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Regina Mars Collection 5

2 Romane, 4 Kurzgeschichten: Das Monster im 5. Stock, Diagnose Depp 1-4, Verdammt magisch

von Regina Mars (Autor:in)
1111 Seiten

Zusammenfassung

Die Regina Mars-Collection 5 enthält diese E-Books: DAS MONSTER IM 5. STOCK Endlich in München! Jetzt braucht Wastl nur noch eine Wohnung und dann kann er sich auf die Suche nach der großen Liebe machen. Der größten! Leider findet er keine Wohnung. Nach unzähligen Besichtigungen landet er versehentlich im Luxusappartement von Adrian, den ein düsteres Geheimnis umgibt. Was macht das naive Landei mit dem furchtbaren Dialekt in seiner Wohnung? Adrian will seine Ruhe! Und weiter einsam leiden, so, wie er es verdient. Doch Wastl umgarnt ihn mit grauenvollen Gerichten und seinem strahlenden Lächeln, und mit jedem Tag, der vergeht, stiehlt er sich mehr in Adrians Herz ... DIAGNOSE: DEPP Diagnose: Depp 1 : Dario hat gleich mehrere Probleme: ein paar sehr peinliche Verbrennungen, einen neugierigen Zimmernachbarn im Krankenhaus und einen Krankenpfleger, der ihn nicht leiden kann. Dabei ist Vincent, der Krankenpfleger mit den meerblauen Augen, so attraktiv wie faszinierend. Schade, dass er Dario verachtet. Irgendetwas scheint er gegen den hyperaktiven Vollchaoten und Stunt-Witzbold zu haben. Aber was? Dario wird es herausfinden. Schließlich ist er kein Typ, der einfach so aufgibt! Diagnose Depp 2-4: Der Nachmittag danach Die Comfort Zone Der perfekte Antrag VERDAMMT MAGISCH Norman, Magieschüler und Hobbyschläger, beginnt sein Studium an der Arkanen Universität in Løbago. Endlich kann er der größte Magier aller Zeiten werden! Er wird knochenschmelzende Feuerstürme beschwören, tödliche Eisregen erzeugen und zu einem absolut erstklassigen Helden werden! Doch nichts läuft wie geplant. Und warum muss er sich ausgerechnet ein Zimmer mit Heimfried teilen? Einem schüchternen Schwächling, der sich kaum traut, seine magische Kraft anzuwenden? Kann Norman sich mit ihm zusammenraufen? Kann aus Verachtung Freundschaft werden ... oder sogar noch mehr?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2. Besichtigung des Grauens

 

Schwitzende Leiber drängten sich an Wastl. Eine Schulter rammte sein Schlüsselbein, eine Hand streifte seinen Hintern, aufgeregtes Keuchen drang in sein Ohr. Stimmen schwollen zu einem undefinierbaren Geräuschteppich an. Schweißgeruch vermischte sich mit dem nach Parkettpolitur.

Wenn ich die Augen fest schließe, kann ich mir einreden, ich wäre auf einem Konzert, dachte er. Oder auf meiner ersten Gangbangparty. Gibt es sowas in München?

Leider war er auf einer Wohnungsbesichtigung. Die mietwilligen Horden hatten die Frau von der Hausverwaltung zwischen Küche und Bad in eine Ecke gedrängt und redeten auf sie ein.

»Ich putze saumäßig gern«, brüllte ein Mann, der Wastl an seinen alten Nachbarn, den Elektriker-Toni, erinnerte. »Daheim wienere ich jeden Tag die Treppe blitzeblank.«

»Das ist schön«, sagte die Frau von der Hausverwaltung. Trotz des sorgfältig aufgetragenen Make-ups ähnelte ihre Haut inzwischen der weißen Tapete hinter ihr. Die Sonnenbrille zitterte in ihren strohgoldenen Haaren. »Aber wir beschäftigen einen Reinigungsdienst …«

»Meine Eltern bürgen für mich!«, rief ein junger Kerl dazwischen. Student, wenn Wastl die kunstvoll chaotische Frisur, den nervösen Blick und die schwindende Akne richtig deutete. Die Akne war auf dem Rückmarsch, der Student nicht. »Sie sind beide Beamte. Lehrer. Ich würde sagen, ich bin total wie die, echt pflegeleicht. Ich mag überhaupt keine Partys und … Mann, hör auf zu schubsen, du Miststück!«

Die winzige Frau, die ihn zur Seite gedrängt hatte, beachtete ihn nicht. Sie packte die Hausverwaltungsfrau mit beiden Händen an den Schultern. Grob. Silbern lackierte Krallen gruben sich in den cremefarbenen Blazer.

»Ich brauche die Wohnung!« Speicheltropfen flogen. »Bitte, das ist die fünfundsechzigste Besichtigung und ich muss übermorgen ausziehen!«

Die Hausverwaltungsfrau machte sich los. Schweiß glänzte auf ihrer faltenfreien Stirn.

»Danke für Ihr Interesse«, sagte sie. »Aber ich muss alle Interessenten begutachten. Bitte legen Sie Ihre Bewerbungsunterlagen auf den Tisch dort und verlassen Sie die Wohnung, sobald Sie alle Zimmer besichtigt haben. Es nützt Ihnen nichts, sich mir vorzustellen. Ich bin nicht die, die entscheidet!«

»Ja, aber Sie könnten doch ein gutes Wort für mich einlegen, oder?« Die Silberlackierte blickte flehend. »Das können Sie bestimmt.«

»Nein, kann ich nicht.« Die Hausverwaltungsfrau straffte sich und betupfte ihren Hals. »Die Bewerbungsunterlagen. Auf den Tisch. Bitte.«

Das funktionierte. Murrend schlichen die Massen durch die Wohnung, legten ihre Mappen auf den immer höher wachsenden Stapel und zogen weiter. Wie immer. Wastl sah, wie ein gutgekleideter Mann den Großteil des Stapels einsteckte, als gerade niemand anders schaute, und ihn in den Papierkorb im nächsten Flur warf. Unauffällig hob Wastl die Mappen heraus und legte sie zurück auf den Tisch. Seine drapierte er gleich obendrauf. Dann hätte er gehen können.

Das ist deine letzte Chance. Mach was.

Bewerbungssituationen waren ihm zuwider, aber er musste einfach etwas tun. Mit einem flauen Gefühl im Magen dachte er an den Rucksack, der unter seinem Schreibtisch auf der Arbeit lag. Heute Morgen hatte er aus dem Hostel ausziehen müssen. Er hatte gedacht, dass ein Monat reichen würde, um in München ein Heim zu finden. Ein WG-Zimmer, eine eigene Wohnung. Irgendetwas. Aber alles, was er bisher vorzuweisen hatte, waren 87 Absagen und ein überzogenes Bankkonto. Also straffte er sich und ging auf die Hausverwaltungsfrau zu. Sie tippte auf ihr Handy ein. Ihre Körpersprache war so einladend wie ein stacheldrahtbewehrter Zaun mit Selbstschussanlage.

»Servus.« Er räusperte sich.

Sie brummte etwas Unbestimmtes und tippte weiter. Er konnte sie verstehen. Aber er war verzweifelt.

»Ich wollt fragen, ob's … irgendetwas gibt, was man tun kann, um … Ich mein, was ist denn wirklich wichtig, um eine Wohnung zu bekommen? Ich versuch's schon seit vier Wochen und hab keinen Erfolg gehabt.«

»Da geht es vielen wie Ihnen«, sagte sie und sah auf. »Trösten Sie sich, damit stehen Sie nicht alleine …« Sie zögerte. Ihr Blick scannte sein verzweifeltes Lächeln, die breiten Schultern in der billigen Jacke und die Haare, die keinen Friseur mehr gesehen hatten, seit er seine Heimat verlassen hatte. Interesse flammte in ihren hellen Augen auf. Eindeutiges Interesse. »Nun, es gibt einige Faktoren, die Ihre Bewerbung hervorheben könnten. Haben Sie einen Bürgen?«

»Nein.« Der böse Kloß schnürte seinen Hals ab. Wie immer, wenn er sich daran erinnerte, wie allein er war.

»Niemanden?« Eine perfekte Augenbraue hob sich. »Keine Onkel, Tanten … Großtanten?«

»Nein«, sagte er. »Niemanden.«

»Ah.« Ihr Mund wurde schmaler. »Aber die Kaution von 3300 Euro könnten Sie schon aufbringen?«

»Da müsst ich um Ratenzahlung bitten.« Er versuchte es mit einem weiteren Lächeln. Doch er wusste, dass er verloren hatte. Das Licht hinter ihren Augen war erloschen.

»Das sind leider keine guten Voraussetzungen.«

»Ja, ich weiß.« Er seufzte. »Vielen Dank, trotzdem. Für die Auskünfte.«

»Bitte, bitte.« Statt sich wieder ihrem Handy zuzuwenden, legte sie den Kopf schief und lächelte. Sie hatte kleine, scharfe Zähne. Wie ein Marder. »Hast du heute Abend Zeit? Kann ich Du sagen? Ich kann dir die Wohnung nicht geben, aber ich könnte dir helfen, deine Unterlagen etwas aufzupolieren. Um neun im Brotlos?«

Wastls Hände wurden schwitzig. Das war eine Anmache, oder? Das war ganz bestimmt so ein … so ein Spruch mit den Unterlagen … Doch was, wenn sie ihm helfen konnte?

Nein, sagte seine Mutter in seinem Hinterkopf. Auf sowas lass dich nicht ein, Wastl. Das bereust du nachher nur. Die nette Frau nutzt du nicht aus.

»Oh, ich … ich muss spät arbeiten«, behauptete er, räusperte sich und flüchtete. Seine Wangen brannten. Daheim in Würzen hatte sich ab und zu mal eine für ihn interessiert, aber nie hatte eine Frau ihn so direkt eingeladen. Nicht, dass er das gewollt hatte. Deshalb war er ja in die Stadt gezogen. Um den blöden Fragen von seinen Freunden zu entgehen, die stets wissen wollten, wann er denn endlich eins der armen Mädels erhören würde. Würde er nämlich nicht. Würde er nicht können.

Sobald ich eine Wohnung hab, geht's los, hatte er gedacht. Dann treff ich einen Kerl nach dem andren. Dann hol ich alles nach, was ich verpasst hab.

Verpasst hatte er eine ganze Menge. All die heimlichen Knutschereien beim Scheunenfest, hinterm Fußballplatz und im Bus zum Gymnasium. All die wilden Dinge, von denen seine Kumpels ihm erzählt hatten, oder eher: nicht erzählt hatten.

»Na, das war halt so … Na du weißt schon, Wastl. So richtig mit Liebe und so«, hatte der Edi wenig hilfreich gestammelt, nachdem es mit seiner Freundin endlich zur Sache gegangen war.

Nein, Wastl wusste es nicht. Klar, übers Internet hatte er Männer kennengelernt. Aber die paar, die er getroffen hatte, in einem verschämten kleinen Hotel an der B12, die waren gewesen wie er: Schwindler, Mogelpackungen. Familienväter waren darunter gewesen und sogar ein Pfarrer. Aber diese Heimlichtuerei war …

»Na, hat's geklappt?«, fragte eine säuerliche Stimme am Fuß der Treppe.

Wastl fuhr herum. »Wos soll geklappt haben?«

Es war ein hagerer Mann, Mitte vierzig, der ihn böse anstarrte. Der war eben auch durch die Wohnung geschwemmt worden. Aber Wastl war sicher, dass er ihm nichts getan hatte.

»Na, der Ische von der Hausverwaltung schöne Augen zu machen. Hast du Erfolg gehabt, Schönling?«

»I, äh, ich?«

»Ja, du. Unfair ist das. Wenn so ein Adonis wie du die Olle mal richtig …«, der Mann machte eindeutige Bewegungen mit Händen und Hüften, »hernimmt, dann legt die bestimmt ein gutes Wort bei der Hausverwaltung ein. Wenn sie dich nicht gleich mit nachhause nimmt. Hat sie dir 'ne feste Bleibe in ihrer Möse angeboten?«

»Nah«, sagte Wastl. »Will ich auch gar nicht. Aber falls ich dich mal so richtig hernehmen soll, sag Bescheid. Ich steh auf greisliche Arschköpfe.«

Die Antwort war Schweigen. Und eine heruntergeklappte Kinnlade, sowie Tischtennisball-Augen. Glücklich, dass heute immerhin etwas geklappt hatte, zog Wastl die Tür auf und trat ins Freie.

 

***

 

»Na, Blondchen? Wie lief die Besichtigung?« Vronis Atem schlug ihm ins Gesicht. Bierbraten-Atem. Die ganze Finanzbuchhaltung war heute im Löwenbräukeller eingekehrt. Nur Wastl war mal wieder auf Wohnungsjagd gegangen.

Wastl brummte etwas Unverständliches. Er versuchte, professionell und schwer beschäftigt auszusehen. Aber das beeindruckte Vroni nicht. Ihre mehrfach beringte Hand blieb auf seiner Stuhllehne liegen. Sie drehte sich sogar um und brüllte durchs halbe Büro.

»Jutta, hast du nicht was für das Blondchen? Das Kerlchen hat immer noch keine Wohnung!«

»Ach wo! Das tut mir ja leid.« Juttas Augen, treu und schön wie die einer Kuh, sahen Wastl an. Er räusperte sich.

»Kein Problem«, behauptete er. »I … Ich find schon was.«

»Der arme Kleine.« Jetzt wagte Vroni es auch noch, ihm die Haare zu tätscheln. »Sag mal, Adelheid, war über euch nicht ein Zimmer frei?«

War es das? Wastl drehte sich um, aber Adelheid schüttelte den Kopf. »Da ist schon wer eingezogen. Die Wohnung war so schnell weg, das glaubt mir keiner. Drei Stunden hat's gedauert, meint die Sluzalek von nebenan.«

»Ach so.« Wastl unterdrückte ein Seufzen und zuckte männlich mit den Achseln. »Na dann …«

Innerlich weinte er. Aber das konnte er sich nicht anmerken lassen. Die restlichen Finanzbuchhalter, oder eher Finanzbuchhalterinnen, behandelten ihn sowieso schon wie einen kleinen Bruder. Einen leicht verblödeten kleinen Bruder. Er war der einzige Mann in der Abteilung, und mit seinen dreiundzwanzig Jahren maximal halb so alt wie die anderen. Ernst genommen zu werden war ein Ding der Unmöglichkeit.

»Ach, Blondchen.« Noch ein Haarwuscheln, dann ging Vroni endlich weiter. »Nicht traurig sein. Das wird schon irgendwann.«

»Kein Problem«, wiederholte er. »Ich hab ja noch ein paar Wochen.« Genau in diesem Moment stieß sein Fuß gegen den Rucksack unter seinem Schreibtisch. Heute Morgen war er extra als Erster gekommen, damit niemand das Ding sah. Damit niemand ahnte, dass er ab sofort obdachlos war. Klar, er hätte Jutta oder Vroni (oder Adelheid oder Rita oder Gitte oder Susanne) fragen können, ob er ein, zwei Wochen auf ihrem Sofa pennen konnte. Aber dann wäre er nie aus der Verblödeter-Kleiner-Bruder-Nummer rausgekommen. Daran hätten sie ihn noch erinnert, wenn er in 40 Jahren die Firma verlassen hätte, mit Buckel, Arthritis und goldener Uhr. Obwohl, dann wäre Vroni ja schon fast hundert … Nicht, dass sie sich davon abhalten lassen würde, vorbeizukommen, ihm über die Glatze zu rubbeln und ihn Blondchen zu nennen.

Wastl sah ihrem hennaroten Schopf und ihrem weinroten Strickpulli nach und seufzte.

Arbeite, Junge, dachte er. Heulen kannst du nachher. Wenn du unter dem Schreibtisch pennst.

Obwohl, der Teppich im Meetingraum wirkte so schön weich. Das war bestimmt die bessere Wahl.

Den ganzen Nachmittag über hoffte er auf ein Wunder. Eine Mail. Einen Anruf von einer der 36 Hausverwaltungen, deren Antwort noch ausstand. Es kamen drei Absagen. Bei jeder Mail hielt er den Atem an, nur um einen Mund voll Enttäuschung zu kassieren. Egal. Das würde werden. Irgendwie.

Der Siebermann-Verlag, sein neuer Arbeitgeber, war von mittlerer Größe. Zwei Stockwerke des altehrwürdigen Barockgebäudes nahm er ein. So altehrwürdig, dass es immer ein wenig nach Staub und altem Bohnerwachs roch.

Überstunden waren die Ausnahme und so leerte sich das Büro schon gegen fünf. Immer mehr Deckenlampen gingen aus. Wastl konnte durch die Glaswand ihres Büros sehen, wie es allmählich dunkel wurde. Vor den Fenstern war längst alles Licht verschwunden. Nur die Weihnachtsdeko des Büros gegenüber blinkte und glitzerte aggressiv. Es war viel zu früh für die rot-grüne Pracht. Sie hatten doch erst November. Ein dickbackiger Weihnachtsmann grinste ihm zu und erinnerte ihn daran, dass dies das erste Weihnachten ohne Mama sein würde. Er schluckte.

Nein. Verzweifeln ist für Feiglinge, das hatte seine Mutter ihm eingebläut. Er würde sich nicht davon verrückt machen lassen, dass er Weihnachten ganz alleine unter einer Brücke verbringen würde … Er schüttelte sich.

»Alles wird gut«, flüsterte er, obwohl er längst der Letzte in der Abteilung war. »Du packst das. Der Kullberger Wastl lässt sich nicht unterkriegen. Merkt euch das, ihr Großstädter.«

 

***

 

Der Teppichboden im Meetingraum roch nach Zitronen-Lufterfrischer und Gummisohlen. Wastl streckte sich darauf aus. Die Tasse Früchtetee aus der Küche stellte er auf seinem Bauch ab. Sie wärmte fast so gut wie eine Bettdecke. Zumindest, wenn man sich das ganz fest einbildete. Und die verstaubten Kekse, die in einer Schale auf dem Tisch standen, waren beinahe ein vollwertiges Abendessen, also, auf jeden Fall waren sie gratis und er war pleite.

Gute Nacht, dachte er. Morgen wird alles besser.

Der Duft des Früchtetees vermischte sich mit dem Bürogeruch nach Plastikvorhängen und verbrauchter Luft. Das Summen aus dem Serverraum nebenan klang wie rauschender Wind. Fast war es ein wenig heimelig. Fast. Wehmütig trank Wastl den Tee und machte die letzte Deckenlampe aus. Obwohl er todmüde war, schlief er lange nicht ein.

 

***

 

Das Licht flackerte und stach in seine Pupillen wie Glassplitter. Wastl fuhr hoch.

»Wos …« , begann er, dann sah er die Frau in der Tür. Ihre braunen Augen starrten ihn an. Sie war mager, trug ein schillernd grünes Kopftuch und wirkte einen Moment lang genau so erschrocken wie er. Dann verdüsterte sich ihr eichenholzfarbenes Gesicht.

»Wos machst du denn do?«, herrschte sie ihn an. »Du kannst doch do ned penna, du Oarschwichtl!«

Wastl starrte sie an. »Entschuidigung, i dochte …« Dann erinnerte er sich daran, dass die Vroni ihn ermahnt hatte, hochdeutsch zu sprechen, solange er in der Firma war. Ach ja, und er erinnerte sich daran, dass sie irgendwas von der nächtlichen Putztruppe erwähnt hatte, und dass die nie richtig saubermachten. Daran hätte er wirklich denken können.

»Entschuldigung«, begann er erneut. »Ich dachte, es wäre nachts keiner da. Sehen Sie, ich habe meine Wohnung verloren und ich wusst nicht, wo ich schlafen soll, da dachte ich, es merkt keiner, wenn ich ein, zwei Nächte hier …«

»Arbeidest du hier?« Sie verschränkte die Arme vor der schmalen Brust.

»Ja«, sagte er wahrheitsgemäß und hoffte, dass das morgen auch noch stimmen würde. »Es tut mir leid, dass ich Sie erschreckt habe. Es ist nur … Ich weiß nicht, wohin.«

Sie schwieg. In der Gesprächspause konnte Wastl neue Geräusche ausmachen. Eine Maschine brummte. Ein Staubsauger? Hinter der Frau musste noch jemand damit beschäftigt sein, die Räume sauberzumachen.

»Armer Kleiner. Aber hier kannst nicht bleiben, die Chefin kommt gleich.« Sie schüttelte den Kopf. Wastl wollte gerade klarstellen, dass er nicht klein und … na gut, arm war er, doch er hatte langsam genug davon, dass jede mittelalte Frau ihn wie einen Adoptivwelpen behandelte. Da sprach sie die magischen Worte aus: »I weiß, wo du hinkannst.«

»Was, haben Sie eine Wohnung, die leer ist? Oder wissen sie von …«

»Nah, heute Nacht. I putz gleich oben, da steht ein Sofa. Wenn du magst, kannst darauf pennen.«

»Oh, danke.« Er lächelte. Wie nett von ihr.

 

***

 

Wie sich herausstellte, war »Wohnung« das falsche Wort für den dekadenten Palast, der ihn oben erwartete. Das Luxusappartement war so groß wie das halbe Büro. Genau so groß wie das halbe Büro. Die Grundrisse entsprachen sich, und er konnte die Ecke sehen, in der zwei Stockwerke tiefer sein Schreibtisch stand. Hier war sie leer. Hellgoldenes Holzparkett erstreckte sich über eine Fläche, auf der nur verstreute Designermöbel standen. Sowas hatte er höchstens mal in Mamas Zeitschriften gesehen. Ganz weit hinten in der gebohnerten Wüste erspähte er eine nagelneue Küche. Er sah eine Theke, um die herum Barhocker standen, eine freischwebende Abzugshaube und polierte Stahlpfannen an der schwarz gekachelten Wand. Poliert wurden sie von Amira, wie sie sich vorstellte.

»Da kannst pennen.« Sie deutete auf ein reinweißes Sofa, das Wastl eine Heidenangst einjagte.

»Was, wenn ich das dreckig mache?«, flüsterte er. Diese Räume waren ihm nicht ganz geheuer. Selbst im Licht der vermutlich teuren Lampe (sie bestand aus Hunderten winziger Glaskugeln) strahlten sie etwas Düsteres aus. Kein Wunder, die Wände waren dunkelgrau. Wastl fragte sich, wohin die Türen links von ihm führten.

»Wenns das Sofa dreckig machst, erschlog ich dich mit dem Wischmopp«, knurrte Amira. »Und jetzt leg dich ab. Siehst schon ganz fertig aus, Kleiner.«

»Ich kann dir beim Putzen helfen.«

Sie schnaubte. »Im Weg stehen kannst du.«

Auf dem Weg hoch hatte sie erzählt, dass sie bis vor kurzem in einer Flüchtlingsunterkunft nahe der bayerischen Alpen untergebracht gewesen war. Von den Einheimischen hatte sie sowohl bayerische Mundart als auch Höflichkeit gelernt.

»Wer wohnt denn hier?«, fragte er und sah aus den bodenlangen Fenstern. Beziehungsweise: Sah sich selbst in der Spiegelung, vor nachtschwarzem Himmel. Er war eindeutig das billigste Objekt in der Wohnung. Die Hausdächer auf der anderen Straßenseite rümpften die Nase.

»Keine Ahnung. Interessiert mich nicht«, behauptete das Integrationswunder. »I krieg den nie zu Gesicht. I putze nur hier, nicht im Schlafzimmer, und das ist immer abgeschlossen.«

Wastl schauderte. Jetzt gruselte ihn die kahle Wohnwüste noch mehr. »Vergiss nicht, mich zu wecken, wenn du gehst, ja?«

»Hältst mich für bled?« Ihre Knöchel klopften auf seine Stirn. »Und jetzt leg dich ab, I hob zu tun.«

Er streckte sich auf dem Sofa aus und versuchte, es bequem zu finden. Das Teil war dynamisch-elegant, aber hart wie Pressholz. In der Spiegelung sah er aus wie ein Schmutzfleck auf einer weißen Blüte. Er wandte sich ab, rollte sich zusammen und schloss die Augen.

Hier schaff ich’s nie zu schlafen, dachte er und schlief ein.

 

***

 

Amira saugte die Böden und putzte die Küche, in der kaum etwas je benutzt wurde. Nur der Mixer und der Mülleimer. Der Besitzer lebte anscheinend hauptsächlich von Shakes und bestelltem Essen. Sie fand sieben leere Plastikboxen im Abfallkorb. Die Aufschriften waren immer die gleichen: dreimal Thai King, einmal Gutshaus, einmal Veggie-Hof und zweimal Steakpalast. Dabei waren der Kühlschrank und die Küchenschränke gut gefüllt. Hastig wischte sie über die Arbeitsplatte, die schwarz und undurchsichtig wie ein nächtlicher See war.

Sie beeilte sich stets, hier fertig zu werden. Manchmal glaubte sie, Blicke zu spüren, aber wenn sie sich umwandte, sah sie nur die düsteren Wände und die leeren Fenster. In der Mitte der Wohnung befand sich ein Dachgarten, auf dem sich kahle Äste im Wind wiegten. Sie schüttelte sich. Wie jeden Montag konnte sie es kaum erwarten, nach Hause zu kommen. Ihre Schwester hatte gekocht und wenn sie nicht pünktlich dort war, würde das Miststück alles versalzen. Wie immer. Sie fragte sich, ob sie nicht langsam zu ihrem Verlobten ziehen sollte. Aber der war so ordentlich. Amira mochte ein wenig Chaos und eh überlegte sie schon seit einer Weile, ob Johannes wirklich der Richtige war … Na, gemütlicher als in dieser seltsamen Bude war es bei ihm allemal.

Sie beeilte sich, mit dem Bad fertig zu werden, machte das Licht aus und schlüpfte aus der Tür.

Erst im Bus nach Hause fragte sie sich, ob sie etwas vergessen hatte.

 

***

 

Etwas bewegte sich in den Schatten. Wastl war wach, von einem Moment auf den anderen. Dunkelheit umfing ihn, aber da war dieses Scharren … ein Scharren, das näher kam. Das nach ihm zu greifen schien …

Diese Amira hat mich doch vergessen, dachte er. Schweiß brach in seinem Nacken aus und er wagte kaum, sich zu bewegen.

Sei kein Feigling, Wastl. Du …

»Wer bist du?«, fragte Satan. Nun, er klang wie Satan persönlich. Als würde er täglich die Höllenscharen mit seiner tiefen Stimme zum Töten antreiben und als hätte das ständige Brüllen sie etwas aufgeraut.

Wastl riskierte es, den Kopf zu heben. Seine Augen gewöhnten sich an das Dunkel.

Eine finstere Gestalt ragte über dem Sofa auf. Eine düstere Silhouette, schwarz wie die Seele des Höllenfürsten. Der Kerl hielt etwas in den Händen. Eine Waffe, es musste eine Waffe sein.

»Ich habe gefragt, wer du bist.«

»Tu mir nichts!« Wastl hob die Hände. »I wollt nur … I war nur müd und …« Er fummelte sein Handy aus der Hosentasche. Mit schwitzigen Fingern schaltete er es ein und leuchtete Satan ins Antlitz. Helle, böse Augen. Wirre Haare und eine Habichtsnase und … rotweiße Male, die das halbe Gesicht überzogen. Schnell schaltete Wastl das Handy wieder aus. Aber im Schein hatte er noch etwas erkannt.

Schweigen breitete sich aus. Das Monster, das über ihm aufragte, atmete leise. Schauer rannen über Wastls Rücken. Angstschauer. Und auch ein wenig angenehme. Versuchsweise schaltete er das Handy noch einmal ein.

»Mach das Ding aus!« Satan hob eine Hand vor die Augen, aber Wastl hatte schon gesehen, was er hatte sehen wollen: Der Höllenfürst war unglaublich attraktiv.

»Tschuldigung«, murmelte er. »I … es tut mir leid, ich … Sie sind der Wohnungsbesitzer, ja?«

Schweigen. Mist, Mist. Hoffentlich war er das. Ob er die vielen Zimmer brauchte, um das Fleisch seiner Opfer dort zu lagern, bis es schön zart und faulig war?

Igitt Wastl, was denkst dir für einen Scheiß aus?

»Sie wollen mich nicht töten, oder? Mit dem Ding da?«

Der Höllenfürst ließ seine Waffe sinken. Er kehrte um und schritt zur Wand. Licht flammte auf, aus hunderten kleiner Glaskugeln. Ein Mann stand neben dem Lichtschalter, ein so beeindruckender Mann, dass Wastl die Luft wegblieb. Tiefschwarze, wilde Haare, ein scharfkantiges Gesicht, ein blutroter Morgenmantel, der sich über einem muskelstrotzenden Körper spannte und … ein Fuß aus Metall. Wastl blinzelte. Zwei glänzende Metallstücke, wie die Spitzen zweier Ski, ragten aus dem rechten Bein des schwarzen Pyjamas hervor.

»Gütiger Himmel«, entfuhr es ihm.

Das Monster strich sich die Haare aus dem Gesicht und er sah die Verbrennungen.

3. Ein unfähiger Einbrecher

 

»Schneller, du Pussy. Jetzt beweis mal, was du …«, sagte Max. Wie immer, bevor alles in einem Feuerball verschwand. Brennender Gummigestank biss sich in Adrians Nase fest und sein Körper zerriss.

Keuchend fuhr er hoch. Sein Brustkorb konnte das hämmernde Herz kaum fassen, das versuchte, durch seinen Mund zu entkommen. Den Mund, der immer noch nach schmelzendem Gummi schmeckte. Nach Metall und Blut und verbranntem Fleisch. Er blinzelte.

Hinter den Fenstern war es dunkel. Wie üblich. Er hatte die Vorhänge nicht ganz zugezogen und sein bleiches, zerstörtes Gesicht sah ihm entgegen. Er ließ die Haare davor fallen, um es nicht mehr anschauen zu müssen. Seine Zunge fühlte sich an wie trockene Pappe. Die Last, die er in jeder wachen Minute mit sich trug, senkte sich auf ihn nieder und beugte seinen Kopf.

Es tut mir leid, dachte er. Wie jede Nacht. Am liebsten wäre er wieder eingeschlafen, aber er wusste, dass er das nicht konnte. Also schwang er das Bein aus dem Bett, legte die Prothese an und humpelte zur Schlafzimmertür. Er lauschte. Kein Staubsaugerlärm. Gut, dann war die Putzfrau schon weg. Er schloss die Tür auf und griff nach dem Morgenmantel, den er auf dem Weg in die Küche überstreifte.

Seine Hand zitterte immer noch, als er das Glas unter den harten Strahl des Wasserhahns hielt. Eisige Kälte floss seine Kehle hinab. Er trank wie einer, der die Nacht in einer Flammenwüste verbracht hatte. Aus den Augenwinkeln sah er seine abscheuliche Fratze und wünschte sich zum wiederholten Mal, dass diese verdammten Fenster Vorhänge hätten, wie die im Schlafzimmer. Er hätte welche anbringen lassen können. Aber das hätte bedeutet, Fremden Zutritt zur Wohnung zu gewähren. Anderen Menschen. Unerträglich. Er füllte das Glas ein zweites Mal und stellte den Wasserhahn ab. Seine rechte Hand grub sich in die Kante des Waschbeckens. Die Haut darauf spannte. Er atmete tief ein. Und hörte ein Geräusch, das nicht sein durfte.

Ein Schnarchen.

Adrian fuhr herum. Es war aus dem Wohnzimmerbereich gekommen. Da hinten, bei dem Muuto-Sofa. Adrian wartete ab. Da, ein zweites Schnarchen. Nicht laut. Aber es war ein so auffälliger Misston in der ruhigen Wohnung, dass es sich anfühlte wie Fingernägel auf einer Glasscheibe. Jemand lag dort. Jemand, von dem Adrian nicht viel sehen konnte. Einen hellen Schopf konnte er im Dunkel ausmachen, mehr nicht.

Ein Einbrecher?, dachte er. Falls ja, ist das der unfähigste Einbrecher, den ich je erlebt habe. Wer legt sich denn während eines Diebstahles hin und schläft ein?

Egal. Wenn der Kerl glaubte, er könnte einen armen Krüppel bestehlen, dann hatte er sich geschnitten. Dieser Krüppel hier hatte ein Set Golfschläger und die Muskeln, um es zu benutzen. Kurz überlegte Adrian, die Polizei zu rufen, aber das hätte wieder Fremde in der Wohnung bedeutet. Die Putzfrau störte seine Einsamkeit genug. Und mit einem schnarchenden Einbrecher wurde er alleine fertig.

Trotz der Prothese schaffte er es, lautlos ins Büro zu schleichen und das richtige Werkzeug aus dem Golfschläger-Set auszusuchen, das sein Vater ihm zum einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Lange her. Er vermied es, die Bilder an der Seitenwand anzusehen.

Welcher Schläger ist der passende, um einem Einbrecher den Schädel zu spalten? Das Eisen 4, oder? Natürlich ist es das. Die Hölzer sind definitiv zu leicht.

Mit seiner Waffe in der Hand schlich er zum Sofa. Zu laut. Das Bündel auf der weißen Fläche zuckte und fuhr zusammen.

»Wer bist du?«, fragte Adrian.

Der Kerl richtete sich auf. Blond, soweit er das im Dunkel beurteilen konnte. Ein helles Gesicht, bleich im trüben Mondlicht, das durch die Fenster hereinschien. Hektisches Atmen. Der Mistkerl sagte nichts.

»Ich habe gefragt, wer du bist«, wiederholte Adrian.

»Tu mir nichts!« Der Einbrecher hob die Hände. »I wollt nur … I war nur müd und …«

Ein Einbrecher vom Dorf, so viel war nun klar. Grauenvoller Dialekt. Er hob etwas und Adrian erwartete eine Waffe. Dann blendete der Mistkerl ihn. Weißes Licht raubte ihm die Sehkraft, aber der Eindringling griff ihn nicht an. Stattdessen starrte er. Klar. Es gab ja auch einiges anzustarren, in der ruinierten Landschaft von Adrians Gesicht.

Es wurde wieder dunkel, bis auf die hellen Lichtblitze, die hinter Adrians Augenlidern flirrten. Der Idiot schaltete das Handy erneut an.

»Mach das Ding aus!«, befahl Adrian.

»Tschuldigung«, murmelte der Trottel. Er klang jung. Anfang zwanzig, höchstens. »I … es tut mir leid, ich … Sie sind der Wohnungsbesitzer, ja?«

Adrian würdigte diese blöde Frage nicht mit einer Antwort. Wer sollte er denn sonst sein?

»Sie wollen mich nicht töten, oder?«, wimmerte der Trottel. »Mit dem Ding da?«

Adrian ließ den Schläger sinken. Von dem Volldeppen ging eindeutig keine Gefahr aus. Stattdessen marschierte er zum Lichtschalter und drückte ihn. Helligkeit flammte auf und überzog den Raum mit Farben. Es schien auf Adrians kaputten Körper und auf den dämlichen Einbrecher.

Ach du Scheiße.

Der sah aus, als wäre er aus der nächstbesten Scheune gefallen. Ein wunderhübsches Gesicht, Sommersprossen, verstrubbelte Haare, breite Schultern und Klamotten, die auf die Müllkippe gehörten. Alles an ihm schrie »Landei«. Einer wie der passte auf das Cover eines Kalenders mit sexy Stallburschen, aber nicht in Adrians Wohnung.

Mr. Stallbursche starrte ihn an. Der gehetzte Blick flitzte über Adrians ganzen Körper. Die kaputte Gesichtshälfte, die Verbrennungen, die aus Ärmel und Halsausschnitt des Pyjamas schauten und tiefer. Bis zu der Stelle, wo ein Unterschenkel hätte sein sollen und wo ein seidenes Hosenbein um die Metallstange herum Falten schlug.

»Gütiger Himmel!«, rief der Stallbursche.

Ja, starr nur, dachte Adrian. Er war selbst verwundert, wie viel Bitterkeit in ihm hochkochte. Um dem Kerl den ganzen Schrecken seines Anblicks zu gönnen, strich er sich die Haare aus der Stirn. Der Blonde schaute, als würde er in die Tiefen der Hölle blicken.

Ja, dachte Adrian. Und jetzt lauf. Wahrscheinlich hätte ich den Golfschläger gar nicht gebraucht …

»Tschuldigung, ich hab mich nur gewundert … Ist das ein Vierer Eisen?«, fragte der Stallbursche. »I … Ich verwechsel das immer mit dem Fünfer. Ich …« Er räusperte sich. »Ich hab in den Ferien mal auf dem Golfplatz gearbeitet, da wär ich fast rausgeflogen, weil ich mir das Zeug nicht merken konnte. Dann haben sie mich an die Bar versetzt. Äh.«

Was? Adrian blinzelte. War der Kerl blind? Warum fragte er nach dem verdammten Golfschläger?

»Ja«, knurrte er. »Und jetzt will ich wissen, wer du bist. Oder das ist das Eisen 4, das deinen blonden Schädel weichklopft.«

»Oh, äh.« Ein Blinzeln. Der Kerl sah wirklich sehr gut aus. Diese Art beiläufige Schönheit von Menschen, die mit einem Übermaß davon gesegnet waren, ohne sich dessen bewusst zu sein. Es war nicht der sündige Schwung seiner Lippen, die katzenhafte Neigung der Augen oder das kantige Kinn. Es war die Art, wie alles zusammenspielte. »Also. I bin der Wastl.«

Landei.

»Mein Name ist Sebastian«, korrigierte Adrian.

»Ach, du heißt auch Sebastian?« Der Trottel lachte nervös. »Na, ist ja auch ein häufiger Name …«

»Nein, du Genie«, knurrte Adrian. »Ich habe deinen grauenvollen Dialekt verbessert, Sebastian.«

»Nenn mich doch Wastl.«

»Niemals.« Adrian hob den Golfschläger. »Wie bist du hier hereingekommen, Sebastian?«

Schweigen. Die sündigen Lippen wurden zu einem etwas weniger sündigen weißen Strich.

»Hat die Putzfrau dich hereingelassen?«, fragte Adrian.

»Nein! Nein, bestimmt nicht!« Zu blöd zum Lügen war er auch. Adrian hatte seit zwei Jahren keinen nennenswerten Kontakt mit anderen Leuten, und selbst er erkannte, dass der Kerl log.

»Die Putzfrau also. Die ist gefeuert.« Adrian machte eine mentale Notiz, sie morgen früh kündigen zu lassen. »Und jetzt erklär mir, was du hier tust, oder ich verliere die Geduld.«

»Aber …« Sebastian, der unfähige Einbrecher schluckte. Sein Adamsapfel hüpfte. »Bitte, sie wollte mir nur helfen. Ich hab unten im Büro geschlafen, weil ich keine Wohnung hab, ich meine, ich suche, aber …« Er zuckte so hilflos mit den Schultern, dass Adrian beinahe Mitleid bekommen hätte. »Ich wusste doch nicht, wohin, und sie hat gesagt, ich könnte hier schlafen, während sie putzt. Sie hat das wirklich nur lieb gemeint. Sie … Sie hat das aus reiner Nächstenliebe …«

»Und warum bist du noch hier und sie ist weg?«, unterbrach Adrian das Gestammel.

»Sieht aus, als hätte sie mich vergessen.« Ein schwaches Lächeln. Jetzt sah er endgültig aus wie ein Cover-Stallbursche.

»Fantastisch«, sagte Adrian. »Nun, immerhin ist das geklärt. Und jetzt hau ab.« Er zögerte. »Warte. Du hast im Büro geschlafen? Bei Hauser Immo oder im Siebermann-Verlag?«

»Siebermann. Bitte …«

»Nein.«

»Aber sie wollte doch nur helfen. Echt. Wieso verstehst du das nicht?« Jetzt wurde der Bauerntrottel auch noch bockig.

»Weil es mich nicht interessiert. Und jetzt verschwinde. Die Tür ist da hinten.«

»Aber sie hat es nur gut gemeint. Bitte, sie hat den Job doch erst seit ein paar Wochen, hat sie gesagt, und ich glaube, sie braucht ihn wirklich.«

»Wenn sie ihn wirklich brauchen würde, würde sie keine Fremden in diese Wohnung schleusen.«

»Das ist eine ziemlich große Wohnung für einen allein«, sagte Sebastian. Er kniete immer noch auf dem Sofa, aber etwas an seiner Haltung hatte sich verändert.

»Das kommt einem Landei wie dir vielleicht so vor.«

»Wie viele Zimmer hat sie denn?«

Adrian wusste nicht, warum er dem Kerl überhaupt antwortete. Er hatte seit Tagen nicht mehr mit einem anderen Menschen gesprochen, vermutlich lag es daran. »Vier Schlafzimmer, drei Bäder, Küche, Sauna, Büro, Bibliothek, Dachterrasse und der Wohnbereich, in dem du dich gerade unbefugt aufhältst.«

»So viele Zimmer?!« Der Stallbursche sprang auf. »Und die hast du alle für dich allein?«

Was hatte der denn? Fast schien es, als würde ihn dieser Umstand wütend machen. »Ja, habe ich. Wenn es dich beruhigt, ich habe dafür bezahlt. Nun, besser gesagt hat mein Großvater einen Teil …«

»Weißt du, wie lange ich schon nach einer Wohnung suche?!«, brüllte Sebastian. »Jedes mickrige Rattenloch in München kostet tausend Euro! Kalt! Und du … Du hockst hier auf vier Schlafzimmern, von denen du nur eins benutzt?«

»Ja. Warum stört dich das?«

»Weil ich über hundert Bewerbungen geschrieben habe und jedes Mal abgelehnt wurde!« Sebastians Stimme prallte von den Fensterscheiben ab. »Weil ich von Besichtigung zu Besichtigung dackle, jede Pause, jeden Abend und jedes Wochenende und es nichts gibt? Weil ich immer mit einer Wagenladung von anderen Bewerbern da steh wie ein Bittsteller und mir vorkomme wie ein Vollidiot?«

»Das ist doch nicht meine Schuld.«

»Nein, aber … das ist verdammt noch mal nicht richtig.« Sebastians Geste umfasste die Fensterfront, die anthrazitfarbenen Wände und die blitzblanke, offene Küche. »Die Wohnung ist viel zu groß für einen allein. Das ist einfach unfair.«

So eine Heulsuse.

»Ich fühle mich entsetzlich schuldig«, sagte Adrian. »Dann hast du halt kein Zuhause und ich habe eins. Was willst du tun, meine Wohnung besetzen?«

Er ahnte nicht, wie oft er diesen Satz in den nächsten Tagen noch bereuen würde.

4. Hausbesetzung für Anfänger

 

»Was willst du tun, meine Wohnung besetzen?«

Wastl stockte. Sein Atem stand still und seine Ohren dröhnten. Natürlich, das war es!

»Ja«, sagte er und verschränkte die Arme. »Ja, das will ich. Ich mein, das tue ich. Deine Wohnung ist hiermit besetzt. Von mir.«

Satan schaute ihn an, als wäre er eine fünfjährige Rotznase, die behauptete, ein Superheld zu sein. »Du hast doch keine Ahnung, wie man eine Wohnung besetzt.«

»Natürlich habe ich das.« Nur nicht unterkriegen lassen. »Daheim in Würzen war ich der größte Wohnungsbesetzer im ganzen Ort.«

»Einen Scheiß warst du.« Satan hob eine Augenbraue, in der ein Stück fehlte. Seine rechte Gesichtshälfte war ein Flickwerk aus normalen Hautstücken und viel zu glatten Stellen, die so spannten, dass sie Falten schlugen. Das Ohr fehlte zur Hälfte, als wäre es runtergeschmolzen. Wastl hätte sich wirklich gefragt, was geschehen war, wenn er nicht so wütend gewesen wäre.

»Ich bin ein Wohnungsbesetzer«, behauptete er. »Ein sehr gefährlicher Wohnungsbesetzer. Also leg dich bloß nicht mit mir an.«

»Das reicht. Ich rufe die Polizei.«

Wastl wusste auch nicht, was ihn ritt. Vielleicht war es eine Ahnung, vielleicht war es nur Zorn. »Ja, dann ruf die doch. Dann … dann komm ich halt ins Gefängnis und dann … hab ich immerhin ein Dach über dem Kopf.« Oh nein. Der böse Kloß in seinem Hals war wieder da und schwoll in Rekordzeit an. Mist, Mist, Mist. »Das ist mir gerade recht«, sagte er, bevor seine Stimme brach. »Genau das war mein Plan.«

Panisch hörte er die aufsteigenden Tränen in seinen Worten. Sie ließen seine Sicht schon trüb werden. Das genervte Gesicht des Teufels verschwamm.

»Wenn du denkst, dass Heulen dich weiterbringt, dann hast du dich geschnitten«, vernahm Wastl.

Schnell drehte er sich um und stolperte fast über das Sofa.

»Ruf endlich die … die Polizei.« Er schniefte. Scheiße, verdammt! Kein Wunder, dass niemand ihn ernst nahm. Einen erwachsenen Mann, der heulte wie ein Kleinkind, sobald was schief lief. »Na los. Ich warte. Versau mir mein Leben und … und meinen Job werd ich auch verlieren, wenn ich im Gefängnis bin … und Mama würde … würde …«

Er hörte ein langsames Einatmen. Sehr langsam, als würde Satan überlegen, ihm den Golfschläger doch noch über den Schädel zu ziehen.

Wastls Wangen wurden nass und heiß. Er blinzelte, japste und wischte sich über die Augen. Sofort füllten sie sich wieder. Es war einfach so ungerecht! Er hatte doch nur versucht, eine Nacht lang nicht auf der Straße zu stehen.

»Jetzt hau schon ab.« Satan klang müde. »Ich will schlafen.«

»Ich auch«, schniefte Wastl. »Und nicht unter einer Brücke, verdammt. Ich … ich penn hier oder in einer Zelle. Nirgendwo sonst.« Er verschränkte die Arme.

»Hör auf, den Harten zu spielen«, sagte der Höllenfürst. »Das kommt wenig überzeugend, wenn du dabei heulst. Falls es dir nicht aufgefallen ist: Ich kann dich im Fenster sehen.«

Oh.

»Mir egal«, behauptete Wastl. »Ich steh dazu, dass ich Gefühle habe.«

»Dass du eine Heulsuse bist, meinst du.« Ein Seufzen. »Morgen früh haust du ab, klar?«

»W-was?« Er drehte sich um. Satan schaute, als hätte er ihm in die Suppe gerotzt. »Ich kann bleiben?«

»Bis morgen früh. Dann bist du auf dich allein gestellt. Glaub mir, ich werde den Schlüssel dreimal im Schloss umdrehen, sobald du abgehauen bist.«

»Oh.« Wie unerwartet, dass mal etwas funktionierte. »Vielen Dank.«

»Wenn ich morgen aufwache, bist du verschwunden.« Ein düsterer Blick zwischen dunklen Haarsträhnen. Wastl musste sich Mühe geben, zu nicken, so abgelenkt war er. Solche Männer gab’s doch nicht wirklich, oder? Nur in Schauerromanen und alten Filmen.

»Ja. Danke.« Er schluckte. Wohin er morgen Abend gehen würde, wusste er nicht, aber es war ein Aufschub von fast 24 Stunden. Besser als nichts. Sehr viel besser als nichts.

»Und du schläfst auf dem Sofa. Denk nicht mal daran, dich in eins der Schlafzimmer zu legen.«

Eins der Schlafzimmer. Dieser Großkotz. Wie konnte man allein in so einer Bude hocken? Die war für eine Großfamilie gedacht, mindestens. Und das in München, bei den Mietpreisen … Wastl wischte sich noch einmal über die Augen.

»Wage es nicht, etwas zu klauen«, sagte Satan.

»Etwas klauen? Ich?!« Wastl hätte nicht schockierter sein können, wenn der Kerl ihm vorgeworfen hätte, ein Serienmörder zu sein. »Ich hab noch nie etwas geklaut. In meinem Leben!«

»Du Langweiler.« Satan drehte sich um und ging. Den Golfschläger hatte er sich locker über die Schulter gelegt und sein Hinken war so leicht, dass es nur auffiel, wenn man ganz genau darauf achtete. Als er bei der Küche um die Ecke bog, merkte Wastl, dass er den Atem angehalten hatte.

So ein Arsch, dachte er.

Aber ein wenig Herz hatte der Höllenfürst wohl doch, sonst würde Wastl draußen in der Kälte stehen. Nachdenklich legte er sich zurück. Es war kühl geworden, deshalb breitete er seine dick gefütterte Jacke über sich aus. Wenn er die Nase tief darin vergrub, roch sie fast noch ein wenig nach Zuhause. Wie der Flur, in den er nach der Schule heimgekommen war. Nach alten Äpfeln und älteren Dielen. Nach den Lavendelsträußen, die Mama aufgehängt hatte. Und nach Desinfektionsmittel und Krankheit. So wie am Ende.

Er seufzte leise.

Was nun? Erstmal schlafen. Und dann? Wäre es nicht möglich, Satan zu überreden, ihn noch ein paar Tage hier übernachten zu lassen? Er hatte doch genug Platz. Wastl beschloss, es zu versuchen. Gleich morgen würde er dem Kerl zeigen, dass er der beste aller Mitbewohner war!

5. Barbecue-Frühstück

 

Adrian erwachte von einem nervenzerfetzenden Piepsen. Nein, Piepsen war zu harmlos ausgedrückt. Er glaubte, zwischen zwei Sirenen zu liegen.

Der Feueralarm.

Er fuhr hoch. Die Morgendämmerung drang durch die Vorhänge. Adrian fühlte sich verkatert und mürbe, als hätte er stundenlang wachgelegen. Hatte er auch, nachdem er wie üblich mitten in der Nacht aufgewacht war …

Da war dieses fürchterliche Landei gewesen.

Er schnallte die Prothese um und stürmte in die Küche. »Was machst du noch hier?«, brüllte er.

Das Landei gab einen panischen Schrei von sich und ließ den qualmenden Topf fallen, den er zwischen zwei Topflappen hielt. Dicker, schwarzer Rauch hing unter der Decke. Es knackte. Der Topf hatte eine der dunkelgrauen Bodenfliesen gespalten. Die Risse sahen aus wie ein Spinnennetz.

»I, also ich mache Frühstück.« Das Landei lächelte verzweifelt.

»Was?« Adrian hustete. Verdammt, dieser Rauch war ja unerträglich. Er zerrte die Fenster auf und Winterluft klatschte ihm entgegen. Straßenlärm, Hupen und Gesprächsfetzen wehten herein. Das durchdringende Piepsen verstummte endlich.

»Tut mir leid.« Das Landei hieß Sebastian, erinnerte Adrian sich. Sebastian aus dem Siebermann-Verlag. »Ich war grad mit dem Rührei beschäftigt, da hab ich die Weißwürste aus Versehen ohne Wasser aufbrühen wollen.«

»Ohne Wasser? Hast du überhaupt schon mal Frühstück gemacht?«

»Na klar, aber kein so aufwendiges.« Ein treudoofer Blick aus braunen Katzenaugen. »Ich wollte mich doch bedanken, dass ich hier schlafen durfte.«

»Durfte.« Adrian atmete tief ein. »Du kleiner Scheißer hast mich erpresst.«

»Gar nicht. Also, es war zumindest nicht so gemeint.«

»Na, wenn es nicht so gemeint war … Überfährst du auch manchmal Welpen und meinst es nicht so?«

»Ich hab kein Auto.« Sebastian räusperte sich. Und noch einmal. Der Rauch wollte nicht abziehen. Dieser Gestank würde noch tagelang in der Wohnung hängen. »Ich wollt mich wirklich bedanken. Tut mir leid, dass ich den Alarm ausgelöst habe.«

»Und die Fliese, tut dir die auch leid?« Adrian deutete auf den Riss.

»Klar tut mir das leid. Ich bezahl sie dir, sobald ich wieder Geld hab. Ehrlich.«

»Oh, gut. Soweit ich mich erinnere, kosten die 129 Euro pro Stück.«

»Was?!« Die Katzenaugen wurden zu Glubschaugen. »Nicht dein Ernst.«

»Das ist mein voller Ernst.« Adrian sah sich in dem um, was von seiner ordentlichen Küche übriggeblieben war. Topfdeckel schepperten und dampften auf der verklebten Herdplatte. Irgendetwas im Ofen machte sanfte Puff-Geräusche, die Spüle lief über und alles klebte. »Die Überschwemmung zahlst du auch, oder?«

»Die Überschwemmung … Sakra!« Sebastian stürzte vor, um den Wasserhahn zuzudrehen. »Warum ist denn das nicht abgelaufen … ah, da haben die Eierschalen den Abfluss verstopft. Sowas aber auch.« Er beugte sich hinunter und wischte mit einem 97-Euro-Küchentuch den Boden. Sein billiges Hemd war aus der Hose gerutscht und gab ein Stück Wirbelsäule frei. Ein kräftiger Rücken, als hätte er sein Leben lang Heuballen geschaufelt oder was immer diese Stallburschen taten. Adrian zwang sich, wegzusehen.

»Dachtest du, ein gigantisches Frühstück aus meinen eigenen Zutaten überzeugt mich, dass ich dich plötzlich hier aufnehme?«

Ein verschämtes Murmeln. »Ja, sowas hab ich gedacht, wenn ich ehrlich bin. Hat nicht funktioniert, oder?«

Es war fast ein wenig süß. Nur war Adrian keiner, der irgendetwas süß fand und beeinflussen ließ er sich davon erst recht nicht. »Nein. Komm vorbei, wenn du mein Geld hast.«

»Ja.« Sebastian stand auf. Schlapp ließ er das Wasser aus dem Waschbecken und wrang das Küchentuch aus. »Sollen wir … Magst du wenigstens was essen? Damit ich mir die Mühe nicht umsonst gemacht habe?«

War das ein Trick? So wie dieses Geheule gestern? Inzwischen war Adrian sicher, dass das ein mieser Bluff gewesen war. Welcher erwachsene Mann heulte denn einem Fremden etwas vor?

»Meinetwegen. Aber dann gehst du.«

»Ja.« Ein Nicken, das die verstrubbelten Haare wippen ließ. »Ja, mach ich.« Und dann strahlte der Blödmann und die Sonne ging auf. Was für ein unerträglicher Schönling! »Ich hoffe, es schmeckt dir. Wie heißt du gleich?«

»Adrian.« Etwas nagte an ihm. Etwas, das er nicht ganz fassen konnte, wollte seine Aufmerksamkeit. Aber er hatte genug damit zu tun, Essbares in den verkohlten Lebensmittelbergen zu finden, die Sebastian auftischte. Das, was er fand, schmeckte nicht übel.

Schweigend saßen sie sich gegenüber. Jeder auf einem Barhocker, einen Seines de la Seine-Teller vor sich und Berge aus glibberigem Rührei, verkohltem Toast und zusammengefallenen Brötchen zwischen sich.

»Es schmeckt annehmbar«, sagte Adrian und bestrich eine weitere warme Semmel mit Butter. Daher waren also die Geräusche aus dem Ofen gekommen.

»Echt? Danke.« Sebastian sah ihn verwundert an. An seinem unrasierten Kinn klebten mehrere Krümel. »Ich bin nicht sehr gut darin, das alles gleichzeitig zuzubereiten, aber man kann es essen, oder?«

»Ja, erstaunlicherweise.« Adrian wusste selbst nicht, warum ihm diese laienhafte Mahlzeit so gut mundete. Er hatte das Gefühl, zum ersten Mal seit langer Zeit etwas zu schmecken. Er schmeckte Eierschalen und Brandlöcher. Aber das war besser als der Pappgeschmack, der sich sonst nach ein paar Bissen einstellte. »Es sieht schlimmer aus, als es schmeckt.«

»Soll das ein Kompliment sein?« Sebastian schaute fragend.

»Nein.«

»Für so einen feinen Pinkel bist du ganz schön unhöflich.«

Adrian lachte. »Dafür, dass du hier eingedrungen bist und meine Küche verwüstet hast, nimmst du dir ziemlich viel raus.«

»Ach, wenn du mich eh nicht hier wohnen lässt …« Sebastian zuckte mit den Achseln. Ein winziges Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Dieses Lächeln musste Mädchenherzen schmelzen wie ein Flammenwerfer.

Adrian spürte seine Wange. Hatte er gerade gelacht? Die Haut spannte unangenehm. Dann durchzuckte ihn ein Gedanke: Er beachtet es nicht. Das war es, was ihn irritiert hatte. Der kleine Mistkerl reagierte überhaupt nicht auf seine Entstellungen. Weder starrte er auf den Metallfuß, der aus der Pyjamahose schaute, noch blieb sein Blick an den Brandwunden hängen. Versuchsweise hob Adrian das Brötchen zum Mund. Mit der rechten Hand, die zur Hälfte mit verbranntem Stückwerk überzogen war statt mit richtiger Haut. Sebastians Blick flackerte nicht, obwohl er es bemerkt haben musste. Er sah Adrian in die Augen, als wäre nichts.

»Wohnst du schon lange hier?«, fragte er, als wäre das ein Frühstück mit neuen Bekannten. »Es sieht alles so neu aus.«

»Fast zehn Jahre. Ich bin nach dem Studium hier eingezogen.«

»Oh. Und da konntest du dir die Miete leisten?«

»Ich habe die Wohnung gekauft.« Adrian probierte vom Rührei, ohne den Blick von seinem Gast zu wenden.

Du kleiner Scheißer, dachte er. Das spielst du doch nur.

Er wusste, wie sie normalerweise schauten. Er hatte gemerkt, wie krampfhaft es seine alten Freunde vermieden, ihn anzuschauen. Wie die Jungs vom Lieferdienst versucht hatten, ihr Entsetzen zu verbergen, bevor er angewiesen hatte, das Essen einfach vor der Tür abzustellen und zu klingeln. War ausgerechnet dieser lebende Stallburschenkalender so ein guter Schauspieler, dass er sich nichts anmerken ließ?

»Gekauft.« Sebastians Blick wanderte über die Fenster, hinter denen die Stadt langsam zum Leben erwachte. »Das hier? Das muss doch Millionen gekostet haben.«

»Hat es.«

Sebastians Brötchen verharrte auf dem Weg zum Mund. »Echt jetzt? Ich meine, klar, aber … Ich kenn nur keinen, der so viel Geld hat. Also hast du das geerbt, oder …«

Niemand konnte so gut schauspielern. Niemand. Adrian öffnete den obersten Knopf des Pyjamaoberteils, um noch mehr Entstellungen zu zeigen. Da, endlich. Sebastians Blick wackelte. Leichte Röte schoss in die Wangen und ließ ihn noch ländlicher aussehen. Adrian hätte beinahe gelächelt.

»Warm hier«, sagte er und öffnete einen weiteren Knopf.

Endlich zeigte der Mistkerl Ekel. Er räusperte sich und versuchte krampfhaft, nicht auf die besonders schweren Verbrennungen auf der Brust zu schauen. »Äh, ja. Warm.«

Adrian sah seinen Adamsapfel hüpfen. Bittere Befriedigung erfüllte ihn. Ja, er war noch genau so scheußlich wie zuvor. Ein Monster, das in einer übergroßen Wohnung hockte und sich vor der Welt verbarg.

»Hast du Angst vor mir?«, fragte er Sebastian und beugte sich vor. Seine Wange spannte und kribbelte und fühlte sich doch taub an. Sebastians Augen weiteten sich, als diese Abscheulichkeit auf ihn zukam. Gut. Adrian würde ihn vertreiben. Dieses Frühstück war beendet. Gleich würde er wieder herrlich allein sein.

»Uh, Adrian …«

Warmer Atem, ein buttersüßer Hauch aus Sebastians Mund, streifte Adrians Nase. Er lächelte.

Weich zurück. Kapier, dass ich nicht auf einen miesen Schauspieler wie dich reinfalle …

Sebastian beugte sich vor und küsste ihn.

Lippen, weich wie Seide, pressten sich auf Adrians vernarbte. Einen Moment lang. Dann war er es, der zurückwich.

»Was soll das, verdammt?!«, brüllte er.

Sebastian ruderte mit den Armen und fiel von seinem Hocker. Einen Moment später erschien sein Blondschopf wieder hinter der Tischkante.

»Aber …«, sagte er. »Ich dachte, du willst … also …«

»Dich küssen?!« Adrian richtete sich zu seiner vollen Größe und Scheußlichkeit auf. »Warum sollte ich das wollen?«

Das saß. Sebastian wurde blass. Seine Lippen öffneten sich und er schaffte es doch nicht, etwas zu sagen. Ein kleines Krächzen war alles, was er zustande brachte.

»Danke für die Gastfreundschaft«, presste er schließlich heraus. Dann stürzte er an Adrian vorbei und sammelte hektisch seine Sachen vom Sofa. Mit dem überquellenden Rucksack ausgerüstet verließ er die Wohnung.

Endlich wieder allein.

Adrian fühlte sich allein. Er wischte sich über den Mund, an dem Honigreste klebten. Er hatte keinen Honig gegessen. Das war Sebastian gewesen.

»Dieser kleine Mistkerl«, sagte Adrian und versuchte, wütend zu sein. »Denkt der, er kann bleiben, wenn er was mit mir anfängt?«

Ja, vermutlich. Der Arsch war ein noch besserer Schauspieler, als er gedacht hatte. Gut, dass er weg war.

Er nahm sein Brötchen vom Teller und biss hinein. Es schmeckte wie Pappe.

6. Freundliche Übernahme

 

Wie verdammt peinlich war das denn gewesen? Wastl stöhnte leise. Der Aufzug surrte. Um diesen grauenvollen Moment zu verkraften, gönnte er sich den Luxus, nach unten zu fahren statt zu laufen. Außerdem fühlten seine Beine sich wie Weißwürste an.

Mal sehen, dachte er. War das jetzt peinlicher als damals, als ich auf Luzias sechstem Geburtstag so lachen musste, dass ich mich eingepullert habe oder nicht?

Er sortierte den Kuss schließlich auf Rang drei der peinlichsten Momente seines Lebens ein, knapp unter dem ersten und schlechtesten Blowjob, den er je gegeben hatte. Der Pfarrer hatte vor Schmerzen geschrien.

Aber es hatte wirklich so ausgesehen, als ob Adrian sich vorgebeugt hätte, um … Na gut, warum hätte er ihn küssen sollen? Nichts an der Situation hatte darauf hingedeutet. Es war nun echt kein romantisches Frühstück gewesen. Wieso hatte er gedacht, dass …

Weil du untervögelt bist. Darum, Wastl. Und weil dieser blöde Adrian aussieht wie ein düsterer Graf oder so.

Wie der aus dem Schlafzimmer gestürmt war. In seinem schwarzglänzenden Schlafanzug, den die Muskeln fast gesprengt hatten. Was der Adrian wohl trainierte? Seine dunklen Haare waren noch zerzaust vom Schlaf gewesen und der Pyjamastoff war zwar edel, aber nicht besonders dick, und … Nun, Wastl glaubte ganz sicher, unter einer der glänzenden Falten Adrians … Johannes gesehen zu haben.

Du bist kein Kind mehr, Wastl. Du hast seinen Schwanz gesehen. Na, den Abdruck von Adrians Schwanz und der sah ganz schön, also schön aus. Nicht ungroß …

»Servus, Wastl!«, brüllte Vroni ihm in die Fresse und er sprang rückwärts.

»I hab nichts gedacht!«, rief er und hob die Hände. »Ich meine, Servus, Vroni. G-gut siehst du aus.«

»Tja, du nicht so, Blondchen.« Sie schaute mitleidig. Heute trug sie einen lilafarbenen Umhang, in den Perlen und Spiegel eingearbeitet waren. Er wirkte, als hätte sie darunter einen Zauberstab, einen Zylinder und mehrere weiße Tauben versteckt. »Also gut siehst du immer aus, aber du schaust, als hättest du kaum geschlafen.«

»Hab ich auch nicht.« Er sah sich um. Blitzschnell erfasste er, dass der Aufzug unten hielt, wo Vroni und zwei seiner Kollegen einstiegen. Er musste vergessen haben, den Knopf für den 3. Stock zu drücken. »Äh, ich war in der Tiefgarage, eine rauchen.«

»Du rauchst? Das hätt ich ja nicht von dir gedacht, Blondchen.«

»Ich hör vielleicht wieder auf«, sagte er. Würde Rauchen ihn männlicher wirken lassen? Oder wäre das nur ein weiterer Grund für seine Kolleginnen, sich um ihn zu sorgen und ihn wie ein Kleinkind zu behandeln?

»Gut so.« Sie holte aus, um ihm über die Haare zu streichen, und er wich zurück. »Mensch, Kleiner, du bist ja schreckhaft heute.«

»Ich bin kein Bübel«, sagte er und schaute männlich und würdevoll. »Hör auf, mir über die Haare zu streichen und mich Kleiner zu nennen.«

»Ach, Kleiner, du bist witzig heute.« Sie lachte meckernd. »Gut, dass du hier angefangen hast. Die anderen Mädels sind solche Schnarchnasen.«

Er schluckte den erneuten Misserfolg hinunter und trottete ihr hinterher ins Büro. »Servus, Blondchen«, schallte es ihm entgegen.

Die Arbeit war nicht einfach. Wastl hatte sich weder in der Schule noch in der Ausbildung durch besondere Brillanz hervorgetan und die Einarbeitung dauerte nun schon vier Wochen. Aber so langsam hatte er das Gefühl, Vronis System zu durchschauen. Bald zumindest. Weit weniger leicht zu verkraften waren die Mails, die stetig hereintröpfelten.

Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen …

Leider haben wir uns für einen anderen Mieter entschieden …

Wir können Ihnen die Bewerbungsmappe leider nicht zurücksenden …

Er war obdachlos. Immer noch. In der Mittagspause war wie üblich eine Besichtigung, aber selbst wenn er die Wohnung bekam, würde er irgendwie ein paar Wochen überbrücken müssen. Wie? Einen Kredit aufnehmen und zurück ins Hostel? Wieder versuchen, im Büro zu pennen? Irgendwo putzten sie vielleicht nicht. Vroni beschwerte sich doch immer über deren Schlampigkeit, andererseits beschwerte die sich über alles.

Da kann ich ja gleich bei Adrian klingeln und ihn bitten, mich zu nehmen … mich aufzunehmen. Aufzunehmen. Obwohl, gegen das andere hätte ich auch nichts. Also, recht wenig. Ich meine, er ist nicht gerade nett gewesen, aber … geil, irgendwie.

Wie der seinen Pyjama aufgeknöpft hatte, warum auch immer. Wie er Stück für Stück seiner vernarbten Haut enthüllt hatte … Der Mann sah aus wie ein wildes Tier. Ein Tiger mit Narben statt Streifen. Ein … Wastl räusperte sich und hoffte, dass man ihm seine Gedanken nicht ansah. In seiner Hose wurde es eng. Unauffällig rückte er seinen Schwanz in eine bequemere Position. Verdammt, er war so notgeil. Wenn er endlich ein Dach über dem Kopf hatte, würde er losziehen. Jeden Abend würde er einen anderen Mann haben. Richtige Männer, die dazu standen, was sie waren. Männer mit harten Muskeln oder weichen Bäuchen, ganz egal. Aber echte Kerle. So wie der Dachdecker-Klaus, der eine aktive Rolle in Wastls Phantasien spielte, seit er dreizehn gewesen war. Oder wie dieser Adrian … Wie war sein Nachname eigentlich?

Ich sollte ihn fragen … Ach nein, ich sehe ihn ja nie wieder. Obwohl er nur zwei Stockwerke über meinem Kopf wohnt. Was er wohl gerade macht? Bei all den Muskeln trainiert er bestimmt. Ob er einen eigenen Trainingsraum hat? Ob er da grad auf der Bank liegt und Hanteln stemmt, so fest, dass ihm der Schweiß die Arme hinunterläuft?

Jeder Tropfen würde durch eine der langen Vertiefungen zwischen den prallen Muskeln rinnen wie Gebirgsbäche durch harte … sehr harte Felsspalten.

Wastl schreckte hoch. Er hatte bestimmt eine Minute Arbeitszeit mit Erotikfantasien verplempert! Wenn das die Vroni merkte, hätte er bald keinen Job mehr … Andererseits redete die immer noch mit der Sybille. Und zwar nicht über die Arbeit, das bekam die ganze Abteilung mit.

»Ich sag dir, es ist unmöglich, einen ordentlichen Handwerker zu finden. Was der mit der Dusche gemacht hat …« Vroni schnaubte.

Richtig, duschen musste Adrian auch, nach dem ganzen Sport. Sein Haar würde glänzen wie nasse Federn, wenn das Wasser darauf prasselte. Und es würde ihm aus den Strähnen laufen, über den V-förmigen Rücken bis zwischen die Arschbacken …

Wastl seufzte leise.

Wie duschte man überhaupt, mit nur einem Bein? Es hatte ausgesehen, als wäre das Bein bis zum Knie noch da, aber stehen konnte Adrian darauf nicht. Ließ er die Prothese an? Hatte er sogar eine spezielle Dusch-Prothese? Oder hielt er sich einfach so aufrecht? Es wäre bestimmt viel leichter, wenn er Hilfe dabei hätte. Jemanden, der ihn stützte. Wastl zum Beispiel.

Das sollte ich ihm vorschlagen, überlegte er. Dann lässt er mich bestimmt ein paar Tage bei sich wohnen.

Wahrscheinlich nicht. Dieser Adrian war ein ganz Schicker. Einer aus solchen Kreisen, einer, der Geld zum Arsch abwischen hatte, würde sich ja nicht mit einem wie Wastl einlassen, oder? Also, wenn er überhaupt schwul war.

Nicht, dass ich das wollte, dachte Wastl. Der war ein Arschkopf. So arschköpfig, dass er mit mir geflirtet hat und dann ganz geschockt war, als ich ihn geküsst habe. Eigentlich müsste das nicht mir peinlich sein, sondern ihm. Jawohl. So benimmt man sich einfach nicht. Erst langsam Hemd aufknöpfen und rüberbeugen und dann geschockt tun.

Seine Wangen brannten und er lenkte sich schnell mit Arbeit ab. Wie es schien, war er der Einzige in der Abteilung.

 

***

 

Nur drei andere waren bei der Mittagsbesichtigung. Endlich mal Glück. Wastl lächelte die mageren Bartträger an, die hier wohnten. Der, der bleiben würde, lächelte sogar zurück. Der andere nicht.

»Joa, schaut euch mal das Zimmer an«, murrte er und schlurfte voraus. Es war eine gute Wohnung. Nicht hübsch, aber sauber. Alle Zimmer hatten eine Heizung und eine frische Raufasertapete. Auch das, das der Bärtige öffnete. Es war komplett mit alten Ikea-Möbeln eingerichtet und ging auf die Straße raus. Wastl hörte Hupen von draußen. Die ganze Bude roch nach Katzenstreu. Die dazugehörige Katze war Wastl schon ein paarmal um die Beine gestrichen und hatte ihr halbes Fell auf dem Stoff verteilt. Er sah aus, als wäre er durch Schnee gewatet.

»Schönes Zimmer«, sagte Wastl und die Frau neben ihm stimmte zu.

»Ja, super.« Ein Rothaariger musterte das weiße Bücherregal und den Schreibtisch, von dem der Lack abblätterte. »Was kostet es nochmal?«

»800 kalt«, schnarrte der Bärtige. »Eigentlich 720, aber weil Karl sich um den ganzen Mietkram kümmert, wird aufgerundet. Kaution also 2400. Nebenkosten müsst ich nachgucken.«

»Ist ja auch egal«, sagte der Rothaarige hastig. Der Bärtige klopfte auf den Schreibtisch. »Das Ding bleibt drin. Na, eigentlich bleibt alles drin, nur die Lampe nicht. Ich zieh zu meiner Freundin, die hat schon ’ne komplett eingerichtete Bude. Wer will, kann was davon abkaufen.«

Er schaute auffordernd, und der Rothaarige reagierte sofort.

»Ja, klar, äh … Ich würd auf jeden Fall das Regal übernehmen. Was willst du dafür?«

»120.« Der Bärtige zuckte mit den Achseln. »Das hat’s mich auch gekostet. Der Schreibtisch kostet 200, der Teppich 470, das Bett 320 und die Matratze noch mal 270, das ist Kaltschaum, wisst ihr, und der Nachttisch …«

Kopfrechnen konnte Wastl immerhin. Als der Bärtige fertig war, kam er auf 3100 Euro für alles. Viel zu viel. Selbst der Rothaarige, der anfangs noch tapfer genickt hatte, war erbleicht.

»Ich sag mal so«, der Bärtige verschränkte die Arme vor der Brust, »wenn mir einer von euch zusichert, dass er das alles übernimmt, kann er das Zimmer haben.«

Wastl wollte ihm eine reinhauen. Noch mehr, als die Frau neben ihm das Handy zückte und ihren Vater anrief. Er hörte ihre Stimme hinter sich, als sie versicherte, dass sie das Geld ganz bestimmt brauchte und dass Wohnraum in München nun mal teuer war.

Etwas schnurrte an seinem Fuß. Ein weißes Gesicht sah zu ihm auf.

»Und die Katze?«, fragte er den Bärtigen. »Verkaufst die auch?«

»Das Miststück kannst geschenkt haben. Die ist von meiner Ex. Hat meiner Neuen in die Schuhe gepisst, als sie das erste Mal hier war, das Drecksvieh.« Er trat nach der Katze, aber sie wich elegant aus.

»Dann bleibt sie hier?«

»Hier? Ne, der Karl würd mir was husten. Die setz ich aus.«

»Was?!« War das ein Witz?

»Na, die kommt schon klar. Gibt ja genug Ratten da draußen.« Er verrenkte sich den Hals, um nach der Frau zu sehen, die immer noch telefonierte. Die Katze schaute zu Wastl hoch, als wollte sie ihn verspeisen.

»Die ist ganz schön mager«, sagte er. »Sicher, dass die es schafft, eine Ratte zu fangen? Und nicht unter die Räder zu kommen?«

»Interessiert mich nicht«, raunzte der Bärtige und winkte der Frau. »Na, entschieden?«

»Moment noch«, flüsterte sie.

»Hör mal, es ist fast Winter«, sagte Wastl. »Die Katze erfriert da draußen.«

»Was bist du, der Tierschutzbund?« Der Bärtige verdrehte die Augen. »Wenn du das Zimmer nicht willst, kann ich dir den Ausgang zeigen.«

»Du kannst mich am Arsch lecken, du Tierquäler.« Wastl verschränkte die Arme.

7. Ruhe und Frieden und Langeweile

 

Es juckte ihn in den Fingern, Frederik anzurufen. Sich zu erkundigen, wer dieser Sebastian war, der seit neuestem im Verlag arbeitete. Aber Adrian wäre sich albern vorgekommen. Kaum war die Tür hinter dem Störenfried zugeklappt, hatte er seine übliche Tagesroutine begonnen. Zwei Stunden Training, nach dem ihm jeder einzelne Muskel brannte, Sauna, Dusche, anziehen, Büro, die Aktien checken, Nachrichten schauen, Überweisungen tätigen und sich langweilen.

Spätestens am Nachmittag wünschte er sich, wieder einer geregelten Arbeit nachzugehen. Aber natürlich ging das nicht. Er hatte keine Lust, angestarrt zu werden, und außerdem verdiente er es einfach nicht. Also pflanzte er sich vor die Leinwand, schaltete den Beamer ein und sah acht Folgen einer Dokumentation über Amundsens Fram-Expedition. Wie immer notierte er sich Dinge, die er nie brauchen würde. Sein Ideen-Dokument war inzwischen 283 Seiten lang. Früher war es selten über zehn hinausgekommen. Jeden Tag hatte er Neues ausprobiert, Ideen angewandt und wieder verworfen, in der Datenbank nach passenden Manuskripten gesucht … Aber nun steckte er fest. In den immer gleichen Tagen, die sich bis in die Unendlichkeit wiederholten. Nur manchmal wurde die Routine unterbrochen, wenn etwas repariert werden musste. Wenn es ein Gewitter gab. Oder wenn ein wahnsinniges Landei hier einbrach und ihn küsste. Das Landei war also schwul. Wahrscheinlich. Hatte er das nur getan, weil er hoffte, dass er dann hier wohnen könnte? Beides, vermutlich. Adrian würde es nie herausfinden, also dachte er nicht weiter darüber nach.

Gegen vier rief seine Mutter an.

»Liebling, kannst du uns ein paar tausend überweisen? Zehntausend, am besten. Papa war wieder im Casino.«

»Nein«, sagte Adrian und wartete das übliche Gewitter ab. Es enttäuschte nicht. Er wurde als undankbar, geizig und stur beschimpft.

»Wenn das dein Großvater sehen könnte! Schämen solltest du dich, deine Eltern so kurzzuhalten. Jetzt, wo du das ganze Geld hast, kommt dein wahres Gesicht zum Vorschein!«

»Ihr hattet genug Geld«, sagte er, schon wieder. »Wir haben jeder unseren Anteil bekommen, als Opa gestorben ist. Ihr habt es halt verprasst und ich nicht.«

»Du Lügner! Du hast deinen Großvater überredet, deinen armen Opa, als er auf dem Sterbebett lag und überhaupt nicht mehr zurechnungsfähig war, dass er …« Ihre Stimme schrillte in seiner Ohrmuschel und prallte durch den Schädel.

»Mama, er war verdammt zurechnungsfähig. Das zeigt sich schon daran, dass er den Verlag mir überschrieben hat und nicht euch.«

»Geizkragen!«

»Mach’s gut, Mama.« Er legte auf und schaltete das Handy aus. Mit der Frau war nicht zu reden, wenn sie wütend war. Ohne es zu wollen, war er in sein Büro hinübergewandert, wo das silbern gerahmte Familienporträt auf dem Schreibtisch stand. Oma, Opa, seine Eltern und er als Kind, na, Jugendlicher. Er musste ungefähr zwölf gewesen sein.

»Du eingebildeter Idiot«, knurrte er, als er sein eigenes, überhebliches Lächeln sah. Er hatte sich für den König der Welt gehalten. Reich, groß und gutaussehend. Und komplett frei von der Ungeschicktheit und Verschämtheit, die seine Klassenkameraden mit der Pubertät überfallen hatten. Nur Max war genauso selbstbewusst gewesen wie er. Kein Wunder, dass sie Freunde geworden waren. Sie hätten sonst Feinde sein müssen und das wäre ein Jammer gewesen.

Max’ Bilder bedeckten die Wände und bedeuteten so viel mehr. Er betrachtete das nächste. Lachend standen sie beide da, locker an den schwarzen Jaguar gelehnt, den er kurz nach der Wohnung gekauft hatte. Max’ blonde Haare leuchteten wie Blattgold. Fast ein bisschen wie die von diesem Sebastian. Wobei der eher nach Weizenfeld aussah. Und nach Stroh und Kuhscheiße. Ein ganz anderer Typ, obwohl sie sich ein wenig ähnlich sahen, wenn man die Augen zukniff. Doch ein adliger Goldjunge wie Max und ein naives Landei wie (Adrian schauderte) »Wastl« hatten nichts gemeinsam.

»Es tut mir leid«, sagte er, aber Max hörte ihn natürlich nicht. Adrians Mund schmeckte nach Eisen, als er die Bürotür hinter sich zuzog. Er hatte noch ein paar Stunden totzuschlagen, bevor er endlich schlafen gehen konnte. Was tun? Die Dokumentation war beendet. Heute Mittag war eine Lieferung Bücher gekommen, also sah es ganz nach Lesen aus. Er durchwühlte das Paket und hoffte auf etwas Deprimierendes, fand aber nichts. Frederik hatte sich komplett auf fluffige Romanzen verlegt. An sich keine schlechte Idee, doch sie waren so sehr nach Muster A gestrickt, dass Adrian jeden Satz erriet, bevor er ihn las.

Was interessiere ich mich überhaupt dafür?, dachte er. Das ist vorbei.

Er ließ die Bücher zurück ins Paket fallen und holte sich einen schön schweren, traurigen Wälzer aus dem Bücherregal. Die Seitenränder waren dunkel, weil er ihn so oft gelesen hatte. Er legte sich auf das Sofa und schlug die erste Seite auf.

»Es waren fünf Brüder«, las er. »Wladislav, Morislav, Mischka, Ludwig und Grigori. Drei von ihnen starben schon im frühesten Kindesalter. Kurz darauf starb ihre Mutter.«

Oh ja, das ist das Richtige, dachte er und sehnte die Stelle herbei, in der Grigoris Verlobte an Schwindsucht starb, während er sich in einem Hinterhof prostituierte, um ihr ein Stück Brot zu schenken.

Es klopfte an der Tür. Laut und hart.

»Polizei!«, donnerte eine dunkle Stimme. »Aufmachen, sofort!«

Adrian wandte den Kopf. »Was ist denn?«, rief er.

»Aufmachen! Sofort!«

Seufzend erhob er sich und hinkte zur Tür. Das Klopfen wurde noch lauter. Er wunderte sich, dass die Tür sich nicht durchbog.

»Das ist Ihre letzte Warnung!«

»Ja, ja, aber kriegen Sie keinen Schreck, wenn Sie mich sehen«, knurrte er und drückte die Türklinke hinunter.

Sebastian schoss so schnell an ihm vorbei, dass Adrian sich beinahe hinlegte. Auf Sebastians Rücken hüpfte sein alter Rucksack und in seinen Armen miaute ein weißes Fellbündel.

»Hör mir zu!«, rief das Landei. Seine Augen waren panisch aufgerissen. »Bitte hör mir zu! Ich habe einen Vorschlag! Bitte!«

»Interessiert mich nicht!«, brüllte Adrian. »Raus hier, sofort!«

Was zur Hölle machte der kleine Scheißer hier?

»Aber ich habe wirklich einen Vorschlag … Hey!« Das weiße Bündel sprang aus Sebastians Armen und entpuppte sich als schäbige Katze. Wie ein bleicher Blitz preschte sie durch die Wohnung und verschwand in der Küche. »Prinzessin Butterfliege!«

»Was ist das denn für ein bescheuerter Name … Was willst du hier, Sebastian?« Adrian packte ihn am Kragen, damit der Trottel ihn ansah. »Warum dringst du schon zum zweiten Mal unbefugt in meine Wohnung ein? Und was soll der Scheiß mit der Polizei?«

»Ich dacht, dann machst du eher auf, als wenn ich sag, dass ich es bin.« Panisch sah Sebastian der Katze nach. Nun, immerhin war er kein völliger Trottel.

»Gut, das hat funktioniert. Und jetzt hol dein Fellbündel und hau ab.«

»Aber …«

»Dein Vorschlag interessiert mich nicht. Pack die Katze und verschwinde.«

»Aber …« Sebastian seufzte. »Prinzessin Butterfliege! Komm her!«

Die Mieze kam nicht. Natürlich nicht. Wäre Adrian eine Katze gewesen, hätte er auch nicht auf diesen Vollpfosten gehört. Der rief nach ihr, bis er heiser war. Schließlich streifte er mit einem dämlichen Gesichtsausdruck die Schuhe ab und tapste in die Küche.

»Ich kann sie nicht finden«, sagte er nach einigen Minuten.

»Was?« Adrian verließ seinen Posten an der Tür, um sich zu dem Landei zu gesellen. »Wieso kannst du sie nicht finden? Wie soll eine Katze denn in dieser Küche verschwinden?«

»Ich weiß nicht.« Sebastian schaute auf. Sämtliche Töpfe und Teller lagen auf dem Boden, die Türen waren aufgeklappt und die Hälfte der Regalbretter leer.

»Und wie hast du es geschafft, die Küche in drei Minuten in so einen Saustall zu verwandeln? Schon wieder. Weißt du, wie lange ich heute gebraucht habe, bis es wieder ordentlich aussah?«

»Ach, stimmt, ich habe das Frühstück gar nicht weggeräumt.«

»Das Frühstück, das beinahe die halbe Wohnung abgeflämmt hätte.« Adrian atmete tief ein. »Gut, verschwinde halt ohne Katze. Ich werde sie schon alleine finden.«

»Und dann?« Eine Furche erschien zwischen Sebastians Augenbrauen. »Was tust du dann?«

»Dann schmeiße ich sie raus. Was hast du denn gedacht?«

»Das darfst du nicht. Bitte.« Flehende Kuhaugen sahen zu ihm auf. »Ich hab sie eben erst vor ihrem letzten Besitzer gerettet, der wollte sie auch aussetzen.«

»Und dann hast du sie zu mir geschleppt? Ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, warum.«

»Na, erst hatte ich sie im Büro. Aber die Vroni hat eine Katzenhaarallergie und meinte, ich soll das Vieh bloß bis morgen woanders untergebracht haben.«

»Hier?!« Adrian betrachtete den kleinen Psycho. »Ich habe wohl den Moment verpasst, in dem wir so unglaublich dicke Freunde geworden sind, dass du deinen Flohsack hier lassen kannst. War das bevor oder nachdem du hier eingebrochen bist?«

»Mann, Adrian.« Sebastian ließ den Kopf hängen. »Es tut mir echt leid. So war das nicht geplant, nur … Ich wollt nur mit dir reden. Ich hatte doch eine Idee.«

»Mir graust vor deinen Ideen.«

»Aber die ist echt gut.« Ein schüchternes Lächeln. »Ich koch für dich und du lässt mich ein paar Tage hier wohnen. Was sagst du? Mein Frühstück hat dir doch geschmeckt.«

»Nein.«

»Aber ich hab schon eingekauft. Die Tüten stehen vor der Tür.«

Adrian wusste, dass es ein Fehler war, doch er fragte trotzdem. »Und was ist in diesen Tüten?«

»Alles für Schweinshaxe mit Dunkelbiersoße und Knödeln«, sagte Sebastian. »Nach dem Rezept von meiner Mutter. Ist echt lecker, ich versprech’s.«

Ohne es zu wissen, hatte er Adrians einzigen Schwachpunkt getroffen. Bilder stiegen in ihm auf, Bilder von früher. Wie er mit Oma und Opa im Brauhaus gesessen hatte, eine saftige Haxe auf dem Teller und ein Lächeln im Gesicht. Der würzige Duft der Soße und die Art, wie die zarten Knödel sich auf der Zunge verformten, krochen seine Gehirnwindungen hoch.

Adrian atmete tief ein. »Du kannst bis morgen früh bleiben. Und nur, wenn die Schweinshaxe ausgezeichnet ist.«

»Ja!« Sebastian reckte die Faust in die Luft. »Das wirst du nicht bereuen!«

Adrian bereute es schon in dem Moment, in dem er ein leises Miauen hinter der Spülmaschine vernahm.

8. Überredungskunst

 

»Das ist die schlechteste Haxe, die ich je gegessen habe«, murrte Adrian. Wieder saßen sie sich in der Küche gegenüber. Adrian mit dem Rücken zum Fenster und Wastl mit dem Rücken zur Wohnlandschaft. Die Katze war immer noch nicht aufgetaucht, aber ab und zu hörten sie ihr Miauen. Gerade erklang es über ihren Köpfen.

»Und die Katze ist in den Wänden. Großartig.« Adrian säbelte ein Stück Fleisch herunter. Sehr elegant dafür, wie zäh es war. Sebastian wusste auch nicht, was er falsch gemacht hatte.

»Aber es war ihr Rezept«, sagte er. »Bei Mama hat es immer ganz anders geschmeckt.«

»Du hast das noch nie gekocht?«

»Nah, sie hat drauf bestanden, dass sie es macht. Also, bis sie zu krank war, aber dann gab’s Essen auf Rädern.«

Falls Adrian irgendetwas dazu fragen wollte, gab er sich die Blöße nicht. Er steckte die Gabel in den Mund und brummte leise. »Fleisch kann man ruhig würzen, weißt du?«

»Ja, ich wusst nur nicht, wie viel Gewürz man braucht.« Verdammte Axt, er war schon wieder obdachlos. Warum hatte er es nicht geschafft, diesem feinen Pinkel ein perfektes Essen zu zaubern? Alles wäre so viel leichter gewesen, wenn es Adrian geschmeckt hätte. Wastl hätte ihn bestimmt überreden können, das Angebot auf zwei Tage auszuweiten.

»Nichtsdestotrotz.« Adrian betrachtete den verkochten Kohl, der traurig über den Tellerrand hing. »Es schmeckt. Glückwunsch, das hätte ich nicht erwartet. Ich meine, schau mal. Die Knödel sind keine Knödel, sondern Pfützen.«

»Aber es schmeckt?« Wastl richtete sich auf. »Wirklich?«

Adrian nickte nachdenklich. »Wie machst du das? Es ist ungewürzt und verkocht, aber es schmeckt.«

»Ist halt mit Liebe gekocht.« Wastl grinste.

Offenbar teilte Adrian seinen Sinn für Humor nicht, denn er hob eine Augenbraue. Oh. Das Blut schoss in Wastls Ohren.

»Ah, wegen heut Morgen, da … da hab ich nicht kapiert, wie das gemeint war.« Kapierte er immer noch nicht. »Das war ein ganz blödes Missverständnis. Ich hoff, es stört dich nicht zu sehr.«

Adrians düstere Augen lugten hinter den Haarsträhnen hervor. Himmelherrgott, war der Mann attraktiv. Wastl gab sich Mühe, nicht nervös auf seinem Hocker herumzurutschen. Krampfhaft versuchte er, die glänzende Soße auf Adrians Lippen zu ignorieren.

»Du bist also schwul, Sebastian«, sagte sein Gastgeber. Oh, allein die Art, wie er »Sebastian« sagte. Wie er jede einzelne Silbe betonte. Hatte je ein anderer Mensch diese Silben so betont? »Oder hast du das nur getan, weil du dachtest, ich lasse dich hier wohnen, wenn du mich küsst?«

»Nah, wieso solltest du das denn tun?« Wastl legte den Kopf schief. »Du kannst sicher ganz andere haben als mich. So … schickere.«

»Schicker?« Etwas passierte mit Adrians Gesicht, aber Wastl verstand nicht, was. Bitterkeit stülpte sich darüber und der Mund verzog sich spöttisch. Die eine Stelle, die vernarbte, ging nicht ganz mit und eine winzige Hautfalte entstand. »Meinst du mit schicker, dass die eine eigene Wohnung haben?«

»Ja, so in etwa.« Wastl lachte. »Grad ist fast jeder schicker als ich, oder?«

»Ja.« Adrian stand auf. Er trug einen Anzug. Als er die Tür geöffnet hatte, wäre Wastl fast hintenüber gefallen. Einen Anzug, der richtig gut saß. Der sich an die breiten Schultern und die schmalen Hüften schmiegte wie eine zweite, sehr teure Haut.

»Also kann ich hier wohnen?«

»Bis morgen.« Adrian tupfte sich den Mund mit einer Serviette ab und wandte sich dem Fenster zu. Auch nicht schlecht. Er sah so düster und geheimnisvoll aus, wie er dastand und melancholisch auf die Straße fünf Stockwerke weiter unten schaute. Und sein Arsch war noch schöner als Wastl es sich in seinen kühnsten Träumen …

Hör auf damit, du notgeiler Lustmolch!, schalt er sich. Der Mann lässt dich hier wohnen und das ist sehr nett von ihm. Na ja … nett.

»Bei all den leeren Zimmern merkst du doch gar nicht, wenn noch jemand hier wohnt«, murrte Wastl. »Ich … ich bin echt unauffällig.«

»Wenn du nicht gerade die Küche zerlegst, meinst du.« Adrian sah weiter auf die Straße.

Wastl stellte sich neben ihn. »Du hast mich auf dem falschen Fuß kennengelernt. Ich …« Zu spät fiel ihm die Prothese ein. Hatte er was Unsensibles gesagt? Wär ja nicht das erste Mal. »Ich bin echt der beste Mitbewohner, ich schwör’s.«

»Hast du Beweise dafür?« Adrians scharfgeschnittenes Profil ließ keine Gefühlsregung erkennen.

»Meine Mama könnt’s bezeugen, aber die ist … also …« Wastl schluckte. Sein Hals wurde eng und nur, um nicht schon wieder zu heulen, deutete er auf die leere Stelle zwischen zwei Stromkästen. Eine Straßenlaterne beschien das sauber geputzte Pflaster. »Da unten werd ich leben, wenn du mich rauswirfst. Vielleicht schaust du ja ab und zu mal aus dem Fenster und siehst mich frieren. Auf alten Zeitungen werd ich da sitzen und mich mit Mülltüten zudecken und …« Bei dem Gedanken kamen ihm erst recht die Tränen. »Na, vielleicht schenkt mir ja mal ein Fußgänger eine Semmel.« Er schniefte unauffällig.

»Hör auf zu heulen, das ist ja erbärmlich.« Adrian sah ihn warnend an.

»Versuch ich doch. Ich bin halt emotional.«

»Eine Heulsuse bist du.« Das attraktive Gesicht verzog sich und Wastl erinnerte sich, dass dieser Adrian ein blödes Arschloch war.

»Ich bin im Reinen mit meiner Männlichkeit.« Wastl verschränkte die Arme. »Wer nie mal weint, der freut sich auch nie richtig, du Gefühlskrüppel.«

Bei dem Wort »Krüppel« zuckte ein Muskel in Adrians Gesicht. Oh nein! Wastl wollte sich entschuldigen, doch Adrian sprach, bevor er den Mund öffnen konnte.

»Was für eine billige Ausrede, um sich nie zusammenzureißen.«

»Aber es stimmt.« Wastl hätte die Arme nochmal verschränkt, doch das waren sie ja schon. Also hob er das Kinn, bis es auf Höhe von Adrians Adamsapfel war. »Wann warst du denn zuletzt richtig glücklich?«

»Als du heute Morgen abgehauen bist«, sagte Adrian. Die sehnsuchtsvolle Note machte seine Stimme weich. »Das war schön.«

»Gar nicht wahr«, behauptete Wastl. »Bestimmt kam dir die Wohnung viel zu groß vor, als ich weg war.«

»Die Ruhe war einfach herrlich. Wie das Gefühl, an einem klaren Morgen in den Bergen zu stehen und die Landschaft zu überblicken.«

»Du hast ja keine Ahnung«, brummte Wastl. »In den Bergen kann’s saulaut sein. Wenn die Kühe morgens auf die Weide kommen, fliegen dir die Ohren ab.«

»Wie lange führen wir diese sinnlose Unterhaltung noch?« Adrian sah auf seine mattgoldene Uhr. »Eigentlich habe ich etwas Besseres zu tun.«

»Was denn?«

»Lesen.«

»Du hast doch schon die ganze Zeit gelesen, als ich gekocht hab. Ist der Schinken so gut?«

»Hervorragend. Allein, wie der Autor mit Adjektiven spielt, ist ein Genuss.«

»Echt? Kann ich das auch mal lesen?«

»Nein.«

»Komm schon. Wie heißt das Buch? Vielleicht kenn ich das ja.«

»Kein Brot und keine Spiele

Wastl kannte es nicht und langsam wurde diese Unterhaltung auch ihm zu dumm. Draußen war es kalt und er hätte gern gewusst, ob er morgen wieder obdachlos sein würde oder nicht.

»Schau, Adrian. Ich will doch nur ein paar Tage bleiben. Und wenn du magst, red ich nicht mal mit dir. Du wirst nicht mal merken, dass ich da bin. Irgendwann muss ich ja eine richtige Wohnung finden. Ich hab morgen wieder zwei Besichtigungen. Ich tu wirklich was, du wirst sehen.«

»Bei deinen miserablen Überredungskünsten wird es Jahre dauern, bis du eine Wohnung findest.« Wie arrogant konnte der Kerl bitte schauen? »Hör auf zu betteln.«

»Was soll ich denn sonst machen, verdammt? Du … du hast doch alle Karten in der Hand, du …«

»Biete mir etwas, das ich nicht habe«, sagte Adrian. »Zeig mir, dass ich mit dir besser dran bin als ohne dich. So überzeugt man jemanden.«

Was für ein Vollarsch. Wastl straffte sich. »Bist du doch auch. Kocht irgendwer wie ich?«

»Nein, Gott sei Dank.«

»Aber es schmeckt dir.« Hoch pokern, Wastl. »Besser als alles, was du in letzter Zeit gegessen hast, oder?«

Adrian schwieg.

»Richtig?« Ein winziges Triumphgefühl schlich sich in Wastls Herz.

»Es sollte mir nicht schmecken. Objektiv betrachtet war es furchtbar.«

»Aber … subjektiv betrachtet hat es dir gefallen.« Wastl räusperte sich. »Ich mach dir jeden Tag Frühstück, wenn du willst. Und ich koch das Abendessen. Und … wenn du magst, bin ich … also im Bett bin ich auch nicht schlecht.«

Eine Augenbraue hob sich und Wastls Herz versuchte, seinen Brustkorb zu durchbrechen. Verdammt, warum hatte er das jetzt gesagt?

»Witzig«, sagte Adrian. Eine Stimme wie Eiswasser. »Ich glaube, Frühstück und Abendessen reichen mir.«

»Oh, gut.« Wastl zuckte mit den Achseln. Das war überhaupt nicht witzig gemeint, du Trottel, dachte er. Warum nahm Adrian seine, zugegeben, sehr ungeschickten Annäherungsversuche nicht ernst? Lag es daran, dass er ihm zu jung war? War Adrian wieder so einer, der ihn wie einen kleinen Bengel behandelte? Egal. »Also kann ich bleiben?«

»Bis zum 20.« Adrian ging zu der Schiefertafel, die neben dem Herd hing und griff ein Stück Kreide. Sie kratzte über die schwarze Oberfläche.

»Was schreibst du da?«, fragte Wastl.

»Eine Liste deiner Schulden.« Adrian klang gleichmütig. »Die Fliese, der ruinierte Topf, meine Aufräumarbeiten nach dem Frühstück … Ich schätze, da kommt noch einiges hinzu.«

»Wird es nicht.« Wastl straffte sich. Ein ganz unbekanntes Glücksgefühl wärmte ihn von innen. Er hatte es geschafft! Fast ein Monat ohne die gruselige Existenzangst, ohne das Gefühl, dass das Eis unter seinen Füßen dünner und dünner wurde. Nur ein Aufschub, klar, aber ein Monat kam ihm vor wie die grünste Oase in der Wüste. »Danke Adrian. Vielen Dank. Du wirst es nicht bereuen.«

Adrian schwieg. »Doch, werde ich vermutlich. Sei’s drum.« Er zuckte mit den Achseln. »Ich ziehe mich zurück um zu lesen. Heute will ich nicht mehr angesprochen werden.«

»Öh, aber … wo soll ich denn schlafen? Und …«

»Such dir ein Zimmer raus. Das Gästebad gehört dir.« Adrians schöner Finger zeigte auf eine der grauen Türen. »Oh, und das Büro ist hinter der Tür, auf der ›Büro‹ steht, im nächsten Flur. Da setzt du keinen Fuß rein, verstanden?«

»Nein. Keinen Fuß«, wiederholte Wastl und zuckte innerlich zusammen. Er musste aufhören, Dinge über Füße zu sagen. »Vielen Dank.«

»Räum auf und lass mich in Ruhe.« Adrian schnappte sich sein Buch vom Sofa, verzog sich in den Flur und bog um die Ecke.

Wastl hörte eine Tür klappen und war allein. Allein in der gigantischen Wohnwüste, in der Möbelstücke aufragten wie Felsbrocken. Wie hielt Adrian es hier aus? Ob er oft Besuch bekam? Ein bisschen Gelächter und Bierflaschengeklirr würde die Wohnung viel netter machen. Oder ein paar Farben. Aber das hier war für die nächsten Wochen sein Zuhause und ein seltsames, kaltes Zuhause war so viel besser als gar keins.

Wastl hörte ein leises Miauen von irgendwoher und erinnerte sich, dass er Katzenfutter gekauft hatte. Er öffnete eine Dose, kippte sie in eine Schüssel, die hoffentlich nicht allzu teuer war und stellte sie auf den Küchenboden. Da, wo er Prinzessin Butterfliege zum letzten Mal gesehen hatte. Als er zum zweiten Mal hineingetreten war, platzierte er sie stattdessen neben dem Sofa. Er räumte die Küche auf, putzte sie blitzblank und merkte erst nach drei Strophen »Kaperfahrt«, dass er vor sich hin summte. Es half ein wenig gegen die Einsamkeit.

 

***

 

Die Schlafzimmer unterschieden sich hauptsächlich in ihrem Helligkeitsgrad. Eins war weiß, eins dunkelgrau und eins hellgrau eingerichtet. Er entschied sich für das hellgraue, weil es am kleinsten war. Es hatte eine bodenlange Fensterfront, die nicht auf die Stadt hinausging, sondern auf den Dachgarten. Es gab einen Dachgarten! Irgendwann, wenn Adrian mal nicht da war, würde er die Wohnung erkunden. Natürlich nicht das Büro, aber … alles andere. Wie Adrians Schlafzimmer wohl aussah? Es musste das gegenüber von seinem sein, da hinten, neben dem weiß gekachelten Pfad im Kies. Adrians Vorhänge waren zugezogen und nur ein leichter Lichtschein drang heraus. Ein schmaler Streifen, der durch den Kies schnitt wie eine Klinge.

Wastl schloss seine eigenen Vorhänge, löschte das Licht und legte sich auf sein Bett. Er hatte die Zähne geputzt und trug, in Ermangelung eines Pyjamas, T-Shirt und Boxershorts. Aber er konnte noch nicht schlafen. Der Tag rumorte in seinem Gehirn. Die Besichtigung, der bärtige Mistkerl, der alles verkauft hatte. Wie der ihn angemotzt hatte, als er die Katze mitgenommen hatte. Wastl hatte zurückgemotzt, und nicht zu knapp. Hoffentlich ging es Prinzessin Butterfliege gut, wo immer sie war.

Und dann war da Adrian, dessen Nachnamen Wastl immer noch nicht kannte. Auf dem Klingelschild stand leider nur ›Dachgeschoss‹. Adrian. Ein Arschloch vor dem Herrn, aber der erste Mensch hier, der ihm zumindest zeitweise ein Obdach gewährte. Und … Wastl konnte sich nicht erinnern, dass er je so stark auf einen anderen Mann reagiert hatte. Und er hatte stark reagiert. In der neunten Klasse war er fast gestorben, wenn Ferdi den Arm um ihn gelegt hatte. Meist, um Wastl zu Boden zu ringen, doch das war egal gewesen. Wastl hatte gern mit ihm gerungen. Oft hatte er sogar gewonnen, damit es Ferdi nicht zu langweilig wurde. Und danach, abends, hatte er all die gesammelten Gerüche und Laute wieder hervorgekramt und mit unter die Bettdecke genommen, wo er … Wastl schluckte. Seine Hände waren unter der Bettdecke. Und er war endlich wieder allein. Im Hostel hatte er sich den Raum mit drei anderen teilen müssen, aber nun …

»Endlich«, murmelte er und zog die Boxershorts herunter. Kaum spürte er seine Handflächen, wurde er auch schon hart. Er fühlte sich anschwellen, groß und prall werden, und war ein wenig stolz. Er war doch bestimmt genau so gut ausgestattet wie Adrian, oder? Die Erinnerung an Adrian in dem dünnen Pyjama reichte, um ihm das Blut endgültig zwischen die Schenkel zu treiben. Was wäre, wenn Adrian heute Morgen ganz anders reagiert hätte? Was, wenn … Wastl schluckte, weil sein ganzer Körper sich bei dem Gedanken lustvoll zusammenzog: Was wäre, wenn Adrian den Kuss erwidert hätte? Wie würde sich diese kleine Brandnarbe auf Wastls Lippen anfühlen? Hätte Adrian nach Marmelade geschmeckt? Hätte er Wastl gepackt, fest, und ihn über den Tisch zu sich hergezerrt? Hätte er ihn auf die Tischplatte gelegt? Ihm die Hose heruntergerissen, den Kopf zwischen Wastls Beinen vergraben und seinen Schwanz verschlungen? Den Schwanz, an dem Wastls Finger hektisch rieben? Er hatte keine Zeit, es richtig zu genießen, bevor er kam. Der Gedanke an Adrians Zunge, die an ihm auf und ab fuhr, an den Blick, den er ihm durch wirre Strähnen hindurch zuwerfen würde, reichte. Keuchend ergoss Wastl sich in seine Hand. Als das wilde Drängen zu einer abebbenden Glut wurde, hörte er sein schweres Atmen in dem fast leeren Raum.

Verdammt, dachte er. Hoffentlich hat Adrian nichts gehört. Er lauschte, vernahm aber nicht einmal ein leises Miauen.

Sperma lief zwischen seinen Fingern hervor und tropfte auf die Matratze. Mist. Er suchte nach Taschentüchern und fand sie in der Schublade des Nachtschranks. Doch das Bettzeug war besudelt. Das würde Adrian ihm ja wohl nicht auch in Rechnung stellen, oder? Das konnte man schließlich waschen. Nein, zu dieser blöden Liste auf der Schiefertafel würde nichts mehr hinzukommen, das schwor Wastl sich. Seine Lider wurden schwer. Befriedigt und warm gebettet konnte er endlich einschlafen.

 

***

 

Als er aufwachte, lag Prinzessin Butterfliege auf seinen Füßen. Sein Handywecker brummte und kaum, dass er ihn ausgeschaltet hatte, ging die Tür auf. Adrian stand dort, im Morgenmantel.

»Deine Katze hat auf das Sofa gekackt«, sagte er und schloss die Tür wieder.

Mist.

9. Ein miserabler Mitbewohner

 

Das Frühstück war versalzen, aber minimal besser als das gestern. Wahrscheinlich, weil Sebastian sich diesmal auf das Wesentliche konzentriert hatte: Brötchen, Butter, Marmelade, Wurst, Rührei. Was für ein provinzielles Mahl. Doch es schmeckte. Adrian gab sich dem ungewohnten Gefühl hin, keine Pappe im Mund zu haben, und schlug die Zeitung auf, um das Landei-Gesicht zu verbergen. Die Landei-Stimme hielt sich leider nicht an ihre Abmachung.

»Du tust der Katze nichts, während ich weg bin, oder?«

Adrian schwieg. Wofür hielt der Kerl ihn? Für einen Tierquäler?

»Mann, ich besorg gleich in der Mittagspause ein Katzenklo. Gestern bin ich nur nicht dazu gekommen. Und … und ich glaub dir nicht, dass das Sofa 5000 Euro kostet.«

»5200.«

»Ich lass es reinigen, dann sieht man gar nichts mehr.« Sebastian riss eins der warmen, steinharten Brötchen auf. Dampf schlug ihm entgegen. Sein sexy Stallburschenkalender-Gesicht verzog sich vor Glück. »Mmh, das ist der beste Geruch, den’s gibt.«

»Besser als Katzenscheiße am Morgen?«

»Greislicher Griesgram.« Fast hätte Adrian es nicht gehört, so leise flüsterte sein Mitbewohner.

»Wie hast du mich genannt?« Er senkte die Zeitung nur so weit, dass er Sebastians trotziges Gesicht sehen konnte.

»Äh … mein liebster Mitbewohner?«

»Vermieter. Ach nein, du zahlst ja keine Miete.«

»Ich kann Miete zahlen.«

»Das kannst du dir doch gar nicht leisten.«

»Pfff.« Sebastian butterte seine Semmel mit dem Enthusiasmus eines hyperaktiven Welpen. »Ist gut, ich bin ruhig.«

»Gut.«

Minuten herrlicher Ruhe verstrichen. Warum schmeckten diese Brötchen, die sich außen wie Beton und innen wie nasser Sand anfühlten, so gut? War das irgendein teuflisches Geheimrezept, das sie in den tiefsten Alpendörfern weitervererbten, zusammen mit Kröpfen und Klumpfüßen?

»Du, Adrian?«

Die herrliche Ruhe hatte vier Minuten und drei Sekunden gedauert. Immerhin.

»In zwei Tagen ist Wochenende. Muss ich dir da auch die ganze Zeit aus dem Weg gehen?«

»Ja.«

»Und was, wenn du Besuch bekommst? Soll ich dann sagen, ich bin dein Mitbewohner oder muss ich mich verstecken wie«, Sebastian überlegte sichtbar, »ein unehelicher Sohn?«

»Wenn du mein Sohn wärst, hättest du Manieren.«

»Wenn ich dein Sohn wäre, wäre ich auch eine muffelige Miesmuschel.« Bevor Adrian ihn daran erinnern konnte, wem diese Wohnung gehörte, sprach Sebastian schnell weiter. »Könnte ich dein Sohn sein? Ich meine … wie alt bist du?«

»Rate mal.«

»Fünfunddreißig?«

»Zweiunddreißig. Und jetzt bin ich beleidigt.« Adrian hob die Zeitung wieder, aber er schaffte es nicht, das Gespräch zu beenden. »Wie alt bist du? Achtzehn?«

»Nein!« Eine Untertasse klirrte. »Wieso denken immer alle … Ich bin dreiundzwanzig, verdammt! Ich bin ein Mann!«

Andererseits war diese Unterhaltung viel zu amüsant, um beendet zu werden. »Wenn du wirklich ein Mann wärst, müsstest du nicht darauf hinweisen.« Adrian lächelte sogar. »Und dass dich alle für jünger halten, könnte daran liegen, dass du zu impulsiv bist und bei jeder Gelegenheit flennst.«

»Das habe ich dir schon erklärt.« Schmollend mampfte Sebastian sein Brötchen. Er sah hinreißend aus. »Und es ist nicht fair. Im Büro sind sie auch alle so. Die tun, als wäre ich zwölf. Weißt du, wie sie mich nennen?«

»Himbeerburli?«

»Nein.«

»Häschen?«

»Na-hain.«

»Goldjunge? Spatz? Milchbart?«

»Nein, du Miesmuschel. Die nennen mich Blondchen.«

Fast hätte Adrian gelacht. Er rettete sich in ein Husten. Etwas Kaltes floss durch seinen Magen und es war nicht der frischgepresste Orangensaft mit Schalen- und Etikettresten, den Sebastian aufgetischt hatte. Was tat er hier? Warum saß dieser … dieser Junge immer noch an seinem Tisch und schwallte ihn zu?

»Die nennen dich Blondchen, weil du ein Blondchen bist«, sagte er. »Wenn du Respekt willst, musst du ihn dir verdienen.« Kühl musterte er Sebastian, dessen Ohren sich röteten.

»Ich hab Vroni gesagt, dass sie mich nicht mehr so nennen soll«, murrte er. »Richtig entschieden. Das hat gar nichts gebracht.«

»Das kann ich mir vorstellen.« Vroni hatte immer geschaut, mit wie viel sie durchkam. Adrian war am Anfang mit ihr aneinandergeraten. Aber nur einmal.

»Was soll ich denn tun?«

Jetzt wurde das auch noch zu einem Beratungsgespräch. Adrian erhob sich, faltete die Zeitung zusammen und nahm seine Kaffeetasse an sich. »Dein Schlüssel hängt am Schlüsselbrett neben der Tür. Räum auf, bevor du gehst. Ich lese in meinem Zimmer weiter, da du offensichtlich nicht verstehst, was ›mich in Ruhe lassen‹ bedeutet.«

»Aber …« Nun waren selbst Sebastians Wangen gerötet. Hatte Adrian eben gedacht, dass er hinreißend aussah? Er musste schleunigst fort von hier. »Was soll ich denn tun? Wegen Vroni und den anderen? Du klingst, als hättest du eine Idee.«

Adrian verbiss sich die Antwort. Schweigend zog er sich in sein Zimmer zurück und kam nicht eher daraus hervor, bis die Tür ins Schloss gefallen war. Dann streifte er seine Trainingsklamotten über und begann den Tag. Die Bleidecke des Alltags senkte sich über ihn. Er hatte gar nicht gemerkt, dass sie sich einen Moment lang gelüftet hatte.

10. Lügengespinste

 

»Blondchen, was ist denn los mit dir?« Vroni lachte meckernd. »Wieder keine Wohnung gekriegt?«

Wastl legte den Rucksack ab und schmiss seine Jacke über den Schreibtischstuhl. »Nein.« Er seufzte. »Das war die vollste Besichtigung, auf der ich je war. Ich bin kaum reingekommen. Ich mein, ich hab meine Mappe abgegeben, aber wenn das klappt, fress ich ’nen Besen. Draußen standen schon wieder drei Jungs mit Seitenscheiteln und Pullovern über den Schultern, die mit ihren Vätern telefoniert haben.«

»Was, bei dem Wetter?«

»Einer von denen kriegt die, wie immer.« Wastl warf sich auf seinen Stuhl. »Na, immerhin hab ich einen Monat lang eine Bleibe.«

»Ach, echt?« Vronis Wimpern klimperten. Susanne beugte sich herüber und Adelheids Rollstuhl näherte sich mit einem mechanischen Surren.

»Wie, du hast ’ne Wohnung? Wo denn?«

»Bei einem … Freund«, stotterte Wastl. Mistmistmist. Beim Frühstück hatte Adrian ihm eingeschärft, niemandem zu verraten, wo er wohnte. Vor allem niemandem auf der Arbeit. Warum auch immer. Sebastian hatte es hingenommen, so wie die Geschichte mit dem Büro. »Den, äh, kenn ich noch von zuhause. Er ist zum Studieren hergezogen. Der A… Alfons. Der Hubergruber Alfons.«

»Namen habt ihr da unten.« Vroni schüttelte den Kopf. »Aber so wie du rumstotterst, ist der etwas mehr als ein Freund, oder?«

Das ist ein Missverständnis, wollte Wastl sagen. Doch wen interessierte es, wie genau seine Lüge aussah? »Mja, vielleicht. Ich glaub, der mag mich ganz gern.« Innerlich lachte er. Wenn er Adrian nicht lästig gewesen wäre, wäre das schon ein Fortschritt gewesen. »Also … der schaut mich immer so an. So zwischen den Haaren hervor, wisst ihr? Der Alfons hat lange Haare und blaue Augen. TIEFblaue Augen.«

»Hui.« Vroni schien ernsthaft beeindruckt. Inzwischen scharte sich die halbe Finanzbuchhaltung um Wastl. »Das klingt mal fesch. Ist der ein Guter, der Alfons?«

»Ja, total«, log Wastl. »Der lässt mich sogar die Katze behalten. Der hat sie mega liebgewonnen und sie ist auch schon total zutraulich. Und, na ja«, er überlegte, »heute beim Frühstück, da hat er mir ein Honigbrötchen geschmiert, und ich glaub, also ich hab’s nicht richtig gesehen, dass er da ein Herz drauf gemalt hat. Mit Honig. Aber dann hat er es schnell verschmiert.« So langsam kam er in seine erfundene Romanze mit Adrian, äh, Alfons hinein. »Und er hat einen Spitznamen für mich.«

»Oooh, welchen denn?«, zwitscherte Adelheid.

»Sebastian.« Tatsächlich wurde ihm ein wenig kribblig, als er daran dachte, wie Adrian seinen Namen betonte.

»Das … ist dein Name.« Adelheid klang enttäuscht.

»Ja aber alle anderen nennen mich Wastl.«

»Dann haben alle einen Spitznamen für dich, nur nicht der Alfons.« Adelheid war wirklich eine Korinthenkackerin.

»Was es wieder zu einem Spitznamen macht«, sagte Wastl.

»Aber …«

»Mensch Adelheid, lass dem Blondchen seine Träume.« Vroni meckerte wieder los und Susanne stimmte ein. »Er ist halt verliebt.«

»Bin ich nicht!« Wastl fuhr zu ihr herum. »Das mit Alfons und mir ist rein körperlich!«

»Ooooh!« Wenn das möglich war, wirkten die Damen noch interessierter als zuvor.

»Und wann geht’s zur Sache?«, fragte Susanne augenbrauenwackelnd.

»Ich überleg mir, ob ich ihn ranlasse«, sagte Wastl hoheitsvoll und stellte sich vor, er wäre nicht zweimal aufs Übelste abgeblitzt. »Also, der Alfons, der bettelt mich schon fast an, aber ich …«

»Guten Morgen, die Damen. Und der Herr.« Herr Schönhauser, der Chef, stand plötzlich im Raum. Falls ihm auffiel, dass niemand arbeitete, verbarg er seine Überraschung gut. »Vroni, ich muss was mit dir besprechen.«

»Natürlich, Frederik.« Sie war die Einzige, die den Chef duzte und sehr stolz darauf. Schon richtete sie ihren tannengrünen Pullover und stand auf. »Blondchen, du musst mir nachher alles erzählen, klar?«

»Äh, klar.« Mist, er hatte es eigentlich nicht so weit treiben wollen mit dem Lügen. Adrian hatte ja gesagt, er solle es niemandem verraten, aber er hatte bestimmt nicht gemeint, dass Wastl ein äußerst komplexes Lügengebäude aufbauen sollte. Nein, vermutlich nicht. Er gönnte sich eine Minute, in der er sich vorstellte, dass Adrian ihn anflehte, mit ihm schweinische Dinge zu tun, dann wandte er sich seiner Arbeit zu. Hinter ihm hielten Susanne und Rita einen Kaffeeschwatz ab. Ausnahmsweise halb geflüstert.

»Geht’s den Bach runter«, hörte er, ohne es zu wollen.

»Ja, das dritte Quartal war … na, der Bertold meint, das wär eine Katastrophe, aber der malt ja immer gleich den Teufel an die Wand.«

Wastl versuchte, nicht zuzuhören. Wenn es jetzt auch noch der Firma schlecht ging, würde er nicht mehr schlafen können.

 

***

 

»Was willst'n damit?«, fragte der Mann, der sich als Andi vorgestellt hatte, um den Zigarettenstumpf in seinem Mund herum.

»Oh, das.« Wastl hob die gigantische Swarovski-Tüte. »Ich hab grad was gekauft, und die haben sie mir zum Transport mitgegeben.«

»Was denn, Diamanten?« Die Augen von Andis Frau glitzerten. Ihren Namen hatte er nicht verstanden, weil sie das Sprechen mit Zigarette im Mund schlechter beherrschte als ihr Mann.

»Nah«, sagte Wastl. »Da ist ein Katzenklo drin. Hab ich ganz günstig im Internet gefunden und grad abgeholt. Ich hab seit gestern eine Katze.«

Zwei Paar Mundwinkel sanken ins Bodenlose. Mist, das hätte er sich denken können, bei dem Gekläff, das hier herrschte. Die beiden waren wohl eher Hundefreunde. Mindestens fünf verschiedene hatte Wastl schon erblickt, beziehungsweise hatte er sich von ihnen beschnüffeln lassen. Sehr intim beschnüffeln lassen. Dass er seine ersten sexuellen Erfahrungen in München mit einer Dänischen Dogge machte, war eigentlich nicht geplant gewesen.

Wenn wir uns überhaupt noch in München befinden, dachte er.

Er hatte eine Stunde mit der Bahn gebraucht, um zu dem heruntergekommenen Einfamilienhaus zu finden. Die Rasenfläche, auf der sie standen, hatte mehr Löcher als Gras. Wohl, weil das wild gemischte Rudel, das um sie herumsprang, den Halmen keine Chance gab, zu wachsen.

»Wollen wir reingehen?«, fragte Wastl und wich einem der riesigen Köter aus. »Ihr habt ein Zimmer frei, richtig?«

»Joa, schon.« Andi zuckte mit den Achseln. »Aber das ist nicht da drin. Wir mögen keine Fremden im Haus, nichts für ungut.«

Hä? In Wastl wuchs Beklemmung, doch das lag nicht an dem riesigen Hund, der versuchte, an ihm hochzuspringen.

»Runter, Mats!«, brüllte die Frau. Die Kippe fiel aus ihrem Mundwinkel in die beiläufig aufgehaltene Hand. Kaum hatte der Vierbeiner endlich gehorcht, steckte sie sie wieder zwischen die Lippen.

»Hübsche Hunde«, sagte Wastl und tätschelte Mats den Kopf. »Ganz schön groß. Was ist das für eine Rasse?«

»Ne Mischung«, brummte Andi. »Dogge, Mastiff und Schäferhund sind drin.«

»Ah, cool.« Wastl räusperte sich. »Muss ja nicht immer ein Rassehund sein.«

»Ne, Hauptsache groß.« Die Frau lachte. »Will mich ja sicher fühlen, wenn der Andi unterwegs ist.«

»Ich glaube, sicherer geht’s kaum.« Wastl lächelte. »Also … wenn das Zimmer nicht im Haus ist, wo ist es dann?«

Andi deutete auf den baufälligen Geräteschuppen, der sich gegen den hohen Gartenzaun lehnte. »Da drin. Gibt ein Klappbett, ’nen Campingstuhl und der Wasserhahn ist hier an der Wand. Willst es dir anschauen?«

Wastl seufzte. »Klar. Und was wollt ihr dafür?«

»750 warm«, sagte Andi.

Ein Bellen erklang aus dem Schuppen.

»Nen Mitbewohner hättest du auch.«

11. Schuld

 

Wo blieb der Kerl? Hätte er nicht längst anfangen sollen, das Abendessen zu kochen? Adrian erinnerte sich, dass Sebastian irgendetwas von einer Wohnungsbesichtigung geschwätzt hatte, aber das konnte doch nicht so lange dauern, oder?

Nicht, dass er wahnsinnig hungrig gewesen wäre. Heute, als er seine Bußestunde im Büro abgehalten hatte, hatte er versucht, sich damit zu rechtfertigen, dass Sebastians Anwesenheit sein Martyrium nur verschlimmerte. Schließlich war der Kerl die reinste Landplage. Nur …

Wirklich?, hatte er sich gefragt. Der ist eine ganz schön hübsche Landplage. Und du redest gern mit ihm.

Es stimmte. Sebastians Unbefangenheit, die Art, wie er mit Adrian sprach, als wären sie alte Kumpel, war leider … angenehm. Erfrischend. Beinahe hätte Adrian ihn vermisst, als das Landei endlich zur Arbeit gegangen war. Er hatte nach all der Zeit kaum gemerkt, wie bedrückend die leere Wohnung war, wie absolut die Stille hinter den schallgeschützten Scheiben. Aber so sollte es sein. So verdiente er es.

So und nicht anders.

Sein Körper wurde schwer. Er ließ das deprimierende Buch sinken und starrte aus dem Fenster. Die Sonne ging unter, rosa-orange glühend hinter den Silhouetten der Dächer gegenüber.

»Du Mistkerl«, sagte er. »Adrian, du verdammtes Arschloch. Du weißt, was du bist. Wie kannst du …« Er atmete ein. Sein Herz krampfte, als er sich über das Ausmaß seines Verrats bewusst wurde. »Wie kannst du vergessen, wie wertlos du bist? Auch nur einen Moment lang.«

Er war so ein erbärmlicher Mistkerl. Es war kaum zwei Jahre her und was machte er? Holte sich einen niedlichen Stallburschen ins Haus, der ihn bekochte und die leere Wohnung mit Leben füllte. Nun, rausschmeißen konnte er Sebastian nicht. Nicht mehr, jetzt wo er ihm versprochen hatte, dass er bleiben konnte. Die Straßenecke erschien vor seinem Auge und wenn er sich vorstellte, wie Sebastian dort fror … Nein, das ging nicht. Aber er musste sich daran erinnern, was er war. Wofür er geradestehen musste.

Als wären seine Glieder aus Zement, erhob er sich. Trotz des Gelkissens scheuerte die Prothese gegen den Stumpf, wie immer, wenn er sich erinnerte. An sein Versagen.

Das Licht im Büro flammte auf, und er wollte die Augen schließen. Doch er zwang seine Lider, offenzubleiben. Zu sehen, was er zerstört hatte.

Max' Gesicht tauchte aus der Dunkelheit auf, dutzendfach. Lachend, stolz, einmal sogar nachdenklich. Auf dem Foto standen sie am Strand, irgendwo auf dem Ari-Atoll, Adrian vorne, die Hand über der Stirn, um sich vor der Sonne abzuschirmen. Aufrecht, stark. Im Vergleich zu heute allerdings fast zart. Da hatte er den Schmerz noch nicht wegtrainieren müssen. Max war eher zufällig im Bild und sich nicht bewusst gewesen, dass er beobachtet wurde. Sein hübsches Profil lag halb im Schatten und er betrachtete etwas, das rechts von ihm lag, außerhalb des Fotos. Vielleicht Eva. Damals war er schon mit Eva zusammen gewesen. Adrian hatte ebenfalls eine Frau mitgebracht, auch wenn er nicht mehr sicher war, welche. War es Mirande-Sophie gewesen? Er sollte es wirklich wissen, schließlich hatte sie das Foto gemacht. Das Foto, auf dem Max' Haare von Sonne und Meersalz gebleicht waren.

Selbst jetzt erinnerte Adrian sich an die Wehmut, diesen schönen Schmerz, der die Brust ausfüllte und fast sprengte. Das Sehnen, das er empfunden hatte. Jedes Mal, wenn sie nebeneinandergesessen hatten und ihre Schultern sich beinahe berührt hatten. Wenn sie Arm in Arm aus Clubs getorkelt waren. Wenn sie in dem verdammten Jaguar unterwegs gewesen waren, oder in Max' Lamborghini, und sich angefeuert hatten, schneller zu fahren, immer schneller.

Schneller, du Pussy.

Ein Schluchzen drängte seine Kehle hoch. Aber er biss es weg. Nein. Tränen waren verboten. Tränen würden den Hass und die Scham aus seinem Körper spülen, Stück für Stück, bis er vergessen hätte, dass er ein Mörder war. Und das durfte er nicht. Nie.

Er stand im Büro, bis er den Schlüssel im Schloss hörte.

»Hallo!«, brüllte Sebastian durch die ganze Wohnung. »Ich bin zurück! Gibt gleich essen, sobald ich … Mist!« Etwas polterte. Und dann erklang ein Geräusch, das absolut nicht hierher gehörte: ein Bellen.

Trotz der Prothese brauchte Adrian keine zwei Sekunden, bis er im Wohnbereich stand. Eine graubraun gefleckte Promenadenmischung mit Fledermausohren und einem Stachelhalsband hüpfte um Sebastian herum und bellte vergnügt. Sebastian schaute, als hätte er ihn beim Onanieren erwischt.

»Ich kann das erklären!«, rief er.

Adrian wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Er schwieg vorwurfsvoll und ein Wasserfall aus Entschuldigungen und Erläuterungen sprudelte über Sebastians Lippen.

»Da war dieses Paar, das einen Schuppen vermietet hat, und die hatten all diese riesigen Hunde und, und Arjen hier ist der Kleinste und … Sie haben ihn als Welpen bekommen und dachten, der wird auch so ein Riesenvieh, weil sein Vater eine Dogge ist, aber da hat sich wohl ein Vorfahre der Mutter durchgesetzt, deshalb ist er echt winzig, na, im Vergleich zu den anderen …«

»Stopp!« Adrian hob eine Hand. »Moment. Arjen ist der Hund?«

Nicken. Und Bellen. Der Hund wollte auf Adrian zulaufen, doch Sebastian hielt ihn an der Leine zurück. Die hatte mehr Nieten und Stacheln als ein SM-Outfit.

»Arjen.«

»Wie Arjen Robben. Die haben all ihre Hunde nach Spielern benannt.« Sebastian hüstelte.

»Und der ist klein? Der geht dir bis zur Hüfte.«

»Ja, aber Franck, Mats und Thomas gehen mir alle bis zum Hals. Krass war das. Der Jerome hat mich fast umgeworfen, als er mir das Gesicht ablecken wollte.«

Adrian fühlte das dringende Bedürfnis, sich aufzuregen. Eine längere Diskussion mit Sebastian anzufangen, in der er ihm unmissverständlich darlegte, dass diese Wohnung kein Zoo war und dass die verdammte Katze, die den ganzen Tag über verschwand, schon mehr Viehzeug war, als Adrian je im Leben zu sehen wünschte … doch irgendwo in seinem Herzen hätte diese Diskussion ihm Spaß gemacht. Er dachte an das verbale Ping-Pong, das sich entwickeln würde und freute sich darauf. Und Freude verdiente er nicht. Also zuckte er mit den Achseln. »Alles klar. Aber nimm ihn mit, wenn du ausziehst.«

Mit diesen Worten schlurfte er zurück ins Büro. Dort blieb er und starrte ins Leere, bis Sebastian ihn zum Abendessen rief.

12. Schweigen im Hause

 

»Sie wollten ihn in einen Sack tun und in den Fluss werfen«, sagte Wastl. »Haben sie gesagt. Weil der Arjen so klein ist und so nutzlos. Echt.«

Adrian stocherte in der verbrannten Ente mit Kartoffelknödeln und nickte. Der dicke Wälzer lag aufgeschlagen neben dem Teller und seine Augen hatten die Seiten nicht verlassen, seit er sich an den Tisch gesetzt hatte. Wastl hätte sich freuen sollen, dass Arjens Ankunft nicht auf die gleiche Feindseligkeit gestoßen war wie die von Prinzessin Butterfliege. Aber das kühle Desinteresse stach in seine Brust, viel stärker als Wut es getan hätte.

»Sie hätten ihn einfach umgebracht«, murmelte Wastl und probierte ein Stück Knödel. Es klebte wie Zement am Rachen. »Ich musste ihn mitnehmen, verstehst du? Es tut mir echt leid, dass ich Umstände mache.«

»Ja.« Adrian blätterte um. »Ich verstehe.«

»Das war ein komischer Schuppen, in dem ich schlafen sollte. Ich meine, das war wirklich ein Schuppen. In ihrem Garten. Der …«

»Sebastian. Ich lese.«

»Oh. Sorry.« Er kam sich blöd vor. War ja klar, dass Adrian nicht von seinem Geplapper genervt werden wollte. Das hatte er oft genug klargemacht. Nur hatte er meist doch mit Wastl geredet und das … hatte irgendwie Spaß gemacht, selbst wenn sie sich gestritten hatten.

Wastl schaffte es, den Rest des Abendessens über zu schweigen. Nur ab und zu warf er einen verstohlenen Blick auf Adrians konzentriertes Gesicht. Die hellen Augen scannten die Seiten. Er las in einem Höllentempo.

Seine Augen sind wirklich blau.

Wastls Magen stolperte. Ein winziges Ziepen, das ihn daran erinnerte, dass sein wahres Leben immer noch auf ihn wartete. Später, wenn er endlich eine Wohnung hätte, wenn er Zeit hatte, dann würde es losgehen. Er würde genug attraktive Männer kennenlernen. Da musste er wirklich keinen anschmachten, der sich gar nicht für ihn interessierte. Nein, er würde … also er würde mindestens jede Woche einen Neuen haben. Oder … oder einen richtigen, festen Freund. Auf jeden Fall keine verschämten, heimlichen Treffs mehr.

Er würde Freunde finden, mit denen er durch die Clubs ziehen würde. Ja, er würde tanzen und trinken und Spaß haben. Es würde lustige Serienabende geben und gemeinsames Zocken und Ausflüge und romantische Nächte. Zu seinem Geburtstag würde sein fester Freund ihm Blumen schenken, einen richtig großen Strauß mit einer Karte, egal, wie kitschig das war. Ja, die Blumen würde der auf die Arbeit schicken und Vroni und all die anderen würden staunen, wie verrückt der Kerl nach ihm war. Äh, ja. Bestimmt. Bald.

Prinzessin Butterfliege unterbrach seine Gedanken, indem sie von der Decke plumpste und sich auf Arjen stürzte. Der fiepste ohrenbetäubend und sprang in die Höhe. Die beiden Fellbündel wurden zu verwischten Schemen, als eine Rangelei entbrannte und dann … flüchtete Prinzessin Butterfliege über den Esstisch.

»Prinzessin Butterfliege!« Wastl erwischte den Bräter, bevor er vom Tisch rutschte. Aber sein Teller und die Salatschüssel zerplatzten auf den Fliesen. Arjen versuchte, der Katze zu folgen. Wastl musste ihn niederringen und als er den Hund endlich beruhigt hatte, war Prinzessin Butterfliege verschwunden.

Adrian stand wortlos auf und schrieb ›Teller‹, ›Salatschüssel‹ und eine viel zu hohe Summe an die Tafel. Dann aß er seinen Teller leer und zog sich zurück.

Sebastian räumte auf. Später nahm er die Treppen, um Arjen nochmal auszuführen. Niemand in seiner Firma nahm die Treppen, also war er nicht in Gefahr, entdeckt zu werden. Warum niemand wissen durfte, wo er wohnte, war ihm nicht klar. Kannte Adrian jemanden im Verlag? Dass er Leute aus dem Gebäude kannte, war sicher. War es ihm peinlich, dass ein ärmliches Landei bei ihm lebte?

Diese Fragen marschierten durch seinen Schädel, während er mit Arjen die Straßen durchstreifte, eine kleine Plastiktüte in der Hand. Es gefiel ihm. Ja, er hatte sich oft vorgestellt, wie er durch die nächtliche Stadt gehen würde. Geschmückte Fassaden, warm erleuchtet von den Straßenlaternen, zogen an ihm vorbei. Eine Weile schaute er zu, wie ein Weihnachtsmarkt aufgebaut wurde. Ob er Adrian zum Glühweintrinken einladen sollte? Als Dank, dass er bei ihm wohnen durfte? Aber das würde Adrian nicht wollen. Er mochte Wastl nicht besonders und außerdem war er ihm peinlich. Wastl seufzte leise.

Er schaute zu, wie sie eine mit Kunstschnee verzierte Hütte zusammenschraubten und fühlte sich einsam. Der Geruch nach altem Stein und Abgasen erschien ihm furchtbar traurig. Nun, bald würde es nach gebrannten Mandeln und frisch gesponnener Zuckerwatte duften. Bald würde sich alles ändern, bestimmt. Dann würde er diese Straßen entlangspazieren, mit einem tollen Mann statt mit einem Hund. Obwohl Arjen ein freundlicher Kerl war. Bessere Gesellschaft als die schweigsame Miesmuschel im fünften Stock, jawohl.

 

***

 

Am nächsten Morgen war Adrian sogar zu fein, um mit ihm zu frühstücken. Ein Zettel lag auf dem Tisch: ›Fang ohne mich an, ich esse später‹.

Wastl bekam seinen Mitbewohner erst am Abend wieder zu Gesicht. Und da steckte Adrians Nase im Buch, die ganze Mahlzeit über.

Wastl hatte sich noch nie so allein gefühlt.

13. Gesprächspause

 

»Hab ich was getan?«, fragte Wastl leise.

Adrian sah auf. Das Landei sah ein wenig blass aus, und so traurig, dass Adrians Hals sich verengte.

»Was meinst du?«, knurrte er, und senkte den Blick wieder auf »Die unschuldige Sünderin«, das Buch, mit dem sein Großvater sein Vermögen begründet hatte. Er hatte den Umschlag von »Kartenhaus der Schuld« darüber gestreift, einem tieftraurigen Familiendrama.

»Ich mein, du redest nicht mehr mit mir.« Wastl räusperte sich. »Ich weiß, dass ich mich aufgedrängt hab, und dass du den Hund und die Katze nicht magst, nur … Ich dachte, also …« Erneutes Räuspern. »Ich dachte, wir verstehen uns ein wenig. Liegt das an mir? Hab ich was Blödes gesagt oder so?«

»Wenn du was Blödes gesagt hättest, hätte ich mich beschwert.« Adrian schaute ihn nicht an. Er musste nur schweigen. Nur die Klappe halten, dann hätte er die Nervensäge entmutigt. Er wusste auch nicht, warum er weitersprach. »Schau mal …« Er legte das Buch weg. »Ich wohne schon lange alleine. Ich bin nicht daran gewöhnt, dass jemand da ist.«

»Oh, ach so.« Sebastian lächelte zaghaft. »Dann brauchst du nur Zeit?«

Das klang, als hätten sie … nun, eine Art Beziehung, die sie auf keinen Fall hatten. »Nein. Ich brauche Ruhe und Frieden.«

»Na ja, ich bin ja bald weg.«

»Ja.« Adrian kriegte endlich die Kurve und senkte den Blick wieder auf sein Buch. Er wusste, dass goldbraune Augen ihn anschauten, und gab sich Mühe, unbeteiligt auszusehen. Das konnte er. Gut.

Das Schweigen war schwer zu ertragen, schwerer, als er geglaubt hatte. Vor zwei Jahren war er jemand gewesen, der in solchen Machtspielchen brilliert hatte. Aber die hatte er gegen kalkulierende Geschäftspartner gespielt, nicht gegen naive Bauernjungen, die nichts Böses im Sinn hatten. Er warf einen schnellen Blick auf Sebastian. Der tippte auf sein Handy ein. Ein winziger Seufzer entkam seinem Mund. Wohl wieder eine Absage. Oder eine Wohnung, die er sich nicht leisten konnte.

»Uh … Isst du Nachtisch?«, fragte er nach einer Weile. »Es gibt Crème brulée. Ich hab gesehen, dass du ein Set dafür hast und … da dachte ich, das magst du.«

»Das hat mir irgendwer geschenkt.«

»Wer denn?«

Adrian zuckte mit den Achseln. »Eine Ex-Freundin vermutlich.«

»Oh. Ach so.« Falls das möglich war, klang Sebastian noch mutloser als vorher. Warum das denn? »Magst du trotzdem eine Schale?«

Adrian brummte etwas Zustimmendes und ärgerte sich. Wieso fiel es ihm so schwer, Sebastian zu ignorieren? Adrian war nun wirklich kein netter Mensch. Nein, er war ein verdammtes Monster. Ein Monster ohne Gewissen, ohne Verstand, ohne Liebe. Eins, das alles zerstörte, was gut war.

Er hörte Sebastians Schritte, das Klappen der Kühlschranktür. Heimelige Geräusche, Geräusche eines Zuhauses. Eines, das er nicht verdiente, wie er sich immer und immer wieder …

Ein Fauchen wie aus einem Drachenmaul. Ein Schrei. Und die Welt verging in einem flammenden Inferno.

Max! Adrian blickte nach rechts in Flammen und Rauch und sein Mund erstickte an einem Schrei …

Er brauchte mehrere Augenblicke, um zu verstehen, dass er sich in seiner eigenen Küche befand. Zu Stein erstarrt sah er Sebastian rückwärts taumeln, weg von den Flammen, die durch die Küche strahlten, dem Feuerball, da, wo sonst der Herd war. Etwas zerschellte auf dem Boden.

Sebastians Ärmel brannte. Das war es, was Adrians Lähmung endlich löste.

»Halt still!«, brüllte er und packte ihn am Ellenbogen. Mit einem Ruck riss er Sebastian zum Waschbecken. Wasser schoss heraus, ein harter, gleichmäßiger Strahl, der die Glut löschte und den Ärmel sofort durchtränkte. Das Blut schnellte durch Adrians Körper, so rasant, dass ihm schwindlig wurde, dass er das Gefühl hatte, dass selbst seine Augen pochten. Er roch kühles Wasser, Rauch, verbrannte Reifen und Benzin und brennendes Fleisch, hörte kreischendes Metall und Schreie, die nicht sein konnten, nicht sein durften, hoch und schrill und …

»Puh, das war knapp.« Sebastian lachte.

Adrian starrte ihn an. »Was?«, krächzte er. Immer noch umklammerten seine Hände den nassen Ärmel, immer noch floss das Wasser. Die verbrannten Reifen und die Schreie waren verschwunden. Er löste die Finger. Sie fühlten sich an wie Stahlklammern, die sich nur widerwillig aufbogen.

»Ich glaube, es ist nichts passiert«, sagte Sebastian. »Na, fast nichts.« Fasziniert betrachtete er seinen geschwärzten Ärmel. »Ein bisschen tut's schon weh.«

»Ein bisschen … Sag mal, spinnst du?!« Adrians Stimme hallte durch die ganze Wohnung. Der Hund verzog sich fiepsend unter den Küchentisch. »Bist du vollkommen bescheuert? Was für einen Höllenfraß hast du da gekocht?!« Er sah auf den Herd. Auch dort waren die Flammen verschwunden. Aber die Fliesen waren geschwärzt und das Gitter der Abzugshaube ebenfalls. Erst jetzt ging der verdammte Feuermelder an.

»Warte, ich mach den aus«, sagte Sebastian, doch Adrian riss ihn zurück.

»Lass den Arm im Wasser!«

»Aber …« Sebastian zögerte. »Aber ich glaub, es ist echt nichts …«

»Zeig es mir. Nein! Hände weg!« Er hielt Sebastian auf, der versucht hatte, den Ärmel hochzuziehen. »Wenn der Stoff mit der Haut verschmolzen ist, ziehst du die oberen Hautschichten mit ab«, erklärte er, etwas ruhiger. »Lass mich das ansehen.«

»O … Okay.« Sebastians Adamsapfel hüpfte. »Ja, gut.«

Unendlich vorsichtig hob Adrian einen Zentimeter von Sebastians Ärmel. Das Wasser schoss weiter aus dem Hahn und plätscherte in das riesige, kreisrunde Edelstahlbecken. Der Feueralarm plärrte. Adrian wagte ein Ausatmen, als er die Haut sah. Leicht gerötet. Nicht verbrannt, na ja, nicht schwer. Je mehr Haut er entblößte, desto klarer wurde, dass Sebastian Glück gehabt hatte.

»Baumwolle«, murmelte Adrian.

»Was?«

»Dein Pulli ist aus Baumwolle. Gut. Das frisst sich nicht in die Haut, wie Kunststofffasern.«

»Sag doch sowas nicht.« Er spürte Sebastians Zittern und erst da wurde ihm klar, wie nah sie sich waren. Hüfte an Hüfte, Schenkel an Schenkel standen sie am Waschbecken. Die Wärme des fremden Körpers war so ungewohnt, dass Adrian verharrte.

»Ich glaube, du hast wirklich nichts«, sagte er schließlich. »Das sieht nach leichten Reizungen aus, aber nicht nach Verbrennungen. Nicht mal ersten Grades.«

»Oh, gut. Gut, dass du dich auskennst. Woher …« Sebastians Augen wurden rund, und er biss sich auf die Lippen. Panisch betrachtete er Adrians abscheuliches Gesicht.

»Ja, ich habe ein wenig Erfahrung damit«, sagte Adrian trocken und ließ los. »Warte, ich hole dir eine Salbe.«

»Danke.« Sebastians Stimme war unsicher. Erst jetzt schien er zu kapieren, welchem Schicksal er entkommen war. Fast wäre er wie sein hässlicher Mitbewohner geworden. Entstellt und verbrannt. Adrian mied den Blick in die dunklen Fenster, während er ins Badezimmer eilte. Immer noch hämmerte sein Puls gegen die Schläfen.

14. Die Wochenendplanung

 

»Was ist da eben passiert?«, fragte Adrian. Seine kräftigen Hände verrieben Salbe auf Wastls Arm und sandten angenehme Schauer durch die schmerzende Haut. Wastl hätte sich bestimmt auch selbst verarzten können, aber so war es viel besser. Sehr viel besser. »Dachtest du, man macht Crème brulée, indem man eine Brandbombe darauf wirft?«

»Ha. Nein.« Wastl schluckte. Er saß auf einem der Barhocker und Adrians Stirn war so nahe, dass er die dunklen Locken fast mit den Lippen berühren konnte. Fast. »Die blöde Cognacflasche war im Weg. Ich bin mit dem Ärmel hängengeblieben und sie ist umgekippt, genau, als ich den Flammenwerfer angeschaltet habe.«

»Warum«, eine Ader pochte auf Adrians Schläfe, »steht da eine offene Cognacflasche, wenn du mit Feuer hantierst?«

»Na der Leberkäse war doch mit Cognac«, erklärte Sebastian stolz. »Hast du das rausgeschmeckt? Das war ein Rezept von meiner Mutter. Sie wollte ja eigentlich immer ein Kochbuch herausbringen …«

»Sehr interessant.« Blaue Augen blitzten wütend. »Und warum hat deine Mutter dir nicht beigebracht, Hochbrennbares zu verschließen, wenn man mit Feuer hantiert?«

»Mann, das war ein Versehen!«

»Ein Versehen, das dich fast den Arm gekostet hat.«

»Hat es nicht. Ich bin kaum verletzt.« Wastl räusperte sich. »Du hast mich ja gerettet. Danke.«

Adrian sah ihn nicht an. Sein Gesicht war unlesbar. »Das hättest du auch allein geschafft. Erzähl keinen Scheiß.«

»Du hast mich gerettet, mein edler Ritter«, flötete Wastl. Er war total glücklich. Seit er kapiert hatte, dass ihm nichts passiert war, gluckste er förmlich vor Freude. »Ich danke dir von Herzen, oh großer Held.«

»Ich versohl dir gleich von Herzen den Hintern«, knurrte Adrian und schraubte die Tube zu. »So, fertig. Lass den Pulloverärmel oben, das muss an der Luft trocknen.«

»Der Pulloverärmel ist total nass.« Wastl rupfte an seinem Kragen. »Hilf mir mal.«

Adrian half ihm nicht, und so riss Wastl sich versehentlich das T-Shirt mit dem Pullover vom Leib. Halbnackt und verlegen grinsend stand er vor seinem Retter. Der schwieg. Sein Blick streifte Wastls kräftigen Oberkörper. So sehr Wastl sich auch konzentrierte, konnte er nicht erkennen, ob Adrian interessiert schaute.

Tut er nicht, du Depp. Er hat doch eben noch von einer Ex-Freundin geredet. Und auf deine dämlichen Flirtversuche ist er auch nicht eingegangen.

Mit einem Mal fühlte er sich schwer. All das Glück, überlebt zu haben, versickerte in einer schwarzen See. Die Pfanne mit dem Leberkäse war verrutscht und Adrians Buch und sein Besteck zu Boden gefallen. Aber der Kartoffelsalat sah fast aus wie in Mamas Küche. Sie hatte ihn jeden Sonntag gemacht, seit er acht Jahre alt gewesen war. Jede Woche hatte sie Kartoffelsalat gemacht, für ihn, und nun würde sie es nie wieder tun.

Ein erstickter Laut entkam seinen Lippen. Seine Sicht verschwamm. Schon wieder. Es war ihm nicht mal mehr peinlich, aber trotzdem drehte er sich weg, um Adrian nicht mit seiner Erbärmlichkeit zu belästigen. Der war eh genervt genug von ihm, da musste er nicht auch noch …

»Sie wollte immer ein Kochbuch schreiben«, schluchzte er. »Immer! Sie hat mir alle … alle Rezepte erklärt, und … sie meinte, sie schreibt es für mich auf, damit ich wie zuhause essen kann, wenn ich ausziehe …«

Verdammt. Wimmernd sank er zu Boden. Tränen rannen über seine Wangen und benetzten die Nasenflügel. Er schluchzte, egal, wie sehr er es unterdrücken wollte.

Er war so blöd.

Er wusste nicht, wie lange er geweint hatte. Die Haut auf seinem Rücken fühlte sich schon ausgekühlt an, als ihm ein scharfer Geruch in die Nase stieg. Ein kleines Glas erschien in seinem Blickfeld, gefüllt mit tiefgoldener Flüssigkeit.

»Trink das.« Adrian hielt ein zweites Glas in den Händen. Er kippte es hinunter, als Wastl seins kaum an die Lippen gesetzt hatte. Dabei war es Whisky. Und bestimmt ein guter. Er brannte wie geschmolzene Lava, doch er wärmte.

»Meinst du, ich b-brauch das?«, flüsterte Wastl.

»Keine Ahnung, aber ich brauche es.« Adrian atmete tief ein.

»Warum?«

»Um das zu tun«, sagte Adrian, sank auf die Knie und umarmte Wastl.

Es tat gut, so unendlich gut. Die Wärme des Whiskys war nichts gegen die tröstliche Nähe eines anderen Menschen. Dieses Menschen, der so unnahbar war und plötzlich … nur, weil Wastl heulte wie ein Kleinkind …

»Danke«, murmelte er in die weichen Falten von Adrians Hemd. Es roch köstlich. Wie frisches Heu in einer Sommernacht. Wie wilder Lavendel. Ihm war nicht länger nach Weinen zumute, obwohl er es gekonnt hätte. Adrian hätte ihn nicht ausgelacht. Nicht heute, das spürte er.

»Schon gut.« Adrians Stimme war so steif wie seine Haltung. Seine Oberarme fühlten sich an, als könnte man damit Stahlträger plattklopfen. »Ich kann das nicht gut. Noch nie, und erst recht nicht jetzt, wo ich … wo ich schon so lange alleine bin.«

»Alleine?« Wastl setzte sich zurück, und verließ Adrians Arme. Nicht, weil er es wollte, sondern weil der sich so unwohl damit fühlte.

»Unwichtig.« Adrian nahm ihm gegenüber Platz, im Schneidersitz. Er reichte Wastl die Flasche und der goss sich reichlich ein. »Erzähl mir von deiner Mutter und ihrem Kochbuch.«

»Was?« Wastl versuchte, sich unauffällig den Rotz von der Nase zu wischen. Blöd, dass er keine Pulloverärmel mehr hatte. »Warum das denn?«

»Ich dachte, das hilft dir vielleicht.« Adrian wirkte so verkrampft und so hilfsbereit zugleich, dass Wastl ganz heiß wurde. Er tat das für ihn, oder? Obwohl er sich unwohl dabei fühlte, tat Adrian das für ihn.

»Oh, es war ein ganz normales Kochbuch mit Gerichten aus unserer Region.« Er lächelte. »›Gutes aus Würzen‹ wollte sie es nennen. Ich hab ihr immer gesagt, dass da viel bessere Wortspiele drin sind. Würzen. Das ist doch ’ne Steilvorlage. Aber sie meinte, sie will kein Witzbuch schreiben, sondern ein Kochbuch.«

Adrian nickte bedächtig. »Doch sie hat es nicht geschrieben.«

Wastl schüttelte den Kopf. »Nein, ich … Sie hat immer nur davon geredet. Und dann kam der Krebs und dann …« Er schluckte. Vorsichtig kostete er einen weiteren Schluck. »Das ist gut. Was ist das?«

»Glenladdich. Das haben meine Eltern aus Schottland mitgebracht.«

»Oh, natürlich. Natürlich hast du Eltern«, stotterte Wastl und wollte sich selbst ohrfeigen.

»Sehe ich aus, als hätte ich keine? Wofür hältst du mich?« Etwas Tristes kroch in Adrians Züge. Die verbrannten Stellen schienen heller zu werden.

»Was? Natürlich hast du Eltern, ich habe nur nie … nie überlegt …« Er seufzte. »Sorry, ich bin ein Idiot. Ich stehe wohl noch unter Schock.«

»Offensichtlich.« Adrian sah zur Seite.

»Aber … Also deine Eltern, die leben noch? Das ist ja super.«

»Ja.« Adrian seufzte. »Schon. Ich habe sie seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Meine Mutter hat am Dienstag angerufen, weil sie Geld braucht.«

»Seit zwei Jahren? Deine Eltern

»Wir waren uns nie sehr nah.«

»Du warst deinen eigenen Eltern …« Wastl brach ab. Adrian sah traurig aus, aber so, als wollte er sich die Trauer nicht anmerken lassen. Also bedrängte er ihn nicht weiter.

»Bei euch war das wohl anders, hm?« Ein nachdenklicher Blick in das Whiskyglas. »Das ist schön. Und dein Vater?«

»Ist gestorben, als ich noch ein Bub war. Herzinfarkt. Sie waren … sie waren beide schon recht alt, als sie mich bekommen haben. Ich war ihr kleines Wunder. Ihr einziges.« Der Whiskey brannte seinen Mund aus. Gut. »Tut mir leid, dass ich so zusammengeklappt bin. Ich … Ich habe Abschied genommen, eigentlich. Ich hatte lange Zeit und … ich habe Mama gepflegt, bis zum Ende. Ich dachte, ich wäre darüber hinweg.«

»Solche Dinge kommen zurück. Immer wieder. Das ist normal.« Adrian goss ihnen noch einmal ein und schraubte die Flasche dann zu. »Glaub mir, irgendwann …« Er schwieg, als hätte er sich bei einer Lüge ertappt.

Wastl hielt den Atem an. War das der Moment? Würde Adrian erzählen, woher seine Narben stammten und wie er seinen Fuß … Aber der stand abrupt auf und streckte ihm die Hand hin.

»Es ist spät«, sagte er und zog Wastl auf die Beine.

»Es ist halb neun«, erwiderte der und trauerte der Wärme von Adrians Hand nach. »Und es ist Freitagabend. Willst du nicht … Ich meine, du erzählst mir sowas nicht, aber gehst du heute aus?«

Unerwartetes Lachen erscholl. Kein fröhliches Lachen, doch es machte Adrians Gesichtszüge noch attraktiver.

»Nein«, sagte er und fuhr sich durch die Haare, dass die verbrannte Hälfte und das halbe Ohr besonders sichtbar waren. »Ich gehe nicht aus. Ich gehe nie aus.«

»Öh.« Wastl schürfte in seinem Gehirn nach den richtigen Worten. »Wie lange schon nicht mehr?«

»Seit ich ein Krüppel bin, Sebastian.« Ein galliges Lächeln. »Schön, dass es dir bisher nicht aufgefallen ist, aber ich gehöre nicht unter Leute. Nicht unter Leute, die ihr Abendessen bei sich behalten wollen.«

Meinte er das jetzt ernst? Aber …

Aber du bist der heißeste Mann, dem ich je begegnet bin, wollte Wastl sagen, doch er traute sich nicht. Nicht noch eine peinliche Szene. Und weil er so lange schwieg, wechselte Adrian leider das Thema.

»Zieh dir was an, sonst verkühlst du dich.« Wieder wanderte sein Blick über Wastls Oberkörper. »Du machst Sport, oder? Vom Sitzen am Computer bekommt man doch nicht solche Muskeln. Was hast du gemacht? Heuballenweitwurf? Mistgabelhochsprung?«

»Was hast du gemacht, Geldstapelstemmen?«

Endlich ein echtes Lächeln. »Ich sehe schon, du bist wieder der Alte.«

Weil die Stimmung endlich entspannt war, wurde Wastl mutig. »Du … du trainierst auch, oder? Nimmst du mich mal mit?«

Er sah das Zögern in Adrians Gesicht. »Wohin?«

»In dein Fitnessstudio? Das ist bestimmt ein schickes, oder? Dürft ihr da Gäste mitbringen? Ich hab nicht trainieren können, seit ich in München bin und mir fehlt’s halt.«

»Hast du dich noch nicht in der Wohnung umgesehen?«, fragte Adrian. »Ich trainiere hier. Im Trainingsraum.«

»Nah, du hast doch gesagt …« Wastl seufzte. »Ich wär mir wie ein Schnüffler vorgekommen.«

»Du sollst nicht ins Büro, das ist alles.« Das Zögern war verschwunden. »Du kannst ruhig die Geräte im Trainingsraum benutzen.«

»Oh.« Wastl strahlte. »Trainieren wir morgen zusammen? Ich … brauch immer einen, der mir beim Bankdrücken die Stange hält, sonst ist das zu gefährlich. Du hast ja gesehen, was passiert, wenn ich mit Feuer hantiere. Ich ziehe Unfälle magisch an.«

»Ich kann dir gern die Stange halten«, sagte Adrian und Wastl wünschte sich nichts mehr, als dass das so zweideutig gemeint war, wie es klang. War es nicht. Adrian war ja nicht schwul. Höchstwahrscheinlich. »Was ist mit dir? Gehst du heute aus?«

»Nah. Ich kenn keinen und hab kein Geld. Und ich hab keine Zeit, Leute kennenzulernen, weil ich immer auf Wohnungssuche bin.« Er fuhr sich durch die Haare. »Ich werd den Abend auf Immobiliensuchomat.de verbringen. Ist fast so gut wie auf Grindr.«

»Zweifellos.« Adrian grinste. Oh Gott, war der Mann attraktiv. Nein, das musste ein Witz gewesen sein, als er sich als widerlichen Krüppel bezeichnet hatte. Der wusste doch, was für eine Wirkung er hatte, oder?

Aus Angst, dass man ihm seine Gedanken ansah, schaute Wastl zu Boden. Und entdeckte Adrians Buch, das bei dem Inferno vorhin auf den Fliesen gelandet war. Der Umschlag hatte sich gelöst.

»Oh, dein Buch.« Wastl hob es auf. »Hier, das … Moment mal, ›Die unschuldige Sünderin‹?«

»Was ist damit?« Adrians Augenbraue hob sich.

»Äh, ich … Hätte nicht gedacht, dass du sowas liest.« Hatte Mama nicht solche Schmonzetten verschlungen, wenn sie erkältet gewesen war? Bei klarem Verstand ertrug sie sie nicht. Das hatte sie zumindest behauptet.

»Ich bin halt mit meiner Männlichkeit im Reinen«, sagte Adrian und zwinkerte.

Wastl schmolz innerlich.

»Ha«, krächzte er. »Du, äh … hm. Schön. Dann räum ich mal auf. Hoffentlich krieg ich den Ruß ab.«

»Oh, richtig.« Dieser blöde Kerl schrieb auch noch das Abzugshaubengitter und die Fliesen auf die Tafel. »Gute Nacht, Sebastian.«

Als er seinen Spitznamen hörte, glühte Wastl innerlich. Heute Abend würde er sich vorstellen, dass Adrian ihm anbot, seine Schulden abzuarbeiten. Körperlich.

Sebastian, sagte er in Wastls Phantasie, willst du meine Stange halten?

15. Trainingstag

 

»Du schaffst das! Dreiundzwanzig … vierundzwanzig … fünfundzwanzig!« Adrian packte die Metallstange.

Sebastians Gesicht war knallrot. Schweiß tränkte das hellgraue Achselshirt, das er sich von Adrian geliehen hatte. Seine Brust hob sich mit jedem hektischen Atemzug.

»So viel hab ich noch nie geschafft.« Er grinste zu Adrian hoch. »Du bist ein guter Trainer. Gnadenlos.«

»Man muss die eigenen Grenzen überschreiten, wenn man Ergebnisse erzielen will.«

Sebastian nickte keuchend und sie tauschten die Plätze. Der Köter sah ihnen interessiert zu. Die Mieze war, wie üblich, verschwunden. Sie tauchte nur auf, um zu fressen, den Köter zu ärgern und glücklicherweise, um ihr Klo zu benutzen. Er wollte Sebastian nicht noch mehr Möbel in Rechnung stellen.

Adrian sah zu Sebastian auf und packte die Stange. »Bereit?«

Ein Nicken. Ein Tropfen Schweiß lief vom Kinn seines Mitbewohners und zerplatzte auf Adrians Stirn. Er spürte die Wärme, die von Sebastians Unterkörper ausging, auf dem Scheitel. Es hätte ihm unangenehm sein können. Seltsam, jemandem so nahe zu sein. Nach all der Zeit alleine. Gestern hatte er noch den Whisky gebraucht, um die Nähe zu ertragen. Heute ging es schon viel leichter.

Es lag an dem Goldjungen. Der es garantiert hassen würde, als ›Goldjunge‹ bezeichnet zu werden, aber das war er. Sebastian brachte alles um sich herum zum Leuchten. Er war die Art Mensch, in dessen Anwesenheit man sich unweigerlich entspannte. Jemand, der nicht urteilte. Der geradeheraus sagte, was er dachte. So einer hatte eine Wirkung, eine betörende Wirkung, selbst auf Adrian.

Wenn Sebastian wirklich das war, was er zu sein vorgab. In der Nacht waren Adrian Zweifel gekommen. Kleine Gesten, die er gestern als Kleinigkeiten abgetan hatte, erschienen, bei Dunkelheit betrachtet, größer. Wie er vor ihm zurückgeschreckt war, nachdem sie sich umarmt hatten. Nur ein winziges Zurückzucken, aber Adrian wusste, was es war: der Moment, in dem Sebastian bewusst geworden war, dass seine makellose Haut die vernarbte, harte in Adrians Gesicht berührte. Der spontane Ekel. Das musste es sein, oder? Egal, wie gut Sebastian die Abscheu tarnte. Sie musste da sein. Sie war in jedem gewesen, dem Adrian seit dem Unfall begegnet war. In den verstohlenen Blicken, die immer knapp an seinen Entstellungen vorbei glitten. In den Händen, die zurückzuckten, bevor sie ihn berührten. In dem Schweigen, das entstand, wenn er in den Raum kam. In der Reha, als er wieder halbwegs bei Sinnen gewesen war, war es am schlimmsten gewesen …

»Alles gut bei dir?« Sebastian sah auf ihn nieder. »Du schaust so komisch.«

»Wer schaut hier komisch, du Stallbursche?«

»Du. Du schaust, als hättest du Socken zu Weihnachten bekommen.«

Adrian schnaubte. »Hör auf zu labern und pack mit an.« Gemeinsam wuchteten sie die Gewichte in die Höhe. Dann ließ Adrian die Stange auf seine Brust nieder und stemmte sie hoch. Seine Arme wurden zu Stahlsträngen. Die Brust platzte fast. Es war gut. In diesen Minuten vergaß er den Schmerz.

»Vierundzwanzig … fünfundzwanzig«, zählte Sebastian mit großen Augen. »Sechsundzwanzig …«

Bei ›Einunddreißig‹ signalisierte Adrian, dass es genug war. Hastig packte Sebastian die Stange und sie hievten sie zurück in die Halterung.

»Du Angeber.« Weiße Zähne blitzten. »Musst du so übertreiben?«

»Kann ja nicht jeder«, keuchte Adrian, »so ein Schwächling sein wie … du.«

»Ich?« Sebastian spannte den Bizeps an und betrachtete zufrieden, wie er sich wölbte. »Ich bin ein Tier! Nur nicht ganz so ein Tier wie du.«

Adrian sah zu ihm hoch und spürte wieder, wie nah Sebastians Schritt seiner Stirn war. Er wusste auch nicht, warum er den Gedanken nicht ausschalten konnte. Es fiel ihm auf. So wie ihm die Narbe in Sebastians Wange auffiel, die er vorher nicht bemerkt hatte, oder der kleine weiße Fleck in dessen linkem Schneidezahn. Winzige Unvollkommenheiten, die nur noch zu seinem Charme beitrugen.

»Die werden über dich herfallen wie Piranhas über ein rohes Steak«, sagte Adrian, setzte sich auf und schüttelte den Kopf. »Wenn du erst mal da draußen unterwegs bist, wirst du dich vor Verehrern nicht retten können.«

»M-meinst du?« Die Röte wurde tiefer, obwohl der Atem sich beruhigte. »Also, ich … Denkst du wirklich? Ich bin da ein bisschen nervös, weil … Na, ich hab schon echt viel Erfahrung, aber …«

»Niemand, der echt viel Erfahrung hat, muss darauf hinweisen, dass er echt viel Erfahrung hat, Sebastian.« Adrian richtete sich auf und streckte die brennenden Arme. »Hörst du mich davon reden, mit wie vielen Models ich geschlafen habe?«

»Hast du?« Sebastian schaute wieder so seltsam.

»Bevor ich ein Krüppel wurde, natürlich.«

»Ist das lange her?«

»Zwei Jahre.«

»Ah.« Er sah seinem Mitbewohner an, dass der mehr wissen wollte. Aber ausnahmsweise hielt der im richtigen Moment die Klappe. »Na, ich hoff, du hast recht mit den Männern. Ich will noch eine Menge ausprobieren.« Ein gespannter Blick. Einer, der fragte: Hast du Angst, weiter zuzuhören?

Maaann, ich wollte doch nicht hören, mit wie vielen Männern der was hatte, sagte Max in Adrians Kopf. Wen interessiert das denn? Er hatte sich geschüttelt.

Na wenn du mit deinen Weibergeschichten angibst … Adrian hatte gegrinst. Da musste er ja nachziehen.

Ja, aber … mit Kerlen? Max hatte das Gesicht verzogen. Wer will sowas wissen?

Wer will denn wissen, in wie viele feuchte Grotten du dieses Jahr getaucht bist?, hatte Adrian gefragt. Keiner.

Max hatte gelacht.

Er konnte sich nicht einmal erinnern, über wen sie gesprochen hatten. Das Bruchstück war plötzlich aufgetaucht, wie ein Gesicht hinter einem dunklen Fenster.

»Adrian?«

Mist, er war wirklich nicht ganz da.

»Erzähl ruhig von deinen Plänen«, sagte Adrian. »Mich wirst du nicht schockieren.«

»Oh, gut.« Sebastian grinste wie ein Kind, das man mit einem Tausend-Euro-Gutschein bei Games Stop ausgesetzt hatte. »Ich hab nämlich einiges vor. Der Kullberger Wastl wird sich so richtig die Hörner abstoßen.«

»Was, du hast zwei?«

»Ha, ha. Ne, aber so wird’s denen vorkommen! Ich werd alles durchprobieren. Alles! Große Männer, kleine, dicke, dünne, behaarte, glatte und schwitzige und parfümierte und … blonde und dunkle …« Seine Augen wanderten zur Decke, als würde dort eine willige Männer-Menagerie vorbeimarschieren. »Und rothaarige. Ich wollt schon immer mal rote Schamhaare sehen. Die können rot sein, oder?«

»Ja.«

»Echt?« Das Landei beugte sich vor, bis seine Nasenspitze Adrians gefährlich nahe kam. Sein Arm ruhte locker auf der Halterung. »Du hast viel probiert, oder? Große, kleine, dicke und dünne Frauen?«

»Nicht wirklich«, musste Adrian zugeben. »Eigentlich waren die alle gleich: schlank und groß. Nur die Haarfarben waren unterschiedlich.«

»Oh, da hast du aber einiges verpasst.«

»Woher willst du das denn wissen?« Adrian strich seine schweißnassen Haare zurück und sah ein winziges Zucken in Sebastians Augen. Ekel vor dem geschmolzenen Ohr vermutlich. »Offensichtlich hast du keine Ahnung von Frauen.«

»Du ja auch nicht, wenn du nur ein Modell ausprobiert hast.«

»Ein Modell? Ganz schön sexistisch, Sebastian.«

»Nah, ich mein ja nur …«

 

***

Das Training dauerte eine Stunde länger als sonst, weil sie sich nicht nur abwechselten, sondern auch redeten. Sehr viel. Sebastian erzählte von einem Abenteuer mit einem Pfarrer, das Adrian für erfunden gehalten hätte, wenn die Geschichte nicht von dem Landei gekommen wäre. Adrian berichtete nicht viel von sich. Nur den Dreier mit den beiden Norwegerinnen deutete er an. Es fühlte sich an, wie über einen anderen Mann zu erzählen. Einen, der sich da draußen bewegt hatte, der ein Raubtier gewesen war, hungrig, stark und glücklich.

War er glücklich gewesen? Er erinnerte sich nicht.

»Ich glaube, ich hatte Spaß.« Er sah aus dem Fenster. »Max und ich … Max war mein bester Freund, und wir haben immer einen draufgesetzt. Frauen, Drogen, Action. Es war nie genug. Ich weiß noch, wie wir an einem Wochenende ein Autorennen veranstaltet haben, mitten auf der A8. Auf dem Weg zu einem Fallschirmsprung und da haben wir gewettet, wer ihn zuletzt öffnet. Der Fallschirm-Trainer hat uns übelst zusammengefaltet. Aber wir konnten nicht aufhören.«

Sebastian sagte nichts. Er blinzelte und seine schönen Augen schauten verwundert.

»Was ist?«, fragte Adrian.

»Nichts, du …« Ein heiseres Räuspern. »Wer hat gewonnen?«

»Ich.« Adrian packte ein blütenweißes Handtuch und rieb sich den Schweiß aus dem Gesicht. Früher hätte er danach in den Spiegel geschaut, der die ganze Längswand des Trainingsraums bedeckt hatte. Aber den hatte er eigenhändig entfernt, die Scheiben in die Ecke gestellt und ein Tuch darüber gebreitet. »Ich hatte weniger Angst vor dem Tod als er. Das war mein Trumpf.«

»Und seiner?«

»Er hat an den Sieg geglaubt. Max war geboren, um zu gewinnen. Der ist in ein Casino gegangen und mit doppelt so viel Geld wieder rausgekommen. Jedes Mal.«

»Ah.« Sebastian zögerte sichtlich. »Vermisst du … Also, vermisst du es? Dein altes Leben?«

»Ja. Ja, natürlich.« Eigentlich vermisste er nur Max. Der andere Kram hatte ihm nie viel bedeutet, so traurig es war. »Aber das ist vorbei. Genau wie das Training.«

»Jetzt Sauna, richtig?« Sebastian lächelte, doch in seinem Gesicht zuckte ein Muskel. Klar, der fragte sich vermutlich, wie schlimm Adrians Körper unter der langen Jogginghose und dem Shirt aussah.

Sehr schlimm, dachte Adrian. Sorry, du Stallbursche. Da musst du durch.

Die Glastür zur Dachterrasse stand schon offen, um die Hitze herauszulassen, die sich gebildet hatte. Zwei schwitzende Männer waren selbst für diesen großen Raum zu viel. Adrian nahm eins der Handtücher aus dem grauen Regal neben der Tür und warf es Sebastian zu. Der fing es wortlos. Er wirkte immer noch verunsichert. Adrian ärgerte sich, dass das einen Effekt auf ihn hatte. Irgendeinen. Es sollte ihm verdammt noch mal egal sein, was das Landei von seinem entstellten Körper hielt. Aber sein Stumpf begann zu jucken, sobald er die Prothese abschnallte. Er erwischte Sebastian dabei, wie er wegschaute.

»Uh.« Ein leises Räuspern. »Soll ich dir helfen, oder …«

»Nein, danke. Ich schaffe es seit mittlerweile dreißig Jahren alleine, mich auszuziehen.«

»Nein, ich meine … Brauchst du Hilfe, um in die Sauna zu kommen, ohne … das Ding?« Sebastian kratzte seinen bloßen Arm. »Nein, natürlich nicht. Du schaffst das ja auch sonst. Sorry.«

»Ja.« Adrian setzte sich auf die Hantelbank und zog sich das Shirt aus. »Erstaunlicherweise bin ich bisher ohne dich ausgekommen.« Die Trainingshose folgte. Seine Hände fühlten sich an, als wäre er im eisigen Winterwind herumgelaufen und fast erfroren. Sie bekamen den Turnschuh kaum auf und verhedderten sich im Bund der Unterhose. Entnervt riss er sie herunter. Er hob das Kinn und sah Sebastian an. Der saß ein Stück entfernt auf dem Boden und kämpfte mit seinen Schnürsenkeln. Seine Miene war verbissen. Mist, das wurde peinlicher als gedacht.

Adrian band sich das Handtuch um die Hüften und schnappte sich die Krücken, die hinter dem Regal klemmten. Mit ungelenken Bewegungen schwang er sich zur Holztür der Sauna hinüber. Kalte Luft strich über seine nackte, entstellte Haut. Eine der Krücken fiel scheppernd zu Boden, als er sie gegen die Seitenwand lehnen wollte. Er sparte sich die Peinlichkeit, sich danach zu bücken. Wahrscheinlich wäre er umgekippt. Oder sein Handtuch wäre heruntergeglitten und er hätte Sebastian den nackten Arsch präsentiert. Und den wollte der ganz bestimmt nicht sehen.

Wut brodelte in ihm, so heiß wie die Luft, die ihm aus der Sauna entgegenschlug. Wunderbar heiß. Konnte sie das unangenehme Gefühl wegbrennen? Die Ahnung, dass Sebastian sich vor ihm ekelte?

Als das Landei endlich nachkam, setzte es sich auf die rechte Seite, so weit weg von Adrian wie es möglich war. Das war ziemlich weit. Die Sauna war nicht riesig, aber wenn sie es wirklich gewollt hätten, hätten hier bis zu zwölf Leute Platz gehabt. Das hatten sie ausprobiert, vor langer Zeit. Max, er und all die Gäste, die zu Adrians sechsundzwanzigstem Geburtstag hier gewesen waren.

Adrian starrte aus dem runden Panoramafenster auf den Dachgarten. Die Nachmittagssonne schien auf die roten Zwergahornbäume und den weißen Kies. Wind wehte über die Liegebänke und die Sitzgruppe. Sein Kopf fühlte sich an, als würde er gleich platzen. Aber er konnte nirgendwo anders sitzen als auf der obersten der drei Bänke. Immer noch musste er ganz oben sein, immer noch da, wo es am heißesten war. Einen Saunawettstreit hatten Max und er auch gemacht. Am Ende hatten sie beide in den pappigen Schnee von Åre gekotzt. Adrian hatte gewonnen.

Holz knackte. Die Kohlen im grob gemauerten Kamin knisterten und zischten. Das Landei schwieg. Seine Haare waren dunkel vor Feuchtigkeit und der Kopf knallrot. Schweißperlen erschienen auf der goldschimmernden Haut.

Adrian stützte die Arme auf den linken Oberschenkel und betrachtete ihn weiter. Der Kerl sah stur geradeaus. War es der vernarbte Stumpf, der aus dem weißen Handtuch schaute? Die wüste Narbenlandschaft, die direkt unter dem Knie begann?

»Ich beiße nicht«, knurrte Adrian und klang, als würde er nur darauf warten, die Zähne in eine Kehle zu schlagen, egal, welche. Wut loderte in ihm. Heißkalte Enttäuschung, dass das blöde Landei ihn doch widerlich fand. Einen Moment lang hatte er geglaubt … Nein, er hatte nur vergessen. Da war das Zurückzucken gestern gewesen. Die verstohlenen Blicke auf den Turnschuh, aus dem der Metallfuß schaute und unter dem Bein der Jogginghose verschwand. Einmal, an der Hantelbank, hatten Sebastians Finger das Narbengeflecht an Adrians Schulter berührt und es sofort losgelassen, als würde er dort immer noch brennen.

»Nein, ich meine …« Sebastian räusperte sich und sah geradeaus. Schweiß rann über seinen Oberarm. Eine dünne Linie, die durch Hügel und Täler seiner Muskeln tanzte. »Ich weiß, dass du nicht beißt. Du, äh, hast mich ja noch nie gebissen.«

»Und warum sitzt du dann da hinten, als würde ich jeden Moment über dich herfallen?«

»Ich dachte nur …« Sebastian schluckte sichtbar. Dann sah er Adrian an. »Es stört dich nicht, wenn ich rüberkomme?«

»Nein.« Warum sollte es ihn stören? Was für eine billige Ausrede. Adrian ärgerte sich über Sebastian, aber mehr über sich selbst. Über seine dämliche Verletzlichkeit. Wie war er in zwei Jahren zu einem derartigen Sensibelchen mutiert? Natürlich machte ihn das noch wütender. Zornig starrte er Sebastian an. Dessen Adamsapfel hüpfte wieder. Dann veranstaltete er ein absolut idiotisch aussehendes Rutschmanöver zu Adrian hinüber, bei dem sein Hintern keinen Moment lang die Bank verließ. Sein Rücken war gekrümmt, als wollte er sich vor dem widerlichen Krüppelmonster neben ihm schützen. Als noch ein weiterer Mensch zwischen Sebastians linkes Bein und Adrians rechten Stumpf gepasst hätte, verharrte er und schaute aus dem Panoramafenster, so gebannt, als würden draußen sieben Seeungeheuer ein Wasserballett aufführen.

»Heiß hier«, murmelte Sebastian. »Oder?«

»Eine derart dämliche Aussage hat keine Antwort verdient.« Adrian hasste es, wie bitter er klang, aber er konnte nicht aufhören.

»Ich mein ja nur … Vielleicht geh ich gleich. Bin solche Temperaturen nicht gewöhnt.«

»Setz dich halt tiefer.«

»Ach, weißt du.« Jetzt schaute Sebastian, als wäre aus dem Wasserballett ein Blutbad geworden. »Mein Kreislauf ist noch nie besonders gut gewesen. Ich denke, ich … äh.«

Adrian wusste auch nicht, warum er das tat, was er als Nächstes tat. Kindischer Trotz vermutlich. Er überwand den Abstand zwischen ihnen und presste sein verkrüppeltes Bein gegen Sebastians kräftiges. Scheußliche Narben rieben an goldglatter Haut. Ein Schauder fuhr durch Sebastians Körper. Die Schweißtropfen rannen schneller. Ganz langsam wandte er den Kopf.

»Uh, Adrian …«

»Ja?« Adrian lächelte gewinnend und strich sich wieder die Haare aus dem Gesicht. Er drehte sich zu Sebastian, so, dass der sämtliche Narben und Verbrennungen aus nächster Nähe bewundern konnte.

Blöde Idee, sagte die Stimme der Vernunft. Der kotzt dir noch in die Sauna.

»Ich …« Sebastian holte tief Luft. »Also, ich weiß nicht genau, wie das hier läuft. Du weißt ja, dass ich nicht viel Erfahrung hab mit … Anmachen. Und Flirten. Nur … nur online, nicht … so. Aber wenn …« Er atmete nochmal ein. Seine Lunge musste fast platzen. »Also wenn das hier eine Anmache ist, dann, äh, also: ja.«

Was?

»Was?« Adrian forschte in Sebastians Gesicht. Nach Anzeichen, dass er einen erstaunlich guten Witz machte. Aber die Ehrlichkeit leuchtete dem Landei mal wieder aus allen Poren.

»Ja.« Knallrote Ohren. Sebastians Zunge erschien und leckte nervös über die Unterlippe. »Also: Ich will. Was immer du vorhast. Ich bin dabei. Ich, äh, will dich auch.«

Das Knacken der Kohlen und das Zischen der feuchten Steine waren die einzigen Geräusche. Irgendwo, ganz weit weg, miaute die verdammte Katze.

Adrian dachte, er wäre vorhin wütend gewesen. Er hatte sich geirrt. Der Zorn schoss in seinen Körper wie ein Dampfhammer. Er sprang auf, krallte die Hand zwischen die heißen Seitenbretter, um nicht hinzufallen, und brüllte Sebastian ins Gesicht.

»Willst du mich verarschen?!« Seine Stimme erfüllte den Raum, drang in jede Ritze und jede Fuge. »Willst du mir weismachen, dass du das hier«, er deutete auf die widerlichen Narbengeflechte, den Stumpf, seine ganze abscheuliche Erscheinung, »sexy findest? So eine gequirlte Scheiße! Warum erzählst du solche gottverdammt beschissenen Lügenmärchen? Was hast du vor?« Er bekam kaum noch Luft. Zu heiß, es war viel zu heiß hier. Gleich würde seine scheußliche Haut aufplatzen und ihn in ein noch widerwärtigeres Ungeheuer verwandeln. »Was ist dein Plan, Sebastian? Dich hier einzuschleichen? Hierzubleiben? Klar, ist ja auch netter als jede Drecksbude, die du dir leisten kannst. Wenn man für so ein Luxusappartement ab und zu ein Monster ficken muss, ist das immer noch ein guter Deal!«

Trotz der Hitze wurde Sebastian blass. Sein Mund öffnete sich. Er blinzelte. Und dann schoss er in die Höhe wie ein Torpedo.

»Du Vollarsch!«, donnerte er. Schweißtropfen flogen. »Du … Denkst du echt, ich würde … Für was für ein Arschloch hältst du mich? Ich würde nie …« Seine Nase war nur Millimeter von Adrians entfernt. »Ich würde dich nie ausnutzen. Nicht dich und niemand anderen. Ich … Du bist so ein blöder Mistkerl, Adrian.« Er wagte es, verletzt auszusehen.

Was für eine Unverschämtheit … Aber in Adrians Brust regte sich leichter Zweifel.

»Erzähl keinen Scheiß.« Er lachte. Sein Hals war trocken von der Gluthitze. »Du bist doch nicht wirklich scharf auf mich.«

Die Röte kehrte in Sebastians Wangen zurück. Langsam senkte er die Hände. Sie lösten das Handtuch, und Adrian, der immer noch keine Ahnung hatte, was hier vorging, brauchte einen Moment, um zu kapieren. Erst, als er die Erektion sah, die aus Sebastians Körpermitte wuchs und direkt auf ihn zeigte, wurde ihm wirklich klar, dass er ein Idiot war.

»Sieht das aus, als wärst du mir egal?«, schnappte Sebastian. Wut sprühte aus seinen Augen. »Ich hab die ganze Zeit … Mann, ich hab einen stehen, seit du dich ausgezogen hast. Weißt du, wie blöd ich mir vorkomme? Und dann … dann rutschst du zu mir und …« Die Sehnen seiner Hände traten hervor, so fest ballte er sie. Adrian bekam das nur mit, weil er immer noch auf Sebastians Glied glotzte. Irgendwann würde er damit aufhören müssen. Schon allein, um sich zu entschuldigen. Andererseits hasste er Entschuldigungen … und der Anblick der roten Spitze, in der sich das Licht der Deckenlampe spiegelte, fuhr ihm direkt zwischen die Beine. Gut, dass er sein Handtuch noch trug.

»Schau mal, Sebastian, ich …«, sagte er und sah immer noch nicht auf. Er war auch nicht sicher, was er sagen wollte, also brach der Satz mittendrin ab und stürzte vor ihm zu Boden.

»Du bist ein Arschloch, echt. Weißt du, dass ich … dass mir jedes Mal ganz … ganz anders wird, wenn du mich Sebastian nennst? Und dann berührst du mich so und lächelst mich an und wir sind eh fast nackt und … und dann war das nur ein blöder Witz?«

»Nein!« Endlich schaffte er es, den Kopf zu heben. »Ich dachte … Ich dachte wirklich, du verarschst mich. Ich dachte, du … Was willst du denn mit einem wie mir? Ich kann kaum in den Spiegel schauen, weil ich so scheußlich bin.« Aller Kampfgeist war aus Adrians Körper gewichen. Und direkt in Sebastians gefahren, dessen Stimme zu einem Orkan anschwoll.

»Sag mal, hast du sie noch alle? Du bist total heiß! Ich krieg schon Gänsehaut, wenn du nur an mir vorbeigehst, so scharf bin ich auf dich! Ich hol mir jeden Abend einen runter und stell mir vor, dass du mich auf den Küchentisch wirfst und … Ich meine … Denkst du echt, mich interessieren ein paar blöde Narben?«

Adrian lachte höhnisch. »Ein paar Narben, ja? Ich bin halb verbrannt und, falls es dir nicht aufgefallen ist, verkrüppelt.« Er deutete auf sein rechtes Knie. »Erzähl mir nicht …«

»Erzähl du mir nicht, was ich zu denken habe, du Vollidiot!« Wow. Es war ein Wunder, dass die Decke nicht einstürzte, bei der Lautstärke. Sebastians Augen traten hervor, als wollten sie aus dem Schädel springen. »Ich denke, dass du der schärfste Mann bist, den ich je gesehen habe! Und ich hab eine Menge Männer gesehen!«

»Hast du nicht!«

»Natürlich hab ich das!«

»Pornos zählen nicht!«

»Doch, tun sie! Und nicht einer von denen … Ich meine …« Sebastians Adamsapfel hüpfte. »Egal. Mir doch egal, dass du keine Augen im Kopf hast. Dann denk halt, dass du scheiße aussiehst. Interessiert mich nicht. Nicht mehr.« Er sah weg. »Wenn du mal einen Moment nachdenken würdest, dann … dann wäre dir vielleicht klar, wie peinlich das hier für mich ist. Ich dachte echt, du hast Interesse und ich hab mich so gefreut, und …« Er straffte sich und richtete den Blick wieder auf Adrian. In den dunkelbraunen Augen glomm Feuer. »Du bist überhaupt kein Monster. Du bist ein Vollidiot.«

Adrian starrte ihn an. Er starrte immer noch, als Sebastian die Sitzreihe hinunter kletterte und aus der Sauna verschwand. Die Schwingtür pendelte hinter ihm. Ein Schwall kalter Luft kühlte einen Moment lang Adrians Haut.

»Was war das jetzt?«, murmelte er. Langsam sank er auf die Bank zurück.

16. Frisch geduscht

 

Wastl stürzte aus der Sauna in die Kälte. Kies knirschte unter seinen nackten Sohlen. Mist, er hätte das Handtuch mitnehmen sollen. Ob Adrian ihn aus dem Fenster sehen konnte? Egal. Er beschloss, dass es ihm total egal war, was dieser Vollpfosten tat. Ab sofort würde er ihn ignorieren. So, wie Adrian ihn ignoriert hatte, nur noch mehr.

Scheiße, war das peinlich, dachte er. Ja, bestimmt war das der peinlichste Moment in meinem Leben. Schlimmer geht’s ja kaum.

Wastl stolperte unter die Dusche, die mitten auf dem Dachgarten stand. Eisiges Wasser fiel auf ihn herab. Feine Fäden prasselten auf die brennende Haut. Sie waren kurz vor dem Gefrierpunkt, aber nicht kalt genug. Sein Schwanz dachte immer noch nicht daran, sich abzuregen. Und …

Oh Gott.

Was hatte er Adrian alles verraten? Hatte er ihm gesagt, dass er abends an ihn dachte, wenn er wichste? Panik stieg in Wastl auf. Er würgte trocken. Scheiße. Oh Scheiße, das war noch viel peinlicher, als er gedacht hatte. Er konnte Adrian nicht ignorieren. Er musste komplett verschwinden. Lieber auf der Straße stehen, als dem je wieder unter die Augen zu treten.

»Hör auf damit«, zischte er seinem Ständer zu. »Lass das, das bringt doch nichts.«

Aber egal, wie kalt es wurde, die Erregung ließ nicht nach. Die Kälte drang längst durch alle Hautschichten bis in sein Inneres, doch nichts konnte ihn davon ablenken, wie scharf er auf Adrian war. Adrian, der absolut nichts von ihm wollte.

Sein Herz war fast stehengeblieben, als der zu ihm rübergerutscht war. Als er ihm dieses verwegene Lächeln geschenkt hatte, wie ein Pirat, als er sich die Haare aus den Augen gestrichen hatte, mit der Geste, die Sebastian immer kurz vor einen Herzstillstand brachte …

»Sebastian.« Die Stimme erklang genau hinter ihm. Und sie war so sexy wie stets. Hatte er das Adrian auch verraten? Was für eine Frage. Natürlich hatte er das.

Volltrottel, dachte er.

»Sebastian.«

Er würde sich nicht umdrehen. Auf keinen Fall. Noch nie hatte er sich so nackt gefühlt.

»Lass mich in Ruhe«, murmelte er. Er wollte entschlossen klingen, aber er war sich nur zu bewusst, dass Adrian direkt hinter ihm stand und seinen Hintern sehen konnte. Und dass der jetzt wusste, dass er ein notgeiler Lüstling war.

Das Wasser prasselte weiter.

Geh weg, flehte er innerlich. Ich kann mich nicht umdrehen, wenn ich einen Ständer habe.

Adrian räusperte sich. »Es tut mir leid.«

Was? Wastl betrachtete die Metallstange vor seiner Nase, die Duscharmaturen. Das hatte fast geklungen, als hätte Adrian sich entschuldigt. Aber das war unmöglich.

»Es tut mir wirklich leid.«

Okay, das klang wie Adrian. Aber war er es wirklich? Wastl verrenkte sich den Hals, um zu sehen, wer hinter ihm stand, ohne ihm seine Vorderseite zu präsentieren.

Erstaunlicherweise war es Adrian.

Schnell sah Wastl wieder nach vorne. »Ich zieh aus.« Seine Wangen brannten, obwohl er das Gefühl hatte, dass seine Glieder langsam abfroren. Na, bis auf das eine.

»Warum das?«

»Warum wohl? Weil das hier total peinlich ist … Weil ich total peinlich bin und weil ich mir wie ein Volldepp vorkomme.«

Er wollte an Adrian vorbei eilen, doch der packte seinen Arm und stellte sich ihm in den Weg. Eine Krücke fiel zu Boden, aber die andere grub sich in den Kies, und Wastl hatte Probleme, weiterzugehen. Zögernd verharrte er.

»Peinlich war nur mein Verhalten.« Adrian atmete tief ein. Die nassen Haare hingen ihm in die Stirn. Feuchte Perlen glitzerten auf den nackten Schultern und gaben Wastls Erregung neues Futter. »Ich war ein Vollidiot. Und es tut mir wirklich leid.«

»Aber …« Wastl schluckte. Er musste ein wenig aufsehen, um Adrian in die Augen zu blicken. Dessen Hand hielt immer noch seinen Oberarm fest. Sehr fest. Raue Handflächen gruben sich in die bloße Haut. Er atmete tief ein. »Kannst du vergessen, was ich gesagt hab? Bitte?«

»Das wird schwer.« Ein winziges Lächeln machte Adrians Gesichtszüge weicher.

»Oh Gott«, hauchte Wastl und wollte sich gleich darauf ohrfeigen. Dieses Lächeln drang ihm durch die Haut und direkt in die Brust. »Bitte, Adrian. Ich bitte dich, vergiss es. Ich hab’s nicht … Ich meine, es ist wahr, aber …« Er brach ab. »Ah, verdammt.«

Adrian räusperte sich. »Weißt du, wenn ich vorhin meinen Verstand eingeschaltet hätte, hätte ich mich sehr gefreut.«

»Darüber, dass ich … dass ich aus dir ein Sexobjekt gemacht habe?«, fragte Wastl zweifelnd.

»Ja. Ist doch mal eine Abwechslung zum Monster, denkst du nicht?« Das Lächeln wurde traurig, aber es verschwand nicht.

»Du bist kein Monster.« Wastls Stimme brach. »Du bist echt … Ich meine, du … weißt schon.«

Adrian kam näher, noch näher, und Wastls Herz setzte einen Schlag aus. Warmer Atem traf auf seine unterkühlte Haut. Dunkle Augen entfachten einen Sog, der ihn vergessen ließ, wer und wo er war.

»Beweis es mir«, flüsterte Adrian.

Was? Meinte er das ernst? Wastl spürte ein Beben und kapierte, dass er zitterte. Ob vor Kälte oder Aufregung, wusste er nicht. Die harte Hand verschwand von seinem Arm. Adrian stand vor ihm, auf eine Krücke gelehnt und sah ihn abwartend an.

Bitte, mach dass er mich nicht verarscht, dachte Wastl. Bitte. Noch mehr Peinlichkeit überleb ich nicht.

Langsam hob er eine kühle Hand und legte sie an Adrians Wange. An die, deren Wechselspiel aus Narben und Haut er erkunden wollte, seit er sie zum ersten Mal erblickt hatte. Unter seinen Fingerspitzen wurde es warm. Einen Moment lang ließ er sie einfach auf Adrians Wange liegen. Dessen Gesicht nahm einen Ausdruck an, den er wirklich noch nie dort gesehen hatte. Fast scheu schaute der auf ihn herunter. Und Wastls Finger trauten sich, weiter zu gehen. Sie strichen über die harten Stellen, die kleinen Rillen, die zarten Flecken dazwischen. Durch die nassen Haare, so wie Adrian es selbst oft machte. Einen Moment lang zögerte er.

»Darf ich?«, flüsterte er.

»Alles«, war die Antwort und Wastl hätte fast gejubelt.

Er zeichnete die Kontur des halben Ohrs mit dem Zeigefinger nach. Verhärtete Rundungen, Windungen, wie in Stein gekerbt. An der Handkante spürte er den hämmernden Puls.

»B-bist du auch nervös?«, fragte er und erwartete ein höhnisches Lachen. Aber Adrian verzog den Mund.

»Mich hat zwei Jahre lang niemand angefasst. Und schon gar nicht da. Natürlich bin ich nervös.«

»Oh.« Sebastian holte Luft. »Willst du das hier? Also … wirklich?«

»Ich will dich, falls du das meinst.« Adrians Stimme klang so rau, als hätte er stundenlang geschrien.

Fast wären Wastls Beine eingeknickt. Er legte die andere Hand auf Adrians Schulter, nur, um sicher zu gehen. Ein Windstoß packte seine Haare und ließ ihn zu Eis erstarren. Gänsehaut entstand überall auf seinem nackten Körper.

»Unerträglich«, murmelte Adrian.

Wastl wollte sich gerade beschweren, da senkten sich Adrians Lippen auf seine. Warm auf seinem ausgekühlten Mund. Er spürte die Narbe, die einzige harte Stelle auf der zarten Haut. Er spürte sie und ertrank. Langsam, träge wurde er hinabgezogen in einen dunklen See. Er legte die Arme um die nackten, heißen Schultern, um sich zu retten. Presste die Lippen auf Adrians, schmeckte Salz und Schweiß und stöhnte in den Kuss, egal, peinlicher konnte es nicht mehr werden. Flüssige Lava schoss in seine Adern. Er wollte sich an Adrian schmiegen, sich an ihm reiben, seine Latte über die erhitzte, dampfende Haut gleiten lassen und schaffte es kaum, sich zurückzuhalten. Der Drang brannte Löcher in seinen Willen, aber noch zwang er sich, den Abstand zu wahren.

Adrian schien seine Qual zu bemerken. Er beendete den Kuss, sanft, und lehnte sich gegen Wastl. Ihre Vorderseiten verschmolzen. Und Wastls Schwanz glitt durch den weichen Frotteestoff des Handtuchs, bis die Spitze auf nasse Haut stieß. Kurze, drahtige Haare scheuerten daran.

»Oh, verdammt«, stöhnte er.

Fingerspitzen kreisten auf seinem unteren Rücken. Fast verträumt glitten sie über die eisige Haut. Er fühlte Adrians Herzschlag an der pochenden Brust, den heißen Bauch an seinem ausgekühlten. Weiße Atemwölkchen kitzelten die Lippen.

»Jetzt glaubst du mir, oder?«, hauchte er in Adrians Mund. Die tiefblauen Augen waren so nah, dass er selbst im Dunkel ihre Farbe erkennen konnte.

Die Antwort war ein Kuss. Eigentlich hatte Wastl gedacht, dass … Nun, eigentlich hatte er keine Ahnung gehabt, was Adrian genau bezweckte. Wollte er ganz sicher gehen, dass er ihn nicht nur anmachte, um ihn auszunutzen? Aber warum ging er nun weiter?

Auch egal. Völlig gleich, warum Adrians Hände seinen ausgekühlten Rücken packten und warum dessen Zunge seine Unterlippe benetzte. Und die Oberlippe. Sie stupste gegen den hektisch atmenden Spalt zwischen den bebenden Lippen und Wastl kam erst nach einer Ewigkeit darauf, dass er den Mund weiter öffnen und sie einlassen könnte.

Adrian wusste, was er tat. Gezielt suchte seine Zungenspitze nach Wastls, fand sie und zwang sie zu einem wilden Tanz, der Wastls Sinne schwinden ließ. Als sie sich zurückzog, jammerte er unwillig.

»Weiter«, flehte er. Hatte er nicht vor sehr kurzer Zeit beschlossen, weniger peinlich, kindisch und notgeil zu sein? »Weiter?«

»Du zitterst.« Adrians Stimme war heiser.

»E-echt?« Es war saukalt, aber Wastl spürte es kaum. Das Gefühl von Adrians nassem Bauch an seinem fegte alles andere fort. Und das Gefühl, dass Wastls Schwanz geborgen zwischen Handtuch und Haut lag. Pochend und ungeduldig drängte er sich gegen die Beule in Adrians Schritt.

Was?

Wastl wich zurück. Fassungslos betrachtete er den Pfahl, der sich unter dem Frotteestoff abzeichnete.

»Du hast einen Ständer!«, rief er.

Adrian blinzelte. Er lehnte sich auf die verbliebene Krücke und musterte ihn ruhig. »Du bist zweifellos der aufmerksamste Mann, den ich je getroffen habe, Sebastian.« Die Haare hingen ihm wieder im Gesicht und seine Erektion richtete sich weiter auf, nun, da sie Platz hatte. Das Handtuch begann, zu rutschen. Wastl wusste nicht, ob er hin- oder wegschauen sollte. Was er wollte, war hinzuschauen, aber …

Ach, was soll’s. Adrian ist ja auch nicht höflicher.

Gemächlich löste sich der Knoten und der Stoff fiel. Er zeichnete die Form der Hüften nach, der Oberschenkel, und dann war Adrian nackt. Und groß. Dass er gut ausgestattet war, hatte Wastl ja schon gewusst, aber nun … Also, dieser Bastard konnte mit den meisten Pornostars mithalten, die er gesehen hatte.

»Meine Augen sind hier oben.« Adrian klang amüsiert.

»Ja, ich weiß«, sagte Wastl und starrte ihm weiter in den Schritt. Das eisige Wasser plätscherte auf seinen Kopf, seit er zurückgewichen war, aber es kam nicht gegen die Erregung an. Jetzt erst recht nicht.

»Sebastian.« Oh, diese Stimme! Dieser süße Spitzname! »Deine Lippen werden blau.«

»Dann komm her und wärm mich.«

Adrian zögerte, nur einen Moment lang. Anschließend machte er zwei ungelenke Hüpfer mit der einzelnen Krücke und war bei ihm. Wunderbar. Wastl grinste zu ihm hoch und verbarg das Gesicht in Adrians Halsbeuge, die nach Salz und Saunaöl duftete. Und nach Mann. Ja, da war diese herbe, würzige Note, die er so liebte. An keinem roch sie so gut wie an Adrian. Der schob ihn zur Seite und drehte an den Armaturen. Das eisige Wasser wurde angenehm warm.

»Oh, das ist besser«, stotterte Wastl.

»Das dachte ich mir.« Adrians Erektion drückte gegen Wastls. Die Krücke fiel zu Boden. Adrian umarmte ihn, fest. Um sich abzustützen, klar aber ganz bestimmt auch, weil er Wastl total sexy fand und ihn nicht loslassen wollte. Weil er ganz bestimmt so höllisch scharf auf Wastl war wie der auf ihn. Na, vielleicht nicht ganz so. Wenn diese Umarmung noch länger dauerte, würde er Adrian den Bauch vollsauen. Es brodelte schon in seinen Eiern. Wie heißer Honig tropfte die Geilheit durch seinen Körper und bündelte sich zwischen den Beinen. Er tastete nach Adrians Hand, erwischte sie, spürte die harten Kanten der Narben darauf und führte sie zwischen ihre Körper. Kurz vorm Ziel zögerte er. Aber Adrian packte zu. Kräftige Finger umschlossen das pochende Glied und Wastl stöhnte gequält auf. Adrian war keiner, der Zeit verlor. Sein Griff war fest und er rieb über den Ständer, als hätte er einen Plan.

»Sebastian«, flüsterte er.

Vor Wastls Augen war gar nichts mehr, nur Flimmern. Er grub die Fingerspitzen in Adrians harte Schultern, biss in dessen Fleisch, spürte den pochenden Puls auf der Zunge und schrie auf. Gedämpft von der feuchten Haut brüllte er seinen Höhepunkt herbei. Heiße Liebe kleckerte auf Adrians Schenkel und übergoss die Hand, nur, um vom warmen Wasser weggespült zu werden. Dampf stieg um sie herum auf. Nicht vom Orgasmus. Der Dampf war da, seit das Wasser die Temperatur gewechselt hatte, doch Wastl hatte das Gefühl, dass es der Druck war, der endlich aus seinem Körper gewichen war. Er fühlte sich satt und zufrieden. Und gleich wieder bereit.

Nochmal, wollte er sagen, aber Adrian war dran. Wastl löste den Mund von dessen Schulter, erschrak über den Zahnabdruck, den er dort hinterlassen hatte, und sah ihm schuldbewusst in die Augen.

Hinter Adrians Pupillen lagen tiefe Schatten. »Du hast nicht gelogen«, sagte er. Sein Atem ging schwer.

»Wiewas?«, erkundigte Wastl sich, feinfühlig und redegewandt.

»Du magst es wirklich, wenn ich dich Sebastian nenne.«

»Ach …« Wastl räusperte sich und sah weg.

Feuchte Lippen wisperten gegen sein Ohr. »Sebastian.«

Lust raste durch seinen Körper wie ein Blitz durch einen Strommast. Sein Schwanz, immer noch in Adrians erbarmungslosem Griff, schwoll wieder an.

»Ein wenig«, gab er zu. »Sehr.«

Adrian schwieg. Als wüsste er nicht recht, was er mit dieser Information anfangen sollte. Und Wastl erinnerte sich an seine Manieren.

»Oh, Verzeihung«, sagte er und sank auf die Knie. Bedauernd spürte er sein Glied aus Adrians Hand rutschen. Aber niemand sollte ihm unterstellen können, dass er keine Umgangsformen hatte. Adrians Schwanz ragte nun genau vor seiner Nase auf.

Wie ein Ast, dachte Wastl beeindruckt. Ja, selbst die Adern, die sich unter der geröteten Haut schlängelten, erinnerten an die Maserung einer Eiche. Vorsichtig strich er darüber. Ein kleines Zucken. Der Ast wippte.

»Soll ich?« Wastl grinste zu seinem Mitbewohner hoch. Der stand über ihm wie ein düsterer Held. Zwischen den chaotischen Haarsträhnen blitzten die Augen.

»Du sollst.« Er klang kühl, aber der drängende Unterton war mehr als deutlich.

Und Wastl verschlang ihn. So tief er konnte, sog er ihn in seine Kehle, schmeckte Salz und würzige Männlichkeit und konnte nicht genug kriegen. Er schluckte den Geschmack, tastete mit der Zunge über jede Erhebung, über jeden Millimeter prallen Fleischs.

Ja, er war so versunken darin, dass er erst merkte, wie lange er an Adrian gesaugt hatte, als seine Zunge zu schmerzen begann. Unwillig öffnete er die Augen. Adrian hatte den Kopf in den Nacken gelegt, so, dass er nur sein Kinn erkannte. Mit einer Hand hielt er sich an der Duschstange fest, die andere fuhr durch Wastls Haare. Sie mussten schon ewig lang hier stehen, beziehungsweise knien. Wastls Beine schmerzten und er war sicher, dass es Adrian ebenso ging. Trotz des warmen Wassers spürte er die Kälte. Mit einem bedauernden Seufzer ließ er die köstliche Stange aus seinem Mund gleiten.

»Uh.« Er räusperte sich. »Mach ich das richtig? Soll ich irgendwas anders machen?«

Adrian sah auf ihn nieder. Er schaute, als würde er Wastl nur durch Nebel wahrnehmen. »Nein. Nein, das ist gut.« Ein winziges Lächeln, fast scheu. »Das ist verdammt gut. Ich bin nur … Es ist lange her. Ich weiß nicht mehr, wie …«

»Wie man kommt?« Wastl war entsetzt.

»Nein. Wie man … vertraut.« Adrian fuhr sich durch das Gesicht. »Ich schaffe es nicht, den Kopf abzuschalten.«

»Oh. Na, damit hab ich kein Problem.« Wastl grinste zu ihm hoch. »Aber es wird kalt, oder? Sollen wir reingehen?«

Adrian nickte. Das scheue Lächeln war verschwunden, glücklicherweise. Wenn er damit weitergemacht hätte … Es zerrte an Wastls Herz, diese versteckte, tief verborgene Seite, von der er nur Bruchstücke erhaschte.

Wastl erhob sich ächzend. Er stolperte nach vorne, um die Krücken einzusammeln. Zitternd reichte er sie Adrian.

»Danke«, sagte der. Er wirkte ungewöhnlich unentschlossen.

»Ich dachte, du willst bestimmt allein zurück ins Haus gehen.« Wastl rieb sich über die Hosenbeine und merkte, dass er keine anhatte. Ein Kieselstein löste sich von seinem Knie und fiel zu Boden. »Kann ich … also, kann ich es gleich nochmal probieren? Dich zu, äh, zum Kommen zu bringen?«

Adrians Augenbraue wanderte nach oben. »Nochmal? Deine Zunge muss sich anfühlen, als hätte sie einen Marathon hinter sich.«

Tatsächlich merkte Wastl, dass er nuschelte. »Ich hab noch Hände. Und …« Er drehte sich auf und klatschte herausfordernd auf seinen Hintern. Das Geräusch hallte von den Fensterscheiben wider. »Wenn du willst.«

Schweigen. Adrian schaute, als würde er eine Schlacht gegen sich selbst führen. Warum?

»Hast du schon mal einen anderen Mann …« Wastl legte den Kopf schief. Was, wenn Adrian das gar nicht wollte? Was, wenn das hier mehr als genug Rumexperimentieren für ihn war?

»Ja. Habe ich.« Adrian setzte sich in Bewegung. Elegant schwang er sich vorwärts. Wastl ging ihm hinterher, als wäre Adrian ein Flöte spielender Rattenfänger und Wastl eine Ratte … Oder eher, als würde sein Knackarsch Wastl so hypnotisieren, dass er ihm willenlos hinterher trottete.

Sie trockneten sich schweigend ab. Das riesige, nach Sommerwiese duftende Handtuch hüllte Wastl fast vollkommen ein. Ihm war eiskalt. Energisch versuchte er, Gefühl in seinen gefrorenen Körper zu rubbeln, doch er zitterte immer stärker. Das fiel selbst Adrian auf, der bisher geistig abwesend gewirkt hatte.

»Komm mit«, befahl er. Wastl hätte sich über den Tonfall beschwert, aber Adrians hypnotischer Hintern entfaltete wieder seine Magie und er dackelte ihm hinterher.

Ins Schlafzimmer. Adrians Schlafzimmer.

Wastl war noch nie hier drin gewesen. Überhaupt hatte er die Wohnung erst heute Morgen wirklich erkundet. Aber das Büro und Adrians Schlafzimmer hatte er ausgelassen. Es war schwarzweiß. Weißer, weicher Teppichboden, weiße Wände und Decken. Ein schwarzes Bett mit glänzend schwarzer Bettwäsche und ein gigantischer nachtschwarzer Schrank, der die gegenüberliegende Wand einnahm, waren die einzigen Möbelstücke. Der erhöhte Kontrast passte zu Adrian. Nur lag hier nichts rum, gar nichts Persönliches. Nicht mal sein Pyjama, sein Handy, ein Buch oder … irgendwas.

Adrian setzte sich auf das Bett, ließ die Krücken zu Boden fallen und warf die Decke zurück. Auffordernd sah er Wastl an. Der zögerte einen Moment lang. Und in diesem Moment sah er etwas gänzlich Unbekanntes über Adrians Züge huschen. Unsicherheit.

Denkt er, ich will nicht zu ihm ins Bett kriechen? Ich will nichts mehr. Nur …

Nur fühlte es sich fast zu intim an. Hoffentlich würde Adrian nicht denken, dass Wastl … na, dass er in ihn verschossen war wie ein Schuljunge. Wastl überquerte die weiße Wüste und kroch neben Adrian auf die Matratze. Er versuchte, sich locker und gelassen an ihn zu schmiegen. Wie einer, der schon tausend One-Night-Stands gehabt hatte und für den das hier nur eine weitere kleine Liebelei war. Eine Sekunde später hatte er Arme und Beine um Adrians Körper geschlungen und erdrückte ihn fast.

»Kalt«, murmelte er gegen Adrians Kehlkopf. »Scheißkalt.«

»Ja, das bist du.« Er hörte das Schaudern in der Stimme. »Das fühlt sich an, als würde ich einen Schneemann umarmen.«

»Kannst es ja lassen«, grummelte Wastl.

»Ich bin schuld, dass du zum Schneemann mutiert bist«, sagte Adrian. Sein Atem strich über Wastls Kopfhaut. »Ich sollte dich wieder wärmen, oder?«

»Ja.« Ein Grinsen machte sich auf Wastls Lippen breit. »Und danach solltest du dich von einem Schneemann verwöhnen lassen. Ich hab noch nicht aufgegeben.«

»Das freut mich.« Adrian zögerte. »Du musst das nicht tun, wenn du nicht willst.«

»Oh, ich will. Und wie ich will.« Wastl sah zu ihm hoch. »Ich habe noch nie etwas mehr gewollt, absolut nichts auf der Welt.«

»Wirklich?« Mist, Adrians Kopf schien sich wieder eingeschaltet zu haben. »Macht es dir nichts aus?« Wie um die Frage zu unterstreichen, drückte er ein Knie gegen Wastls Unterschenkel. Er hätte noch einen Fuß am Schienbein spüren müssen, aber da war nichts. Das Narbengewebe schabte über seine Haut.

»Nein, verdammt«, stöhnte Wastl. »Es ist mir wirklich scheißegal.« Er überlegte. »Darf ich dich anfassen?«

»Wenn du willst.« Wenn Adrian nicht aufhörte, so scheu zu gucken, trotz seiner Größe und seiner Männlichkeit, dann … Aber darüber wollte Wastl nicht nachdenken. Seine Hand glitt über Adrians Hüfte, den Oberschenkel entlang, bis er zu dem Stumpf kam. Harte Falten und tiefe Furchen lagen unter Wastls Fingerspitzen.

»Hat es lange gedauert, bis das verheilt ist?«

»Nein.« Adrian klang, als wäre er weit weg. »Nein, nicht lang, in Anbetracht der Tatsache, dass …« Er verstummte.

»In Anbetracht von was?«

Adrian sah ihn nicht an. »Ich träume noch davon. Jede Nacht. Es ist nie weg. Der Unfall ist immer da, als wäre er gerade erst passiert. Aber mein Körper … hat einfach weitergemacht und ist verheilt.«

»Komisches Ding, so ein Körper«, sagte Wastl nachdenklich.

Ein leises Lachen. »Ja. Komisches Ding.« Und dann wirkte Adrian wieder wie Adrian. Auffordernd presste er seine Erektion gegen Wastls. »Hattest du nicht noch was vor?«

Wastl hätte Adrian gern nach dem Unfall gefragt. Aber er verschob es auf später.

17. Ein fauler Samstag

 

Sebastian war nicht nur begabt. Er weigerte sich auch, aufzugeben. So kam es, dass Adrian Ewigkeiten, nachdem sie sich zum ersten Mal geküsst hatten, den Kopf in den Nacken legte und seinen Namen flüsterte. Weiter unten floss warmer Speichel über seine Hoden.

Beharrlich bearbeitete Sebastians Zunge ihn. Wenn sie müde wurde, übernahmen die Hände und streichelten, bis sich die Anspannung Stück für Stück löste. Wie eine Mauer, die langsam Risse bekam, tröpfelte der Orgasmus heran. Zäh und gedrosselt und doch … Als der erste große Riss entstand, als gleißendes Licht hervordrang, fühlte Adrian sich, als würde er mit einem Ruck in die Luft geschleudert. Als würde er schweben. Es reichte noch nicht, aber … Es reichte, um ihn stumm und taub zu machen, um ihm Kehle und Mund zuzuschnüren und ihn alles vergessen zu lassen, was nicht Sebastians Körper war, nicht seine kräftigen Hände, die jetzt wieder an ihm auf- und ab fuhren und nicht der Mund, der sich zu einem frechen Grinsen verzog.

Er hat mich, dachte Adrian. Der kleine Mistkerl hat mich erwischt.

Der blonde Schopf neigte sich vor. Scharfe Zähne schnappten nach Adrians Nippeln. Ein Ruck fuhr durch seinen Körper, aber der Goldjunge hatte nur angetäuscht. Die geschundene Zunge erschien und tupfte um die rosafarben Erhebungen herum, leckte darüber, bis Adrian es spürte, wirklich spürte. Sanfter Strom floss durch seine Nippel direkt in seinen Unterleib. Alles brannte so köstlich, dass er ….

Der Damm brach. Er hatte kaum Zeit, sich über die plötzlich hochkochende Lust zu wundern, da bäumte er sich auch schon auf und brüllte. Wie ein verwundetes Tier. Die Finger in die Laken gekrallt, den Kopf so weit zurückgeworfen, dass er das Ende des Bettes sah, kam er. Im Wirbel des tosenden Sturms nahm er eine hektische Bewegung wahr. Der blonde Schopf ruckte abwärts. Heiße Lippen streiften die spuckende, überempfindliche Eichel. Als Adrian zuckend in die Matratze zurückgesunken war, als er sich in das menschliche Äquivalent einer geschmolzenen Eiskugel in der Sonne verwandelt hatte, hob Sebastian den Kopf aus seinem Schoß. Sein Mund sah aus, als hätte er Vanillesauce geschleckt. Die helle Zunge fuhr hervor und leckte durch den glibberigen Brei.

»Lecker«, schnurrte er. Die Katzenaugen blitzten.

Keuchend sah Adrian zu, wie sein Samen aus Sebastians Gesicht verschwand. Schwerfällig richtete er sich auf, packte in die blonden Haare und verschloss den immer noch nassen Mund mit einem Kuss.

»Wow.« Sebastians Miene leuchtete verträumt, als er sich von ihm löste. »War ich … War das so gut?«

»Akzeptabel«, log Adrian und bekam ein Lachen als Antwort.

»Bist du immer so laut?«, fragte Sebastian. Er setzte sich auf die Fersen, wie ein Kind, das auf eine spannende Geschichte lauert.

»Manchmal.« Adrian zögerte.

Du bist so ruhig, hörte er eine Frauenstimme sagen. Bist du gekommen?

Siehst du doch, hörte er sich sagen.

Ja, aber … du hast gar keinen Laut gemacht.

Welche Frauenstimme das war, wusste er nicht. Dieses Gespräch hatte er mehr als einmal geführt. Er hatte es sich immer damit erklärt, dass er im Internat aufgewachsen war. Wenn man stets einen Mitbewohner hatte, lernte man, still zu kommen. Er wusste nicht, wie oft er sich nachts befriedigt hatte, die Hände gut unter der Decke verborgen, während er ängstlich auf Max’ Schnarchen gelauscht hatte. Und wie oft er so getan hatte, als schliefe er, obwohl vom anderen Ende des Zimmers leises Keuchen und Stöhnen herübergedrungen war. Stöhnen, das durch Muskeln und Knochen drang und lustvoll in ihn schnitt, als würde sein Unterleib mit kleinen Skalpellen bearbeitet … Er blinzelte und hatte wieder das Landei vor sich. Der lächelte immer noch. Doch Adrians Haut war merklich ausgekühlt.

Nein, dachte er. Er wollte jetzt nicht an Max denken. Daran, dass er nicht verdiente, was hier geschah.

Nein. Er ballte die Hände zu Fäusten. Trotzig hob er das Kinn.

»Soll ich mich revanchieren?« Er schenkte Sebastian einen Blick, der dessen Ohren rötete und seine Augen verschleierte. Erstaunlich, dass das funktionierte.

»Uh, ja, wenn du …« Ein verspanntes Grinsen. »Vorher muss ich aber noch wohin.«

»Schon lange?«

»Du warst halt fast soweit und ich dachte, so lange halte ich noch aus.« Der Adamsapfel zuckte. »Ich beeil mich.«

So, wie er aus dem Zimmer sprintete, hatte Sebastian sehr lange durchgehalten. Adrian ließ sich in die Kissen zurücksinken. Sein Körper schwebte immer noch durch das sanfte Nachglühen. So war er noch nie gekommen. So … Hatte er sich je so gefühlt?

Durfte er sich so fühlen?

Die Bleidecke ging auf ihn nieder, so träge wie unvermittelt. Er konnte nicht entkommen. Sie presste ihn in die Laken und schnürte ihm die Luft ab. Wie Sand, wie mehrere Tonnen Sand, senkte sie sich auf seinen zerstörten Körper.

Mörder, brüllte Eva in seinem Kopf. Bist du jetzt glücklich? Jetzt hast du, was du wolltest …

Er musste sich regen, wenigstens wieder Luft bekommen, aber es ging nicht. Erbärmlich langsam hob er eine Hand und schaffte es doch nicht, die Schwere zu durchstoßen. Schlapp fiel sie zurück in die Laken.

Nein, natürlich verdiente er es nicht. Eva hatte recht: Er war ein Mörder. Er war …

Helle Lichter tanzten hinter seinen Augen.

Luft, dachte er. Ich bekomme keine … Kalter Schweiß benetzte seinen Körper. Das Laken unter ihm klebte an der Haut, klammerte sich an ihn wie ein Leichentuch …

»Das tat gut.« Die Tür knallte gegen die Wand und Sebastian war zurück. »Ups, Tschuldigung, das … Ist alles gut?«

Betroffen sah er Adrian an. Die Bleidecke lüftete sich einen Hauch, gerade genug, um ihn wieder atmen zu lassen. Sehr vorsichtig. Reden konnte er nicht.

»Adrian?« Das Bett bebte. Sebastians hübsches Gesicht erschien über ihm. Mit einem Mal war er stark genug, die Hand zu heben. Gegen tonnenschwere Massen kämpfte er an, um sie an Sebastians Wange zu legen. Unter seinem Daumen war sie weich von der Sauna und in der Handfläche stoppelig und rau.

»Ja, geht schon«, krächzte er.

»Was …«

»Will nicht reden.« Adrian kämpfte sich hoch. Er konnte ihn nicht ansehen, diesen wunderbaren, chaotischen Mann, der ihn eben noch in den Himmel und zurück geschleudert hatte. Lieber auf den Schrank starren, der so schwarz war wie Adrians Seele.

Was hatte er sich dabei gedacht? Warum hatte er geglaubt, sich mit diesem Traummann vergnügen zu dürfen, während Max …

Schneller, du Pussy.

Giftiger Gestank in seiner Nase. Brennendes Gummi, Schreie, der fette, ölige Rauch, der in seinen Körper quoll …

Adrian keuchte. »Sebastian. Geh.« Er holte tief Luft. »Bitte.«

Er hörte nichts. Kein Knarren des Bettes, kein Rascheln der Laken. »Nein.«

Natürlich.

»Ich kann das nicht.« Er wandte sich um und sah Sebastian flehend an. »Bitte versteh mich. Ich kann nicht …«

»Du musst doch gar nichts machen.« Das Landei schaute viel zu verzweifelt, dafür, dass … dass dieser abscheuliche Krüppel einfach nur allein sein wollte. »Du … Wir können nur hier liegen oder … kuscheln oder reden …«

Weder reden noch kuscheln hatte Adrian verdient. Alles, was er verdiente, war die Einsamkeit einer viel zu großen Wohnung und die Geister, die ihm stets über die Schulter schauten. Es war erst zwei Jahre her. Wie konnte er es wagen … Wie konnte er es wagen, weiterzumachen, als wäre es nicht geschehen?

»Ich sollte das nicht tun«, erklärte Adrian.

»Warum denn?« Warum klang der Kerl, als würde Adrian seine Katze am Halsband über einem Abgrund baumeln lassen? »Ich … Red doch mit mir.«

»Ich kann nicht.« Adrian räusperte sich. Ihm war schlecht. Rauch und Öl verstopften seine Lungen. »Es tut mir leid. Du musst das nicht verstehen, aber das hier ist nicht richtig für mich. Du musst jetzt gehen. Nur aus dem Zimmer«, fügte er hastig hinzu. »Du kannst bleiben, bis der Monat rum ist. Nur … wir können uns nicht nahe sein.«

»Aber …« Ein heiseres Schluchzen erklang.

Verwirrt drehte Adrian sich um. Tränen zitterten in Sebastians Wimpern. Die Bleidecke war fort, von einem Moment auf den anderen. Wie weggeweht, obwohl sie Tonnen wog. Adrian beugte sich vor und zog Sebastian in die Arme.

»Hey«, flüsterte er in sein Ohr. »Was ist denn?«

»Ich, also …« Das würgende Geräusch eines gewaltsam unterdrückten Schluchzens. »Ich brauch das grad irgendwie. Ich bin so allein hier.« Die Stirn auf Adrians Schulter fühlte sich so schwer an wie die Bleidecke, aber … gut. Als würde sie dort hingehören. »Tschuldigung, es ist nur … Ich kenn hier keinen. Alle meine Freunde sind in Würzen und ich arbeite nur und hetze von einer Besichtigung zur nächsten und … ich dachte, ich hätte endlich einen Freund gefunden. Also … nicht so einen Freund. Nur einen Kumpel.« Hektisches Lachen.

Klar, Sebastian wollte sich ja die Hörner abstoßen. Das hatte er vorhin noch erzählt. Der war bestimmt nicht auf der Suche nach einer Beziehung.

»Ein Kumpel, mit dem du Schweinereien anstellen kannst, ja?« Adrian sah in die Tiefen der schwarzen Bettdecke. Und auf Sebastians Fuß, der darauf ruhte. Perfekt geformte Zehen hoben sich ab wie weiße Kiesel.

»Wir müssen nichts machen. Nichts im Bett.« Sebastian löste sich von ihm und sah ihn an. Die Tränen waren versiegt und er sah ganz ruhig aus. »Nur reden ist genug. Ich … brauch nur grad jemanden zum Reden. Wenn es dir nichts ausmacht.«

Sebastian brauchte ihn? Das war … Nun, das war eine Neuigkeit. Bisher war er davon ausgegangen, dass niemand ihn brauchte und die Welt hatte sich nicht gerade ins Zeug gelegt, um ihm das Gegenteil zu beweisen.

»Wir können gern reden«, hörte er sich sagen. »Und ich habe auch nichts gegen eine Affäre. Du musst nur wissen, dass …« Er zögerte. Aber Sebastian brauchte ihn. Er konnte doch eine ganz kurze Bußpause einlegen, wenn dieser nette Kerl, der niemandem etwas getan hatte, ihn brauchte, oder? Wer sollte ihm denn sonst helfen?

»Was muss ich wissen?«

Adrian straffte sich. »Wenn du ausziehst, ist es vorbei. Du musst das nicht verstehen, aber … Ich muss so weitermachen wie vorher. Bevor du hier reingeplatzt bist. Das ist wichtig. Selbst wenn du es nicht verstehst, glaub mir bitte.«

»Krass, du hast bitte gesagt.« Ein winziges Lächeln. Zähne blitzten. »Ich glaube dir.« Es klang richtig feierlich. »Und ich werd dich nichts fragen. Nur … lauf nicht vor mir weg. Dann lauf ich dir auch nicht hinterher. Okay?«

»Okay.« Adrian nickte. Er fühlte sich, als wäre er einen Marathon gelaufen, barfuß über glühende Lava.

»Soll ich kochen?« Sebastian richtete sich auf. »Es ist fast Zeit fürs Abendessen.«

»Wir bestellen was«, sagte Adrian. »Wenn dir das passt.«

»Es passt mir super.« Zähne gruben sich in die pralle Unterlippe. Adrian seufzte leise. Er wusste selbst, dass er sich etwas vormachte. Doch er konnte nicht anders. Sanft, aber bestimmt, nahm er Sebastians linke Hand und stülpte die Lippen über den Daumen. Er hörte ein überraschtes Keuchen und vergaß die Welt.

 

Stunden später saßen sie auf dem zerwühlten Bett und aßen indisches Essen aus Styroporschachteln. Es schmeckte. Erstaunlicherweise schmeckte es Adrian fast so gut wie Sebastians verbranntes, verkochtes Essen. Das hätte ihn nicht verwundern sollen, aber das tat es. Und es machte ihm ein wenig Angst.

18. Psychisch einwandfrei

 

Adrian hat mir einen geblasen, dachte Wastl und starrte auf das Klingelschild, auf dem »Nordmeyer/Plötsch« stand. Er hat meinen Schwanz, der gerade sicher in meiner Hose schlummert, in den Mund genommen und …

Schlummern war allerdings nicht das richtige Wort dafür. Er steckte die Hände in die Jackentaschen und zog sie so weit herunter, dass der Stoff die Beule in seiner Hose verbarg.

Abregen. Ruhig werden. Du schaust dir jetzt eine WG an und wirkst nett und normal. Nicht wie ein dauergeiler Lustmolch.

Obwohl es sich nicht abstreiten ließ, dass er es war. Er war gestern über Adrian hergefallen wie eine Ein-Mann-Heuschreckenplage. Gut, der hatte sich nicht beschwert, aber … Ein wenig belustigt hatte er schon gewirkt, als Wastl ihn heute Morgen mit der Frage geweckt hatte, ob es endlich weiterginge. Adrian hatte anbetungswürdig verschlafen geschaut, die Haare verwuschelt und in alle Richtungen abstehend. Wastl seufzte leise, als er daran dachte. Sein Magen ziepte wohlig.

Er war so nett. Viel freundlicher als sonst. Verdammt, er hatte sich sogar entschuldigt!

»Stehst du da noch länger rum?«, fragte jemand hinter ihm.

Wastl drehte sich um. »He, dich kenne ich doch.«

»Ach, der Schönling!« Ein schräges Lachen. Es war der Rothaarige, den Wastl schon auf mehr als einer Besichtigung getroffen hatte. Unter anderem der, auf der er Prinzessin Butterfliege entführt hatte. »Bist du auch noch auf der Suche?«

»Ja, leider.« Wastl streckte die Hand aus. »Ich bin der Wastl.«

Der Rothaarige schien einen Moment lang zu überlegen, ob er einem Konkurrenten die Hand reichen wollte. Dann schlug er ein. »Yves. Nein, ich bin kein Franzose. Meine Mutter steht auf solche Namen. Und das ist meine 83. Wohnungsbesichtigung.«

»Nicht schlecht.« Wastl grinste. »Das ist meine 97. Meinst du, man kriegt einen Preis, wenn man die 100 erreicht hat?«

»Den Stadtschlüssel.« Yves verzog das Gesicht. »Bestimmt.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass es so schwer wird«, gab Wastl zu. »Anstrengend schon, aber das … Ich komm mir vor wie ein Bettler.«

»Ja.« Yves seufzte. »Na, egal. Wollen wir?«

Wastl nickte. Sie klingelten und dackelten den sauberen, leicht nach Katzenstreu riechenden Flur hoch. Die Wohnung war im 6. Stock, aber es gab einen Aufzug.

»Ganz nett«, flüsterte Wastl Yves zu. Die Wohnungstür war mit schneebedeckten Plastik-Tannenzweigen geschmückt. Ziemlich früh. Der Advent fing doch erst in ein paar Tagen an.

Die Tür ging auf und ein akkurat geföhnter Mann mit blitzblanker Brille stand vor ihnen. In den Händen hielt er ein Klemmbrett.

Er schwieg.

»Hallo«, sagten Wastl und Yves gleichzeitig und sahen sich verdutzt an.

Der Mann mit der Brille schwieg weiter. Er ging auch nicht zur Seite, um sie hereinzulassen.

»Wir sind wegen der Wohnungsbesichtigung hier«, erklärte Wastl.

Der Mann schwieg weiter.

»Es gibt eine Wohnungsbesichtigung, oder?« Wastl lächelte, weil ihm nichts Besseres einfiel. »Also, ich meine …«

»Schwach ausgeprägtes Selbstbewusstsein«, murmelte der Mann und notierte sich etwas auf seinem Klemmbrett. Erst dann richtete er das Wort an sie. »Ich bin Geralt. Kommt rein. Die anderen sind schon da.«

»Die anderen?«, fragte Yves. Natürlich gab es andere.

»Ja.« Geralt stellte sich schräg, um sie vorbeizulassen. »Wir werden heute alle testen und uns heute Abend für einen Mitbewohner oder eine Mitbewohnerin entscheiden. Effizienz ist uns wichtig. Wir wollen euch nicht so lange warten lassen.«

»Das ist nett von euch«, sagte Wastl. Komischer Typ.

Aber die Wohnung war ein Traum. Zumindest hatte Wastl mal einen Traum gehabt, in dem alles weiß gewesen war, so wie hier. Alle Regale, Schränke, Vorhänge, Wände, Decken und Bodendielen waren weiß. Er war froh, ein paar Kochbücher zu entdecken, die Farbe in die Küche brachten. Konnte man in einer Wohnung schneeblind werden?

»Hallo!«, schallte es ihnen entgegen. Fünf freundliche Gesichter und ein neutrales blickten sie vom Küchentisch aus an. Der Küchentisch war weiß.

»Hallo!« Wastl und Yves winkten in die Runde und setzten sich. Die Frau, neben der Wastl sich niederließ, machte extra Platz und stelle sich als »Matilda« vor.

»Schön, dass du auch hier bist.« Sie lächelte.

Das hörte Wastl selten, zumindest nicht auf Wohnungsbesichtigungen. Freude keimte in ihm auf. Nett hier. Sehr nett.

Zu nett. Irgendetwas stimmt nicht, flüsterte jemand in seinem Gehirn. Klang wie Adrian, die alte, sexy Miesmuschel.

»Da wir nun alle da sind, können wir uns auch vorstellen«, sagte die Frau, zu der das neutrale Gesicht gehörte. Sie winkte Geralt, der sich mit seinem Klemmbrett neben sie setzte und den Stift schreibbereit hob. »Ich bin Luisa. Geralt und ich wohnen seit drei Jahren hier und wie ihr sehen könnt, sind wir äußerst ordentliche Menschen. Wir suchen jemanden, der zu uns passt. Jemanden, der einen einwandfreien Charakter hat.«

Geralt nickte. »Schufa-Auskünfte, Kautionen und Bürgschaften sind uns egal.«

Wastl sah das gleiche Leuchten in Yves’ Gesicht, das auch er spürte.

»Sie sagen nicht genug über einen Menschen aus. Daher haben wir ein genaueres System erarbeitet.«

»Was für ein System denn?«, fragte Wastl. Er sah, wie Geralt etwas auf das Klemmbrett kritzelte und fühlte sich, als würde er getestet.

»Der erste Teil ist ein Fragebogen, aufgrund dessen wir ein psychologisches Gutachten erstellen werden. Hauptsächlich, um Soziopathie auszuschließen. Unser alter Mitbewohner war ein schwerer Fall.« Geralt seufzte. »Das habe ich den anderen schon erklärt und sie sind alle einverstanden damit, den Test zu machen.«

»Ja, dann …« Wastl wunderte sich immer wieder über diese Stadtmenschen. »Dann mache ich auch mit, schätze ich.«

»Ich auch.«

Geralt kritzelte erneut und murmelte etwas, das wie »Mitläufer« klang. Frechheit.

»Dann stellt euch bitte alle vor.«

Es ging reihum und jeder potenzielle Mitbewohner war fabelhafter als der nächste. Alle berichteten von Auslandssemestern, Freiwilligen Sozialen Jahren und ehrenamtlichen Projekten. Nur Wastl hatte in der Hinsicht wenig zu bieten.

»Ehrenamtlich … Also, ich komm vom Land.« Er räusperte sich. »Da helfen sich eh alle gegenseitig. Ich hab dem Edi und der Agnes immer bei der Apfelernte geholfen. Und dann im Herbst bei der Weinlese, da haben eh alle angepackt. Als meine Mutter krank wurde, haben die Nachbarinnen mich abwechselnd abgelöst, damit ich zur Ausbildung gehen konnte … Ach ja, die Mama hab ich gepflegt. Zählt das als ehrenamtliche Arbeit?«

»Interessant«, sagte Luisa und rückte ihre Brille zurecht. Wastl fiel auf, dass die Gläser ihre Augen weder vergrößerten noch verkleinerten. War das überhaupt eine echte Brille? Oder hatte sie die nur, um ernsthafter auszusehen? »Du bist also vom Land, ja? Wie stehst du zu Protestanten und Homosexuellen?«

»Äh.« Wastl zögerte. »Also ich kenn zwei Protestanten. Der eine ist in Ordnung, der andere ein Affenarsch. Und homosexuell bin ich selber, also … gut?« Er überlegte. »Oder schlecht, je nachdem, wie der Tag so war.«

Sie verzog keine Miene. »Wie war es, mit deiner sexuellen Orientierung in der Provinz aufzuwachsen?«

Das geht euch doch einen Scheiß an, dachte Wastl. Wir sind auf einer Wohnungsbesichtigung, nicht beim Psychoarzt. Er spürte die Blicke der anderen. Und den Schweißfilm unter seinen Achseln.

»Okay, schätze ich. Na, perfekt nicht, deshalb bin ich ja hier. Ich hab hier mehr … Möglichkeiten.«

»Möglichkeiten?«

»Na, ich will …« Er dachte daran, was er Adrian erzählt hatte. Aber das konnte er doch hier nicht hinaustrompeten, oder? Er fragte sich, wie Geralt und Luisa reagieren würden, wenn er ihnen von all den Männern erzählen würde, die er pimpern wollte. »Äh, ich will die ganze Bandbreite der queeren Kultur erleben«, behauptete er. »Auf dem Land gibt es sowas ja … weniger.«

Luisa nickte wohlwollend. Aus Geralts Gesichtsausdruck wurde er nicht schlau.

Die Runde ging weiter. Yves erzählte von seiner Leidenschaft für Formel Eins-Rennen, brach aber ab, als er die verständnislosen Blicke der anderen bemerkte.

»Putzen tu ich auch gern«, schloss er seine Vorstellung und räusperte sich.

»Wunderbar. Dann haben wir ja alle durch.« Luisa nickte Geralt zu. »Kommen wir zum Test. Karlo, was fällt dir zu folgender Farbe ein: grün?«

»Eine Wiese«, sagte der, nach einem Moment des Zögerns. »Ja, eine Wiese. Ich denke an die Natur und den Frieden, den ich spüre, wenn ich da draußen bin, weit weg von all dem Alltagsstress und den Verpflichtungen …«

Ein Bild blitzte in Wastls Kopf auf. Eine Traumvorstellung, in der er mit Adrian auf einer saftig grünen Wiese lag, umgeben von hohen Gräsern und dem Gluckern des kleinen Baches, der hinter der alten Holheimer-Mühle verlief … Natürlich waren sie nackt. Adrian stützte das Kinn in eine Hand und lächelte ihn verführerisch an. Mit der anderen Hand pflückte er ein Gänseblümchen und fuhr damit über Wastls Bauch und tiefer …

»Wastl.«

»Was, äh … ja?«

»Gelb.«

»Nackter Adrian, ich meine … Eiterpickel, äh, Kuhpisse … Banane?«

Geralt kritzelte und Wastl war ziemlich sicher, dass er versagt hatte.

Konzentrier dich, du Pfeife. Banane ist viel zu schwanzförmig. Bestimmt haben die jetzt kapiert, dass du ein notgeiler Lustmolch bist und keine Ahnung von Kultur hast. Aber in Tests war er nie sonderlich gut gewesen und dieser machte besonders wenig Spaß.

Es folgte ein freies Gespräch über Aggression und Gewalt, in dem sich alle als Pazifisten in Szene setzten, die auch den brutalsten Gewaltverbrecher für reformierbar hielten.

»Und du, Wastl? Du bist so still?« Geralt sah hinter seinem Klemmbrett hervor. »Unter welchen Umständen würdest du auf Gewalt zurückgreifen?«

Er zögerte. »Nie? Ich meine, es sei denn, jemand … Na, also als der Lusenberger Toni mir damals meinen Feuerwehrmann-Manni wegnehmen wollte, hab ich ihm schon eine gezimmert. Aber da war ich sechs. Oh, und als der Roger die Nina angefasst hat, da hab ich den gepackt und …« Er überlegte, ob der den Satz mit »eindringlich mit ihm geredet« beenden konnte, aber er gab auf. »Ja, zur Hölle, manche Leute haben’s einfach verdient, was aufs Maul zu kriegen. Nicht zu viel, nur … Sonst lernen die’s doch nicht.«

Schockiertes Schweigen.

Das war’s, dachte Wastl. Was für eine seltsame Art, den Mittag zu verbringen.

»Guuut«, sagte Luisa gedehnt. »Dann bitten wir euch jetzt noch, die Urinproben abzugeben und danach folgen die Einzelgespräche. Die Becher stehen im Bad bereit. Bitte verseht jeden mit eurem Namen. Schreibt deutlich, damit es nicht zu Verwechslungen kommt.«

»Die Urinproben?!« Wastl sprang auf. »Was ist das denn für ein Scheiß?«

»Nur Urin, kein Scheiß.« Luisa kicherte hinter vorgehaltener Hand. Die anderen fielen, nach einer Schrecksekunde, ein. Nur Yves schaute genau so entsetzt drein wie Wastl.

»Das mach ich nicht«, sagte er. »Was wollt ihr denn damit?«

»Ja, genau.« Wastl blickte die beiden empört an. Die verzogen keine Miene.

»Habt ihr Angst vor dem Drogentest?« Luisa legte den Kopf schief. Geralt kritzelte auf sein Brett ein. Und Wastl hatte genug.

»Ihr spinnt ja«, raunzte er höflich und stand auf. »Ich hab keine Lust mehr, mich aushorchen zu lassen und … und das ist einfach entwürdigend.«

»Genau«, knurrte Yves und öffnete die Küchentür. »Nach dir.«

»Danke«, sagte Wastl. Gemeinsam verließen sie die Wohnung.

»Mir reicht’s mit diesen Scheiß-Besichtigungen!«, brüllte Yves, kaum, dass sie auf der Straße standen. »Für immer! Ich ziehe unter die nächste Brücke, wenn das so weitergeht!«

Wastl brüllte nicht, sondern trat gegen die nächstbeste Mülltonne. Da sie leer war, kippte sie sofort um. Schuldbewusst stellte er sie wieder auf.

»Magst du was trinken gehen?«, fragte Yves. »Ich könnt ein Bier vertragen. Und eins kann ich mir sogar noch leisten.«

»Uh … ich muss noch was machen«, sagte Wastl. »Ist leider wichtig. Morgen vielleicht? Ich würd mich gern mal so richtig über diese Wohnungs-Scheiße auskotzen.«

»Ja, ich auch.« Yves schüttelte den Kopf. »Alles klar. Gib mal deine Nummer.«

Wastl gab sie ihm und bekam Yves’ zurück. Gerade, als er sich fragte, ob das ein Date war und sich schlecht fühlte, weil er so gar keine Lust auf ein Date hatte, grinste Yves.

»Und wenn wir uns ordentlich ausgekotzt haben, schau ich mal, ob ich nicht ein nettes Mädel kennenlerne. Wenn ich einen Schönling wie dich dabei habe, muss ja was anbeißen.«

»Bestimmt.« Wastl wunderte sich, wie erleichtert er war. »Also dann, bis morgen.«

»Bis morgen, Wastl.«

Trotz der blöden Besichtigung klopfte ihm das Herz im Hals, als er zurücklief. Ja, er rannte, obwohl die Bahn genau so schnell gewesen war. Aber dieses komische Gefühl in ihm, das befahl ihm, zu rennen. Das befahl ihm, mit den Füßen so über den kalten Asphalt zu donnern, dass er fast abhob.

19. Ein annehmbares Abendessen

 

Diesmal war das Essen, ganz objektiv betrachtet, gut.

»Langsam hast du den Bogen raus«, sagte Adrian und musterte die Fleischpflanzerl mit Kartoffelsalat. »Das ist zwar provinziell, aber es sieht tatsächlich aus, wie es aussehen sollte.«

»Dein Arsch ist provinziell«, knurrte Sebastian. »Und wart mal ab, wie gut es erst schmeckt.« Er knallte die Schüssel Kartoffelsalat auf die Tischplatte. »So, jetzt wird gefuttert.«

»Mein Arsch ist Spitzenware«, sagte Adrian und griff nach dem Schöpflöffel. »Wie war die Besichtigung?«

Er hatte vorhin schon danach gefragt, aber Sebastian hatte ihn, kaum dass er durch die Tür getreten war, angefallen. Sie hatten sich nackt im Bett gewälzt, bis der Hund ihnen durch schrilles Fiepsen zu verstehen gegeben hatte, dass sie ihn endlich nach draußen lassen sollten. Auch jetzt, Stunden später, leuchteten Sebastians Augen noch. Seine Lippen glänzten, als hätte Adrian sie gerade erst mit der Zunge erkundet. Der Mistkerl sah besser aus als je zuvor.

»Die Besichtigung war der letzte Scheiß.« Wütend spießte er ein Fleischpflanzerl auf. »Die wollten eine Urinprobe, die Freaks. Für einen Drogentest. Hast du sowas schon mal gehört?«

»Nein. Die Wohnung hier habe ich ganz normal gekauft.«

»Das ist nicht normal. Normal ist mieten.«

»In deinen Kreisen vielleicht.« Adrian kostete vorsichtig. Ja, es schmeckte. Sehr gut sogar. »Du wirst wirklich besser. Und die Küche ist auch noch ganz.«

»Ich hatte halt eine gute Lehrerin.« Sebastian zögerte. Nachdenklich warf er dem Hund einen Brocken hin. Das Vieh würde immer neben dem Tisch stehen und ihn anbetteln, wenn er so weitermachte. »Schade, dass ich nie gekocht hab, als sie mir noch helfen konnte. Aber sie wollte das allein machen.« Einen Augenblick lang wirkte er traurig. Dann räusperte er sich hastig. »Also, die Rezepte funktionieren ja. Genau so hat’s bei uns daheim geschmeckt.«

»Hat sie jeden Tag gekocht?«, fragte Adrian. Er versuchte, sich vorzustellen, wie Sebastian aufgewachsen war. Doch alles, was ihm in den Sinn kam, waren Bilder aus alten Heimatfilmen. Die, die er mit seiner Oma geschaut hatte.

»Ja, fast. Sie musste viel arbeiten.« Sebastian lächelte. »Aber immer, wenn ich die Hausaufgaben gemacht hab, hat sie mir gegenüber gesessen und … und Zwiebeln geschnitten und so.« Seine Augen glänzten plötzlich.

Adrian fürchtete einen weiteren Zusammenbruch, doch es kam nichts. Stattdessen lächelte Sebastian und schaufelte Kartoffelsalat in sich hinein.

»Hat deine Mutter gekocht?«, fragte er. »Oder dein Vater?«

»Keiner von beiden.« Adrian betrachtete seinen Teller. »Aber wir haben zusammen gegessen. Es war langweilig. Meine Eltern haben über Erwachsenenkram geredet und ich habe keine Geschwister. Ich war lieber bei meinen Großeltern.«

»Haben die gekocht?«

»Auch nicht. Aber es war lustiger. Wir sind immer in die Wirtschaft, die einer alten Freundin von Oma gehört hat.« Adrian lächelte. »Da war es verdammt laut, aber keiner war so laut wie Opa. Der hat den halben Laden unterhalten.«

Sebastian sah ihn gespannt an und öffnete den Mund, um etwas zu fragen. Doch ein Surren unterbrach ihn. Sein Handy leuchtete neben seiner Hand auf und er wurde blass.

»Wer ist das?«, fragte Adrian.

»Die greisliche WG von heute.« Sebastian schaute das Handy an, als könnte es nach ihm greifen. »Ich geh nicht ran.«

»Natürlich gehst du ran. Ich will die seltsamen Typen hören.«

»Wenn du das so spannend findest … Hey!«

Adrian hatte die grüne Hörertaste gedrückt und direkt danach die Lautsprechertaste.

»Wastl?«, erscholl eine kühle Stimme aus dem Handy. »Hier ist Geralt. Von heute Mittag. Ich rufe wegen des WG-Zimmers an.«

Sebastian verzog den Mund. Eine dunkle Wolke schien sich auf seinen Kopf zu senken. »Du bedauerst sehr, dass du es an einen Mitbewerber vergeben musst, richtig?«

»Das ist noch nicht entschieden.« Der Kerl am anderen Ende der Leitung räusperte sich. »Tatsächlich bist du zur Zeit auf Platz zwei der Rangliste.«

»Was, ich?!« Wastl kippelte bedenklich. Der Hund, der neben seinem Stuhl gelegen hatte, sprang auf und sah ihn fragend an. Die Fledermausohren zuckten. »Warum das denn?«

»Unser Test hat ergeben, dass du der psychisch Stabilste in der Gruppe warst. Und deine Weigerung, den Drogentest zu machen, zeugt von Charakter. Natürlich wirst du trotzdem einen machen müssen, falls du das Zimmer bekommst. Nur, um sicherzugehen. Aber den Farb-Assoziations-Test hast du mit fliegenden Fahnen bestanden.«

»Worum ging’s da überhaupt?« Sebastian starrte auf das Display.

»Reaktionsschnelligkeit. Je länger man für die Antwort braucht, desto wahrscheinlicher ist sie gelogen.«

Sebastian blickte auf und sah Adrian in die Augen. Stumm schüttelten sie den Kopf und dachten vermutlich das Gleiche: So ein Blödsinn.

Das Essen schmeckte nicht mehr. Es verwandelte sich in Pappe, genau wie alles andere, das Adrian in den letzten zwei Jahren gegessen hatte. Aber das konnte nicht sein, oder? Wenn Sebastian kochte, dann schmeckte es. Egal, wie sehr er es versalzte oder …

»Und wer ist die Nummer Eins in der Rangliste?« Sebastian sah ihn an, als ob er die Antwort hätte. Die Katzenaugen schimmerten goldbraun. Adrian schluckte. Schwer. Seine Kehle war zu eng, um die Pappe im Mund hinunterzuwürgen. Wütend auf sich selbst öffnete er die Bierflasche. Die hatte Sebastian besorgt, weil man zu diesem Essen unbedingt ein Helles trinken musste. Es schmeckte kalt und ansonsten nach gar nichts.

»Unsere erste Wahl ist Yves. Du erinnerst dich an ihn? Ihr seid zusammen angekommen. Kennt ihr euch?«

»Nicht wirklich. Den hab ich erst unten getroffen.«

»Ach so.« Ein hörbares Zögern. »Was hältst du von ihm? Hat er irgendetwas gesagt, was dir komisch vorkam?«

»Nah, was denn?« Sebastian schaute verwundert.

Du Trottel, dachte Adrian. Aber er sagte nichts, gab kein Zeichen und blickte auf seinen Teller.

»Etwas, das ihn als Mitbewohner disqualifizieren würde? Wir wollen nur ganz sicher gehen, dass er der Richtige ist.«

Sebastian seufzte. »Nein. Der ist ein netter Typ. Echt in Ordnung, glaub ich.«

Schweigen.

Warum hast du dem Landei nichts gesagt?, dachte Adrian. Warum hast du ihm kein Zeichen gegeben, dass er lügen soll? Der schrammt gerade so knapp daran vorbei, eine Wohnung zu kriegen und … auszuziehen.

Ihm wurde kalt.

»Gratuliere«, sagte die kühle Stimme aus dem Hörer. »Du hast das Zimmer.«

»Wiewas jetzt?« Sebastian blinzelte. Verwirrt sah er Adrian an, als ob der ihm erklären könnte, was los war. Dabei war er genau so überrascht wie Sebastian.

»Das war ein Test. Warte mal.« Die Männerstimme wurde durch eine Frauenstimme ersetzt.

»Wastl? Hier ist Luisa. Der Charaktertest war meine Idee. Und du bist der Einzige, der bestanden hat.«

»Bestanden?« Sebastian legte den Kopf schief.

»Ja. Wir haben das gleiche Gespräch mit Yves geführt, aber er ist durchgefallen. Er hat uns alle möglichen Lügen aufgetischt, um das Zimmer zu bekommen.« Sie klang sehr zufrieden. Adrian hasste sie, plötzlich und endgültig. »Er hat behauptet, dass du jeden Abend stockbesoffen bist und dann nicht mal das Klo findest.«

»Was?!« Das Entsetzen auf Sebastians Gesicht war fast lustig.

»Ja, er meinte, du hättest deinem letzten Mitbewohner in den Schrank gekackt und dass du deshalb eine neue Wohnung brauchst. Außerdem hätte er dich draußen rauchen gesehen, obwohl das doch ein Nichtraucherzimmer ist.«

»Aber ich bin Nichtraucher«, murmelte Sebastian.

»Ja, das wissen wir. Geralt hat eine sehr feine Nase und er konnte keine Rauchspuren an dir feststellen.«

»Ah. So.« Für einen, der endlich eine Wohnung gefunden hatte, wirkte Sebastian ziemlich unglücklich. Er sah Adrian nicht an, ja, er schien seinem Blick sogar aktiv auszuweichen. »Na, wenn das so ist. Danke. Ich freu mich.« Er sah den Hund an. Der bellte.

»War das ein Hund?!« Die Stimme im Hörer klang, als wäre ihr eine Spinne ins Gesicht gefallen. »In deiner Bewerbung stand nichts von einem Hund!«

»Der ist neu«, gab Sebastian zu. Sein Gesichtsausdruck war schwer zu deuten. »Ist das ein Problem?«

»Natürlich! Wir haben alle Bewerber mit Hunden vorher aussortiert! Hundehaare sind mir ein Graus!«

»Die klingt ja wie eine edwardianische Gouvernante«, murmelte Adrian.

»Ja, dann … dann wird das wohl nichts mit dem Zimmer?« War das Hoffnung oder Enttäuschung in Sebastians Stimme?

»Nein. Nein, natürlich nicht!« Ein Räuspern. »Schönen Abend noch.«

Sie war weg. Sebastian runzelte die Stirn.

»Du hättest lügen können«, sagte Adrian. »Behaupten, das wäre der Hund eines Freundes und ihn schnell ins Tierheim geben.«

»Was, Arjen?« Sebastian schaute, als hätte er angeboten, seine Oma zum Schlachter zu schicken. »Den geb ich nicht mehr her.«

»Dir ist schon klar, dass das deine Wohnungssuche noch schwerer macht?«

Sebastian stocherte im Essen herum und schwieg.

»Sebastian?«

»Hör auf, mich so zu nennen, oder ich fall über dich her.« Ein winziges Grinsen. »Und wenn du noch mal an mein Handy gehst … Mann, ich geh doch auch nicht in dein Büro. Das ist einfach unhöflich.«

»Entschuldige. Ich tu’s nie wieder.« Adrian räusperte sich. »Sebastian.«

»Ich hab dich gewarnt.« Das Grinsen wurde breiter. »Du hast drei Minuten, um aufzuessen, dann schleif ich dich ins Schlafzimmer.«

Adrian fühlte sich auf einmal sehr leicht. Und das Essen schmeckte auch wieder.

20. Montag

 

»Blondchen, hast du die Bilanzen vom September fertig?«, rief Vroni. »Es eilt!«

Wastl streifte seinen Rucksack ab und sah sie verwundert an. Hektische Betriebsamkeit herrschte in der sonst so verschlafenen Abteilung. Lackierte Finger klapperten über Tastaturen, Kaffeeduft zog über leuchtende Bildschirme und alle waren schon da, obwohl die Arbeit erst in drei Minuten losging. Was war geschehen …

»Oh, richtig«, sagte er. »Heute bereiten wir die Jahresendabrechnung vor.«

»Ja, du Träumerle.« Adelheid sah auf. »Wo hast du denn dein hübsches Köpfchen … Nein!« Ein dreckiges Grinsen erschien auf ihrem Gesicht. »Mädels, ich glaub, unser Kleiner hat Alfons endlich rangelassen.«

»Waaas?« Die Betriebsamkeit kam zum Erliegen. Köpfe hoben sich hinter Bildschirmen hervor wie Erdmännchen aus ihren Löchern.

»Herzlichen Glückwunsch, Blondchen!« Vroni lachte schallend. »Stimmt, man sieht’s dir an der Nasenspitze an!«

»Und am Hals!« Susanne deutete auf die Knutschflecken. Die Kristalle auf ihren Fingernägeln funkelten im Licht der Leuchtstoffröhren. »Sieht aus, als hätte dich ein Elch angesaugt!«

Frechheit, Adrian als Elch zu bezeichnen. Seine Lippen waren viel schöner und er ging total feinfühlig vor … Na, außer, wenn es ihn überkam. Wastl mochte es, wenn es ihn überkam. Nur wollte er gerade nicht daran denken, was sie gestern Abend getrieben hatten. Das würden diese neugierigen Hennen ihm bestimmt auch noch ansehen.

»Er wird rot!«, gackerte Vroni.

Mist. Wastl sah zu Boden. Mit glühenden Wangen erinnerte er sich an ein Gespräch, das er gestern mit Adrian geführt hatte. Tief unter der Bettdecke, gekuschelt an seinen nackten, verschwitzten, perfekten Körper.

Du hast gesagt, dass ich selbst schuld bin, dass sie mich Blondchen nennen, hatte er sich beschwert.

Das bist du auch. Adrians Stimme war in sein Ohr getropft wie Whisky und Honig. Hör auf, dich zu verteidigen, und greif an. Zeig ihnen, dass du genau so ein Raubtier bist wie die.

Ein Raubtier? Na gut, Vroni hat schon oft Leopardenprints an. Und Susanne trug eine Zebrahandtasche, aber …

Ich soll auch zur Raubhenne werden?, hatte er gefragt und Adrian hatte gelacht. Wunderschön gelacht …

»Woran denkst du jetzt, Blondchen?« Vroni klopfte ihm auf die Schulter. Sie war so nahe, dass er ihr Sandelholzparfüm riechen konnte. Die lila Halbedelsteine auf ihrer Brille blitzten. Tigeraugen hießen die, erinnerte Wastl sich. »Denkst du an den Alfons? Hoffentlich kannst du noch sitzen. Wir haben ’ne Menge Arbeit vor uns.« Ihr Grinsen entblößte einen Goldzahn. »Und jetzt erzähl uns, ob er dich so richtig hergenommen hat.«

»Ja, genau.« Rita klopfte sich auf die Schenkel.

Wastl straffte sich. »Warum interessiert euch das so? Läuft bei euch daheim nichts mehr?« Er sah Vroni direkt in die Augen und spiegelte ihr Grinsen mit seinem. »Ich wette, dein Franz hat dich noch nie so hergenommen wie der Alfons mich«, er zögerte und sah an ihrem giftgrünen Outfit herunter, »Tännchen.«

Oh Gott, dachte er. Das war daneben.

Der kalte Schweiß brach ihm aus. In der Stille hörte man das leise Sirren aus dem Serverraum. Alle starrten ihn an. Dann durchbrach ein heiseres Meckern die Ruhe.

»Da hat er’s dir aber gegeben, Vroni!« Adelheid lachte. »Recht hat er! Wenn der Luis mir nochmal solche Oschis an den Hals zaubern würde wie die da, dann würd ich ihm auch mal wieder seinen Pinsel lecken!«

»Also ICH kann mich nicht beschweren.« Susanne zupfte ihren golddurchwirkten Pulli zurecht. »Was mein Fred noch alles zustande bringt. Das sollt man gar nicht glauben, so wie der’s im Rücken hat. Gestern hat er mich so durchgenommen, dass in der Vitrine drei Teller zu Bruch gegangen sind.«

Lautes Johlen. Rita rief dazwischen, dass ihr Mann immer das Hörgerät rausnehmen musste, weil sie beim Liebesakt so kreischte.

Oh Gott, was hatte er getan?

»Ich hoffe, du bist stolz auf dich, Blondchen«, sagte Vroni hoheitsvoll. »Die wilde Bande krieg ich nie wieder zur Räson. Und die Abrechnung ist äußerst wichtig. Der Frederik will die noch vor Monatsende fertig haben.«

»Du hast doch angefangen.« Wastl hob das Kinn. »Und ich heiße Wastl.«

»Das weiß ich.« Sie wandte den Kopf und schwebte davon wie eine Tanne auf Schienen.

»Gut gemacht, Blondchen.« Adelheid kam herangefahren und klopfte ihm auf den Rücken. »Nicht grad höflich, aber das braucht die Vroni. Der muss man zeigen, wo der Hammer hängt.«

»Nenn mich Wastl«, wiederholte er.

Sie warf ihm einen anerkennenden Blick zu und hob die Kaffeetasse, um ihm zuzuprosten. »Na klar, Wastlchen.«

Er beschloss, das als Sieg zu werten.

Während er den Bilanzbericht vom September öffnete, summte seine Brust vor Glück. Endlich hatte er sich durchgesetzt. Und das alles dank Adrian, der ihm schon wieder geholfen hatte. Es war fast, als … Fast wie mit einem Freund. Wo man abends zusammen aß und tolle Gespräche führte und trommelfellerschütternden Sex hatte. Wie laut der Adrian sein konnte! Da wünschte man sich beinahe, ein Hörgerät zu haben, das man rausnehmen konnte … Obwohl, lieber nicht. Er wollte kein einziges Dezibel verpassen.

Obwohl seine Wangen bestimmt schon wieder glühten, konnte er nicht aufhören, an Adrian zu denken. Wie sich dessen Hände auf seinen Leisten angefühlt hatten … und sein Mund! Und er … Na, er hatte ja gesagt, dass Wastl ihn nichts fragen sollte, aber dann erzählte er ab und zu kleine Geschichten wie die von seinen Großeltern und Wastl hatte das Gefühl, dass er sich ihm öffnete und …

Sei nicht blöd, Wastl, dachte er. Der Adrian will, dass du ausziehst. Der will dich nicht mehr sehen, wenn du einmal gegangen bist. Und … was du dir einbildest. Als ob du ihn so gut kennen würdest. Du weißt ja nicht mal, warum er sich da oben in der Wohnung verschanzt oder wie dieser Unfall passiert ist.

Eigentlich wusste er nicht einmal Adrians Nachnamen. Auf dem Klingelschild stand nichts und am Briefkasten auch nicht. Adrian ließ nie irgendwelche Briefe oder gar sein Portemonnaie herumliegen. Das musste sich alles in dem geheimnisvollen Büro befinden.

Ob die Tür abgeschlossen ist?, dachte Wastl und schämte sich sogleich.

Nein. Adrian wollte nicht, dass er da rein ging, also tat er es auch nicht. Auch wenn er sich die blödesten Sachen ausmalte, die da drin sein konnten. Von mumifizierten Leichen bis Goldbarren. Oder einem heißen Liebesbrief an Wastl. Bestimmt verbrachte Adrian seine ganze Zeit damit, fiebrige Liebesschwüre an ihn zu verfassen. Vielleicht hatte er schon einen ganzen Ordner voll.

Na sicher. Und die Wände hat er mit Bildern von dir tapeziert, die er gemacht hat, als du geschlafen hast. Völliger Blödsinn.

Die Vorstellung hätte gruselig sein müssen, aber er fand sie aufregend. Ja, sie brachte sein Blut zum Pulsieren.

Vor Verwirrung und Erregung kapierte er kaum, was auf dem Bildschirm passierte. Erst, als er sich vorstellte, unter einem eiskalten Wasserfall in den Bergen zu stehen, konnte er sich konzentrieren. Leider.

Zum ersten Mal sah er das Gesamtbild. Wie es der Firma finanziell ging. Schlecht.

Er zögerte. Doch dann machte er sich an die Arbeit. Das war nicht seine Sache. Na ja, schon. Wenn er bald arbeitslos war, weil die Firma pleite ging …

Aber so schlimm sieht’s auch nicht aus, dachte er. Reiß dich zusammen, Wastl.

 

Sein guter Vorsatz reichte bis zum Mittagessen. Da er ausnahmsweise keine Besichtigung hatte, ging er mit den Kolleginnen in ein Brauhaus. Es war laut und voll und er fragte sich, ob Adrian als Junge in so einem Laden gesessen hatte. Ja, vielleicht war es der gleiche, den er mit seinen Großeltern besucht hatte.

Ich sollte aufhören, an ihn zu denken. Wir sind ja nicht … so. Außerdem hab ich ja noch einiges vor, mit all den Männern hier in der Stadt und … und der Adrian wird sich totlachen, wenn er hört, dass ein naives Landei ihn … Also wär ja auch schön blöd, mich gleich in den Ersten, mit dem ich was habe, zu … zu …

Er schluckte. Glücklicherweise knallte ein Teller mit Schweinshaxe vor ihm auf den Tisch.

»Danke«, stotterte er und schenkte der Kellnerin ein verwirrtes Lächeln. Die dirndlige Dame erwiderte es strahlend.

»Uiuiui, die Möglichkeiten, die du hättest, Wastl.« Adelheid sah der Kellnerin nach. »Die hätt dir ja glatt aus der Hand gefressen.«

»Was?« Er hatte das Gefühl, aus einem Traum aufzutauchen.

»Denkst du an den Alfons?« Vroni lachte. »Jetzt schau nicht so, Wastl. Du musst uns nichts verraten.«

Hey, sie hatte ihn Wastl genannt. Schon zwei Mal.

»Guten Appetit«, sagte er entschlossen. Die anderen fielen ein und einen Moment lang herrschte gefräßiges Schweigen. Dann beschwerte Vroni sich über den Zartheitsgrad des Fleisches und Adelheid verteidigte ihn. Wastl beteiligte sich am Gespräch, auch wenn ihm immer wieder Fetzen von gestern in Erinnerung kamen. Und Fetzen von vorgestern. Er musste Kondome kaufen gehen. Bisher hatten sie nicht … Aber Adrian wollte bestimmt, oder? Nun, es schadete nicht, vorbereitet zu sein.

»Du denkst ja auch, der Arsch vom Schönhauser wäre zart und appetitlich«, sagte die Vroni und verdrehte die Augen. »Der ist genau so ungenießbar wie das Fleisch hier.«

»Na, du musst es ja wissen«, zischte die Adelheid.

Vroni blinzelte verwundert, dann lachte sie scheppernd. »Als ob ich den anfassen wollte. Na, wenn’s der alte Chef wäre. Der junge Siebermann war schon eine Nummer …«

Ein Seufzen wehte über den Tisch, in das alle einstimmten.

»Ewig schade«, murmelte die Adelheid. »Und der Verlag würde auch anders laufen, wenn der geblieben wäre. Wisst ihr noch, wie er die Romantasy-Sparte aus dem Boden gestampft hat? Vier Wochen und da war sie. Ein Mann der schnellen Entscheidungen.«

»Geht es der Firma wirklich so schlecht?«, fragte Wastl, obwohl er die Antwort heute gesehen hatte.

»Es ist ein Verlag.« Vroni zuckte mit den Achseln. »Die Leute lesen nicht mehr.«

»Das hättest du dem jungen Siebermann nicht erzählen dürfen.« Adelheid säbelte ein Stück Haxe ab. »Der hätte dir was gehustet. Wer die besten Geschichten hat, macht auch Profit, hat der gesagt. Und recht hat er gehabt.«

»Und wie der recht gehabt hat«, sagte die Rita.

»Von wem redet ihr?«, fragte Wastl.

»Na, vom Enkel vom alten Chef. Vom Gründer. Der hat den Laden damals übernommen, als sein Großvater gestorben ist.«

»Eigentlich hätte der mittlere Siebermann übernehmen sollen«, warf Rita ein. »Aber der war ein Windhund.«

»Der junge Siebermann war auch ein Windhund.« Vroni wedelte hoheitsvoll mit ihrem Salatblatt. »Mit seinem schnellen Auto und den knusprigen Weibern, die er immer dabei hatte.«

»Ja, schon. Aber arbeiten konnte der.« Susanne wandte sich an Wastl. »Wir dachten erst, jetzt geht’s bergab, als sie uns den vor die Nase gesetzt haben. Kaum fertig mit der Uni und dann gleich als Chef einsteigen. Ich meine, wer packt das?«

»Der junge Siebermann hat’s aber gepackt?«, fragte Wastl. Er hatte nicht einmal gewusst, dass die Firma vor kurzem noch von der Familie des Gründers geführt worden war.

»Ja, und wie. Na, ich schätze, der hat von seinem Opa gelernt. Hab ihn ja schon als kleinen Stöpsel hier rumwuseln sehen.«

»Ich hab ihm mal einen Lolli geschenkt«, sagte Vroni.

»Ja, daran hast du ihn auch gleich erinnert, als er sich vorgestellt hat«, sagte Adelheid. »Und dann hast du ihn gefragt, ob er noch einen will.«

»Ja, hätt ich den ernst nehmen sollen? Dieses Bübchen?« Vroni lachte. »Nur, weil der plötzlich in einen Anzug passt und sich Chef nennt.«

»Hattest du keine Angst, dass er dich feuert?«, fragte Wastl schockiert.

»Nah, dafür bin ich zu gut.« Vroni winkte ab. Sie verzog den Mund. »Aber zusammengefaltet hat der mich. Vor der ganzen Mannschaft.«

»Das war brutal.« Susanne schüttelte den Kopf. »Und notwendig.«

»Was weißt du denn, du Vitrinenluder?«

»Ich weiß, dass der junge Siebermann dir Respekt beigebracht hat.« Susanne grinste. »Uns allen. Danach wollte sich keiner mehr mit ihm anlegen.«

»Ach, der war auch charmant, wenn er wollte«, sagte Rita. »Als ich mit dem Knie im Krankenhaus lag, da hat er mir einen Blumenstrauß geschickt. Ein Mordsteil, der konnte sich sehen lassen. Mein Fred hat schön gestaunt, wer mich da so beschenkt.«

»Stimmt, und als wir den Bücherliebling-Preis gewonnen haben, da hat er das halbe Hofbräuhaus gemietet. Freibier für alle. Das waren Zeiten …«

»Hach ja.« Vroni seufzte. »Wenn der Unfall nicht gewesen wär, dann gäb's immer noch Freibier. Na, ich schätze, wenn alles den Bach runtergeht, geh ich in Frührente …«

Kaltes Wasser rann durch Wastls Magen. »Der Unfall? Welcher Unfall?«

»Autounfall.« Adelheid wischte sich den Mund mit der blauweißen Serviette ab. »Vor zwei Jahren hat’s ihn erwischt und dann war nichts mehr mit Chef sein.«

»Warum, ich meine …« Wastl schluckte. »Reden wir von Adrian Siebermann?«

»Ja, dem jungen Siebermann.« Sie nickte. »Der war nicht mehr der Gleiche danach. Hab gehört, sein ganzer Körper ist verbrannt und beide Beine hat er auch verloren. Danach hat ihn keiner mehr gesehen.«

»Ich hab ihn gesehen«, sagte Vroni gedehnt. »Er hat kein Gesicht mehr.«

Leises Schaudern ging durch die Reihe. Nur Wastl starrte Vroni an.

Gar nicht wahr, dachte er. Er hat noch ein Gesicht. Ein wunderschönes.

Das schlechte Gewissen brachte ihn fast um, als er den Mund öffnete. »Was war das für ein Autounfall? Ist ihm wer reingefahren? Oder …«

»Nah.« Vroni winkte ab. »Der ist gerast, wie immer. Direkt in einen Laster rein.«

»Fast wäre er draufgegangen«, sagte Adelheid, an Wastl gewandt. »Aber er hat nochmal Glück gehabt.«

»Aber sein Freund, der hat kein Glück gehabt.« Vroni schüttelte den Kopf. »Den hat er jetzt auf dem Gewissen. Frag mich, wie man weiterlebt, wenn man sowas getan hat.«

Wastl wollte nicht mehr hören. Am ganzen Leib zitternd sah er auf den halb leeren Teller. Aber Vroni sprach weiter.

»Der Freund, der hatte Familie. Eine Frau und zwei kleine Kinder. Ein Mädchen und einen Bub.«

21. Entlarvt

 

Adrian schwang gerade durch New York, als Sebastian die Tür öffnete.

»Oh, cool, Spider-Man.« Das Landei sah auf das gigantische Bild, das der Beamer projizierte. »Wie weit bist du schon?«

»Dreiundzwanzig Prozent«, sagte Adrian und versuchte, so auszusehen, als hätte er nicht den ganzen Tag auf ihn gewartet. »Hab heute Mittag erst angefangen.«

»Kann ich auch mal?« Sebastian sprang neben ihm auf das Sofa. Adrian reichte ihm den Controller. Aber statt weiterzuspielen, sank das Landei in sich zusammen. Kalte Farben strahlten auf seine Wange ab. Er sah knapp an Adrian vorbei. »Ich muss dir was sagen.«

»Ach ja?«, brachte Adrian heraus. Schreckensszenarien rauschten durch sein Gehirn.

Ich habe eine Wohnung gefunden und ziehe morgen aus.

Ich habe jemand Besseren kennengelernt.

Ich ziehe zurück aufs Land. Morgen.

Mir ist klargeworden, dass du ein verkrüppeltes Monster bist.

»Ich … Können wir das ausmachen?« Sebastian sah ihn bittend an. Adrian schaltete den Beamer aus und versuchte, unbeteiligt auszusehen.

»Hat der Hund wieder auf das Parkett gekackt?«, fragte er.

»Nah, ich geh gleich mit dem raus.« Ein winziges Knabbern am Daumennagel. »Ich war heut mit den Kolleginnen essen.«

»Oh nein.« Adrian hob in gespielter Bestürzung die Augenbrauen. »Das ist ja entsetzlich.«

Wastl sah nicht auf. »Und die haben von dir geredet.«

Oh.

»Ich hoffe, sie haben meinen Führungsstil gelobt.«

»Ja, das auch. Die halten echt eine Menge von dir. Echt. Ich wusste nur nicht …« Ein leises Räuspern. »Ich wusste nicht, wer du bist.«

»Ich dachte mir, dass du es früher oder später herausfindest. Selbst ein naives Landei wie du musste irgendwann darauf kommen.«

Sebastian ging nicht auf die Provokation ein. Er nagte weiter an seinem Daumen. Ach, verdammt.

»Sie haben dir von dem Unfall erzählt?« Adrian war selbst erstaunt, wie kalt seine Stimme klang. »Sebastian, mir ist egal, was sie im Verlag über mich reden. Und ich will nicht darüber sprechen.«

»Aber …«

»Nein.« Adrian erhob sich. »Das Thema ist tabu, das weißt du.«

»Aber ich wusste nicht …«

»Wenn du noch ein Wort sagst«, seine Stimme schnitt durch die Luft wie eine Peitsche, »dann ziehst du aus. Heute Abend noch.«

Sebastian starrte ihn an. Sein Kiefer klappte runter. Es schien, als wollte er protestieren, doch dann erhob er sich ebenfalls. Wie ein Schatten wischte er an Adrian vorbei.

»Ich geh mit dem Hund raus.«

Er war weg. Glückliches Bellen erklang aus dem Wohnzimmer. Eine Tür schlug zu. Stille.

Adrian ballte die Fäuste.

Natürlich hat er es herausgefunden, du Idiot. Er arbeitet da unten. Du weißt, wie die sich die Mäuler zerreißen.

Wie es wohl inzwischen dort aussah? Hatte sich viel verändert, seit er gegangen war? Seit er Frederik als Stellvertreter eingesetzt hatte? Der schickte ihm monatlich Berichte, die Adrian nie las. Er hatte sein altes Leben gemocht. Es stand ihm nicht mehr zu. Der Verlag, die Arbeit, das Erbe seines Großvaters … das war Vergangenheit. Musste Vergangenheit bleiben. Und jetzt schleppte dieses verdammte Landei diese Vergangenheit wieder rein, wie ein Kater eine halbtote Maus, glücklich und nicht ahnend, was er damit anrichtete …

Wo war die Katze eigentlich? Adrian hatte sie seit gestern nicht mehr gesehen.

Sie wischte an ihm vorbei durch die Tür, als er das Büro betrat. Wie, zur Hölle? Er scannte den Raum nach Löchern in der Wand, aber da war nichts. Vielleicht war sie heute Morgen mit ihm hereingekommen, ohne, dass er es gemerkt hatte?

Unwichtig. Er atmete tief ein. Er musste sich erinnern. Sebastian, dieser Störenfried, brachte ihn durcheinander. Ließ ihn vergessen, wer er war. Was er war. Was er getan hatte. Sein Blick schweifte über die Bilder, ließ Max’ Lächeln auf sich wirken, doch heute reichte es nicht. Die fröhlichen Szenen wirkten nicht auf ihn wie sonst. War er abgestumpft? Er hatte ein Mittel gegen die Abstumpfung. Mit schwerfälligen Schritten ging er zum Schreibtisch und schlug die Kladde auf. Evas Brief sah ihm entgegen. Er wollte die Augen schließen, aber er riss sie auf und las die Worte.

Es wirkte. Wie Giftpfeile drangen sie in ihn ein. Der Raum wurde kälter, schien sich zu drehen. Galle schoss seine Kehle hoch und er musste die Lippen zusammenpressen, um sich nicht zu übergeben. Gut. Sehr gut. Er stützte die zitternden Hände auf dem Schreibtisch ab und wartete. Die Kälte stieß in seine Knochen, unbarmherzig, bis er das Gefühl hatte, nackt und schutzlos im Regen zu stehen. Gut. Das hier verdiente er. Keinen süßen Hausbesetzer, der Tiere anschleppte, kochte, mit ihm stritt und die Räume mit Leben füllte, wie sie noch nie … Nein, ein Zuhause war das hier nie gewesen. Zumindest hatte es sich nie so angefühlt.

Adrian atmete tief ein und verschloss die Kladde.

Gut, dachte er. Ich bin wieder ich.

Ein Monster, das sich in kalten Zimmern verkroch.

Ein Mörder.

22. Ungeschickte Themenwahl

 

Adrian hatte sich wieder in seine Schale zurückgezogen, wie eine hocherotische Miesmuschel. Schweigend und verbissen kloppte er ein paar Demons und wickelte sie in sein Netz, während Wastl ihm zusah. Als die Mission beendet war, reichte er ihm den Controller.

»Du kannst weiterspielen. Ich hab noch was zu erledigen.« Er erhob sich. Schwerfällig drehte er sich, dann stand er sicher.

»Ich dachte, wir spielen zusammen … Also abwechselnd«, sagte Wastl.

»Tun wir doch.«

»Ja, aber du könntest auch hier sein?« Wastl lächelte. »Mir ist langweilig ohne dich.«

Es war unmöglich, Adrians Miene zu lesen. Der Beamer warf ein grauweißes Spinnennetz auf sein verbranntes Gesicht und ließ ihn noch unwirklicher aussehen. Noch geheimnisvoller. Wastl wurde wieder vor Augen geführt, wie verschieden sie waren. Adrian wirkte wie aus einem Film entsprungen, einem klassischen, düsteren Film mit Burgen, die hoch über der tosenden See aufragten, mit dramatischen Szenen im windgepeitschten Moor, mit ständigen Gewittern … und er selbst kam aus einer blöden Komödie über das Landleben oder so. Was Seichtes. Adrian war das Gegenteil von seicht. Manchmal schien es Wastl, als würde sich alles um ihn herum verdichten, als würde die Luft schwerer, wenn er sie durchquerte. Das hätte deprimierend sein können, aber alles, was es bewirkte, war, dass er Adrian umarmen wollte. So fest er konnte.

»Wie gesagt, ich muss etwas erledigen.«

»Was denn?«

»Das geht dich nichts an.« Adrian hielt kurz vor der Tür an. »Ich muss den Bericht von Frederik lesen. Er hat ihn gerade geschickt.«

Soweit Wastl das mitbekommen hatte, hatte Adrian keine Nachricht bekommen. Konnte natürlich sein, dass der Schönhauser ihm jeden Tag um die gleiche Zeit die Berichte schickte, auch, wenn er das noch nie bemerkt hatte. Egal, darauf hatte er Adrian auch ansprechen wollen.

»Liest du die?« Er ließ den Controller auf das Sofa sinken, sprang über die Rückenlehne und lief Adrian hinterher. »Hast du gesehen, dass die Umsätze im letzten Quartal um 16 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gefallen sind?«

»Was?!« Adrian wirbelte herum. Fast wäre er ins Schwanken gekommen, aber er fing sich sofort. Schade. Wastl hätte ihn gern gefangen. »Warum hat dieser verdammte Frederik …« Der kräftige Kiefer mahlte. Adrians Stirn schien so gespannt, als würde die Haut dort gleich reißen. »Danke für die Information«, sagte er.

»Du liest die Berichte gar nicht«, behauptete Wastl ins Blaue. »Sonst wüsstest du, wie es dem Verlag geht. Oder dieser Schönhauser lügt dich an.«

»Als ob Frederik das machen würde.« Adrian schien zu überlegen. »Aber er hätte mir Bescheid sagen müssen, statt immer nur die Berichte …« Einen Moment lang stand er so aufrecht wie eine Statue, blitzte etwas in seinen Augen, hatte sein Mund einen entschlossenen Zug, der Wastls Knie ganz warm und weich werden ließ. Dann war die Düsternis zurück. Adrian wandte sich ab und ging weiter.

»Adrian! Jetzt bleib stehen! Ich muss wirklich mit dir reden!« Wastl eilte weiter. »Es geht um die Firma! Die von deinem Opa, die kannst du doch nicht einfach …«

»Sag mir nicht, was ich zu tun habe!«, fuhr Adrian ihn an. Wastl wich zurück. Als er sich gefangen hatte, war die Tür schon hinter seinem Vermieter zugeschlagen. »Büro« las er auf dem schlichten Schild, das dort hing. Das berühmte Büro. Was er da drin wohl machte? Bestimmt nicht die Berichte lesen, wenn es ihn so schockiert hatte, wie es der Firma ging. Wastl zögerte einen Moment lang. Er hatte versprochen, keine Fragen zu stellen. Er wollte sich zurückhalten, wirklich. Stattdessen donnerte seine Faust gegen die Tür.

»Adrian!«, brüllte er. »Hör auf, dich zu verkriechen! Ich … Mann, du kannst mir doch sagen, was los ist! Ich tu dir nichts. Ich …« Ups. Die Worte blieben ihm im Hals stecken. Fast hätte er es gesagt. Das, was er nicht mal denken wollte.

Das ist eine Affäre. Ja, das hatte Adrian gesagt. Dass sie eine Affäre haben konnten, aber dass alles beendet sein würde, wenn Wastl auszog.

Mit einem Mal fühlte Wastl sich, als wäre er auch von Düsternis umfangen. Langsam sank er zu Boden. Und Adrian antwortete nicht.

Sein Handy brummte. Leider war es nicht Adrian (der hätte ja nur den Kopf aus der Tür stecken müssen), sondern Yves.

Heute um 7? Holzerbrauerei?, schrieb er.

Wastl starrte darauf. Du mieser Verräter, tippte er. Was hast du Luisa und Geralt über mich erzählt?

Er rechnete damit, nie wieder von Yves zu hören, aber erstaunlicherweise folgte die Antwort nur zwei Minuten später.

Sorry, Mann. Du weißt doch, ich bin verzweifelt. Wie wär's, wenn ich dir ein Bier dafür ausgebe?

Nein.

Zwei Bier?

Wastl zögerte. Klar, Yves war ein Verräter, aber er war schon so lange nicht mehr weg gewesen. Und Adrian … der schien ein bisschen Ruhe zu brauchen. Ruhe vor ihm.

Er schluckte schwer.

Drei Bier, tippte er. Und überlegte. Und, haben sie dir das Zimmer gegeben?

Nope. Angeblich hab ich den Charaktertest nicht bestanden. Weiß aber auch nicht, ob ich mit den Freaks in einer Wohnung sein wollte.

Wastl ging es ebenso. Egal, wie verzweifelt er war, mit Luisa und Geralt hätte er sich nicht wohl gefühlt. Doch hier konnte er nicht bleiben.

»Adrian?« Er klopfte an die Tür. »Ich geh aus. Dann kannst du in Ruhe die Berichte lesen.«

Schweigen.

»Adrian?«

»Ja, schon gut.« Die Stimme klang eiskalt. »Geh ruhig. Ich mach mir selbst was zu essen.«

»Wenn du willst …«

»Geh!«

Das war deutlich. Wastl ignorierte den fiesen kleinen Schmerz in seiner Brust. Sah aus, als wollte Adrian ihn wirklich nicht hier haben.

Um 7, schrieb er Yves. Dann stellte er den Tieren ihr Futter hin, nahm die Jacke vom Haken und verließ die Wohnung.

23. Berichte

 

Wie hatte Frederik es soweit kommen lassen können? Wie hatte er … Adrian holte tief Luft. Die Berichte der letzten zwei Jahre sprachen eine deutliche Sprache. Sie sagten glasklar aus, dass Frederik keine Ahnung hatte, was er tat.

Dabei hatte Adrian geglaubt, dass der Verlag bei ihm in guten Händen sei. Der Mann war zwanzig Jahre älter als er und schon so lange im Geschäft, dass er noch für seinen Großvater gearbeitet hatte. Klar, Frederik hatte ab und zu Sachen versprochen, die er nicht halten konnte. Aber Adrian hatte mit ihm gesprochen und dann hatte es funktioniert … Was sollten diese unmöglichen Ausgaben für Messestände? Für abartig teure Aufbauten? Und die für gleich zwei andere Firmen, die Frederik gekauft hatte und die prompt pleite gegangen waren. Das war Geld, das sie besser in die Bücher gesteckt hätten. Die waren immer schlechter geworden, wie Adrian selbst gemerkt hatte. Nur hatte er geglaubt, dass sich dieser Schund verkaufte. Tat er nicht, wie er schwarz auf weiß sehen konnte.

Er atmete tief ein.

»Nein«, sagte er. »Du hast kein Recht.«

Das war sein altes Leben. Das, was Spaß gemacht hatte und das er nicht länger verdiente. Er sah auf und blickte in Max' lächelndes Gesicht.

Er erinnerte sich an eine andere Fahrt, bei der Max das Gaspedal bis zum Anschlag durchgedrückt hatte, bei dem er so knapp an den anderen Autos vorbeigerauscht war, dass selbst Adrian fast gespuckt hätte.

Ich bin verliebt!, hatte Max gejubelt. Aus sämtlichen Poren hatte das Glück gestrahlt, er war noch schöner, noch unerreichbarer gewesen als sonst. Total verliebt! Weißt du, wie geil das ist, Mann?

Adrian hatte alle Worte, die ihn verraten hätten, hinuntergeschluckt und gelacht. Er hatte Max aufgezogen, wie man das als bester Freund machte, wenn der Kumpel so verschossen war, dass er nicht mehr geradeaus schauen konnte. In ihm war ein Universum zerbrochen. Zersplittert, bis nur noch scharfkantige Scherben übrig waren. Es war leicht gewesen, sich etwas vorzumachen. Zu denken, die Frauen wären Max auch nicht so wichtig, solange er mit keiner zusammen war.

Ja, damals hatte Adrian seine eigenen Gefühle nicht verstanden. Bis zu diesem Moment hatte er geglaubt, dass sie rein freundschaftlich wären. Egal, wie sehr es an ihm nagte, wenn Max mit einer Frau aus dem Club verschwand. Egal, wie sehr seine Haut brannte, wenn Max sie berührte, versehentlich oder im Spaß. Aber in diesem Moment hatte er sich nichts mehr vormachen können.

Und falls er je eine Chance gehabt hatte, war es nun zu spät gewesen. Max und Eva waren ein Traumpaar, eins wie aus den Romanen, die seinen Opa reich gemacht hatten. Der wohlhabende Adelsspross und das arme Mädchen. Na ja, das Mädchen aus der Mittelschicht. Max' Eltern waren trotzdem so entsetzt von seiner Wahl gewesen, dass sie auf einem Ehevertrag bestanden hatten. Nur, damit sie eine Heiratsschwindlerin ausschließen konnten.

Aber es war kein Schwindel gewesen, sondern wahre, echte, hundertprozentige Liebe. Die Art Liebe, die Adrian nie erlebt hatte. Eine Liebe, die einen verrückte Sachen machen ließ wie mit Mitte zwanzig zu heiraten und eine Familie zu gründen.

Ist das nicht zu früh?, hatte er Max gefragt und versucht, die Eifersucht am Überschäumen zu hindern. Ihr seid doch noch jung. Wollt ihr nicht … leben?

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739469690
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Oktober)
Schlagworte
schwule romantik boys love fantasy Sammelband yaoi gay romance liebesroman Fantasy Humor Urban Fantasy

Autor

  • Regina Mars (Autor:in)

In einer magischen Vollmondnacht paarten sich ein Einhorn und ein Regenbogen und zeugten Regina Mars. Geboren, um Kaffee zu trinken, lebt sie im Süden Deutschlands und erfreut die Welt mit ihren poetischen Romanen, in denen die Liebe stets gewinnt und Witze so dumm, albern und fragwürdig sein dürfen, wie sie wollen.
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Titel: Regina Mars Collection 5