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Mord für jede Jahreszeit

Krimi-Anthologie

von Angelika Lauriel (Autor:in)
80 Seiten

Zusammenfassung

Kleine literarische Morde erhöhen die Lebensqualität. Krimihäppchen für jede Jahreszeit erfreuen die Leser und Leserinnen mit unterhaltsamen Gemeinheiten, und am Ende (oder Anfang) steht immer ein Mord. Gern dürfen die Hintergründe vielschichtig, die Verdächtigen am Ende unschuldig sein - oder doch nicht? Manchmal ist sich selbst ein Kommissar bis zum Schluss nicht ganz sicher, ob er den Richtigen hat. Einige der Kurzgeschichten wurden bereits im UB Verlag veröffentlicht. Fünf Mal Mord, einen für jede Jahreszeit und den fünften für die Tage »zwischen den Jahren«. Von der Autorin von »Bei Tränen Mord«, »Der Tod steht mir nicht« und »Tote Frauen lügen nicht«.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Mord für jede Jahreszeit

Krimi-Anthologie

von Angelika Lauriel

Impressum

Texte © Copyright 2019 by Angelika Lauriel
angelikalauriel@gmx.de

Ludwigstraße 5, 66265 Heusweiler

https://www.angelikalauriel.de/

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Sarah Buhr / www.covermanufaktur.de unter Verwendung von Bildmaterial von Pavel Chagochkin; Romolo Tavani / Shutterstock

Lektorat/Korrektorat: Dorothea Stiller

Satz: Angelika Lauriel

Das Werk darf – auch auszugsweise – nur mit Genehmigung der Urheberin wiedergegeben werden. Dies schließt Lesungen mit ein.

Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig

ISBN der Taschenbuchausgabe: 978-3-75041-818-9

Über dieses E-Book:

Kleine literarische Morde erhöhen die Lebensqualität. Seit Angelika Lauriel ihre erste Krimikurzgeschichte geschrieben hat, ist sie von der Wahrheit dieses Satzes überzeugt. Dabei geht es ihr nicht um Gemetzel oder Brutalität, sondern um die Beweggründe, die Menschen zu Morden aus Rache, im Effekt oder als Job veranlassen. Gern dürfen die Hintergründe vielschichtig, die Verdächtigten am Ende unschuldig sein (oder doch nicht?) Und manchmal ist selbst ein Kommissar sich nicht ganz sicher, ob er den Richtigen hat.

Die Frühling-, Sommer-, Herbst- und Winterkrimis wurden bereits in Krimianthologien des Ulrich Burger Verlags abgedruckt (Liste im Anhang). Für die Neuauflage in dieser Anthologie wurden sie überarbeitet.

Über die Autorin:

Angelika Lauriel schreibt Bücher für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in den Genres Krimi, Beziehungsroman, unterhaltender Familienroman und Fantasy für verschiedene Verlage sowie im Selbstverlag. Unter ihrem zweiten Pseudonym Laura Albers finden ihre geneigten Leser und Leserinnen berührende Liebesromane.

Im Alltagsleben arbeitet die Autorin in Teilzeit als Förderlehrerin für Deutsch als Zweitsprache und ist Mutter einer fünfköpfigen Familie. Ihre Heimat ist das Saarland. Viele, aber nicht alle ihrer Romane spielen dort.

Frühling: Dem Vergessen anheimgegeben

Hugo verließ das Treppenhaus und zog die Haustür hinter sich zu. Dieses Mal brauchte er nicht weit zu gehen, um seinen Job zu tun, nur zwei Blocks bis zum Park. Er hatte ausnahmsweise um Bedenkzeit gebeten, bevor er diesen Auftrag annahm. So nahe bei seiner Wohnung? Doch dann hatte Elsa ihn vorwurfsvoll angesehen und demonstrativ die Kühlschranktür geöffnet: In der gähnenden Leere gammelte lediglich eine Paprika vor sich hin.

An diesem Morgen ging er gemächlich die Straße entlang. Wie immer war er früh dran und brauchte sich nicht zu beeilen. In Gedanken versunken registrierte er die Strahlen der aufgehenden Frühlingssonne, die zwischen den hohen Häusern hindurch eckige Muster auf die Straße zeichneten. Seit wann war ihm sein Beruf so zuwider? Wie lange versuchte er schon, neue Aufträge abzuschmettern? Er kickte eine Coladose in den Rinnstein und beobachtete, wie ein Rest der braunen Flüssigkeit heraustropfte. Dann straffte er die Schultern. Es nützte nichts, den Moment hinauszögern zu wollen. Sein Auftraggeber hatte sich nicht abwimmeln lassen. Er hatte ihm geschmeichelt: Hugo habe in all den Jahren immer saubere und verlässliche Arbeit abgeliefert. Elsas vorwurfsvolle Blicke hatten ihres dazu beigetragen. Hugo schnaubte, während er seinen Schritt beschleunigte. Er blendete die vorbeifahrenden Autos und die wenigen Passanten aus, fixierte sich nur noch auf sein Ziel. Der Eingang zum Park war bereits zu sehen. Nichts anderes nahm er mehr wahr, nur die schmiedeeiserne, offenstehende Tür.

Wenig später hatte er die Zielperson gesichtet. Groß, rothaarig mit ein paar silbernen Strähnen, sportlich. Der Mann sah genauso aus wie auf dem Foto. Die blasse Haut wies darauf hin, dass er den größten Teil seiner Zeit in einem Büro verbrachte. Selbst sein morgendlicher Sport im Freien konnte nichts dagegen ausrichten. Mit routiniert wirkenden Bewegungen joggte er Hugo auf dem Pfad entgegen. Ein kurzer Blick genügte, um sich zu vergewissern, dass niemand sonst unterwegs war. Hugo blieb am Rand des Pfads zwischen den Bäumen stehen und wartete. Der Rothaarige, Kopfhörer in den Ohren, sah flüchtig über ihn hinweg – desinteressiert, mit den Gedanken woanders. Hugo drehte sich leicht zur Seite, als habe er zwischen den Bäumen etwas gehört, das sein Interesse weckte. Er konnte bereits den Schweiß und das Deo des Joggers riechen. Dann war er heran. Hugo griff von hinten mit beiden Händen nach dem großen Mann – nur eine Sekunde bestürmte ihn der Gedanke, dass er einen Fehler machte. Mit bloßen Händen?

Der Läufer strauchelte und fiel in Hugos Arme. Es war ein Kinderspiel, ihn rasch zwischen die Bäume zu ziehen.

Hugo stieß ihn auf den Boden und drückte ihn mit dem Knie und einer Hand auf den weichen Grund. Der Mann war noch zu überrascht, er wehrte sich nicht.

Und jetzt? Hugo zögerte, plötzlich nicht mehr wissend, was er von dem Fremden wollte. Er zog die Hand von seiner Hosentasche weg – hatte er nach etwas greifen wollen? – und hob sie, wollte die zweite Hand vom Schlüsselbein des Menschen lösen, der unter ihm lag und ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Jetzt stieß er einen Ton aus, der Hugo durch Mark und Bein fuhr und ihn instinktiv zudrücken ließ. Die Beine und Arme des Fremden fuchtelten und stießen nach Hugo im Versuch, ihn abzuwehren, sein Gesicht verzerrte sich vor Anstrengung. Aber mochte er auch gealtert sein – schwach war Hugo nicht.

Mit der freien Hand verpasste er seinem Opfer einen gezielten Faustschlag an die Schläfe, sodass dieser plötzlich erschlaffte, seine angewinkelten Beine nach außen fielen und die Arme, mit denen er nach Hugos Oberkörper gegriffen hatte, abglitten wie Gummiattrappen. Das von hellen Sommersprossen übersäte Gesicht wirkte plötzlich entspannt und friedlich. Der Mann hatte die Lippen leicht geöffnet, und als Hugo seine Gesichtszüge jetzt genauer betrachtete, konnte er rote Wimpern und Augenbrauen erkennen.

Hatte er nicht schon einmal einen rothaarigen Menschen getötet? Er ließ die Gedanken schweifen. Richtig, da war dieses Mädchen gewesen. Sie hatte die Wimpern mit schwarzer Tusche übermalt, aber als sie leblos vor ihm lag, hatte er die roten Ansätze in der hellen Haut genau gesehen. Hugo setzte sich auf den Waldboden neben den schlafenden Läufer und dachte angestrengt nach. Wie hatte die Kleine damals geheißen? In seinem Magen sammelte sich Säure. Diese latente Übelkeit war ihm inzwischen vertraut, auch wenn er ihre Ursache nicht verstand. Besonders heftig wurde es nur in bestimmten Momenten, so wie jetzt.

Das rothaarige Mädchen, fast noch ein Kind. Wie war ihr Namen gewesen? Er wusste, wenn der ihm einfiel, würde die Übelkeit nachlassen. Der Mann neben ihm erinnerte ihn an das Mädchen. Er sah auf den zweiten Blick älter aus als zuvor; zwischen die roten Brauenhärchen hatten sich vereinzelte silberne gemischt. Sie wirkten widerspenstig, länger als die anderen und gebogen. Unwillkürlich fasste Hugo an seine eigenen Brauen, um sie zu glätten. Sie hatten auch diese Tendenz, immer buschiger zu werden. Doch in den Gesichtszügen des Mannes entdeckte er eine Linie, einen Schwung der Wange, der ihn das junge Mädchen von damals wieder genau vor Augen sehen ließ. Wie hatte sie geheißen? Warum hatte er sie töten sollen – so ein junges Ding?

Verdammt, er konnte sich nicht erinnern. Vielleicht, wenn er all die anderen Namen der Menschen durchging, denen er einen Platz auf dem Friedhof verschafft hatte?

Der Mann neben ihm rührte sich, stöhnte leise, dann blieb er ruhig liegen.

Konnte er sich wirklich und wahrhaftig an keinen einzigen Namen erinnern? Hugo ließ die Gesichter vor seinem inneren Auge Revue passieren. Viele waren es. Sie hatten ihm und Elsa einen einigermaßen guten Lebensstandard gesichert. Und niemals war er aufgeflogen. Niemand wusste das von ihm.

Die Übelkeit breitete sich aus. Er drückte eine Hand auf den Magen, um ihr Einhalt zu gebieten.

Dass ihm die Namen nicht einfielen! Er konnte sich noch so sehr anstrengen, da war nichts.

Plötzlich spürte er eine Berührung an seinem Oberschenkel, dann legte sich eine Hand auf sein Bein. Er wandte sich dem Mann zu, der neben ihm lag und ihn von unten herauf ansah. Er wirkte verwirrt, fragte sich wohl, wie er hierhin geraten und wie ihm geschehen war. Hugo beugte sich fürsorglich über ihn. »Geht es Ihnen gut?«

Der Rothaarige griff sich an den Kopf und runzelte die Stirn. »Ich, ich weiß nicht … Was ist passiert?«

Hugo half ihm aufzustehen und legte einen Arm um seine Taille, um ihn zu stützen. Langsam gingen die beiden zwischen den Bäumen auf den Pfad hinaus zu einer Bank.

»Ich weiß es auch nicht«, sagte er. In seinem Kopf herrschte angenehme Leere, als er neben dem Fremden den Schmetterlingen zuschaute, die um einen Busch herum flatterten. Hugos Übelkeit ließ nach, während der Mann sich mit den Ellbogen auf die Oberschenkel stützte und stöhnend den Kopf hielt.

»Hat mir jemand eins über den Schädel gezogen?« Die Stimme klang rau.

Widerwillig wandte Hugo den Blick von den Schmetterlingen ab und kniff die Augen zusammen. Schlagartig war die Übelkeit wieder da. Er beugte sich halb vor den Fremden und griff nach seiner Hand, um in sein Gesicht blicken zu können.

»Ich habe niemanden gesehen«, erklärte er, und es war die Wahrheit. »Wer hat Ihnen das bloß angetan? Ich habe Sie auf dem Boden zwischen den Bäumen gefunden. Möchten Sie zur Polizei gehen? Soll ich einen Krankenwagen rufen?«

Der Rothaarige schüttelte den Kopf und grunzte, da ihm die Bewegung offensichtlich Schmerzen bereitete. Er entdeckte die Kopfhörerstöpsel, die ihm beim Sturz aus den Ohren geflogen waren und nun aus dem Ausschnitt seines Shirts auf seine Brust herunterhingen. Man konnte Christina Aguilera »I am beautiful, no matter what they say« singen hören, es klang leicht scheppernd. Mit einer fahrigen Geste griff der Mann an seine Seite und schaltete den MP3-Player aus.

Woran erinnerte das Lied Hugo? Es hatte sofort den Druck in seinem Magen wieder verstärkt. Doch auch sein Gegenüber schien es nicht unberührt zu lassen. Der Rothaarige musterte ihn, als wolle er etwas in seinen Zügen erkunden. Unbehaglich rutschte Hugo auf dem Holz der Bank hin und her. Noch immer starrte der Fremde ihn an, mit gerunzelter Stirn – es wirkte, als leide er Schmerzen. Schließlich seufzte er und setzte sich aufrechter hin. Ein letzter prüfender Blick in Hugos Gesicht, dann begann er zu reden.

»Das ist ihr Lieblingslied. War. Es war ihr Lieblingslied.« Mit einem Griff an seine Seite schaltete er den MP3-Player wieder an und hielt Hugo einen der Ohrstöpsel hin. Zögernd griff Hugo danach und drückte ihn in sein Ohr, hörte nun die klagende Stimme der Sängerin.

Elsa liebte dieses Lied auch, sie tanzte und sang mit geschlossenen Augen, wann immer es im Radio lief. Ohne zu verstehen, weshalb, riss Hugo sich den Stöpsel aus dem Ohr und legte ihn dem Fremden in den Schoß. »Ich kenne es«, murmelte er heiser.

Wieder sah ihm der Rothaarige in die Augen, dann nickte er und stellte die Musik ab. »Eine Frau, stimmt’s? Es erinnert dich auch an eine Frau …«

Hugo beugte zustimmend den Kopf.

Der Fremde wandte den Blick in die Ferne, als er weitersprach. Es wirkte wie ein Zwang, dem er sich nicht widersetzen konnte. Als habe er noch nie mit jemandem darüber reden können und habe nun das Gefühl, sich endlich aussprechen zu müssen und es bei ihm, Hugo, zu können. Verrückt – woher wollte Hugo das wissen?

»Sie war rothaarig, hatte die Haarfarbe von mir geerbt.«

Hugo blieb die Luft weg, er hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. Er musste sich zwingen, einzuatmen.

Tief.

Langsam.

Ein.

Und wieder aus.

Das Rauschen ließ nach, doch sein Puls raste weiterhin. Aber warum?

Wie alt mochte der Fremde sein, der nun unverwandt auf die gelben Kieselsteine zwischen seinen Laufschuhen starrte? Von Hugos Atemaussetzer hatte er nichts bemerkt. Das bemerkten sie nie. Er konnte kurz vorm Umfallen stehen, niemand bemerkte es. Genau wie das andere, das keiner von ihm wusste.

Was war es?

Mord.

Ja, er war ein Mörder. Ein Auftragskiller. Niemand wusste das. Verwirrt wischte Hugo sich über die Stirn. Sein Herzschlag verlangsamte sich wieder. Er hatte etwas vergessen. Irgendetwas hatte er erledigen sollen, Elsa hatte ihn in aller Frühe losgeschickt. Der Kühlschrank war leer, es war Zeit, dass er wieder Geld verdiente. Ihr eigenes Gehalt reichte für sie beide nicht aus. Wieder sah er seine Frau vor seinem inneren Auge, wie sie sich zu der Pop-Ballade wiegte, die Augen geschlossen.

»Ihre Lieblingszeile war ›So don’t you bring me down today‹. Ich begreife bis heute nicht, wie es passieren konnte. Ich hatte sie beschützt, ihr Leben lang hatte ich sie beschützt. Sie war mein Ein und Alles.« Wieder griff der Rothaarige nach den Kopfhörern, schloss die Faust darum. »Es war ihr Player, ihre Playlist höre ich mir an, jeden Tag. Bei diesem Lied kommen mir die Tränen wie einem Kind, ich kann nichts dagegen tun. Verstehst du das?« Als er sich zu Hugo umdrehte, zuckte er mit leisem Ächzen. Hugo erkannte die Tränen in den hellen Augen. Eine löste sich und glitt an einer roten Wimper herab, wo sie an der hellen Spitze zitternd hängen blieb – ein Regenbogen schien sich darin zu verfangen – bevor sie auf der Wange landete und langsam einen Weg fand, über große Poren und kaum sichtbare Bartstoppeln. Irgendwann blieb nur ein kleiner, feuchter Punkt von ihr übrig.

»Wie hat sie geheißen?« Die Frage befreite sich aus Hugos Mund, ohne dass er wusste, woher sie kam.

»Flora. Ihr Name war Flora.«

Hugo hörte an der Art, wie der Fremde den Namen seiner Tochter aussprach, dass er sie liebte, immer noch. Und wie sehr er sie vermisste und dass ihr Tod noch immer schmerzte.

Flora.

Ja, das war ihr Name gewesen. Man hatte ihn Hugo am Telefon gesagt, ihm ein Foto der Zielperson geschickt. Sie war hübsch gewesen mit ihrer hellen Haut und den roten Haaren. Und sehr jung, eigentlich noch ein Kind. Wer hatte dieses Kind umbringen lassen?

»Was ist passiert?«, fragte er den Fremden. Dieser wandte sich wieder ab, stützte den Kopf in die Hände, barg sein Gesicht darin.

»Es ist meine Schuld. Alles ist meine Schuld.«

Hugo hatte wenig Information bekommen. Die Umstände und Gründe interessierten ihn auch nie. Er tat einen Job, einen Beruf wie jeder andere. Er erhielt einen Namen, ein Gesicht dazu, einen Auftrag. Sein Ruf wäre nicht so gut geworden, wenn er Fehler gemacht oder Fragen gestellt hätte. Präzision, das war eine seiner Stärken. Dazu ein Alibi-Leben. Elsa, die Frau seines Herzens, ein Nebenberuf, der für andere wie ein richtiger Beruf aussah. Die Gedanken verwirrten sich wieder in Hugos Kopf, bildeten ein Knäuel, ließen Fragen zurück. Was hatte er hier zu suchen? Wer war der Fremde neben ihm? Wovon sprach er?
»Ich hätte nur nachgeben müssen. Sie setzten mir die Pistole auf die Brust.« Der Fremde sprach weiter, und Hugo konnte den Zusammenhang wiederherstellen, zumindest teilweise. Das Mädchen, genauso rothaarig wie sein Vater. Flora.

»Es ging um Geschäfte, worum auch sonst?« Der Rothaarige schüttelte den Kopf. »Man glaubt nicht, dass es das in Deutschland gibt. In USA, in Asien, überall, nur nicht hier in Deutschland.«

Er fuhr mit der Hand durch die Luft, als wolle er seine Worte bekräftigen. Noch immer wirkte es zwanghaft, wie er weiterredete. »Ich habe es nicht geglaubt. Ich hatte Angst, ja, weil sei mir drohten. Ich rechnete damit, dass mir etwas geschehen würde, dass sie an meinem Stuhl sägen, dafür sorgen würden, dass ich fliege.« Er griff plötzlich nach Hugos Hand und ließ sie dann ebenso unvermittelt wieder los.

»Haben sie dich erpresst?«, fragte Hugo. Vielleicht kam er endlich dahinter, warum Flora damals hatte sterben müssen.

Der Rothaarige nickte, langsam und abgehackt. »Ja, so kann man es nennen. Ich sollte diese Papiere unterzeichnen. Ich wusste, dass es falsch war, aber mir waren die Hände gebunden. Ich konnte niemanden anzeigen. Zu viele hingen mit drin. Bis ganz nach oben. Was hätte es genutzt, Anzeige zu erstatten, wenn selbst die Behörden ihre Finger im Spiel hatten?« Er sah Hugo an, wartete auf eine Reaktion. Hugo nickte, nicht wissend, ob es das war, worauf der Rothaarige hoffte. Doch anscheinend war es die richtige Regung, denn dieser fuhr fort. »Trotzdem hätte ich niemals gedacht, dass sie Flora etwas antun würden … Ich spielte auf Zeit. Ich wusste selbst nicht, worauf ich hoffte. Vielleicht, dass ich jemanden fand, der das Gleiche sah wie ich? Was wir vorhatten, war gefährlich und leichtsinnig. Ich zögerte immer weiter, weigerte mich zu unterzeichnen. Beinahe hoffte ich, dass ich entlassen würde. Es widerstrebte mir, meinen Namen unter diese Sache zu setzen.«

»Verdammt, wovon sprichst du?«

Erschrocken drehte der Fremde sich zu Hugo um, kniff kurz die Augen zusammen. »Das kann ich dir nicht sagen.« Er lachte hart auf. »Es würde mich meine Existenz kosten. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Schon ein Mal habe ich das Wertvollste in meinem Leben verloren.« Er runzelte die Stirn. »Nur so viel: Menschenleben hingen davon ab. Viele Menschenleben.«

Hugo nickte, als verstehe er. Spielte es eine Rolle, wessen der Rothaarige sich schuldig gemacht hatte? Hatte es jemals eine Rolle gespielt? Ging es nicht letzten Endes immer um diese schmutzigen Geschäfte, wenn man ihn rief? Trotzdem – Flora, ein junges, unschuldiges Mädchen. Wie hatte sie da hineingepasst? »Haben sie dich mit Flora erpresst?« Warum konnte er es nicht lassen? Warum ging er nicht einfach nach Hause? Es war Hugo wieder eingefallen, weshalb Elsa ihn in diesen Park geschickt hatte. Sie hatte den Ort des Auftrags mitbekommen. Aber er würde den Rothaarigen nicht töten. Er wollte nicht mehr. Keine Menschen mehr umbringen, kein Blut mehr auf sein Konto laden. Dann mussten er und Elsa eben kleinere Brötchen backen.

Der Fremde sah misstrauisch zu Hugo. »Ja, das haben sie. Und ich Idiot habe weiterhin gezögert. Ich dachte, dass sie das nicht machen würden. Alles, aber nicht einen kaltblütigen Mord. Ein Mord kam überhaupt nicht in Betracht. Das wäre zu gewagt, selbst für sie.« Plötzlich schluchzte er auf. »Ich habe mich geirrt. Und ob sie eines Mordes fähig waren. Sie brauchten ihn ja nicht selbst durchzuführen. Wozu gibt es Berufskiller?« Er lachte abgehackt, es hörte sich an wie ein Grunzen. »Wahrscheinlich haben sie ihn aus der Portokasse bezahlt …« Er brach ab, brütete schweigend vor sich hin.

Hugo erinnerte sich zurück an jenen Sommer vor acht Jahren. Hatte er eben nicht mal mehr den Namen des Mädchens gewusst, so sah er sie jetzt wieder glasklar vor Augen. Sie war jeden Morgen an der Saar entlang gejoggt, nicht weit von hier. Sie hatte das Haar mit einem schlichten Haargummi zusammengenommen, es wippte in fast behäbig wirkenden Wellen auf ihren Rücken hinab. Hugo hatte sie zwei Tage lang ausspioniert, um sicherzugehen, dass er an Tag X unbeobachtet sein würde. Ihre Strecke verlief auf einem um diese Zeit einsamen Weg, doch besonders das Stück, das ein wenig vom Fluss wegführte, war menschenleer. An jenem Morgen trug sie eine kurze Jogginghose, darüber ein Sport-Top, und ihre Laufschuhe. Wie immer hatte sie die Kopfhörer im Ohr gehabt. Es waren die Kopfhörer, die er jetzt auf dem Schoß des rothaarigen Mannes liegen sah.

Wie unter Zwang fragte Hugo: »Was ist mit Flora passiert?«

Der Rothaarige streckte den Rücken durch. »Ermordet. Einfach so. Beim Joggen hat sie jemand von hinten erdrosselt. Mit einem Kabel, wie man es in jedem Baumarkt kriegt. Keine Spuren, nichts. Es muss schnell gegangen sein.« Er griff sich an die Kehle. »Wenn ich es mir ausmale … Mein Mädchen muss fürchterliche Angst gehabt haben. Wie schnell kann man einen Menschen erdrosseln, frage ich dich?«

Hugo dachte nach. »Ich … habe nie darauf geachtet«, sagte er.

Der Rothaarige riss die Augen auf.

»Es kommt darauf an, ob man es richtig macht.« Ein Gurgeln entwich dem Fremden, er rückte von Hugo ab.

»Denke ich mal«, sagte Hugo und lächelte gütig.

Die Schultern des Rothaarigen sackten herab, als er heftig die Luft ausstieß.

»Sie war ein schönes Mädchen«, sagte Hugo und erinnerte sich, wie sie zuerst die Hände hochgerissen hatte, um nach ihm zu greifen, wie er dann heftig zugezogen hatte, damit sie nicht unnötig leiden musste. Sie war an seinem Körper erschlafft und zusammengesackt, er ließ sie auf den Boden gleiten und achtete darauf, dass er sie möglichst nicht berührte. Natürlich trug er einen Plastikoverall, damit sie keine Fasern an ihrer Kleidung finden würden, aber trotzdem mied er jeglichen direkten Kontakt, wenn immer es möglich war. Er arbeitete präzise. Hatte immer präzise gearbeitet. Floras Pferdeschwanz war nach vorne gerutscht, und eine breite Strähne bedeckte ihr Gesicht, eine weitere den roten Streifen an ihrem Hals. Sie lag vor ihm auf der Erde, in ihren Augen spiegelte sich der Himmel. Er sah die roten Ansätze der schwarz getuschten Wimpern. Zärtlich hatte Hugo die Strähne von ihrer Wange gestrichen, dann war er aufgestanden, weggelaufen, hatte sich seines Anzugs entledigt und war zur Arbeit gegangen, die letzten Zeilen des Lieds wie eine Endlosschleife im Ohr, die aus den Kopfhörern drangen, als er sich von Flora entfernte, die dort lag und sich nie mehr rühren würde. »So don’t you bring me down today.«

Flora war der einzige Auftrag gewesen, bei dem er je Bedauern gespürt hatte. Es hatte Tage gedauert, bis er es wieder ertrug, wenn Elsa zu »Beautiful« sang und tanzte. Sie hatte nicht begriffen, warum er so oft das Radio abschaltete in jenen Tagen.

»Sie war ein wunderschönes Mädchen«, wiederholte er.

»Woher weißt du das?« Der Rothaarige musterte ihn misstrauisch.

Hugo winkte ab. »Stand doch in allen Zeitungen. Bilder hat man sehen können.«

»Das stimmt nicht. Nichts stand in den Zeitungen, keine Bilder wurden veröffentlicht. Die Polizei hat nur kurz ermittelt, es gab keine Spuren. Alles wurde schnell vertuscht. Und ich war wie gelähmt, habe mich nicht gewehrt. Mein Mädchen wurde begraben, das war’s dann. Also, woher weißt du, dass sie schön war?«

Hugo sah ihn versonnen an. »Du sagtest, sie hatte deine Haare? Sie war noch sehr jung, fast ein Kind, nicht wahr?«

»Ja, das war sie.«

»Sie muss eine Schönheit gewesen sein.«

Der Fremde zögerte, dann nickte er abermals.

»Und dann?«, fragte Hugo sanft.

»Was dann?« Der Rothaarige nahm ein weiteres Mal die Kopfhörer in die Hand und knetete sie. »Dann habe ich unterschrieben. Ich war zu feige, mich zu wehren. Sie hatten mir ihre Macht doch gezeigt. Sollte ich es wagen, sie nochmals zu reizen? Den Rest meines erbärmlichen Lebens auch noch aufs Spiel setzen? Mir blieb nur noch meine Frau. Gwendolyn. Sie durfte ich nicht verlieren.«

»Gwendolyn«, murmelte Hugo. Den Namen kannte er irgendwoher. Aber das musste ja nicht dieselbe Frau sein. »Was ist mit ihr?«

»Sie ist fast zerbrochen am Tod unserer Tochter. Sie hat nicht begriffen, dass jemand so etwas tun konnte. Sie hat nie geahnt, dass ich selbst Schuld hatte. Ich mit meiner Angst, mit meiner Unfähigkeit, das Richtige zu tun oder das Falsche aufzudecken. Sie musste für eine Weile in ein Sanatorium.« Unvermittelt sah der Fremde Hugo nochmals an. »Warum erzähle ich dir das alles?«

Hugo wischte mit der Hand durch die Luft. »Weil ich zuhöre.«

Der Fremde nickte. »Weil du zuhörst.«

»Was war dann mit deiner Frau?«

»Sie hat sich erholt, aber sie war nicht mehr dieselbe. Sie sagte nichts zu dem Mord und fragte nichts. Aber sie war seit Floras Tod unruhig, getrieben. Wir blieben zusammen, aber unsere Ehe hatte sich auch verwandelt. Wir haben beide den gleichen Verlust erlitten, doch jeder trauerte für sich. Ich stürzte mich in meine Arbeit.« Wieder lachte er sein abgehacktes, seltsames Lachen. »Und ist der Ruf erst ruiniert, so lebt sich’s gänzlich ungeniert. Ich bin skrupellos geworden, der beste Mitarbeiter, den man sich wünschen kann. Ich stelle keine Fragen, kritisiere nicht, ziehe nicht einmal die Augenbrauen hoch.«

Wie ich selbst, dachte Hugo, ich habe auch nie Fragen gestellt.

»Und deine Frau?«, fragte er abermals. »Was war mit ihr?«

»Sie hat sich zur Sozialpflegerin ausbilden lassen. Ausgerechnet. Sie arbeitet in einem Heim. Schwester Gwendolyn, die Verständnisvolle. Sie ist diejenige, die den Dementen ihre Illusionen lässt. Wenn die Alten denken, dass sie im Park auf dem Weg zur Arbeit sind, gibt Gwendolyn ihnen ein Lunchpaket und einen Schirm, damit sie ihn aufspannen können, falls es zu regnen beginnt. So ist meine Frau.«

»Liebst du sie?« Warum fragte er das?

»Ja, ich liebe sie. Sie ist die Einzige, die mich noch am Leben hält. Wenn ich sie ansehe, habe ich Hoffnung.«

»Kann ich verstehen.« Hugo nickte. »Zu schade, das mit deiner Tochter. Wie lange ist es jetzt her? Acht Jahre?«

Wieder betrachtete der Fremde ihn mit misstrauischem Blick. »Woher weißt du das?«

»Damals war das Lied ein großer Hit, meine Frau hat es immer gespielt.«

»Das Lied?«

»Du sagtest, dass du immer weinen musst, wenn du Christina Aguilera ›I am beautiful‹ singen hörst.«

Der Rothaarige nickte wieder.

»Meine Frau liebt das Lied auch.« Warum erzählte er das?

»Gwendolyn erträgt es nicht mehr, sie kann es nicht mehr anhören.«

»Verstehe ich.«

Sie schwiegen beide. In Hugos Kopf arbeitete es. Etwas wollte in sein Bewusstsein drängen, eine Erinnerung.

Was war es?

Er sollte töten. Diesen Mann töten. Eine Auftraggeberin war es dieses Mal gewesen, kein Mann. Die Frau hatte verbittert geklungen. Sie schien ein persönliches Motiv zu haben. Rache. Er hatte sie an der Stimme erkannt, doch jetzt wollte ihm nicht mehr einfallen, wie ihr Name war. Eben noch hatte er ihn gewusst, jetzt war er wieder weg.

Elsa hatte mitbekommen, dass er es hier im Park tun sollte, und ihn losgeschickt. Aber nein, erinnerte er sich dann, er hatte doch beschlossen, nicht mehr zu töten. Sein Blutkonto nicht mehr weiter zu füllen. Wie hatte der Fremde vorhin gesagt? Wenn er seine Frau ansah, hatte er Hoffnung. So erging es Hugo auch. Wenn er an Elsa dachte, hatte er Hoffnung. Dass sein Blutkonto mit den Jahren verblassen würde, dass die Verstorbenen dem Vergessen anheimgegeben würden, wie es nun mal der Lauf der Dinge war. Dass man auch mit den neuesten Untersuchungsmethoden keine Spuren finden würde.

Plötzlich ging ein Ruck durch den Mann auf der Bank neben ihm, er starrte unverwandt zum Eingangstor des Parks.

»Was macht sie denn hier?«, murmelte er, dann sah er auf seine Armbanduhr. »Verdammt, ich müsste längst geduscht und auf der Arbeit sein.« Er stand auf, streckte sich mit einem unterdrückten Stöhnen. Hugo war seinem Blick gefolgt und hatte sofort die Frau gesehen, die durch das Tor getreten war und nun auf die Bank zu kam. Sie blieb stehen und schien zu grübeln, dann ging sie langsam weiter.

Das war Gwendolyn! Ihre Stimme war es gewesen, heute Morgen am Telefon. »Mach ihm ein Ende, er hat es nicht verdient, weiter zu leben.« War es die Gwendolyn, die auch der Rothaarige gemeint hatte? Seine Frau, die ihm Hoffnung gab und die er liebte? Bei ihrem Näherkommen bemerkte Hugo, wie sehr er sich geirrt hatte. Es war nicht Gwendolyn, sondern Elsa. Wie der Rothaarige, sprang er rasch auf, das schlechte Gewissen meldete sich.

Elsa sah den Fremden fragend an und grüßte ihn mit einem Lächeln. »Ist etwas passiert?«

»Ich bin gestürzt. Dieser nette Mann hat mir aufgeholfen, und nun haben wir uns noch ein wenig verquatscht. Ich muss los, die Arbeit wartet.«

»Und wie geht es dir, Hugo?«, wandte sie sich an ihn. »Bist du auch gestürzt?«

»Ich gehe dann, Gwendolyn. Wir sehen uns heute Abend, Liebes.«

Hugo schüttelte verwirrt den Kopf. Etwas stimmte hier nicht. Elsa nahm ihn mit beiden Händen am Arm, wie sie es immer tat.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739474670
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (November)
Schlagworte
Krimikomödie Regiokrimi Kurzkrimi Kurzgeschichte Privatermittler Krimi Mordsgeschichte Spannung Schwarzer Humor Saarkrimi

Autor

  • Angelika Lauriel (Autor:in)

Angelika Lauriel schreibt Bücher für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in den Genres Krimi, Beziehungsroman, unterhaltender Familienroman und Fantasy für verschiedene Verlage sowie im Selbstverlag. Unter ihrem zweiten Pseudonym Laura Albers finden ihre geneigten Leser und Leserinnen berührende Liebesromane. Im Alltagsleben arbeitet die Autorin als Literaturübersetzerin und Lektorin. Mit ihrer fünfköpfigen Famile lebt sie im Saarland. Viele, aber nicht alle ihrer Romane spielen dort.
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Titel: Mord für jede Jahreszeit