hier … Als wir noch zusammen waren.«

Oh. Gordan wusste nicht, was er sagen sollte. Die Nacht lag auf ihm, schwer, als könnte die laue Luft ihn zu Boden drücken. Das Grillenzirpen war so grell und der Duft der Heckenrosen so süß, dass ihm schlecht wurde. Panik stieg in ihm auf, nun, wo ihm klar wurde, dass er Robin weggeschickt hatte. Der dachte hoffentlich nicht, dass er ihn für immer weggeschickt hatte, oder? Er vermisste seinen Goldjungen. Sehr.

Was bin ich für ein Idiot. Hoffentlich habe ich ihn nicht verjagt.

Tilmann machte noch ein Schritt auf ihn zu. Nun konnte Gordan nicht nur seine Fältchen sehen, sondern auch seinen Atem riechen. Er roch nach Whisky. Teurem Whisky vermutlich, wenn der aus Louis' Sammlung stammte.

»Willst du gar nichts dazu sagen?«, fragte Tilmann.

»Wozu … Oh, dazu. Das ist …« Gordan zögerte. Dann seufzte er. »Nein, nicht wirklich. Ich schätze, wir haben uns alles gesagt.«

Tilmann blinzelte. Enttäuschung flatterte über sein Gesicht. »Sicher?«

»Ja.«

»Wirklich?« Noch ein Schritt und die Spitzen ihrer Füße berührten sich. Er roch Tilmanns Haarwachs und etwas Neues, vermutlich ein teures Aftershave. Vermutlich ein Geschenk von Louis. »Ganz sicher?« Diese Worte waren mehr geflüstert als gesagt. Mit rauer Stimme geflüstert und mit Schlafzimmerblick verstärkt.

Gordan nickte.

Zwischen Tilmanns Augenbrauen bildete sich eine Falte. »Aber …«. Wut flammte auf, Wut, die Gordan kannte. Tilmann schaute wie damals, als sein Wunschverlag seinen Romananfang abgelehnt hatte. Plötzlich lagen fremde Lippen auf seinen. Tilmann packte Gordans Nacken und hielt ihn fest.

Nur aus Neugier machte Gordan einen Augenblick lang mit. Ließ sich auf den Kuss ein, der vertraut und fremd war. Wie oft hatten sie sich geküsst? Tausend Mal. Millionen Mal. Nun fühlte es sich leer und falsch an. Künstlich, als würde er mit einem Plastikhandschuh gestreichelt. Er machte sich los und trat einen Schritt zurück. Tilmann trat einen Schritt vor und Gordan packte ihn an den Schultern und hielt ihn zurück.

»Das bringt nichts, Tilmann«, sagte er laut und deutlich. »Es ist vorbei.«

»Was, aber …«

»Es ist vorbei.« Es war vorbei. Gordan spürte es endlich, bis tief in sein Innerstes. Mit einem tiefen Gefühl der Erleichterung sah er seinem Exfreund in die Augen. »Es ist schon lange vorbei. Ich wollte es nur nicht wahrhaben.«

»Aber was ist mit all den Nachrichten, die du mir geschickt hast, und …« Tilmann rieb sich über die Augen. Auch er seufzte. Und sackte in sich zusammen, als hätte man die Luft aus ihm gelassen. »Sorry, Gordan. Ich war ein Arschloch. Ich war … Ich hab dich mit dem reichen Bubi gesehen und plötzlich war alles wieder da. Alle Gefühle, die Eifersucht und … Ach, Scheiße. Du hast recht.«

»Also wolltest du mich wieder, sobald du mich nicht mehr haben konntest?« Nicht zu fassen, wie gut Robins Plan funktioniert hatte. Oder auch nicht funktioniert hatte. Es war ja alles gelaufen wie geplant, nur Gordans Gefühle hatten nicht mitgespielt.

Tilmann wirkte ernsthaft zerknirscht. »Es tut mir echt leid. Ich wollte nicht … Ich komme mir vor wie ein Versager. Ich meine, ist das alles, was ich geschafft habe? Mich von meinem Freund aushalten zu lassen und meinen verdammten Roman nicht zu Ende zu schreiben? Ist das alles? Ich … Du hast schon recht, wir werden alt. Und ich habe nichts erreicht.«

»Ich doch auch nicht. Mein Geld ist weg und meine Werkstatt ist weg und Robin habe ich auch verjagt.« Gordan fühlte sich zentnerschwer. »Ich Vollidiot.«

»Du magst ihn wirklich, hm?« Tilmann lächelte wehmütig. »Ich hab’s schon beim Frühstück bemerkt. Wie du den anschaust … Dir sieht man einfach alles an, Gordy.«

Sein alter Spitzname ließ Gordan lächeln. »Ja. Er ist … besonders. Ganz anders, als ich gedacht habe. Stur und süß und …« Er räusperte sich. »Das willst du bestimmt nicht hören.«

»Nein.« Tilmann verzog das Gesicht. »Aber vielleicht verdiene ich es. Dafür, wie ich dich abserviert habe.«

Gordan schluckte. »Vielleicht war es gut so, wie es gelaufen ist. Selbst, wenn Robin jetzt weg sein sollte.«

Tilmann fuhr sich durch die Haare, die ihm sofort wieder kunstvoll verwuschelt in die Stirn fielen. »Liebst du ihn?« Es klang, als würde die Frage ihn viel Kraft kosten.

»Ja.« Gordan musste nicht darüber nachdenken. Er hätte es von den Dächern geschrien. Meilenweit über Lummerdingen hinaus hätte seine Stimme es getragen, so sehr erfüllte ihn das Gefühl. Es schwoll in ihm an und drohte, aus seiner Kehle zu platzen. Es war so mächtig, dass er durch die ganze Stadt hätte laufen können, um es jedem Einzelnen zu erzählen. Eventuell sogar Robin selbst.

»Schön.« Tilmann sah auf die geschwärzten Fenstergitter. »Wie wär’s, wenn ich Louis nach einem Job für dich frage? Sieht aus, als bräuchtest du Geld.«

»Das willst du tun?« Gordan zögerte. »Aber von Louis bekomme ich höchstens einen Job als Kloputzer. Oder hat der plötzlich erkannt, wie gern er mich hat?«

»Leider nicht. Etwas Tolles wird nicht dabei herausspringen, aber irgendwas gibt es in seiner Firma immer. Selbst, wenn du die Post verteilen musst, wäre es ein Anfang, oder? Nur, bis du wieder auf die Beine kommst.«

»Ja.« Gordan atmete tief ein. »Egal, was es ist. Ich nehme den Job.«

Es war Zeit, erwachsen zu werden.

25. Unfreiwilliges Lauschen

 

Pläne rasten durch Robins Schädel, die er alle sofort wieder verwarf. Die Eingangstür knarrte. Trübselig trottete er durch den Flur, atmete die rauchige Luft. Es roch nach verbranntem Holz und altem Gemäuer. Nur noch wenige Schritte, dann würde er wieder bei Gordan sein. Gleich würde er im Hof stehen, wo Gordan vermutlich immer noch trübselig herumsaß und sein verlorenes Atelier betrauerte. Und Robin konnte nichts tun, um ihm zu helfen. Er hatte kein Geld. Welchen Sinn machte es, reich zu sein, also theoretisch, wenn man seinen Freund damit nicht retten konnte?

Leider war nichts, was er dabei hatte, gut verkäuflich. Alles getragen, alles benutzt. Warum hatte er nicht wenigstens die diamantbesetzte Krawattennadel mitgenommen, die seine Großmutter ihm zum zwölften Geburtstag geschenkt hatte? Die lag zu Hause. In Vaters Tresor. Der würde nicht zulassen, dass sein Sohn sie verscheuerte, um einen Typen zu retten, den er erst seit einer guten Woche kannte. In den er brennend verliebt war, obwohl er nicht mehr wusste, ob der ihn längst satthatte. Schließlich hatte er ihn weggeschickt, nur …

»Aber vielleicht nicht«, murmelte er in seinen Kragen, um sich selbst Mut zu machen. Vielleicht mochte Gordan ihn auch. Vielleicht … Seine Verliebtheit war nie erwidert worden. Keiner seiner Schwärme hatte mit mehr als peinlicher Berührtheit reagiert, wenn er seine Gefühle gestanden hatte. Nur der schöne Lorenzo, mit dem er damals im Studium eine Affäre gehabt hatte, hatte laut gelacht.

Du hast doch keine Ahnung, was Liebe ist, hatte der gesagt. Du hast so viel Tiefgang wie eine Fischplatte. Robin hatte genickt, die Wohnung verlassen und war im Aufzug in Tränen ausgebrochen.

Aber mit Gordan war es anders. Es fühlte sich anders an, es musste einfach …

Vorsichtig öffnete er die Tür zum Hof. Wenn Gordan immer noch traurig aussah, würde er ihn nicht stören, er würde …

Aber Gordan sah nicht traurig aus. Gordan sah aus, als würde er Tilmann küssen. Als würden die beiden im Hof stehen, beschienen vom Lampionlicht, die Arme umeinander gelegt und sich leidenschaftlich küssen.

Es sah nicht so aus. Es war so.

Schmerz rauschte durch Robins Brust. Fieser stechender, reißender Schmerz. Er schaffte es, die Tür vollkommen lautlos zu schließen, obwohl seine Finger zitterten und sich eiskalt anfühlten. Er wollte sich umdrehen und gehen, aber seine Beine waren zu schwach. Lautlos sank er an der Wand herunter. Erbärmlich saß er auf dem Boden und stützte die Hände in den Kopf. Er wollte heulen, aber dann hätten die beiden ihn gehört. Er musste weg von hier. Sofort. Aber er schaffte es nicht, aufzustehen.

»Reiß dich zusammen, du Vollidiot.« Mühsam erhob er sich. Noch mühsamer wankte er den Flur entlang und legte die Hand auf die Klinke zur Eingangstür. Und verharrte.

Gordan hatte gesagt, dass er über Tilmann hinweg sei. Er hatte … Er hatte gefragt, ob Robin bleiben würde. Und Gordan war kein Lügner.

Robin blickte über den Flur, als könnte er einen Röntgenblick entwickeln, der durch die Hoftür ging. Ob sie sich immer noch küssten? Ob …

Vielleicht ist es nicht das, wonach es aussieht, dachte er. Klar, »es ist nicht das, wonach es aussieht«, das sagen beim Seitensprung erwischte Ehefrauen. Oder Ehemänner. Aber …

Aber ich will Gordan glauben. Und es ist nicht … Ich meine, ich habe ihm ja nicht verboten, Tilmann zu küssen. Vielleicht hat sogar Tilmann ihn geküsst, und ich habe alles falsch verstanden. Mit geballten Fäusten marschierte er auf die Hoftür zu. Er wollte sie aufreißen, in den Hof stürmen und Tilmann die Nase brechen … aber sein Mut reichte nur dazu, sie leise zu öffnen.

Immerhin küssten die beiden sich nicht mehr. Sie standen sogar ein paar Schritte voneinander entfernt und Tilmann sah enttäuscht aus. Gordans Gesichtsausdruck konnte er nicht lesen, weil der zu weit in den Schatten gerückt war.

»Vielleicht war es gut so, wie es gelaufen ist«, sagte Gordan. »Selbst, wenn Robin jetzt weg sein sollte.«

Weg? Warum sollte er denn weg sein? Robin wollte in den Hof treten und ihn das fragen, als Tilmann sich durch die Haare fuhr und etwas sagte, das das Blut in Robins Adern in Strom verwandelte.

»Liebst du ihn?«

Robin wollte die Antwort nicht hören. Er traute sich nicht. Er konnte nicht. Nicht schon wieder und erst recht nicht von Gordan, den er mehr mochte als jeden zuvor, tausendmal mehr, obwohl er ihn erst so kurz kannte und sich trotzdem tonnenschwer verliebt hatte, weil er ein Volltrottel war … Vorsichtig zog er die Tür zu, ganz langsam, bis nur noch ein Spalt offen war.

»Ja.«

Robin erstarrte. Ja? Er konnte Gordans Gesicht nicht sehen, aber seine Stimme … die klang ehrlich. Dunkel und liebevoll und echt. Als würde er es ernst meinen, als …

Er meinte es ernst! Gordan liebte ihn!

Robin biss auf seinen Daumen, um nicht laut zu schreien. Vor Glück. Vor Aufregung, vor Unglauben, vor unbändiger Erleichterung und überschäumender Freude. Gordan liebte ihn! Er hatte es selbst gesagt, also musste es wahr sein, richtig, richtig wahr … Seine Beine fühlten sich wie gekochte Spaghetti an. Beinahe wäre er wieder in die Knie gegangen, aber die brodelnden Gefühle in ihm hielten ihn aufrecht. Gordan liebte ihn. Wirklich.

Zittrig atmete er ein und aus.

Gordan liebte ihn. Draußen sprach der schönste Mann der Welt (der Robin liebte!) davon, dass er sich einen Job suchen wollte. Dass Tilmann Louis um einen Job bitten sollte. Was? Robin schaffte es, den Kopf weit genug aus seinem Glückstaumel zu recken, um das mitzubekommen. Warum zur Hölle wollte Gordan sich einen Job suchen? Nun, vermutlich um Erica zu unterstützen. Um selbst wieder auf die Beine zu kommen.

»Auf gar keinen Fall«, murmelte Robin. Das würde er nicht zulassen! Gordan war ein Keramiker und ein Künstler und er würde nicht für diesen dämlichen Louis arbeiten. Auf gar keinen …

Mist, Tilmann wandte sich zum Gehen. Und Gordan schien ihm folgen zu wollen.

Sie durften ihn nicht erwischen!

Robin schlich durch den Flur und schaffte es, die Haustür in dem Moment zu schließen, in dem die Hoftür aufging. Neben dem Haus war eine schmale Gasse, in der er sich verstecken konnte. Sie stank nach verschimmeltem Biomüll, aber sie war dunkel genug, um ihn zu verbergen. Tilmann und Gordan gingen an ihm vorbei, erstaunlich einträchtig. Vielleicht hätte der Anblick ihn eifersüchtig gemacht, wenn er nicht gewusst hätte, dass Gordan …

Wieder musste er sich in den Daumen beißen, um sich nicht zu verraten. Gordan liebte ihn.

Wie sollte er es machen? Sollte er ihm heute Abend, vielleicht bei schönem Kerzenlicht, sagen, dass er Gordans Gefühle erwiderte? Sollte er ihm einen Brief schreiben oder ein Gedicht? Nicht, dass er gewusst hätte, wie man dichtete. Aber Gordan würde es nicht stören, wenn er schlecht reimte. Der liebte ihn schließlich.

Nun wusste er endlich, wie es sich anfühlte, geliebt zu werden. Verdammt gut. Und ihm wurde klar, wie seine Liebeserklärung aussehen würde. Er würde es Gordan nicht mit Worten sagen, sondern mit Taten. Er würde Gordan retten.

26. Unerwartete Leere

 

Er brachte Tilmann bis zu dessen Auto. Sie redeten noch ein wenig, bevor sie sich verabschiedeten. Ziemlich lange sogar. Ein gutes Gespräch, fast wie früher. Nur ganz anders. Als wären sie alte Freunde. Vielleicht würden sie das eines Tages sein. Gordan spazierte langsam zurück zu seinem eigenen Wagen und sog den Duft der Sommernacht in die Lungen. Lauschte den hallenden Schritten auf dem Pflaster. Den leisen Stimmen hinter den Fenstern.

Robin war nicht beim Auto. Vermutlich saß er im Hotelzimmer und wartete darauf, dass Gordan heimkam. Und dann würde er ihm eine Standpauke über Selbstmitleid und sich hängen lassen halten. Hoffentlich. Irgendwie konnte Gordan es kaum erwarten. Irgendwie fühlte es sich wirklich wie heimkommen an, das Hotelzimmer zu betreten. Nicht, weil er schon so lange dort wohnte, sondern, weil Robin da war.

Robin, den er liebte.

Gordan redete sich ein, dass er keine Umwege ging, durch krumme Gassen und Hinterhöfe, weil er nervös war. Er wusste, dass der Zeitpunkt gekommen war. Er musste Robin sagen, was er für ihn fühlte. Wenn er es schon vor Tilmann zugeben konnte, warum dann nicht vor dem Goldjungen? Die Chancen standen doch gar nicht schlecht, dass er … Ein Schwarm Kolibris stob in seinem Magen auf, als er nur daran dachte. Es war unfair.

»Irgendeinen Vorteil sollte es doch haben, ein verbrauchter alter Zausel zu sein«, teilte er der Statue am Säckerbrunnen mit. Der Säcker schien ihn müde anzulächeln. »Manche Sachen sollten mit dem Alter leichter werden. Jemandem seine Liebe zu erklären, zum Beispiel. Nur so aus der Luft gegriffen.«

Die Statue antwortete nicht. Gordan blieb noch einen Moment stehen, höchstens eine Viertelstunde, dann riss er sich endlich zusammen. Und ging zum Gutshaus. Zu Robin.

 

***

 

Das hatte er zumindest gedacht. Leider war das Zimmer leer und … Er erstarrte. Das Bett war noch so zerwühlt wie heute Morgen, aber Robins Hemd hing nicht über dem Stuhl. Als er den schweren Eichenschrank öffnete, war der leer. Ja, nichts deutete mehr darauf hin, dass Robin hier wohnte.

Weil er es nicht mehr tat.

»Nein.«

Eine Kältewoge überrollte ihn. Er schmeckte die verbrauchte Luft, die nach Robin hätte riechen sollen, die noch ein wenig nach ihm roch, aber so schwach wie eine längst verblasste Erinnerung. Nur ein Hauch von Robins teurem Eau de Toilette blieb. Und das würde bald verschwinden.

»Scheiße.« Gordan atmete rasselnd ein. »Scheiße. Ich hab ihn vertrieben. Mit meinem dämlichen Selbstmitleid und meiner Sturheit und …« Er atmete aus. Atmete ein. Atmete aus. Erstaunlich, dass er dazu noch fähig war. Seine Pranken hingen nutzlos an den Armen herab. Die Arme schmerzten noch vom Kistenschleppen, bei dem Robin ihm geholfen hatte. Seine Lippen waren noch wund von den Küssen, die er ihm heute Morgen auf dem Bett verpasst hatte, dem Bett, das jetzt leer war, für immer!

»Krieg dich mal wieder ein, du Dramaqueen.« Gordan knetete seine Nasenwurzel. Er sah sich im Raum um, suchte nach Anzeichen, dass Robin noch da war. Ging ins Bad, wo er immerhin seine eigene Zahnbürste fand. Das Buch, das er schon fast ausgelesen hatte, lag auf dem kleinen Kosmetiktisch. Er suchte nach einer Nachricht, einem Brief. Irgendwas. Irgendetwas, das ihm sagte, wohin Robin gegangen war. Und warum.

»Ach, da bist du ja.« Luise stand hinter ihm, eine Schürze um den Bauch. Ihr flott geschminktes Gesicht kräuselte sich zu einer Miene des Mitleids. »Du bist eben so schnell an der Rezeption vorbeigewischt, da war ich noch hinten, die Laken falten. Tut mir leid.«

»Was tut dir leid?« Gordan musterte sie misstrauisch.

Sie fuhr sich durch die unzähligen Ringellöckchen. »Dass das mit dem Kleinen nicht geklappt hat. Vielleicht war er echt ein bisschen zu jung für dich, weißt ja, Paare mit Altersunterschied …«

Gordan schluckte. Zumindest versuchte er es. »Weißt du, wohin er gegangen ist?« Zuzugeben, dass er keine Ahnung hatte, wo Robin war, war schwer. So schwer.

Eine perfekt geformte Augenbraue hob sich. »Das weißt du nicht? Ich dachte, ihr hättet euch gestritten oder so. Obwohl er eigentlich ganz …« Sie knabberte an einem golden lackierten Fingernagel.

»Obwohl er was?« Gordan fühlte sich flau, als würde sich ein Virus anbahnen. Dabei hatte er nur Angst.

»Na ja, er sah nicht so richtig wütend aus, würde ich sagen.« Sie blickte ihn entschuldigend an. »Mehr so … konzentriert. Wie der Ludwig, wenn er liest. Als würde er in den Krieg ziehen. War er es, der Schluss gemacht hat?«

»Nein«, murmelte Gordan.

»Was, du hast ihn in die Wüste geschickt? Dabei hat er dir doch gutgetan! Du siehst wieder höchstens so alt aus, wie du bist. Wenn nicht sogar jünger.«

»Sehr charmant.« Er wollte nichts mehr sagen. Seine Zunge fühlte sich an wie ein Sandsack. Aber er musste mehr wissen. »Ich wollte nicht Schluss machen. Ich habe ihn nur angepflaumt, und nicht mal so … Er ist sonst immer wiedergekommen, egal, was für ein Arsch ich war. Es war wirklich nicht so schlimm«, schloss er lahm.

Ich bin ein Trottel, dachte er.

»Du Trottel«, sagte Luise. »Dass du dir so einen entgehen lässt.«

»So ein Schmuckstück, meinst du?«, murrte er. Er wollte nicht, dass Robin weg war. Er wollte nicht … Eigentlich waren seine Gefühle nicht so stark … Ach, was versuchte er sich da einzureden? Er war total verliebt in dieses Schmuckstück.

»Holla, bist du oberflächlich.« Dieses Zungenschnalzen, ein Geräusch, das ihn schmerzlich an Robin erinnerte. »Ich fand, der war richtig witzig. Und unterhaltsam. Und sein Arsch war auch nicht von schlechten Eltern.«

»Wer ist hier oberflächlich?«, fragte Gordan. »Und ich hab keine Ahnung, warum er weg ist. Ich … Also ich wollte das bestimmt nicht.«

»Na, ganz zu hassen scheint er dich nicht. Kannst noch bis übermorgen hier bleiben, hat er gesagt. So lange hat er letzte Woche gezahlt.«

Oh. Schön. Immerhin etwas.

Nein, das war gar nichts. Nicht, dass es nicht nett gewesen wäre, aber … Robin hätte doch wenigstens von Angesicht zu Angesicht mit ihm Schluss machen …

»Völliger Blödsinn«, sagte Gordan und straffte sich. »Robin ist keiner, der wegrennt. Wenn der mit mir Schluss machen wollte, hätte ich es mitgekriegt. Und wie ich das mitgekriegt hätte.« Obwohl es natürlich schwer gewesen wäre, mit jemandem Schluss zu machen, mit dem man nie offiziell zusammen gewesen war. Aber um diese Details würde er sich später kümmern. »Jetzt sei endlich mal hilfreich und erzähl mir, was er gesagt hat.«

Missbilligend betrachtete sie ihre Fingernägel. »Er hat seine Sachen gepackt und meinte, er müsste leider sofort aufbrechen. Es würde«, sie senkte die Stimme, als würde das FBI mithören, »ein Privatjet auf ihn warten. In Frankfurt, am Flughafen. Kannst du dir das vorstellen? Hat er dich mal in seinem Privatjet mitgenommen?«

»Ich schätze, der gehört seiner Familie. Robin hat nicht mal ein eigenes Konto. Also keins, das ihm allein gehört.« Gordan kratzte seinen Dreitagebart. »Aber dass er mit mir Schluss macht oder dass es vorbei ist oder sowas Ähnliches hat er nicht gesagt, richtig?«

»Ne, das nicht. Habe ich mir so zusammengereimt, weil er plötzlich auf und davon ist.«

»Dafür gibt es eine Erklärung. Bestimmt.« Gordan räusperte sich.

»Na, die würde ich gern hören.« Sie lachte scheppernd. »Sorry, war nicht so gemeint. Bestimmt ist der Kleine nur … Vielleicht ist einer krank. Aus seiner Familie. Und dann haben die halt den Privatjet geschickt, um ihn abzuholen.«

Ja, sicher. »Danke, Luise. Ich würde jetzt gern allein sein. Ich brauche einen Moment zum Nachdenken.«

»Ach, Junge.« Sie tätschelte seine behaarten Unterarme. Affenmensch, hatte Robin ihn am Anfang genannt.

»Ich bin kein Junge, ich bin ein Mann.« Gordan lächelte. Allein die Muskeln im Gesicht zu verziehen tat weh.

»Ach, Kleiner.« Sie schüttelte den Kopf. »Ist zu spät jetzt, aber morgen sind wir alle in der Wachtelwirtin. Also der Horst, der Ludwig und ich. Und die Gertrud vielleicht auch. Komm doch dazu, dann kaufen wir dir ein Bier zum Trost.«

Das war lieb von ihr. Aber kein Bier der Welt konnte ihn über den Verlust hinwegtrösten.

Wenn er Robin verloren hatte. War ja nicht so, als wäre der auf einem anderen Planeten, wo auch immer er sich aufhielt. Kaum war die Tür hinter Luise zugefallen, zückte Gordan sein Handy. Todesmutig tippte er auf das Hörersymbol.

Es tutete.

Es tutete weiter.

Es tutete ziemlich lange, dann ging die Mailbox ran. Gordan legte auf. Was er zu sagen hatte, wollte er nicht auf Band sprechen. Er wollte es Robin persönlich sagen. Er wollte ihn hier haben, so wie heute Morgen, den warmen Körper an seinen geschmiegt, Haut auf Haut, trotz der Hitze im Raum. Obwohl es so warm war, dass ihnen der Schweiß in Bächen über den Rücken floss. Es war so schön gewesen. Es war …

»Es ist nicht vorbei.« Gordan stellte das Handy auf maximale Lautstärke und ging duschen. Und trocknete sich ab, hüllte sich in den Hotel-Bademantel, der so sehr nach Robin roch, dass seine Kehle schmerzte, und legte sich auf das Bett. Er las sein Buch zu Ende, obwohl er ständig abschweifte. Dann gab es nichts mehr zu tun. Also, außer alle paar Minuten das Handy zu checken. Inzwischen war es zwei Uhr morgens, aber an Schlaf war nicht zu denken. Selbst als Stunden später der erste Lichtstreifen durch die Vorhänge drang, war Gordan noch wach. Allein auf dem Bett, gehüllt in den fremden Bademantel, leer, pleite und abgebrannt.

Immer noch hielt er die Hoffnung aufrecht. Die Hoffnung, dass alles ein Missverständnis war. Die Hoffnung, dass …

Sein Handy dudelte los und er schrak auf.

Es war Robin.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752111446
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (August)
Schlagworte
Boys Love deutsch Romantik schwul Gay Romance Yaoi Liebe

Autor

  • Regina Mars (Autor:in)

In einer magischen Vollmondnacht paarten sich ein Einhorn und ein Regenbogen und zeugten Regina Mars. Geboren, um Kaffee zu trinken, lebt sie im Süden Deutschlands und erfreut die Welt mit ihren poetischen Romanen, in denen die Liebe stets gewinnt und Witze so dumm, albern und fragwürdig sein dürfen, wie sie wollen.