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Regina Mars Collection 4

Aufgetaut, Horrorhamster, List und Liebe, Winterchaot

von Regina Mars (Autor:in)
969 Seiten

Zusammenfassung

Die Regina Mars Collection 4 enthält diese vier E-Books: AUFGETAUT (Gay Romance) Als Henrik in das malerische Dorf Ebernau kommt, trägt er nicht nur einen Rucksack voll Geld mit sich, sondern auch ein bitteres Geheimnis. Seit einem Jahr empfindet er nichts mehr. Seine Gefühle sind vereist. Bis er Nils trifft. Der rüttelt etwas in ihm wach, das er längst verloren glaubte. Leider hasst Nils Henrik und weigert sich obendrein, sein Skilehrer zu werden. Kann Henrik ihn umstimmen? Kann er sich zurück ins Leben kämpfen und vielleicht sogar ... Nils‹ Liebe gewinnen? HORRORHAMSTER (Gay Romance) Marc Winter kommt mit so ziemlich allem klar. Weder seine nervige Familie noch sein peinlicher Nebenjob können ihm den Tag versauen. Denn Marc hat ein Ziel: Er will Profi-Snowboarder werden, und zwar so schnell wie möglich. Am besten sofort, aber mindestens, sobald er den Ebernau-Cup gewonnen hat! Der Einzige, der ihm den Sieg streitig machen könnte, ist Flo, das reiche Muttersöhnchen, das seit ihrer ersten Begegnung seinen Spott abbekommt. Blöd nur, dass Marc plötzlich unerwartete Gefühle für Flo entwickelt. Noch blöder, dass Flo schon vergeben ist. Und am Allerblödesten, dass Marc beginnt, seine Karriere zu vernachlässigen, weil ihn Flo ablenkt. Selbst Marc Winter weiß bald nicht mehr, was er tun soll. Und wie sieht es überhaupt mit Flos Gefühlen aus? LIST UND LIEBE (Lesbian Romance) Gwen ist das pure Chaos. Aufgedreht, kindisch und begeisterungsfähig - zumindest, bis ihr langweilig wird. Und das geht schnell. Shirley hätte jeden Grund sich von ihr fernzuhalten. Sie ist nicht an die Privatschule gekommen, um sich ablenken zu lassen. Ihr Ziel ist ein perfektes Abi und eine goldene Zukunft ... na ja, goldener als es irgendjemand von einem armen Mädchen wie ihr erwartet. Doch nachdem sie einem Freund hilft, hat sie plötzlich mehr Probleme am Hals als sie zählen kann. Allen voran eine Schein-Beziehung, den Hass der halben Schule und Gwens volle Aufmerksamkeit ... WINTERCHAOT (Gay Romance) Zwei ältere Brüder zu haben, ist hart. Vor allem, wenn man Josh Winter heißt, beide Brüder schwul sind und einem deshalb alle unterstellen, auch schwul zu sein. Dabei ist Josh doch in Anna verliebt! Anna, die sich leider nur für den Neuen in Joshs Klasse interessiert. Lucian ist alles, was Josh nicht ist: wunderschön, cool, aus der Großstadt, in einer Band ... und von einem düsteren Geheimnis umgeben.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

1. Henrik

 

Als Henrik in Ebernau ankam, hatte er nichts dabei als seine viel zu dünne Kleidung und einen Rucksack voll Geld. Ordentlich gebündelte 100- und 200-Euro-Scheine, die darauf warteten, sinnlos verschwendet zu werden.

Teilnahmslos schaute er sich auf dem Bahnsteig um. Ebernau sah aus, als wäre es einer Weihnachtspostkarte entsprungen. Malerische Fachwerkhäuser mit wölkchendampfenden Schornsteinen drängten sich aneinander. In der kalten Luft schwebte Lagerfeuergeruch. Tannen stachen aus der dichten Schneedecke und dekorierten die atemberaubende Bergkulisse.

Das Bahnhofsgebäude vor ihm hatte man aus roten Ziegelsteinen erbaut. Es war mit kleinen Erkern und dem Wappen der Kleinstadt verziert worden: einem toten Eber. Henrik betrachtete das auf dem Rücken liegende Tier, dem drei Speere aus dem Bauch ragten, mit trüben Augen. Er sah sich auf dem Bahnsteig um, auf dem jeder außer ihm ein Ziel zu haben schien.

Laute Schritte trampelten über die rauen Pflastersteine. Touristen, eindeutig. Wohlhabende Touristen in teuren Skiausrüstungen.

Mehr Sonnenbrillen als am Strand, dachte er.

Er konnte sich nicht erinnern, ob es damals schon so gewesen war. Als Kind hatte er sich für andere Dinge interessiert.

Zwei Stunden später war er im Besitz mehrerer hochwertiger Winter-Outfits und eines silbernen Prepaid-Handys. Und eines schwarzen. Und eines weißen. Er hatte sich nicht entscheiden können. Er nahm ein Taxi zu dem kleinen Chalet, das er gemietet hatte. Erklärte der Besitzerin, dass seine Eltern nachkommen würden und er solange die Stellung hielt. Er zahlte die Kaution in bar.

Henrik hoffte, dass etwas passieren würde, wenn er in demselben Haus übernachtete, in dem sie damals gewohnt hatten. Irgendetwas. Er wusste nicht, was.

Leider geschah nichts. Er schlief in der rotweiß karierten Bettwäsche so schlecht, wie er zuhause geschlafen hatte. Die Flammen aus dem riesigen Kamin konnten ihn nicht wärmen. Die Luft schien so schwer, dass er fast erstickte. Die dunkle Wohnung rief ein paar Erinnerungen wach. Aber keine Gefühle.

Seine Brust war immer noch vereist.

Also ging er am nächsten Tag in eine der Après-Ski-Hütten, gab eine Runde aus und war sofort enorm beliebt. Vor allem bei der einheimischen Jugend und bei den Touristen in seinem Alter. Die, die mit ihren Eltern hier waren. Sie nannten ihn »Henry«, ein Spitzname, den er immer bekam. Er behauptete, sein Nachname wäre Berger, der erste Name, der ihm eingefallen war. Lag vermutlich an der Bergkette hinter dem Fenster der Hütte.

Am nächsten Abend gab er eine Party, um nicht länger dem traurigen Knarren der Bodendielen lauschen zu müssen. Das machte ihn noch viel beliebter.

Er wünschte sich wirklich, er könnte sich darüber freuen.

 

»Henry!«

Dieser rothaarige Kerl … genau, Moritz, drängte sich durch den Trubel zu Henrik. Er ließ sich auf das Sofa plumpsen, neben Henrik und das Mädchen, das gerade schlanke Finger mit hellblauen Nägeln unter Henriks Shirt schob. Er war nicht sicher, wie sie hieß. Hatte sie sich vorgestellt?

Gleichgültig betrachtete er das Treiben. Das Lachen, Gläserklirren und die wummernde Musik. Irgendwer hatte Lautsprecher mitgebracht.

»Henry, du bist in Ordnung!«, grölte Moritz. Henrik war nicht in Ordnung, aber das schien niemand zu merken. Na ja, sie kannten ihn ja auch nicht.

»Danke, mein Freund.« Henrik prostete Moritz zu und hob gespielt vornehm eine Augenbraue.

Moritz lachte laut auf. Jemand stolperte über seine langen Beine, fing sich aber wieder. Ein Mädel, das nur eine Skihose und einen rot-schwarzen Sport-BH trug. Und sie war nicht die einzige leicht Bekleidete. Da hinten stand ein Typ, der nur ein Handtuch umhatte. Ah, sie hatten wohl die Sauna entdeckt. Henrik nahm einen Schluck von seinem Bier und fragte sich, ob es das vierte oder das fünfte war. Oder gar das achte?

»Und?« Moritz warf dem Mädel neben Henrik einen vielsagenden Blick zu. »Amüsiert ihr euch?«

»Tun wir.« Sie lächelte Moritz süßlich zu und rückte noch näher an Henrik heran. »Verzieh dich, Mo.«

»Whoah!« Moritz hob abwehrend die Hände. »Keine Panik, ich will deinen Kerl nicht klauen!« Er zwinkerte Henrik zu. »Soll ich dein Schlafzimmer räumen lassen? Sieht aus, als würdest du das gleich brauchen.«

»Wer ist denn in meinem Schlafzimmer?«, fragte Henrik und ignorierte das Nicken des Mädchens. Sie hieß Eva, erinnerte er sich. Das hatte sie ihm ins Ohr geflüstert, bevor sie ihm um den Hals gefallen war.

»Alter, mindestens … fünf Leute? Hab drei Mädels gezählt und, keine Ahnung, Kerle interessieren mich nicht«, sagte er mit einem Blick auf Eva, die ihn immer noch warnend anschaute. »Echt.«

»Wer's glaubt« Sie gähnte elegant.

Der scharfe Duft ihres Parfüms kitzelte Henriks Nase. Ihre Finger krabbelten über seine Brust. Vorsichtig packte er ihre Hand und schob sie von sich weg. Sex konnte das Eis nicht schmelzen, das wusste er. Er hatte es oft genug versucht.

»Und, kommst du morgen mit auf die Piste?«, fragte Moritz und stieß Henrik einen Ellenbogen in die Rippen. »Grigori meint, er schafft die Abfahrt am Gneislerhang, aber ich wette um hundert Euro, dass er kneift. Hältst du dagegen?«

Er streckte die Hand aus und Henrik schlug ein. Moritz jubelte. Begeisterungsfähig war der Kerl … Für einen Moment wünschte Henrik sich, wie Moritz zu sein. Auch wenn Eva ihn dann keines Blickes gewürdigt hätte.

»Falls Grigori es schafft, werd ich mich auf dein Wort verlassen müssen«, sagte Henrik leichthin. »Ich kann nicht mitkommen.«

»Waaas?« Moritz' Augen wurden kugelrund. »Warum nicht? Sind wir dir nicht gut genug, Monsieur Hochwohlgeboren?«

»Nein, ich kann nicht Ski fahren.«

Moritz schaute ihn an, als hätte Henrik ihm soeben verkündet, dass er an einer tödlichen Krankheit litt.

»Du kannst nicht … was?«

Zwei Jungs in teuren Pullovern stürzten auf das Sofa zu, stießen mit Henrik an, brüllten »Henry!!!« als wäre das der Name eines Fußballvereins und verschwanden wieder in der Menge. Henrik tat so, als wüsste er, wer sie waren.

»Du kannst nicht Ski fahren, Alter?« Moritz beugte sich zu ihm vor. Seine spitze Nase berührte Henriks fast. »Aber was machst du dann in Ebernau? Wir sind ein gottverdammter Skiort, wo man … halt Ski fährt. Deshalb kommt ihr Geldsäcke doch her.«

Henrik zuckte mit den Achseln. »Hab's nie gelernt. Ist das so schlimm?«

»Ja!« Moritz war ehrlich entsetzt. »Du musst … Du musst das unbedingt lernen. Sofort. Oder, Eva?«

»Verpiss dich endlich, Mo«, brummte sie und versuchte, ihre Fingernägel über Henriks Designer-Jeans tanzen zu lassen. Er stoppte sie auf der Mitte des Oberschenkels.

»Natürlich muss er Ski fahren lernen. Henry!«

Wieder kam seine Nasenspitze näher. Henrik fragte sich, was Mo tun würde, wenn er sich ebenfalls vorbeugen und ihn einfach küssen würde. Das hatte er einmal getan, auf der Halloweenparty von … irgendwem. Nur aus Interesse. Er hatte erwartet, sich eine Ohrfeige einzufangen, aber stattdessen hatte der andere Kerl ihn zurückgeküsst. Und ihm danach nie wieder in die Augen geschaut. Es hatte ihm gefallen, damals. Aber das war früher gewesen, bevor …

»Henry! Konzentrier dich!« Moritz schnipste mit den Fingern vor Henriks Gesicht herum. »Du brauchst einen Skilehrer, Junge!«

»Brauch ich den?«, fragte Henrik kühl. Moritz schien kurz verunsichert.

»Ja … natürlich nur, wenn du willst.«

Henrik dachte nach. Er hatte damals versucht, Ski fahren zu lernen, hatte sich aber als absolute Vollkatastrophe erwiesen. Seine Mutter hatte gesagt, das hätte er von ihr. Sie war ganz und gar unsportlich …

»Klar, warum nicht?« Er zuckte mit den Achseln. »Kennst du ’nen guten Skilehrer?«

»Für … Privatstunden?«, fragte Moritz.

»Natürlich nimmt er Privatstunden.« Eva verdrehte die Augen. »Er ist nicht so ein armer Schlucker wie du, Mo. Oder wie der Rest von Ebernau.«

Zum ersten Mal huschte etwas wie Ärger über Moritz' Gesicht. Seine Augen blitzten Eva an. Eine Sekunde später strahlte er schon wieder. Henrik wusste, dass er mal wie Mo gewesen war. Aber jetzt brachte er nicht mal die Energie auf, sich vom Sofa zu erheben. Gut, das konnte auch am Bier liegen.

»Henry, ich kenn genau den richtigen Mann für dich. Meinen besten Freund.« Moritz nickte zufrieden. »Der bringt dir in Nullkommamix alles bei und du saust die Hänge runter wie ein junges Kaninchen.« Moritz hatte eindeutig auch einen im Tee.

»Du meinst doch nicht etwa Nils?« Evas Augen wurden schmal. »Bist du bescheuert?«

»Wieso, der ist doch super. Seine Mutter ist auch Skilehrerin. Und Nils hat seinen ganzen Geschwistern Skifahren beigebracht und was ist sein Bruder jetzt? Vize-Champion der Snowboard-Junioren oder wie das heißt.«

»Ja, aber Nils.« Eva schüttelte den Kopf. »Als Lehrer. Für … ihn

Ihr hellblauer Fingernagel deutete auf Henrik.

»Was ist mit mir?«, fragte Henrik. »Bin ich nicht hübsch genug?«

»Klar bist du hübsch genug«, schnurrte sie und schon lag ihre Hand wieder auf seiner Brust. »Hübsch genug für … alles.«

»Du trägst ganz schön dick auf, Eva«, sagte Mo.

Ihre Augen wurden noch schmaler. Henrik rechnete halb damit, dass Gammastrahlen herausschießen und Mo vaporisieren würden.

»Ne«, sagte Moritz. »Nils ist manchmal ein bisschen speziell, wenn … na, wenn er mit Leuten von oben zu tun hat, aber …«

»Von oben? Was meinst du damit?«

»Na, hier oben am Hang stehen die besten Hütten. Die für die Superreichen. Weiter unten sind die normalen Ferienhäuser. Und unten im Tal … Ebernau.«

»Ich bin nicht superreich«, log Henrik, aber die beiden glaubten ihm eh kein Wort. Irgendwie waren alle schwer beeindruckt von diesem Mini-Chalet mit den rustikalen Möbeln. Gut, die Einrichtung kam eindeutig von Sepp-Gerard Grachtlberger, einem der größten Möbeldesigner im Landhaus/Berghaus-Stil. Aber es gab nur drei Zimmer. Große Zimmer, okay. Das Wohnzimmer nahm fast die gesamte untere Etage ein. Trotzdem …

»Jedenfalls ist Nils ein guter Skilehrer«, sagte Moritz mit fester Stimme. »Ein sehr guter. Vielleicht sogar der beste.«

»Jetzt trägst du aber dick auf«, murmelte Eva.

»Und wenn du willst, ruf ich ihn an. Ich weiß, dass er gerade einen Job sucht. Weißt du, seine Mom …«

»Henry interessiert sich nicht für die gesamte Lebensgeschichte von Nils.« Eva stöhnte genervt auf. »Und das wird eh nichts.«

»Wird es wohl.«

»Wird es nicht.«

»Wird es …« Moritz sah Henrik an wie ein Welpe, der zu absolut allem bereit war. »Soll ich ihn anrufen?«

Henrik verspürte einen Hauch von Interesse. Was mehr war, als er seit einer ganzen Weile verspürt hatte.

»Ruf ihn an«, sagte er gnädig. Moritz sprang auf und zückte in der gleichen Bewegung sein Handy.

»Nils, Alter!«, brüllte er durch den Partylärm in das Gerät. »Ich hab einen Job für dich!«

Dann war er im Trubel verschwunden.

»Ach, du wolltest ihn nur loswerden?«, schnurrte Eva. »Das war echt clever von dir.«

»Nein.« Henrik nahm einen Schluck von seinem Bier. »Ich will Skifahren lernen.«

»Warum denn so plötzlich?« Eva machte einen Schmollmund, der bestimmt sehr sexy war.

»Ich weiß nicht. Klingt lustig, oder?« Henrik betrachtete die schwankende Meute vor seinen Augen. Oder schwankte er? Egal.

»Na ja.« Eva schien hin- und hergerissen zwischen ihrer Verachtung für Moritz und dem Wunsch, Henrik in allem zuzustimmen. »Wenn Mo 'ne Idee hat, ist sie immer schlecht.«

»Was hast du gegen Mo?«, fragte Henrik.

»Er ist nicht du.« Sie lächelte. Als er nicht reagierte, blinzelte sie verunsichert. »Na, er ist … ein Dorftrampel. Ich weiß, ich weiß, Ebernau ist angeblich eine Kleinstadt. Da sind wir super-stolz drauf.« Sie schnaubte verächtlich. »Aber die Jungs hier kannst du vergessen. Die interessieren sich nur fürs Saufen und so.«

Henrik betrachtete die fast leere Bierflasche in seiner Hand.

»Wenn du trinkst, ist das was anderes«, beeilte sie sich, zu sagen. »Du bist so … kultiviert. Man sieht dir das irgendwie an. Dass du … du weißt schon.«

»Dass ich Geld habe?« Seine Stimme war ausdruckslos. Was tat er hier überhaupt?

»Nein! Dass du … Kultur hast.« Sie schmiegte sich an ihn und er rückte ein Stück ab. Versuchte es zumindest. Plötzlich saß ein weiteres Mädchen neben ihm. Ihre Haare waren so hellbraun und glatt wie Evas. Einen Moment lang hielt er sie für Zwillinge, bis er die Unterschiede in ihren Gesichtern erkannte. Das neue Mädel reichte ihm eine grüne Flasche, an der Feuchtigkeit abperlte.

»Für dich.« Sie grinste frech. »Prost, Henry!«

Er nickte und stieß mit ihr an. Neben sich spürte er eine Wolke aus purem Hass. Eva lehnte sich über ihn, so weit, dass er die Tätowierung auf ihrem Rücken erkannte. Die spitzen Blüten einer Christrose schauten unter ihrem Shirt hervor.

»Was willst du hier?«, zischte sie. Wie eine Raubkatze, die sich mit einer anderen um ein fettes Stück Fleisch stritt.

»Sitzen.« Das neue Mädel grinste noch breiter. Ihre weißen, leicht unregelmäßigen Zähne blitzten. Noch eine von »unten« vermutlich. Ob jemand Geld hatte, konnte man meist an der Qualität ihrer Kieferorthopäden erkennen.

»Setz dich woanders hin«, blaffte Eva. Die Andere beachtete sie nicht.

»Hi, ich bin Amelie.« Ihre Schulter stieß gegen Henriks. »Wie in dem Film, weißt du?«

»Aha.« Er nahm einen Schluck aus der neuen Flasche. Eiskalte Flüssigkeit rann seine Kehle hinunter.

»Super, Trampelie«, zischte Eva. »Du hast dich vorgestellt. Und jetzt verpiss dich.«

»Oder was?« Amelie verschränkte die Arme und sah Eva herausfordernd an.

»Oder ich zerr dich an den Haaren raus.«

»Ha!« Amelie lachte rau. »Das will ich sehen.«

»Wirst du gleich, wenn du nicht aufpasst. Ich kann dich hier genauso schnell rauswerfen, wie ich heute Mittag an dir vorbeigezogen bin.«

»Einen Scheiß bist du.« Amelies pink glänzende Lippen verzogen sich spöttisch. »Dir hab ich doch die Fresse gepudert. Du hast ausgesehen wie ein Schneemann. Na, oder wie eine Schnee-Kuh.«

Sie stritten sich hin und her und ignorierten Henrik, was ihm ganz recht war. Er konnte eh nicht folgen. Es ging um irgendeine Ski-Rivalität, aber all die Fachausdrücke waren ihm fremd. Gab es eine Art Ski-Slang? Vermutlich.

Er wusste nicht, wie lange die beiden links und rechts von ihm saßen und sich über seinen Kopf hinweg mit Worten duellierten. Recht hässlichen Worten zum Teil. Irgendwann hörte er nicht mehr zu. Gab sich ganz dem Rausch hin, den dröhnenden Bässen, dem sanften Murmeln aus fünfzig Kehlen, dem lieblichen Klirren der Gläser …

Plötzlich stand Moritz vor ihm und brüllte ihm ins Gesicht.

»Henry!« Er strahlte. »Wach auf, ich hab deinen Skilehrer mitgebracht. Das ist Nils.«

»Hmwas?« Henrik blinzelte.

Ein Gigant schälte sich aus der Menge. Ein dunkelblonder Gigant. Breitschultrig und mächtig, dessen abgetragene, schwere Stiefel über den Holzboden polterten, als würde er über ein Schlachtfeld schreiten. Ungefähr so missmutig, als würde er in den Krieg ziehen, sah er auch aus.

Der verächtliche Blick des Kerls wanderte über die Feiernden, als wollte er ihnen allesamt den Hals umdrehen. Er hatte helle Augen. Hellgrüne. Lindgrüne, die Farbe von jungen Blättern … Henriks Kopf rutschte zur Seite und der Wikinger … ja, er sah aus wie ein Wikinger, dem man versehentlich einen Haarschnitt verpasst hatte … ging plötzlich waagerecht.

Henrik blinzelte. Der Typ war vor ihm stehengeblieben. Ha. Von nahem sah er jünger aus. Kaum jünger als Henrik selbst. Konnte das sein? Dann wäre er … achtzehn. Ne, das konnte nicht …

Henrik richtete sich auf. Starrte diesen Nils müde an. Moritz deutete auf ihn, als würde er eine Kirmesattraktion präsentieren.

»Nils ist der beste Skilehrer von ganz Ebernau. Mindestens.«

»Hallo«, sagte Henrik kraftlos. Irgendetwas war anders an dem Kerl. Irgendetwas … Moritz stemmte die Hände in die Hüften.

»Na, was sagt ihr? Nils?«

Der durchbohrte Henrik mit seinem stechend grünen Blick. Seine Lippe verzog sich, als wollte er die Zähne fletschen.

»Was ist denn das für ein Arschloch?«, knurrte er.

Mit einem Mal wurde es ruhiger. Die Mädels, die sich anscheinend weiter gestritten hatten, verstummten. Moritz starrte seinen Kumpel an.

»Mann, Nils«, zischte er. »Ich hab dir gesagt, dass er in Ordnung ist.«

»Er ist ein Arschloch.«

Bitte? Doch, Nils deutete ganz klar auf ihn. Henrik.

Der richtete sich auf.

»Nils …« Moritz schien die Situation sehr unangenehm zu sein. »Er ist wirklich okay. Und er sucht einen Skilehrer.«

»Kein Interesse.«

Und dann drehte dieser Nils sich einfach um und stapfte davon. Die wogende Menge verschluckte seinen Körper und sie sahen nur noch seinen Schädel, der sich auf die Tür zubewegte.

»Ich hab's dir gesagt«, flötete Eva.

»Ach, Scheiße!«, rief Moritz. »Henry, ich …«

Henrik erhob sich schwankend. Was erlaubte dieser … Depp sich? Er war überhaupt kein Arschloch! Und selbst wenn … Wie sollte man das mit einem Blick erkennen?

»Henry!«, rief Moritz, als er an ihm vorbeistürmte. »Wo willst du hin?«

»Diesen Wichser zurückholen«, knurrte Henrik. Oder lallte er? »Wenn der glaubt, er kann mich einfach beleidigen, dann hat er sich geschnitten.«

Er zögerte.

»Und wenn er denkt, er kann einfach so … nicht mein Skilehrer werden, auch.«

 

2. Nils

 

»Nils, Alter!«, brüllte Moritz in sein Ohr. »Ich hab einen Job für dich!«

Lautes Gelächter und Gläserklirren begleiteten ihn.

»Was für einen Job?«, fragte Nils misstrauisch.

»Einen Superjob!« Moritz war viel zu fröhlich. Klang, als hätte er ein halbes Bierfass geleert. Hinter sich hörte Nils das untrügliche Nicht-Geräusch seiner gesamten Familie, die um den Küchentisch saß und die Ohren spitzte.

»Was für einen Superjob?«

»Skilehrer! Ich hab nicht gefragt, aber ich schätz mal, das ist gut bezahlt.« Moritz lachte stolz.

»Wie gut bezahlt?«, fragte Nils. Das lautlose Ohrenspitzen hinter ihm verstärkte sich.

»Keine Ahnung, aber der Dude hier hat Geld. Henry.« Moritz rülpste laut. »Ein Supertyp. Den haut einfach nichts um. Ist voll egal, was irgendwer sagt, der bleibt immer …«

»Wer ist Henry?«, fragte Nils. »Ist das einer von oben?«

»Ja klar ist das einer von oben. Wer kann sich denn sonst ’nen persönlichen Skilehrer leisten?«

»Keiner.« Nils zögerte einen Moment lang. Sie brauchten Geld. Dringend. »Sag ihm, ich hab keine Lust. Der soll sich ’nen anderen Skilehrer suchen.«

»Was? Keule, du hast gesagt, du brauchst ’nen Job. Gestern erst.«

»Ich hab schon was«, brummte Nils und wollte auflegen. Aber sein zerkratztes Handy wurde ihm aus den Fingern gerissen.

»Sag dem Kerl, dass er einen neuen Skilehrer hat«, befahl seine Mutter Moritz. »Nils ist in einer Viertelstunde oben, um ihn kennenzulernen.«

»Bin ich nicht! Ich …«

Ihre giftgrünen Augen blitzten ihn böse an und Nils verstummte. Mist.

»In einer Viertelstunde.« Sie legte auf und sah ihren Ältesten an. »Schwing dich auf dein Fahrrad, Großer.«

»Aber …« Er knurrte leise. Sah sich nach seinen Geschwistern um, aber von denen war keine Hilfe zu erwarten. Sie schauten ihn vom Küchentisch aus vorwurfsvoll an, die Hände um die dampfenden Teetassen geschlossen. Den tranken sie nicht, weil sie ihn mochten, sondern, weil sie die Heizung nicht anstellen wollten. Und das, obwohl draußen Minusgrade herrschten. Brennholz war auch fast alle …

Nils seufzte. Er war zu egoistisch. Verdammt. Aber einer von diesen reichen Angebern … Er sah ihn schon vor sich. Die schauten alle gleich aus, mit ihren arroganten Fressen und ihrem »Mir kann keiner was«-Gehabe.

»Bin schon unterwegs«, brummte er.

»Schlag ’nen guten Preis raus.« Marc grinste breit. »Ich brauch ein neues Board.«

»Wir brauchen eine neue Heizung, du Egosau!« Josh war sofort auf hundertachtzig. Wütend starrte er Marc über seine Teetasse hinweg an.

»He, meine Karriere geht vor. Die Heizung tut’s doch noch.«

»Überhaupt nicht!«

Mit einem Mal war Nils froh, aus dem Haus zu kommen. Er bedachte die Bande mit einem Winken, das nur seine Mutter erwiderte. Und Shirley, die zu dem Anlass sogar die Nase aus ihrem Buch hob.

Dann war er unterwegs. Durch die kalte Nacht, über festgetrampelte Wege, auf denen seine Fahrradreifen nur nicht abrutschten, weil er hier entlang fuhr, seit er klein gewesen war. Lange her. Der Fahrtwind versuchte, unter seine Daunenjacke zu kriechen, schaffte es aber nur in den linken Ärmel. Den, an dem ein Druckknopf kaputt war. Ansonsten hielt das schäbige alte Ding ihn warm.

Als er aus seinem Viertel herausradelte, wurden die Straßen malerischer. Und viel besser beleuchtet. Er sauste die Hauptstraße hoch und fluchte leise in seinen Schal.

Skilehrer. Für einen von denen. Der würde bestimmt rumheulen, sobald er ihm ein paar deutliche Worte sagte. Seine Mutter unterrichtete deren Kinder, und die erzählte Dinge …

Sie durfte nicht mal sagen, dass die kleinen Schnösel etwas anders machen sollten. Sie musste es ihnen höflich vorschlagen. Eben noch hatte sie davon geredet.

»Leon-Marcel, wie wäre es, wenn du den Ski richtig herum anschnallst?«, hatte sie geflötet und Nils hatte sich halb totgelacht. Und nun wollte sie, dass er denselben Mist machte. Dabei hatte er einen Job so gut wie sicher. Einen besseren Job. Zwar da oben, aber bei Marie. Spüler und Kellner.

Marie war in Ordnung, egal, was seine Mutter sagte. Morgen würde er zur Probe arbeiten und … na, er würde das schon hinkriegen. Schnell spülen konnte er und Gläser tragen auch. Nur mit der Freundlichkeit haperte es ein wenig. Oder sehr, laut seinen Geschwistern.

Aber warum musste man diese feinen Pinkel auch ständig wie etwas Besonderes behandeln? Was war so toll an denen? Klar, als Skilehrer würde er vielleicht mehr verdienen als als Spüler … und das Geld war knapp. Wie immer. War schwer für seine Mutter und ihn, sie alle durchzubringen, wenn er noch in die Schule musste. Er war darauf angewiesen, in den Ferien zu arbeiten, nur …

Ich mach’s, wenn der Typ wirklich in Ordnung ist, sagte er sich. Wenn Moritz recht hat und man den nicht in Watte packen muss … und wenn er kein arrogantes, verwöhntes Söhnchen von irgendwem ist …

 

Auf den letzten Metern zu dem blöden Chalet musste er sein Rad schieben. Trotz all der Leute, die auf dem Weg hierher den Schnee zertrampelt hatten, war der Untergrund zu uneben.

Das Chalet. Es gehörte Marie, wie so vieles hier. Der untere Teil war aus grauen, fetten Steinblöcken gemauert. Der zweite Stock aus Holz gebaut und oben draufgesetzt.

Nils sah Leute auf dem breiten Balkon, als er näher kam. Und er hörte noch viel mehr. Ihre Stimmen drangen aus allen Fenstern. Musik schepperte. Irgendwer prostete sich geräuschvoll zu. Er erkannte Julia und Daniel da oben. In einer bunten Masse reicher Jugendlicher. Die beiden mischten sich gern unter die Schnösel. So wie fast alle aus seiner Klasse.

Die gaben immer damit an, wen sie getroffen hatten, mit wem sie geredet hatten, mit wem gevögelt … Sie kapierten nicht, was Nils fast seit seiner Geburt wusste: dass sich die Klassen nie wirklich vermischten. Wenn die reichen Gören ausgetrunken und zu Ende gevögelt hatten, verschwanden sie. Ohne sich je wieder zu melden.

Er schüttelte den Kopf. Karrte sein Bike die letzten paar Meter hoch und schloss es unter dem Balkon an. Atmete tief ein.

Schau ich mir den Kerl halt mal an, dachte er. Vielleicht, nur vielleicht …

»Nilsi!«, brüllte Moritz und wankte durch den plattgetrampelten Schnee auf ihn zu. Ja, der war ziemlich besoffen. »Niiilsi!«

So nannte er Nils nur, wenn er kurz vorm Kollaps stand.

»Mo.« Er stoppte Moritz, der fast gegen ihn getorkelt wäre, mit einer Hand. »Gut, ich bin hier. Wo ist der Kerl?«

»Henry? Du wirst ihn lieben, der ist so …« Moritz überlegte. »Cool. Wie … tiefgefroren.«

»Klingt … sympathisch.«

»Totaaal!«

Vielleicht war er in Ordnung. Nils konnte ja auch mal Glück haben, oder?

Sie drängten sich durch die feiernde Menge. Nils erkannte noch mehr Leute aus seiner Klasse. Die meisten schauten verwundert, als sie ihn sahen. Er war nur selten auf Partys und nie auf denen von den reichen Skitouristen. Er roch Alkohol, Schweiß und Zigarettenqualm. Gelächter gellte in seinen Ohren. Er stieg über ein knutschendes Pärchen, das sich auf dem Boden wälzte. Wurde angerempelt von Leuten, die an seinem kräftigen Körper abprallten wie Pingpongbälle.

Dieser Henry war nicht in Ordnung.

Nils erkannte ihn, noch bevor Moritz ihn vorstellte.

»Henry!«, brüllte Moritz. »Wach auf, ich hab deinen Skilehrer mitgebracht. Das ist Nils.«

Der Typ hing auf dem Sofa, arrogant und so offensichtlich schwerreich als würde er einen aus Tausendern genähten Anzug tragen. Er hatte zwei Mädels im Arm. Nils erkannte Eva und Amelie, die sich um den Schönling stritten. Natürlich. So einer hatte immer zwei Mädels im Arm. Mindestens.

Nils sah sich um und bemerkte ohne Überraschung, wie viele Blicke auf dem Schnösel ruhten. Selbst unter den Reichen war er eine Ausnahmeerscheinung. Dem triefte der Wohlstand aus jeder Pore. Aus jeder … hübschen Pore. Er sah verdammt gut aus. Wie ein Model, mit seinen sanft gewellten Haaren und den kaffeebraunen Augen. Und den Lippen, die so voll und geschwungen waren, dass sie fast unecht wirkten. Irreal … Und natürlich hing der Kerl vollkommen desinteressiert auf dem Sofa, die Lider mit den dichten Wimpern halb geschlossen.

Arroganter Mistkerl.

Nils stellte sich vor ihn und der Typ richtete sich unwillig auf. Als wäre er sauer, dass er in seinem ach-so-wichtigen Rumsitzen gestört worden war. Der müde Blick seiner dunklen Augen wanderte langsam an Nils hoch.

Moritz strahlte und stach Nils mit seinem Zeigefinger fast ein Auge aus.

»Nils ist der beste Skilehrer von ganz Ebernau«, behauptete er. »Mindestens.«

»Hallo«, lallte der Typ. Er klang so herablassend, dass Nils ihn gleich noch mehr verachtete. So wie er da hing, selbstverliebt und gelangweilt, zwischen den Mädels …

»Na, was sagt ihr? Nils?« Moritz hüpfte auf und ab wie ein koffein-gedoptes Wiesel.

Nils starrte auf Henry nieder. Versuchte, irgendetwas zu sehen, das er nicht absolut hasste. Und scheiterte.

»Was ist denn das für ein Arschloch?«, knurrte er.

Die Mädels hörten auf, sich zu streiten. Moritz atmete erschrocken ein. Und dieser Henry … Dessen Augen weiteten sich ein klein wenig. Immerhin.

»Mann, Nils«, zischte Moritz nervös. »Ich hab dir gesagt, dass er in Ordnung ist.«

»Er ist ein Arschloch«, wiederholte Nils. Warum war er der Einzige, der das sah? Warum behandelten die anderen diesen Horst, als wäre er ein Halbgott oder so?

»Nils …« Moritz trat von einem Fuß auf den anderen. »Er ist wirklich okay. Und er sucht einen Skilehrer.«

»Kein Interesse.«

Nils drehte sich auf dem Absatz um und marschierte davon. Mitten durch die Menge. Vorbei an blöden Leuten, die nichts Besseres zu tun hatten, als zu feiern, während er morgen früh in Maries Küche stehen musste, damit sie ihnen nicht das Gas abdrehten …

Kalte Luft schlug ihm entgegen, sobald er aus der Tür trat. Herrlich frisch im Vergleich zu dem Mief da drinnen. Schneebedeckte Kiefern streckten ihre Zweige aus der Dunkelheit. Er wollte heim. Obwohl er keine Lust hatte, seiner Familie zu erklären, warum er den Job abgelehnt hatte …

»Hey!«

Er fuhr herum.

Dieser Henry warf die Tür hinter sich zu. Schwankte auf Nils zu, dass seine weichen Locken in seine Stirn fielen.

»Was willst du?«, knurrte Nils.

»Ich verlange, dass du mein Skilehrer …« Ein verwunderter Ausdruck trat in Henrys Gesicht. Er riss die Augen auf. Gleichzeitig knickten seine Beine weg. Nils konnte ihn gerade noch auffangen.

»Oh, Scheiße«, murmelte er.

Er kannte das. Von Moritz, wenn sie ihn anriefen, damit er ihn von einer Party abholte. In der Wärme drinnen merkte man nicht, wie betrunken man war. Aber sobald man nach draußen trat und die Lungen mit Sauerstoff füllte, erwischte es einen mit voller Wucht. In letzter Sekunde schaffte Nils es, Henry herumzudrehen. Sein Gesicht von sich wegzumanövrieren.

Dann schoss ein graugelber Strahl aus Henrys Mund. Kotze klatschte vor seinen Füßen in den Schnee. Aus seiner Kehle kamen verzweifelte Würgelaute.

Nils hielt ihn an der Taille und strich ihm die Haare aus dem Gesicht. So, wie er das bei Marc gemacht hatte, als der seinen ersten Rausch gehabt hatte. Bei den Zwillingen, als der Norovirus sie erwischt hatte. Und bei seiner Mutter, als sie mit den Zwillingen schwanger gewesen war.

»… verlange …«, brachte der Schnösel hervor, aber ein weiterer Würgeanfall unterbrach ihn. Vor seinen Füßen, die in feinstem Leder steckten, breitete sich ein unappetitlicher See aus.

»Du verlangst gar nichts«, brummte Nils. Jetzt bloß kein Mitleid entwickeln, nur, weil der Typ sich aufs Erbärmlichste wand, hustete und keuchte. Wo waren seine ganzen Freunde? Hier draußen stand niemand herum, nur sie beide …

Die Tür krachte an die Wand und Moritz taumelte heraus.

»Nils, du Trottel … Henry?« Er wankte auf sie zu und wäre fast in Henrys Spucklinie geraten. Erstaunlich elegant wich er aus. »Henry? Geht’s dir gut?«

Henry hatte jeden Versuch, zu reden, aufgegeben. Moritz betrachtete ihn andächtig. Dann sank er langsam zu Boden und lehnte sich an die Steinwand des Chalets.

»Scheiße …«, murmelte er. »Voll … müde.«

»Mo, wenn du jetzt auch noch anfängst, zu spucken, kann ich dir nicht helfen«, sagte Nils. »Dieser Henry ist sauschwer.«

Aber Mos Kopf kippte nach hinten und seine Augen schlossen sich. Ein sanftes Schnarchen brachte seine Lippen zum Zittern. Nils stöhnte leise. Wenn er nichts tat, würde Mo da liegen bleiben, bis sie am Morgen seine steifgefrorene Leiche fanden. Und dieser Henry vermutlich auch.

Dessen Magen hatte sich wohl endlich beruhigt und er hing wie ein nasser Sack in Nils' Armen. Nils packte sein Handgelenk und legte sich dann Henrys Arm über die Schulter. Versuchte, ihn vorwärts zu schleppen, aber der Typ weigerte sich, mitzuhelfen.

»He! Lauf ein Stück mit!«, kommandierte Nils. Keine Reaktion. Die sündhaft langen Wimpern dieses Henry hoben sich keinen Millimeter.

Auch er schnarchte. Toll. Nils wollte gerade losgehen, als Henrys Kopf herumschlenkerte und seine Wange an Nils' Hals landete. Kalte Haut. Weich, ein wenig stoppelig. Nils verharrte. Schluckte. Dann riss er sich zusammen, warf Henry über seine Schulter und schleppte ihn durch die Tür.

Die Mädels stritten immer noch. Aber sie standen auf, damit er Henry auf das Sofa legen konnte. Er zwängte sich noch einmal durch die Menge und holte Moritz. Glücklicherweise war die Sitzfläche groß genug für zwei Alkoholleichen. Nils versicherte sich, dass die beiden seitlich lagen und frei atmen konnten. Er befahl den nächstbesten Neugierigen, die fragten, was los sei, ein Auge auf sie zu haben. Dann verließ er diese sinnlose Party. Er radelte durch die kalte Nacht nach Hause.

So eine Zeitverschwendung. Hoffentlich würde er diesen Schönling nie wiedersehen.

3. Wut

 

Er musste pissen. Sofort. Das war alles, was Henrik wusste, als er zu sich kam. Er spürte nassen Stoff an seiner Wange. Blinzelte. Licht verbrannte seine Netzhaut. Er schloss sie wieder. Aber seine Blase war so voll, dass er es wohl nochmal versuchen musste … Musste er? Kurz überlegte er, es einfach darauf ankommen zu lassen, entschied sich aber dagegen. Und öffnete endgültig die Augen.

Das Wohnzimmer war ein Saustall. Das Kissen unter ihm vollgesabbert. Getrocknete Spucke klebte in seinem Mundwinkel. Ihm war schlecht, seine Kehle war eine säureverbrannte Wüste und sein Schädel ein Kirchturm mit laut dröhnenden Glocken. Mühsam erhob er sich von dem Sofa und sah sich um. Er war allein.

Schnell jetzt.

Er torkelte über leere Flaschen und umgestürzte Möbel und erreichte das Badezimmer in letzter Sekunde. Irgendwie schaffte er es sogar, die Schüssel zu treffen. Er hätte sich gern gesetzt, aber die Brille triefte vor rotschillerndem Erbrochenem. Irgendein Ekelgetränk aus Wackelpudding und Wodka, erinnerte er sich. Einer seiner neuen Freunde hatte es mitgebracht.

Aber die waren weg. Sie hatten ihn friedlich schlummernd und in die Kissen sabbernd zurückgelassen. Sein Kopf fühlte sich an, als wollte ein Monster daraus entkommen, das kratzte, biss und versuchte, seine Schädeldecke zu sprengen. Aspirin, erinnerte er sich.

Er fand es im Badezimmerschrank, der glücklicherweise gut gefüllt war. Die Tablette löste sich zischend in seinem Zahnputzbecher auf. Als er es wagte, in den Spiegel zu schauen, war er überrascht, wie lebendig er aussah. Viel besser als er sich fühlte. Seltsam. Sonst … Hm. Er erinnerte sich an etwas. An gestern. Moritz hatte gesagt … er bräuchte einen Skilehrer.

Er kratzte sich am Kopf. Das Bild, das er kurz vor Augen gehabt hatte, verschwand im Nebel des Katers. Er setzte das Glas an die Lippen und trank es in einem Zug aus …

Nils.

So hieß der Typ, der ihn als Arschloch bezeichnet hatte. Einfach so, ohne dass Henrik etwas getan hätte. Hatte er nicht, oder? Bestimmt nicht, sonst wäre er nicht so sauer …

Henrik starrte in den Spiegel. Sah den Ausdruck der Verwunderung in seinem blassen Gesicht.

Er hatte sich geärgert. Er hatte etwas gefühlt. Ärger war ein Gefühl, oder? Garantiert. War das gut?

Er musste Wolfram fragen. Wo war sein Handy? Oben im Schlafzimmer, vermutlich.

Vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, tapste er die freistehenden Stufen der Holztreppe hinauf. Man hatte sie einzeln in die Mauer eingelassen und mit einem schmiedeeisernen Geländer versehen. Sehr edel. Aber mit Kater lebensgefährlich.

Er erinnerte sich, dass er damals fast die gesamte Länge der Treppe heruntergestürzt wäre. Fast. Er hatte sich gerade noch an dem mit Elchen verzierten Geländer festhalten können. Hier war alles mit Elchen verziert. Der Kamin, die Gardinen, die Tischdecke …

Leise öffnete er die Tür zum Schlafzimmer. Vielleicht war ja noch jemand hier und wollte weiterschlummern … Ja, unter der karierten Bettdecke machte er zwei Erhebungen aus. Helles Mittagslicht brachte die honigfarbenen Bodendielen zum Leuchten. Ein Geruch nach abgeschliffenem Holz lag in der Luft, der bestimmt heimelig war. Der einen bestimmt dazu brachte, sich geborgen zu fühlen … wenn man etwas fühlte. In Henrik war wieder alles erstarrt. Aber gestern, da hatte er …

Ah, das Handy lag auf dem Nachttisch. Er schlich auf Zehenspitzen heran, bis er danach greifen konnte. Seine Finger schlossen sich um die glatte Hartplastikhülle. Und wollte sich gerade zurückziehen, als sein Blick auf das Bett fiel.

Eva und Amelie schliefen dort, eng umschlungen. Und nackt, soweit er das erkennen konnte. Amelie umarmte Eva von hinten, und die hatte ihre schlanken Finger mit Amelies verschränkt. Hellbraune Haare breiteten sich auf dem Kissen aus wie Seetang auf einem Felsen. Jetzt, da es hell war, konnte er erkennen, dass Evas Mähne dunkler war.

Henrik wusste nicht, was er davon halten sollte. Also drehte er sich um und schlich aus dem Zimmer, ohne die beiden zu wecken.

Wolfram ging beim dritten Läuten ran.

»Wolfram Flint-Waldhaus«, näselte er. Irgendetwas war mit seiner Nasenscheidewand, vermutete Henrik. Wolfram klang immer, als hätte er Schnupfen. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Wolfram, ich glaube, ich habe gestern etwas gefühlt. Da war so ein Kerl, der mich total genervt hat. Der kannte mich gar nicht und hat mich gleich ein Arschloch …«

»HENRIK?« Ein Husten. Verschluckt. »Henrik, bist du das?«

»Äh, ja. Also, dieser Typ meinte …«

»Henrik, wo bist du?«, rief Wolfram in seine Ohrmuschel.

»Das tut nichts zur Sache.« Henrik sah aus dem Küchenfenster, hinter dem sich sanft verschneite Hügel wellten.

»Was, du …« Tiefes Einatmen. »Henrik, dein Onkel hat mich angerufen. Er macht sich Sorgen um dich. Sie können dich nirgendwo finden und er hat schon die Polizei und einen Privatdetektiv verständigt und …«

»Die Polizei?« Henrik schrak zusammen. »Aber ich hab ihm doch eine Nachricht geschickt. Dass es mir gut geht und so.«

»Henrik.« Wolfram klang, als gäbe er sich Mühe, nicht zu schreien. »Es geht dir nicht gut. Das weißt du.«

»Ja.« Henrik sah auf seine Füße, die in schwarzen Merino-Socken steckten. Irgendjemand hatte ihm gestern die Schuhe ausgezogen. Wer? »Aber … kannst du ihm sagen, dass er keine Angst um mich haben muss? Ich werde mir nichts antun. Ich musste nur … mal raus.«

»Hm.« Ein missgünstiges Schnauben. »Ich kann es ihm ausrichten, denke ich. Und was soll ich ihm sagen, wo er dich findet?«

»Na, nirgendwo. Ich will nicht gefunden werden.«

»Warum?«

»Ich will … mal wieder normal sein?« Wenn er ehrlich war, hatte Henrik nicht darüber nachgedacht. Er hatte am Tag nach Weihnachten einfach seine Sachen gepackt, eins seiner Konten leergeräumt und war abgehauen.

»Hm-hm«, machte Wolfram und klang endlich wie ein Therapeut. Gleich darauf noch mehr, als er fragte: »Und wie fühlst du dich dabei?«

»Ich fühle nichts. Wie immer. Nur gestern …« Henrik räusperte sich. »Da war ich kurz wütend.«

»Hm-hm. Und dann?

»Dann hab ich gekotzt, soweit ich mich erinnere.« Henrik runzelte die Stirn. Sobald er aus der Tür getreten war, hatte der Filmriss eingesetzt. Ob Nils ihm die Schuhe ausgezogen hatte? Oder Moritz?

»Hast du getrunken?«

»Eher gesoffen.« Henrik massierte seine Schläfen. Der Schmerz wurde langsam schwächer. »Also ich … da war dieser Typ und der meinte, ich wäre ein Arschloch. Obwohl er mich nicht kannte. Aber … wenn ich darüber nachdenke: Da ist er nicht der Erste. Der mich ein Arschloch genannt hat. Aber normalerweise werde ich nicht wütend.«

»Hm-hm.«

»Ich … Denkst du, ich soll die Sache weiter verfolgen? Moritz meinte eh, ich könnte ihn als Skilehrer engagieren.«

»Wer ist Moritz?«

»Ja, ich glaub, das mache ich. Danke für deine Hilfe.«

»Was? Henrik, du solltest …«

Henrik legte auf. Atmete tief ein. Horchte in sich hinein. Nichts. Na, egal. Er hatte eine Spur. Eine Chance, egal wie klein. Das war doch was.

Er vernahm leise Schritte hinter sich. Eva schlich an der Küche vorbei, die dicken Schneestiefel in der Hand.

»Kaffee?«, fragte er.

Sie zuckte zusammen.

»Äh, ne. Danke«, brummte sie und huschte weiter.

Die Tür fiel donnernd ins Schloss. Henrik fuhr sich durch die Haare. Dann würde er alleine Kaffee trinken … Obwohl, er konnte auch gleich in Maries Hütte gehen und frühstücken. Er traute sich gerade kaum zu, Rührei zu machen. Und er konnte sie über diesen Nils ausfragen. Marie kannte jeden, das hatte er schon herausbekommen.

 

4. Arbeit

 

Gegen elf wurde es endlich ruhiger. Der Stapel schmutziger Teller neben ihm wurde kleiner und zwischendurch schaffte Nils es sogar, die Spülmaschine auszuräumen und das Besteck in die Kästen zu sortieren. Die letzten Frühstücksgäste verzogen sich auf die Piste.

Marie kam herein, als er gerade eine der gusseisernen Pfannen schrubbte.

»Läuft’s gut?«, fragte sie, wie immer ohne zu lächeln. Ihre schwarzen Haare waren zu einem Zopf gebunden, der ihr fast bis auf die Taille fiel.

»Alles okay.« Nils nickte und drehte sich wieder um.

Er erwartete, dass Marie die Küche verlassen würde. Dimitri, der Koch, hasste es, wenn man ihm im Weg stand, während er zwischen den Herden herumwirbelte. Obwohl er bei der Chefin persönlich natürlich nichts sagen konnte. Der Chefin dieses Ladens und von über zehn Chalets. Marie war eine der reichsten Frauen, die er kannte. Und sie kam von »unten«, genau wie er.

Aber Marie trat an ihn heran. Der Geruch nach kalter Zigarettenasche und Pfefferminzkaugummi stieg in seine Nase.

»Daniel braucht eine Pause. Hast du schon mal gekellnert?«

»Ja, in Willis Kneipe«, sagte Nils. Marie verzog den knallrot geschminkten Mund.

»Die Gäste sind hier ein bisschen gewaschener. Na ja, aber besser als Daniel wirst du es schon machen. Lass den Kram stehen und komm mit.«

Nils nahm seine Spülerschürze ab, hängte sie an den Eisennagel neben der Tür und folgte ihr ins Hinterzimmer.

Daniel huschte an ihnen vorbei, blass wie eine Leiche, nur grünlicher. Die gestrige Party stand ihm ins Gesicht geschrieben. Wie durch ein Wunder hatte er den Frühstücksansturm überstanden, aber nun … war er mit seiner Kraft wohl am Ende. Die Party bei diesem blöden Henry … Der schlief seinen Rausch bestimmt noch aus und musste nicht arbeiten wie normale Menschen.

Kurz darauf trug Nils eine Kellneruniform. Das weiße Hemd spannte ein wenig über seiner Brust, aber die schwarze Hose saß wie angegossen.

»Gar nicht schlecht«, sagte Marie anerkennend. Ihre schmale Augenbraue hob sich, als sie ihn betrachtete. »Alles andere als schlecht sogar. Wenn du ein bisschen freundlich bist, schwimmst du heute Abend in Trinkgeld.«

»Warum soll ich freundlich zu denen sein?«, brummte Nils. Sie seufzte leise.

»Sei wenigstens höflich. Oder du hattest die längste Zeit einen Job.«

Nils nickte mürrisch. Er konnte es kaum erwarten, zurück in die Spülküche zu kommen. Feine Skifahrer zu bedienen war nicht sein Ding.

Als Marie und er in den Speiseraum traten, war er fast leer. Die Tischdecken mit den roten Trachtenmustern strotzten vor Essenresten, halbleeren Tellern und Kaffeeflecken.

»Räum erstmal ab. Ich kümmere mich um die Gäste.« Marie warf ihm einen warnenden Blick zu. Nils beschloss, sich zusammenzureißen. Sie brauchten das Geld.

Ein paar Minuten lang war der Job richtig nett. Er sammelte Geschirr ein und genoss die Sonnenstrahlen, die durch die großen Fenster hereinschienen. Draußen schwebten Leute vorbei. Eine Liftstation begann genau vor der Tür von Maries Bar und Restaurant, was den Laden ziemlich beliebt bei den Touristen machte.

Für Nils' Geschmack war die Einrichtung zu kitschig. Der Raum quoll fast über vor Schnickschnack. Samtgirlanden wanden sich um die kräftigen Deckenbalken und auf den Fensterbänken drängten sich plüschige Teddys in Ski-Outfits. Die Fensterscheiben waren mit Kunstschneemustern verschandelt und die Wände mit Lichterketten. Der Laden passte gar nicht zu Marie. Der einzige Schmuck, den die an ihrem hageren Körper trug, war ihr knallroter Lippenstift. Aber den Touristen gefiel es wohl …

Ach, Kacke.

Dieser Henry marschierte herein. Er öffnete die Tür, als erwartete er, dass ein roter Teppich vor ihm ausgerollt würde. Allein, wie der sich die Handschuhe von den Fingern streifte. Wie er den Kopf hielt. Wie ein … Pfau. Ihre Blicke trafen sich. Henrys hübsche Augen wurden groß. Dann trat Marie vor ihn, um ihn zu begrüßen und versperrte Nils die Sicht.

Natürlich kam dieser Idiot hierher. Was …

»Nils!« Marie winkte ihn her. Nils ließ den Stapel schmutziger Teller stehen und trottete hinüber.

»Hallo Nils«, sagte dieser Henry. Eine dunkle Locke fiel ihm in die Stirn. Nils erinnerte sich, wie weich die Dinger sich gestern angefühlt hatten und seine Laune verschlechterte sich weiter.

»Henry möchte, dass du ihn bedienst.« Ein warnender Unterton lag in Maries kühler Stimme. »Das machst du mit Vergnügen, nicht wahr?«

»Klar«, sagte Nils, so überzeugend, wie er konnte, und wandte sich an Henry, dessen Gesicht so arrogant und überheblich war, als hätte er sich gestern nicht vor Nils die Seele aus dem Leib gekotzt. »Wo willst du sitzen?«

»Am Fenster, wenn das möglich ist.« Henrys Stimme war kalt, aber melodiös. Irgendwie … unbeteiligt.

»Sicher.« Nils rang sich ein Lächeln ab, das nur einen Mundwinkel erreichte, und geleitete den Schnösel zu einem Zweiertisch.

Sonnenstrahlen glitzerten auf den Messern und Gabeln, die in einem rustikalen Bierkrug steckten. »Rustikal« bedeutete »mit Elchen«. Total albern. Nils hatte in seinem Leben noch keinen echten Elch gesehen, warum pflasterten sie alles mit den Viechern voll und nannten es »authentisch«?

»Oh, noch ein Elch«, sagte der Snob. »Gibt es hier überhaupt wilde Elche?«

»Klar, die sind super-authentisch«, murrte Nils. »Was willst du essen? Brauchst du die Frühstückskarte?«

»Gestern hatte ich das große Schlemmerfrühstück«, sagte der Kerl. »Mit Rührei und Lachs. Ich denke, das nehme ich wieder.«

»Was zu trinken?«

»Kaffee. Schwarz.«

»Okay« Nils wandte sich um und versuchte, die Tatsache zu verdauen, dass dieser Schnösel seinen Kaffee so trank wie er. Mit dem wollte er nichts gemeinsam haben, nicht mal die kleinste Kleinigkeit.

Während Dimitri das Frühstück zubereitete, räumte Nils die restlichen Tische ab. Dieser Typ beobachtete ihn. Die ganze Zeit über. Sein dunkler Blick bohrte sich in Nils' Rücken als wäre er irgendwie interessant.

»Was ist?«, flüsterte er Henry zu, als Marie hinter dem Tresen beschäftigt war. »Wieso glotzt du mich so an?«

Der Kerl schaute verwundert.

»Ich habe nichts Besseres zu tun«, sagte er, als ob das Nils' Schuld wäre. »Mir ist langweilig.«

»Soll ich dir ’ne Zeitschrift bringen? Das Angeberblatt oder Schnösel Aktuell oder …«

Marie sah auf und Nils beeilte sich, von dem Typen wegzukommen.

Als er ihm das Frühstück servierte, lächelte der Kerl nicht mal. Na ja, Nils lächelte ebenfalls nicht, also konnte er ihm das nicht übel nehmen. Stattdessen deutete Henry auf den Platz vor sich.

»Setz dich, Nils.«

Nils starrte ihn an. Was?

»Ne, danke«, sagte er. »Ich muss arbeiten. Guten Appetit wünsche ich.«

»Marie!« Der Schnösel winkte Marie, die gerade den Nebentisch abkassierte. »Hat Nils einen Moment Zeit, um sich zu mir zu setzen?«

»Natürlich«, sagte Marie, diese eiskalte Verräterin. Dabei schneiten bereits die ersten Mittagsgäste herein, und wenn sie die alleine bedienen wollte, würde sie schwer beschäftigt sein.

»Aber …«, versuchte Nils es, doch sie unterbrach ihn sofort.

»Setz dich zu Henry, Nils. Und sei höflich.«

So eine … was dachte dieser Kerl sich? Warum steckten dem alle alles in den Arsch? Nils plumpste vor ihm in den Stuhl und verschränkte die Arme. Er sah Henry wütend an.

»Und? Was willst du?«

Henry verzog keine Miene. Er faltete die Hände unter seinem Kinn und durchbohrte Nils mit Augen, die so dunkel waren wie der dampfende Kaffee vor ihm. Das war das Irritierende, wurde Nils klar. Alles an Henry war eigentlich warm. Seine Haarfarbe, seine Augen, der leichte Goldschimmer seiner Haut. Aber der Kerl war ein Eisklotz. Ein gefühlloser Eisklotz. Das passte nicht zusammen.

»Ich will Skifahren lernen«, sagte Henry. Sein Blick löste irgendetwas in Nils' Magen, das erwachte und hochflatterte wie eine kleine Motte.

»Dann tu das.« Nils verschränkte die Arme nur noch fester.

»Und ich will, dass du mein Skilehrer wirst.«

»Vergiss es.«

»Wieso?« Henry legte den Kopf schräg. »Du magst mich nicht, aber warum? Gestern hast du mich auch als Arschloch bezeichnet.«

»Weil du eins bist.« Nils sah aus dem Fenster. Lachende Touristen schwebten vorbei, mit verspiegelten Sonnenbrillen und strahlend weißen Zähnen.

»Mag sein, aber woher weißt du das?« War da ein Hauch von Interesse in Henrys Stimme?

»Instinkt.« Der Duft des frischen Rühreis zog zu Nils herüber und erinnerte ihn daran, wie leer sein Magen war. Frühstück war für ihn ausgefallen. Seine Geschwister hatten mal wieder den Kühlschrank leergefressen. Und die Reste dieser reichen Schnösel zu verputzen? Dafür war er zu stolz.

Henry nahm ein Croissant aus dem Brotkorb, riss es auf und begann, es mit Rührei zu füllen.

»Magst du auch etwas?«, fragte er Nils. So arrogant.

»Denkst du, ich kriege zuhause nichts zu essen?«, schnappte Nils. »Meinst du, du musst mich durchfüttern, weil ich so scheißarm bin?«

»Was? Nein.« Die Verwunderung in Henrys Blick war echt. Einen Moment lang kitzelte das schlechte Gewissen Nils. Er benahm sich wie ein Arschloch. Aber er schaffte es nicht, nett zu sein.

»Was soll diese Aktion?«, fragte er, um seinen Ärger aufrechtzuerhalten. »Fühlt es sich gut an, mit deiner Macht zu protzen? Erst zwingst du mich, dich zu bedienen und dann, hier rumzusitzen. Ganz schön eingebildet für jemanden, der mir gestern noch fast auf die Schuhe gekotzt hat.«

»Habe ich das?«, fragte Henry und biss unbeeindruckt in das Croissant.

»Wie ein Feuerwehrschlauch«, sagte Nils. »Bist gar nicht mehr rausgekommen aus dem Spucken.«

»Ah. Das tut mir leid.« Eine offensichtliche Lüge. Dem Kerl war das scheißegal. Hasserfüllt sah Nils ihm beim Kauen zu. Ein Blätterteigkrümel klebte auf Henrys vollen Lippen und Nils konnte nur mit Mühe den Blick abwenden.

»Gut«, knurrte er. »Kann ich jetzt gehen?«

»Warum willst du nicht mein Skilehrer werden?«, fragte Henry. »Eva meinte, du hasst die Leute von oben. Warum?«

»Warum nicht? Guck doch mal, wie du mich behandelst. Wie du hier reingeschneit bist, als würde der Laden dir gehören. Wie sich die Mädels um dich gestritten haben, gestern und dir das am Arsch vorbeigegangen ist. Streiten sich die ganze Zeit Mädels um dich?«

»Bist du neidisch?« Eine breite Augenbraue hob sich. »Ich glaube nicht, dass du Probleme mit Mädchen hast, oder?«

Nils zuckte zusammen. Er konnte nicht anders. Hatte dieser Kerl …

»Wie meinst du das?«, zischte er. Henry deutete auf Nils' Brust, die die Knöpfe seines Hemdes fast sprengte.

»Na, du siehst echt gut aus.« Henry biss erneut in sein Rühreicroissant. »Wie ein Wikinger oder so. Ich dachte, Frauen stehen auf sowas.«

»Was, ich …« Nils zwang sich, nicht rot zu werden. »Keine Ahnung, worauf die stehen«, brummte er. »Mir auch egal. Ich hab keine Zeit dafür. Ich muss ’ne Familie durchfüttern.«

»Musst du das?« Verdammt, er hatte Henry nichts verraten wollen. Der verputzte das Croissant und kramte in seiner Hosentasche. Ein bestimmt sauteures Lederportemonnaie tauchte in seinen Händen auf. »Wie viel brauchst du?«

»Was? Willst du mir etwa … Geld schenken?« Nils war entsetzt. »Einfach so?«

»Aber nein.« Henrys wellige Haare gerieten durcheinander, als er den Kopf schüttelte. »Das ist selbstverständlich eine Anzahlung. Für deine Dienste als Skilehrer.«

»Für deine Dienste als Skilehrer«, äffte Nils nach. »Hörst du dich selbst reden?«

»Ist das ein Nein?«, fragte Henry. Immer noch klebte dieses blöde Blätterteigstückchen an seinem Mund. Ein goldgelber Fleck auf der prallen, rosa schimmernden Unterlippe.

»Natürlich ist das ein Nein.« Er deutete auf Henrys Mund. »Du … du hast da was.«

Henrys Zunge erschien. Nass glänzend fuhr sie über die Kurve der Unterlippe. Verdammt, der Kerl hatte einen Mund wie diese kitschigen Weihnachtsengel. Nur … sexy.

»Was kann ich tun, um dich umzustimmen?«, fragte Henry.

»Du … was?« Diesmal konnte er nicht verhindern, rot zu werden. Nils ballte die Fäuste. »Nichts natürlich. Lass mich endlich in Ruhe. Such dir 'nen anderen Skilehrer.«

»Ich will keinen anderen.«

»Tja, du Schnösel, dann wirst du einmal in deinem Leben nicht das bekommen, was du willst.« Nils grinste. »Wie fühlt sich das an?«

»Unerwartet … interessant.« Henrys pralle Lippen verzogen sich zu … einem Lächeln?

Seine Augen sahen Nils herausfordernd an und er wirkte plötzlich richtig wach. Was war jetzt los? Der Kerl flirtete doch nicht etwa mit ihm, oder? Nein. Nein, ganz bestimmt nicht.

»Ich muss zurück in die Küche.« Der raue Klang seiner Stimme überraschte Nils. »Arbeiten. Und so.«

»Ich biete dir fünfhundert Euro am Tag, wenn du mir Skifahren beibringst«, sagte dieser Schönling und zog tatsächlich fünf nagelneue grüne Scheine aus seiner Brieftasche. Nils starrte darauf.

Nein, befahl er sich. Nein.

»Denkst du, ich bin käuflich, du Arschloch?«, brüllte er.

Oh Mist, er brüllte wirklich. Und er war aufgesprungen. Er hörte den Stuhl hinter sich zu Boden poltern. Gäste an allen Tischen starrten ihn an. Erschrocken. Nur Henry wirkte milde interessiert. Marie, am anderen Ende des Raums, warf ihm einen eindeutigen Du-bist-gefeuert-Blick zu. Fuck. Konnte er sie noch umstimmen? Konnte er …

Scheiß drauf.

»Und jetzt lass mich in Ruhe«, motzte er, packte sich im Vorbeigehen ein Brötchen aus Henrys Korb, biss ab und marschierte an Marie vorbei.

»Ja, ja, ich bin gefeuert«, brummte er.

»Und wie du das bist.« Sie hob nicht mal die Stimme.

Schwungvoll stieß er die Tür auf und stapfte in die Kälte hinaus. Die verdammt kalte Kälte, die sofort durch das dünne Hemd drang. Fröstelnd hielt er inne. Sollte er nochmal zurück und seine Sachen holen? Wäre ziemlich peinlich, aber …

Wäre viel zu peinlich, entschied er und schloss sein Fahrrad auf.

 

5. Unten

 

»Es tut mir wirklich leid«, sagte Marie kopfschüttelnd und legte ein frisches Brötchen in Henriks Korb. »Ehrlich. Ich achte sehr auf geschultes Personal, bloß heute gab es einen Engpass …«

»Schon gut«, sagte Henrik. »So schlimm war das auch nicht. Eigentlich ganz amüsant.«

Marie sah ihn zweifelnd an. Aber er meinte es ernst. Er fühlte sich seltsam … beschwingt. Doch, er fühlte definitiv etwas. Er wusste nicht, was, aber es war ein Gefühl. Bestimmt. So lange schon war er kalt. Vereist, als wäre sein Körper ein Gletscher, in dem alles lahmgelegt und abgestorben war. Einsam.

Doch etwas lebte. Er spürte es, tief drinnen. Ein schwaches Klopfen. Weit entfernt, trotzdem … da war etwas.

»Was ist mit diesem Nils?«, fragte er Marie.

Sie seufzte. Er überlegte, wie alt sie war. Höchstens vierzig, dachte er. Sehr elegant, in ihrem schwarzen Kleid und der weißen Schürze.

»Nils … kommt nach seiner Mutter«, sagte sie. Klang, als wollte sie noch etwas sagen, es aber nicht tun.

»Ich weiß nicht, womit ich ihn so verärgert habe …«

»Du kannst nichts dafür, Henry.« Sie richtete den Stuhl wieder auf, den Nils umgeworfen hatte. »Der Junge hat Probleme. Ich hätte ihn nie hier vorne einsetzen dürfen.«

»Wer hat keine Probleme?« Henrik zuckte mit den Achseln. »Aber was ist mit ihm? Warum hasst er mich? Ich bin vollkommen sicher, dass ich ihn gestern erst kennengelernt habe und trotzdem führt er sich auf, als hätte ich seine Schwester geschwängert und sitzengelassen.«

Marie schwieg. Sah aus dem Fenster. Dann fixierten ihre hellen Augen ihn.

»Ich fürchte, das wirst du ihn selbst fragen müssen. Es wäre nicht richtig, Dinge über ihn zu erzählen, die er nicht erzählen will. Selbst, wenn es jeder weiß.«

»In Ordnung.« Henrik nickte. »Wo wohnt er?«

»Du willst ihn besuchen?«, fragte Marie.

»Ich könnte mir seine Handynummer geben lassen, aber ich schätze, er würde direkt auflegen, sobald er meine Stimme hört.«

»Wahrscheinlich.«

Marie gab ihm Nils' Adresse und er zahlte, obwohl sie beteuerte, dass er das nicht musste.

»Kannst du das mitnehmen?«, fragte sie, als er seine Jacke anzog. Sie hielt ihm eine große Plastiktüte hin. »Das sind seine Klamotten. Und sag ihm, er soll mir die Kellneruniform zurückbringen.«

Als Henrik in die Kälte hinaustrat, war das leise Pochen in ihm bereits wieder verklungen. Er horchte in sich hinein, aber da war nichts. Nur Eis.

Wenige Meter entfernt rasten Leute die Hänge hinunter. Grellbunte Skijacken zogen vorbei. Sah spaßig aus. Vielleicht sollte er das echt lernen. Er erinnerte sich, dass sein Vater versucht hatte, es ihm beizubringen. Mit einer Engelsgeduld hatte er ihm gezeigt, wie man im Schneepflug fuhr, hatte ihn vor sich gehalten, damit Henrik es im Schutz des Dreiecks, das seine Skier machten, lernte.

Er war furchtbar darin gewesen. Warum auch immer. Ballsport war kein Problem für Henrik. Er war ins Basketballteam seiner Schule gekommen, obwohl er echt kein Riese war. Nicht wie Nils. Er glaubte, dass er ihm höchstens bis zur Nase reichte, aber falls sie sich je direkt gegenübergestanden hatten, konnte er sich nicht daran erinnern.

Sein Handy brummte. Wolfram.

»Hallo«, sagte Henrik und setzte sich in Bewegung. Die Strecke hatte die perfekte Länge für einen Anti-Kater-Spaziergang.

»Henrik.« Wolfram klang streng. »Du hast vorhin einfach aufgelegt. Warum?«

»Oh.« Henrik ließ die Piste hinter sich und bog in die Hauptstraße von Ebernau ein. »Sorry, ich war so begeistert von meinem Plan, ich … Für einen Moment war es fast wie damals.«

»Aha.« Wolfram klang immer noch verstimmt.

»Aber das ist gut, oder? Bevor … Früher war ich immer viel zu voreilig. Das haben alle gesagt. Immer mit dem Kopf durch die Wand, meinte Mama. Das ist doch bestimmt ein gutes Zeichen.«

»Hm-hm. Henrik, du solltest deinen Onkel anrufen. Ich habe ihm Bescheid gesagt und er lässt dir ausrichten, dass du dich bei ihm melden sollst.«

»Nein.« Henrik stapfte an den Schaufenstern der Skiausrüstungsläden vorbei. »Ich habe hier noch was zu erledigen.«

»Was?«

»Das … weiß ich nicht. Irgendetwas ist es sicher.«

»Und wo ist »hier«, Henrik?«, fragte Wolfram.

»Du stehst noch unter Schweigepflicht, oder?«, fragte Henrik. Er hörte Wolfram seufzen.

»Ja, tue ich. Du kannst mir alles erzählen. Nichts, was du mir sagst, wird je ein Dritter erfahren.«

»Dies ist ein geschützter Raum«, zitierte Henrik. »Also gut. Ich bin in einem Skiort. Als ich klein war, haben wir hier mal Urlaub gemacht.«

»Interessant«, sagte Wolfram. »Weißt du, warum es dich dorthin gezogen hat?«

»Nein.« Henrik schluckte. Es stach in seiner Kehle. Tief einatmend zwang er den Schmerz, zu verschwinden.

»Bist du sicher? Suchst du vielleicht nach der Vergangenheit? Willst du sie zurückho…«

»Ich bin da«, log er. »Muss Schluss machen. Bis bald, Wolfram.«

»Hen…«

Er beendete den Anruf. Armer Wolfram. Dass er selbst zwischen den Feiertagen anrief. Aber er war nicht umsonst einer der besten Therapeuten von München. Und einer der teuersten. Onkel Falk hatte gehofft, dass er Henrik in Nullkommanix wieder in Ordnung bringen würde.

Hatte er nicht.

Die malerischen Häuser mit den geschnitzten Balken gingen fast bis zum Horizont. Die Hauptstraße von Ebernau war lang. Verdammt lang. Und er musste sie bis zum Ende laufen und dann abbiegen. Bis zum Fleischhauer-Viertel. Dahin, wo Nils lebte.

Plappernde Winterschönheiten flanierten an ihm vorüber. Die Mittagssonne brannte so stark, dass er den Reißverschluss seiner schwarzen Jacke öffnen musste. Er kam an einem köstlich duftenden Maronenstand vorbei und an einem kleinen Teich, auf dem kreischende Kinder Schlittschuh liefen. Ebernau war so malerisch, dass es an Kitsch grenzte.

Der Kater machte ihm immer noch zu schaffen. Seine Beine waren schwächlich und sein Kopf hatte wieder begonnen, zu dröhnen. Hatte er Nils echt vor die Füße gekotzt? Ganz schön peinlich, theoretisch zumindest. Das war einer der Vorteile daran, innerlich vereist zu sein: Es war einem nichts mehr peinlich. Wenn er daran dachte, wie oft er sich im letzten Jahr übergeben hatte und wo …

Dunkel erinnerte er sich an eine Party. Eine feine Party, den Geburtstag von Jonathans Vater … Er hatte sich mit Sekt abgeschossen und noch vor Mitternacht in den Swimmingpool gekübelt. Er sah die traurigen Blicke der anderen Gäste noch vor sich. Nicht angeekelt. Traurig.

Der arme Junge, hatten sie geflüstert. Kein Wunder, nach der Geschichte …

Hier war es besser, entschied Henrik. Hier war er nicht der arme Junge, wenn er trank. Sondern ein besoffenes Arschloch.

He. Nils hatte ihn ein Arschloch genannt. Eben hatte er ihn wieder beleidigt. Und Henrik hatte gelächelt. Sein Mund hatte sich daran erinnert, wie das ging, und das nach fast einem Jahr.

Oh.

Es war fast ein Jahr her. Mist. In wenigen Tagen war Silvester, dann …

Henrik schüttelte den Kopf und marschierte weiter.

 

Zwanzig Minuten später war er in einem Teil von Ebernau, den er noch nie gesehen hatte. Er wirkte ungleich düsterer, obwohl die Sonne hoch über der Bergkette leuchtete. Auch hier standen Fachwerkhäuser. Aber sie waren viel schiefer als die in der Innenstadt. Ungepflegter. Die weiße Wandfarbe war verwittert und abgeblättert. Die Holzbalken mehr grau als braun. Wo die Straßen geräumt worden waren, kam löchriges Pflaster zum Vorschein und überall sonst lag schmutziger Schnee.

Interessant. Wenn Ebernau sowas wie ein schlechtes Viertel hatte, musste es das hier sein. Die wenigen Menschen, die auf den Bürgersteigen unterwegs waren, schleppten sich miesepetrig voran.

Nils' Adresse war das heruntergekommenste aller Häuser. Ganz am Ende der Straße, die in einer Sackgasse mündete, stützte es sich auf das Gebäude zu seiner Rechten. Ein zweistöckiges Fachwerkhaus, das wirkte, als sei es kurz vorm Zusammenbrechen. Aber die Dinger waren immer stabiler, als sie aussahen. Das hatte sein Vater ihm erzählt.

»Winter«, las Henrik auf einem selbstgetöpferten Klingelschild. Mit Tonwürsten waren fünf Namen darum herumgeschrieben worden.

Jennifer, Nils, Marc, Shirley und Josh.

Er fragte sich, wer Nils' Eltern waren. Marc und Jennifer, schätzte er. Ob Nils' Geschwister genauso launisch waren wie er?

Ein ohrenbetäubend lautes Klingeln schallte durch die Tür, als er auf den Knopf drückte. Erst geschah nichts. Dann hörte er eine Stimme, die fast so dröhnend wie die Klingel war.

»Shirley! Jetzt mach endlich auf!«

Schlurfen, das näher kam. Die Tür öffnete sich einen Spalt. Nicht ganz saubere Brillengläser erschienen auf Höhe seiner Brust, und für einen Moment glaubte Henrik, dass es Titus wäre. War es nicht. Natürlich.

»Ja?«, fragte das Mädchen vorsichtig. Sie trug einen verwaschenen Kapuzenpulli. Viel mehr konnte Henrik nicht erkennen, bis auf die Tatsache, dass ihre Augen so limettengrün wie Nils' waren.

»Ich suche Nils. Das ist dein Bruder, oder?«

Sie nickte, öffnete die Tür aber kein Stück weiter.

»Was willst du von ihm?«, fragte sie.

»Wir sind Freunde«, log Henrik.

»Seid ihr nicht.« Was? Ihre hellen Augen musterten seine hochwertige Jacke und die Markenjeans. Die Stimme von vorhin ertönte wieder.

»Wer ist es?«, brüllte sie.

»Einer von oben«, brüllte die Kleine zurück. »Er will zu Nils!«

Leises Stöhnen. Fast ein Knurren. Dann erklangen weitere Geräusche. Schlurfen. Und etwas, das klang, als würden zwei Stöcke auf Holzdielen treffen.

Endlich ging die Tür ganz auf. Eine gutaussehende Frau erschien, rothaarig, limettenäugig, irgendwo zwischen dreißig und vierzig. Und schlecht gelaunt. Ihr linkes Bein steckte in einer grauen Plastikschiene.

»Sie müssen seine Mutter sein.« Henrik nickte ihr zu. »Ist Nils zuhause?«

»Was hat er angestellt?«, fragte sie. Ihrer Miene war zu entnehmen, dass sie mit dem Schlimmsten rechnete.

»Äh, nichts. Ich wollte ihn nur um etwas bitten.«

»Oh.« Sie schien erstaunt. »Na, er ist auf der Arbeit, aber irgendwann gegen Abend kommt er zurück. Du kannst ihn auch gleich da besuchen. Er arbeitet im Restaurant von dieser hochnäsigen Zicke.«

»Von Marie«, half das Mädchen aus. Wie alt sie wohl war? Elf, zwölf?

»Ach … so.« Henrik überlegte, wie er ihnen die Neuigkeiten beibringen sollte. Am besten gar nicht.

»Du kannst auch hier auf ihn warten, wenn du magst.« Nils' Mutter sah ihn herausfordernd an. »Ich könnte Hilfe beim Spülen vertragen.«

»Mit dem Bein kriegt sie nichts hin«, sagte die Kleine. »Doppelter Unterschenkelbruch. War ’ne schwarze Piste. Mama ist die beste Skilehrerin von Ebernau.«

»Die nächsten zwei Monate über bin ich die schlechteste Hausfrau von Ebernau«, murrte die Rothaarige.

»Ich helfe gern«, sagte Henrik, der ohnehin nichts Besseres zu tun hatte. Und plötzlich verwandelte sich das Gesicht von Nils' Mutter. Ein Lächeln erhellte ihre Züge und ließ sie gleich doppelt so hübsch aussehen.

»Fantastisch!«, sagte sie. »Komm rein.«

So unwirtlich die Straße draußen war, so gemütlich war es im Haus. Henrik betrat einen mit Schuhen übersäten und mit Flickenteppichen ausgelegten Flur, dessen Wände mit bunten Kinderzeichnungen tapeziert waren. Und mit Fotos. Er erkannte Nils als zahnlückigen Jungen, als größtes Kind neben drei anderen, die in die Kamera strahlten. Selbst als Baby auf dem Arm seiner Mutter war er irgendwie unverkennbar.

Henrik zögerte. Einen Vater sah er nicht. Auf keinem der Fotos.

Nachdem er die verschiedenfarbigen Pantoffeln angezogen hatte, die die Kleine ihm hinhielt, betrat er die Küche.

Warmes Licht schien auf abgetretene Holzdielen. Keins der Möbelstücke passte zusammen und doch ergab sich ein sehr gemütlicher Gesamteindruck. Kräutersträuße trockneten an den breiten Deckenbalken und erfüllten die Luft mit ihrem würzigen Geruch. Lavendel war dabei, Rosmarin, Thymian …

Auch hier hingen Zeichnungen auf jeder freien Fläche. Wer auch immer das Klingelschild gemacht hatte, hatte mindestens zehn Kerzenleuchter getöpfert, die auf einem hellen Wandboard standen wie Pokale. Ein besonders großer thronte auf dem Küchentisch im Zentrum des Raumes.

»Gemütlich«, sagte Henrik und sah sich anerkennend um.

»Danke. Sorry wegen der Unordnung, ich bin gerade ein wenig eingeschränkt.« Nils' Mutter setzte sich an den mit Blättern und Büchern übersäten Tisch und wuchtete ihren Fuß auf einen niedrigen Schemel.

»Ich habe schon Schlimmeres erlebt. Viel Schlimmeres.« Sein Chalet heute Morgen zum Beispiel. Die arme Putzfrau.

Frau Winter sah ihn zweifelnd an.

»Wird auch bald besser. Sobald die Jungs zurück sind, gibt’s eine Aufräumaktion.« Sie wandte sich an die Kleine, die neben ihr Platz genommen hatte und die Seiten eines dicken Buchs umblätterte. »Und du, hilf dem Jungen beim Spülen. Wie heißt du nochmal, Junge?«

»Henry.«

»Henry. Danke für deine Hilfe.«

»Keine Ursache.« Henrik sah auf die Anrichte, auf der sich schmutziges Geschirr stapelte. »Und wie spült man?«

 

6. Invasion

 

Nils wollte nicht nach Hause. Er wollte seiner Mutter nicht erklären, dass er am ersten Tag gefeuert worden war. Dass er sich wie ein Trottel benommen und Marie Ärger gemacht hatte und … Er musste sich bei ihr entschuldigen. Er hatte sich unmöglich verhalten. Und alles nur wegen diesem Henry, der … Nils knurrte leise.

Den ganzen Nachmittag lang war er unterwegs gewesen. Hatte in Willis Kneipe gefragt, ob der Hilfe nötig hatte. In Henriettas Blumenladen, in Bennos Skigeschäft, bei der Kreiszeitung. Aber niemand hatte einen Job für ihn. Niemand brauchte ihn. Und jetzt stapfte er die Straße hinunter, auf dem Weg nach Hause und kam sich wie ein Idiot vor. Kurz überlegte er sogar, das Angebot von diesem Henry anzunehmen, aber … das konnte er nicht. Wollte er nicht. Der Kerl war alles, was er an denen da oben hasste, und …

Er seufzte. Atmete tief durch, als er die letzten Meter bis zu seiner Haustür hinter sich brachte. Schloss die Tür auf, zog sich im Flur die Schuhe aus … und sah Henry. Der gerade den Küchentisch abwischte.

»Was tust du hier?«, brüllte er, bevor er irgendetwas anderes wahrnahm. Seine Familie zum Beispiel, die vollzählig in der Küche herumwuselte. Marc rührte in einem Kochtopf und Josh bröselte Gewürze hinein. Seine Mutter und Shirley bereiteten auf der Anrichte Salat zu.

Henrys Kopf ruckte hoch. Wieder stob etwas in Nils' Magen auf, als die dunklen Augen sich auf ihn hefteten.

»Nils.« Henry richtete sich auf. »Da bist du ja endlich.«

»Da bin ich ja … Was machst du in meiner Küche?«

Mit drei Schritten hatte er den Raum durchquert und packte Henry am Kragen. Der war wie immer unbeeindruckt.

»Ich helfe deiner Mutter bei der Hausarbeit.« Seine Stimme war kühl, aber irgendwie hatte Nils das Gefühl, dass der Kerl auf etwas wartete.

»Einen Scheiß machst du«, zischte Nils. »Was bist du für ein Psycho-Stalker?«

»Ich bin nur hergekommen, um mit dir zu reden.« Henry betrachtete Nils' Hand an seinem Kragen missbilligend. »Ich sehe nicht, inwiefern das als Stalking …«

»Nilsi!« Die Stimme seiner Mutter war schneidend. »Lass ihn los!«

Wie von selbst öffneten sich Nils' Finger und gaben Henry frei. Mist.

»Was macht er hier?«, fragte er in die Runde.

»Er hilft uns«, sagte Shirley. »Ich hab ihm beigebracht, wie man spült.«

»Du schleichst dich in meine Familie ein?« Er sah Henry wütend an. »Was ist das für eine … Invasion?«

»Für eine Invasion bräuchte man viel mehr Leute«, sagte Henry. »Und ich habe mich nicht eingeschlichen. Ich …«

»Raus!«, brüllte Nils.

»Nilsi!«, rief seine Mutter und dieser Mistkerl von einem Schnösel verzog den Mund zu einem blöden Grinsen.

»Nilsi?«, wiederholte er. »Kann ich dich auch Nilsi nennen?«

Nils bekam Lust, ihn zu erwürgen. Die verstärkte sich noch, als er Marc hinter sich leise kichern hörte. Der Verräter.

»Nilsi … Nils, er ist da, weil er mit dir reden möchte.« Seine Mutter stemmte die Hände in die Hüften. »Jetzt hör dir halt an, was er will und benimm dich.«

»Was willst du?«, knurrte Nils.

»Das habe ich doch schon gesagt. Ich will, dass du mein Skilehrer wirst.«

»Und ich hab dir gesagt, dass du das vergessen kannst.«

Seine gesamte Familie stand um sie herum und sah zu. Er musste Henry schnell aus dem Haus schaffen, bevor die erfuhren, wie viel der ihm geboten hatte.

»Ach darum geht’s«, sagte seine Mutter. »Henry, ich fürchte, das klappt wirklich nicht. Er ist den ganzen Tag über in der Spülküche beschäftigt, da hat er keine Zeit, zusätzlich noch Unterricht zu geben.«

»Äh …« Nils schaffte es nicht, ihr in die Augen zu schauen. Henry sah ihn so saudumm-arrogant an, dass er ihm am liebsten eine gescheuert hätte.

»Soll ich es ihr sagen?«, fragte dieser Snob.

»Soll er mir was …« Seine Mutter verstummte. Rieb sich über die Nasenwurzel. »Nilsi, du bist doch nicht etwa gefeuert worden?«

»Nein … Ja … Na und?«, brummte er.

»Schon wieder? Warum … Nein!« Sie hob die Hände. »Nein, lass mich raten. Einer der Gäste war arrogant oder schnöselig oder zu von oben herab und du hast ihn angeschnauzt?«

Nils presste die Lippen aufeinander.

»So in etwa«, antwortete Henry an seiner Stelle.

»Halt die Klappe«, motzte Nils. »Ich …«

»Warum kannst du dich nicht einmal zusammenreißen? Ich …« Mit einem Mal sah sie nicht mehr wütend aus, sondern nur noch traurig. »Mann, Nils. Wir … ich weiß, das ist nicht fair. Du solltest in den Ferien nicht arbeiten müssen, nur … wir brauchen das Geld doch.«

Schweigen. Vorwurfsvolles Schweigen aus Marcs Richtung, der anscheinend immer noch dachte, er würde ein neues Board bekommen. Aber die anderen … schwiegen niedergeschlagen. Kummervoll. Nils fühlte sich entsetzlich. Er sah auf Henry, der mit unbewegtem Gesicht vor ihm stand. Ballte die Hände zu Fäusten. Atmete tief ein.

Und schaffte es doch nicht.

Leider machte der Idiot den Mund auf.

»Mein Angebot steht«, sagte Henry. »Fünfhundert Euro am Tag.«

»Fünfhunder…« Die Augen seiner Mutter wurden tellergroß und Nils wusste, dass er verloren hatte. »Du hast einen Job für fünfhundert Euro am Tag abgelehnt?«

»Bist du bescheuert?«, fragte Marc. »Was hast du in der Spülküche bitte verdient?«

Nils sah Henry hasserfüllt an. Seine Mutter bedachte ihn mit einem warnenden Blick.

»Henry, Nils fängt morgen an, dir Skifahren beizubringen. Um neun kommt er bei dir vorbei. Und wenn er auch nur eine Minute zu spät ist oder sich irgendwie daneben benimmt, ruf mich an.«

»Vielen Dank.« Henry richtete seinen Kragen. »Dann mache ich mich auf den Weg und störe nicht länger. Einen schönen Abend wünsche ich noch.«

»Du kannst zum Abendessen bleiben, wenn du magst«, sagte seine Mutter. Aber Henry schüttelte den Kopf.

»Danke für das Angebot. Aber man liefert mir selbstgekochte Mahlzeiten, die möchte ich nicht verschwenden. Nils, hier sind deine Sachen.« Er hielt ihm eine Plastiktüte hin. »Marie meint, dass sie die Kellneruniform wiederhaben will.«

»Super. Vielen Dank. Ich bring dich raus«, knurrte Nils.

Skilehrer für diesen Schnösel. Einen Scheiß würde er tun … Das würde er ihm schön austreiben, nur … wenn er Henry bedrohte, könnte der es seiner Mutter weitererzählen. Henry musste ihm kündigen. Freiwillig. Na, dazu würde er ihn schon bringen. Eine Idee formte sich in seinem Hinterkopf. Ja, das sollte funktionieren.

Er wartete mit zusammengebissenen Zähnen, bis Henry seine Schuhe angezogen hatte. Begleitete ihn bis vor die Haustür. Sah sich um. Stockdunkel. Kein Mensch weit und breit.

Gut.

Er packte Henry am Kragen und zerrte ihn mit sich, bis in die kleine Gasse gegenüber, die zwischen den Nachbarshäusern klaffte. Hinter den Mülltonnen drängte er ihn gegen die Wand. Henry sah ihn überrascht an. Ebenfalls gut.

»Du willst nicht, dass ich dir Skifahren beibringe«, flüsterte Nils, so furchterregend, wie er konnte. Kalte Luft kroch unter seinen Pullover. Die Hauswände neigten sich über sie wie die Flächen einer Felsspalte.

»Doch, das will ich.« Henrys volle Lippen verzogen sich. Er sah Nils an, als wäre der der größte Idiot der Welt. »Hast du das immer noch nicht begriffen?«

Warum hatte dieser Trottel keine Angst vor ihm? Na, aber gleich würde er sich fürchten. Richtig.

»Aber du weißt nicht …« Nils packte Henrys Jackenkragen fester und kam näher. Er spürte Henrys Atem im Gesicht. Und er roch ihn und irgendwie … roch dieser Henry wie ein Weihnachtsmarkt. Lecker. Nach Zimt und Glühwein und gebrannten Mandeln … Wohlig warm halt. So, wie er aussah. So, wie er überhaupt nicht war. »Du weißt nicht, mit wem du es zu tun hast.«

»Mit Nilsi, dem cholerischen Muttersöhnchen?«

Nils näherte sich, auch wenn das bedeutete, dass ihre Beine sich berührten und Henrys Duft seinen Magen zum Flattern brachte. Aber nur so würde es funktionieren.

»Ich bin kein Muttersöhnchen«, flüsterte er. »Ich … will dich nur schützen. Vor mir.«

Henry sah ihn fragend an.

»Ich bin …« Nils schluckte. Gleich würde Henry schreiend vor ihm weglaufen. »Ich stehe auf Männer. Auf … dich. Ich kann kaum die Finger von dir lassen. Merkst du ja. Ich will dich dauernd in dunkle Gassen drängen und dir furchtbare Dinge antun.«

»So wie jetzt?« Na endlich, etwas wie Furcht kroch in das Gesicht des Kerls. Das … konnte keine Neugier sein, oder?

»Viel schlimmer.« Nils' Mund war nur noch Zentimeter von Henrys entfernt. Dunkle Augen leuchteten vor ihm auf. »Weißt du, hier in Ebernau krieg ich nicht, was ich brauche. Ich bin total ausgehungert. Wie … ein Wolf. Ein wildes Tier. Und du bist so sexy, dass ich mich nicht beherrschen kann, wenn du … wenn du mir nahekommst.«

Entsetzt kapierte er, dass er die Wahrheit sagte. Größtenteils. Noch beherrschte er sich ganz gut, trotz Henrys köstlichem Geruch und seinen streichelzarten Haaren und …

Henry hob die behandschuhten Finger und legte sie an Nils' Wangen. Pfeilschnell überwand der Schnösel die letzten Zentimeter und küsste ihn.

Ein Blitz raste durch Nils' Körper. Heiße Lippen auf seinen. Weich wie … Himbeergelee. Ein geschmeidiger Leib, der sich gegen seinen drängte und dieser Geruch und dieses Gefühl, als würde sein Brustkorb gleich zerplatzen, weil sein Herz so hämmerte und …

Er riss sich los und taumelte zurück.

»Was soll das?«, krächzte er. Henry löste sich von der Wand. Sein Gesicht war vollkommen entspannt.

»Du musst dich nicht beherrschen«, sagte Henry. »Es macht mir nichts aus, wenn du mich anfällst.«

»Aber …« Nils wusste nicht weiter. Fassungslos sah er zu, wie Henry seine Jacke richtete.

»Wenn du magst, können wir nach dem Training ein bisschen rummachen.« Ein schwaches Lächeln lag auf Henrys Lippen. »Wer weiß, vielleicht motiviert dich das ja.«

»Aber …«

»Hast du echt gedacht, du könntest mich verschrecken?« Der Kerl legte den Kopf schief. »Da kennst du mich aber schlecht.«

»Ach, halt die Klappe!«, rief Nils.

Aber sobald Henry näher kam, wich er zurück. Fast wäre er gestolpert … Ups, er hatte auch nur Pantoffeln an. Kein Wunder, dass es ihm kalt den Rücken herunterlief.

»Du … blödes Arschloch.«

»Du wiederholst dich.« Henry gähnte. »Ich schätze, wir sehen uns morgen um neun.«

Nils wollte etwas entgegnen, aber ihm fiel nichts ein. Also stieß er ein frustriertes Knurren aus, stapfte über die Straße und warf die Haustür hinter sich zu.

So ein Wichser. So ein …

Seine Lippen kribbelten. Sie erinnerten sich an das Gefühl von Henrys Mund auf seinem und schrien nach mehr.

Scheiße.

 

7. Heim

 

Henrik hatte schon wieder gelächelt. Er spürte es auf seinen Lippen. Auf seinem ganzen Gesicht. Dieser cholerische Idiot brachte ihn dauernd zum Lächeln. Und … zu etwas anderem. Dazu, ihn zu küssen. Zu fühlen. Ja, er fühlte immer mehr. Bei dem Kuss hatte er … Etwas hatte sich in seiner vereisten Brust geregt. Ein eingefrorenes Tier, das aufwachte. Sich räkelte und sich wunderte, warum es so lange geschlafen hatte.

Ein winziges Wesen in einem sehr großen Eisberg, aber … da war etwas. Da war ganz bestimmt etwas. Er sah auf die Tür, die Nils hinter sich zugeschlagen hatte.

Licht drang aus dem Küchenfenster und ließ die Dunkelheit noch kälter erscheinen. Henrik trat aus der engen Gasse. Zögernd ging er auf das Fenster zu. Er wusste nicht, warum er nicht zum Essen geblieben war. Eigentlich hätte er es gern getan, nur … Es war zu vertraut gewesen.

Nils' Brüder hätte er ausgehalten. Seine Mutter auch. Aber die Kleine … Die erinnerte ihn an Titus. Wie sie bei jeder Gelegenheit die Nase in ein Buch steckte. Selbst beim Abtrocknen hatte sie eins dabei gehabt und sie hatten sie ständig davon losreißen müssen. Dann war sie hochgeschreckt, hatte sich verwirrt umgesehen und gewirkt, als wüsste sie für einen Moment nicht, wo sie war. Wie sein kleiner Bruder, der hatte auch immer …

Wieder kratzte etwas in seiner Kehle. Nein! Er straffte sich. Ballte die Fäuste und drängte es zurück. Nein, er …

Eine Gestalt bewegte sich hinter der Gardine. Nils? Er trat näher heran. Schaute durch den Spalt zwischen den bunt karierten Stoffbahnen.

Sie saßen um den Küchentisch herum. Nils' Mutter schöpfte Suppe auf Joshs Teller und die anderen redeten auf Nils ein. Der hockte mit verschränkten Armen da und schmollte. Ein schmollender Wikinger. Ganz komisch eigentlich. Sein Körper schien fast zu groß für den klapprigen Holzstuhl, auf dem er saß.

Sein Bruder Marc machte sich offensichtlich über ihn lustig. Er grinste, fuchtelte mit den Händen und lehnte sich lässig zurück. Nils schaute noch böser. Dann legte sich Shirleys Hand auf Nils' Unterarm. Und sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Seine Lippen bewegten sich. Sie lächelte zu ihm hoch. Und er lächelte zurück.

Es war ein atemberaubender Anblick. Seine Augen blitzten, seine Gesichtszüge wurden ganz weich und es dauerte bestimmt eine Minute, bis alle Gefühle in Henrik wieder abgeklungen waren.

Und dann aßen sie. Redeten durcheinander, diskutierten und lachten. Alle fünf. Eine Familie.

»Ist das schön«, sagte Henriks Mutter hinter ihm.

Er fuhr herum. Hätte fast geschrien, aber … da war nichts. Nichts als eine dunkle, ungeräumte Straße mit schmutzigem Schnee und eine Reihe schiefer Fachwerkhäuser.

Nein.

Das Gefühl drängte hoch. Der wilde Schmerz. Er wollte das nicht. Wollte nicht, dass es … Er zwang sich, zu atmen. Ballte die Fäuste um die Daumen herum, brach sie fast, so wütend, nein, so verzweifelt drückte er zu. Er presste die Lippen aufeinander, damit kein Laut herausdringen konnte, kniff die Augen zusammen, um …

Der Schmerz ebbte ab. Langsam. Viel zu langsam. Als er weg war, endlich verschwunden war, hatte Henrik das Gefühl, er wäre stundenlang durch einen dunklen Wald gehetzt, verfolgt von einer Wolfsmeute.

Vorsichtig holte er Luft. Seine Kehle tat noch weh, aber er hatte es wohl geschafft. Wolfram hatte ihm gesagt, dass er alle Gefühle zulassen müsste. Die guten wie die schlechten und sogar dieses. Aber das konnte er nicht. Wollte er nicht, nie. Auf gar keinen Fall.

Er schaute auf den zertrampelten Schnee zu seinen Füßen. Seine Zehen schienen gleich abzufrieren. Nein, er konnte es nicht. Der Eisberg in seiner Brust fühlte sich mit einem Mal richtig an. Er würde … er würde es nicht zulassen, dass er aufbrach.

Er würde nur die guten Gefühle dulden. Die vertrauten. Und die unvertrauten, spannenden. Wie das von Nils' Lippen auf seinen. Vielleicht hatte der nicht gelogen und war wirklich schwul. Henrik hätte nichts dagegen gehabt, ihn noch einmal zu küssen. Zu sehen, was passierte.

Er beschloss, zu verschwinden, ehe sie ihn hier draußen bemerkten. Bevor Nils noch das Fenster aufriss und ihn wieder anbrüllte. Nach einem letzten Blick auf den blonden Kopf drehte Henrik sich um und stapfte die Straße hinunter. Eine halbe Stunde bis zum Chalet. In der eisigen Kälte. Gut. Eis war gut. Er hätte das fast vergessen.

 

8. Lernen

 

»Bist du schon mal gefahren?«, fragte Nils Henry am nächsten Tag. Er hatte beschlossen, den Mist hier durchzuziehen. Henry würde ja nicht ewig in Ebernau bleiben, oder?

Sie waren auf dem Weg zur Skipiste. Es war ein perfekter Morgen. Die Sonne schien, die Luft war eisig und die verdammten reichen Skitouristen flitzten die Hänge hinunter wie grellbunte Murmeln.

»Als Kind. Aber nur ein wenig«, sagte Henry. »Gehen wir davon aus, dass ich nichts kann.«

»Okay«, brummte Nils und versuchte, ihn nicht anzusehen. Henry sah echt gut aus heute. Seine Haare wellten sich extra-seidig auf seinem Kopf, sein Körper bewegte sich kraftvoll und geschmeidig und der scharfe Wind rötete seine Wangen leicht. Und seine blöden, viel zu geschwungenen Lippen, mit denen er Nils gestern … »Dann besorgen wir dir erstmal 'ne Ausrüstung, oder?«

»Das klingt gut.« Henry nickte. »Was brauche ich?«

»Also … einen ordentlichen Anzug, damit du nicht erfrierst. Den kaufen wir. Schuhe und Skier kann man leihen.«

»Warum kaufen wir die nicht auch?«

»Hast du vor, noch einen Skiurlaub zu machen?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht.«

»Wir leihen die. Komm mit.«

 

Kurz darauf betraten sie »Bennos Skibekleidung und mehr …«.

Benno lehnte an der Theke des kleinen Ladens. Er sah von seinem Handy auf, als er die Glocke hörte. Dann stemmte er die Hände in die Hüften, dass sein rotblonder Lockenkopf wippte.

»Tach, Nils. Was suchst du? Hab leider immer noch keinen Job für dich, aber nebenan brauchen sie vielleicht wen. Erst nächste Woche, aber …«

»Ne, darum geht’s nicht«, brummte Nils. »Ich hab einen neuen Schüler und der braucht ’ne Ausrüstung.«

»Was?« Bennos weiches Gesicht erhellte sich. »Wer ist der Glückspilz? Der da?« Er deutete auf Henry, der sich hochnäsig wie immer umsah.

»Hallo«, sagte der Schnösel und zog sich die Handschuhe aus. Schaute unschlüssig über die fünf Regale und vier Klamottenständer.

»Du hast Glück«, sagte Benno. »Nils ist echt gut, der hat schon …« Er stockte. Musterte Henry misstrauisch. »Sag mal, bist du nicht von oben?«

»Ja, bin ich. Warum fragen das alle?«

Benno sah zwischen ihnen hin und her. Kratzte sich am Kinn.

»Hast deine Prinzipien über Bord geworfen, was?«, fragte er Nils. »Für wie viel?«

»Genug«, knurrte Nils. Er hatte gewusst, dass er sich sowas würde anhören müssen. Und Benno war zu neugierig. Nils spürte einen leisen Lufthauch am Ohr, als Henry an ihn herantrat. Zimtgeruch kitzelte seine Nase.

»Der Laden ist ziemlich klein«, flüsterte der Kerl. »Wollen wir nicht in einen mit mehr Auswahl?«

»Ne«, flüsterte er zurück. Laut sagte er. »Die anderen Läden sind Touristenabzocker. Total überteuert und die Hälfte weiß nicht, wovon sie labert. Benno kennt sich aus und verarscht einen nicht. Er war mal fast im Deutschen Olympiakader.«

»Ist erst ein paar Jährchen her«, lachte Benno und strich über seine Wampe. »Schlappe zwanzig.«

Er wirkte milde irritiert, als Henry nicht mal lächelte. Nicht reagierte, wie üblich. Seine Mutter hatte Nils auch gefragt, was mit dem Kerl los wäre. Trotzdem schien sie ihn irgendwie zu mögen. Henry sah ihn an.

»Du willst nicht, dass ich übers Ohr gehauen werde?«, fragte er. »Sehr nett von dir. Ich dachte, du kannst mich nicht leiden.«

»Du bist jetzt mein Schüler«, sagte Nils widerwillig. »Ich kümmer mich schon um dich.« Henry blinzelte und Nils überlegte, ob er das anders hätte formulieren sollen. Irgendwie kam es ihm peinlich vor.

»Oh. Gut«, sagte Henry. »Also, was brauche ich?«

Nach einigem Beraten und Augenmaß nehmen entschieden Benno und er, dass Henry eine türkisgrüne Skijacke und eine graue Hose probieren sollte. Die Hose war ein ähnliches Modell wie die, die Nils trug. Nur deutlich teurer. Alles, was er besaß, hatte Nils gebraucht gekauft, falls Benno ihm keine ausgemusterten Vorführmodelle zurückgelegt hatte.

Die Umkleide war ein grauer Stoffvorhang, den Benno in einer Ecke des Ladens aufgespannt hatte. Henry zog sich dorthin zurück und Nils ließ sich auf dem Stuhl davor nieder. Ihm war heiß. Seine Ausrüstung war viel zu warm für beheizte Räume … oh. Ihm wurde gleich noch heißer, als er merkte, dass der Vorhang eine schmale Lücke hatte.

Er konnte Henry sehen, der sich aus seinem dicken Pullover schälte. Zum Vorschein kam ein weißes Unterhemd, das wahrscheinlich so viel gekostet hatte wie Nils' ganze Skiausrüstung. Und glatte Haut, unter der sich schlanke Muskeln abzeichneten. Er hatte nicht geglaubt, dass Henry Sport machte. Der lag doch nur auf Partys rum und soff … Aber vom Rumliegen und Saufen bekam man nicht so einen Bizeps. Oder so biegsame Rückenmuskeln wie die, die sich unter dem dünnen Stoff bewegten …

»Nils?«, fragte Benno.

»Äh, was?«

»Ich hab gesagt, ich hab Josh gestern gesehen. Bei der Unterführung.«

»Ach, Scheiße.« Nils seufzte. »Was hat er …«

»Na was schon? Die Wände hat er bekritzelt, wie immer. Sag ihm, dass er das besser woanders machen soll. Erstmal kommen da zu viele Leute vorbei und dann kennt langsam jeder in Ebernau seine Handschrift.«

»Dieser kleine …« Künstler. Sein Bruder Josh war leider ein Künstler und außerdem übereifrig. »Warum kann der nicht wie früher sein? Da hat er einfach so Töpferkram gemacht und Bilder gemalt. Auf Papier. Wie ein normales Kind halt. Nur zehnmal so viel.« Er fuhr sich durch die kurzen Haare. »Weiß nicht, wann das so ausgeartet ist. Ich hab ihm hundertmal gesagt, dass er das sein lassen soll, aber sobald er eine leere Wand findet, vergisst er alles. Wir können froh sein, dass er das Rathaus noch nicht vollgesprüht hat.«

»Hey, was er macht, sieht ja auch gut aus. Nur wird’s der Stadt nicht gefallen.« Benno verzog das Gesicht. »Kannst du ihm nicht einfach 'nen Pott Farbe und 'ne Leinwand kaufen?«

»Hatte er alles schon.« Nils seufzte. »Letztes Jahr an Weihnachten haben wir ihm ein ganzes Malset gekauft. Weißt du, wie schnell er das aufgebraucht hat?«

»Ein Monat?«

»Eher zwei Wochen«, sagte Nils. »Der Kleine ist unersättlich. Aber Farbe ist teuer und …«

»Steht mir das?« Henry trat aus der Umkleide. Die Sachen passten wie angegossen. Henry sah seltsam gut aus in der schreiend bunten Jacke. Oder die Jacke sah gut an ihm aus. Er strahlte etwas aus, etwas … Edles. Alles, was er trug, wirkte wie Markenkleidung.

»Schick, schick«, sagte Benno. »Beug mal die Knie.«

Henry ging in die Hocke.

»Beweg dich ein bisschen.«

Henry reckte sich, streckte die Beine aus und berührte schließlich mit den Fingerspitzen seine Füße.

»Joa, würd sagen, das ist gut. Wat meinst du, Nils?«

»Ist okay. Wassersäule?«

»Zwanzigtausend«, sagte Benno. Nils nickte.

»Gut.«

»Wasser-was?« Henry sah ihn fragend an.

»Wie wasserdicht das Teil ist.«

»Ah.« Henry nickte. »Das macht Sinn.«

»Behalt es gleich an, dann können wir loslegen«, sagte Nils.

Henry bezahlte die Kleidung und die Sonnenbrille, die Benno empfahl. Bar. Nils wunderte sich ein wenig. Zahlten so reiche Dudes nicht immer mit goldenen Kreditkarten? Na, was wusste er davon?

 

»Henry! Nils!«, rief Mo, als sie in den Skiverleih traten. Er sprang praktisch von seinem Stuhl. Seine Augen leuchteten auf. »Hat’s doch geklappt mit euch?«

»Ja, Nils hat sich erbarmt, mich zu unterrichten«, sagte Henry. »Auch wenn er noch nicht weiß, was auf ihn zukommt.«

»Ach, so schlecht kannst du gar nicht sein.« Mo strahlte ihn an und Nils' Laune sank. Warum zur Hölle liebten alle diesen unterkühlten Angeber so?

»Mal schauen«, murrte er. »Mo, wir brauchen ’ne Ausrüstung für den Schnösel hier. Schuhgröße?«

»43«, sagte Henry. Der Skiverleih war fünfmal so groß wie Bennos Lädchen und ungefähr zehnmal so vollgepackt. Skier und Snowboards in allen Größen und Farben reihten sich hochkant an den Wänden auf. Sie ergaben ein so chaotisches Muster, dass man in den Gängen zwischen den Regalen fast die Orientierung verlor.

»Mir nach!« Mo schritt voran und sie folgten ihm durch den Wirrwarr. »Hey, Henry, wo warst du gestern? Eva hat nach dir gefragt und die anderen haben dich eh vermisst.«

»Ich bin früh ins Bett gegangen«, sagte Henry. »Ich wollte bei meiner ersten Skistunde nicht total verkatert sein.«

»Verstehe«, sagte Mo, obwohl er das offensichtlich nicht tat. »Na, aber heute Abend bist du dabei, oder? Karolins Eltern sind weg und sie hat das Chalet für sich.«

»Mal schauen. Falls ich heute Abend noch laufen kann vor Muskelkater.«

»He.« Mo grinste. »Ne, das wird ganz harmlos. Nils ist gar nicht so schlimm, wie er tut.«

Henry sah Nils forschend an, so intensiv, dass der den Blick abwandte.

»Ach was«, sagte der Snob. »Bist du etwa ein netter, verständnisvoller Skilehrer?«

»Ne«, motzte Nils.

»Bist du wohl«, sagte Mo. »Du bringst denen das in so kleinen Babyschritten bei, und …«

»Wo sind deine Eltern eigentlich? Kommen die nach?«, fragte Nils Henry, weil ihm das Gespräch auf die Nerven ging.

Ein Zucken lief durch dessen Gesicht. Einen Moment später wusste Nils nicht mehr, ob er sich das nur eingebildet hatte, denn Henrys Miene war wieder vollkommen still.

»Ja, sie kommen nach«, sagte er. »Sie wissen noch nicht, wann.«

»Wieso, was ist denn?«

»Ich …« Doch, Henry wirkte ein wenig verunsichert. Komisch. »Mein kleiner Bruder hat einen Klavierwettbewerb und sie wissen noch nicht, wie weit er es schafft. Wenn er in einer der frühen Runden ausscheidet, kommen sie bald nach.«

»Ah. Und du wolltest das nicht sehen?«

»Mann, Nils!« Mo lachte. »Klar macht er lieber Party mit uns, als sich das Geklimpere anzuhören. Stimmt doch, oder, Henry?«

Henry nickte zögernd.

»Ja. Klar.«

»Du solltest auch kommen, Nils«, sagte Mo. »Eins der Mädels von oben hat nach dir gefragt. Emmeline. Die hat dich auf Henrys Party gesehen und … Na, wenn du dich mal kurz zusammenreißt, läuft da vielleicht was.«

»Ich muss mich um meine Mutter kümmern«, sagte Nils.

Er traute sich nicht, in Henrys Richtung zu blicken. Keine Ahnung, ob der gestern kapiert hatte, dass Nils die Wahrheit gesagt hatte, aber … blöd war der nicht, auch wenn er irgendwie seltsam war. Gerade jetzt schien er in weite Ferne zu schauen.

Mo hielt vor einer Wand voll Skischuhe und reckte sich nach einem Paar in Größe 43.

»Aber passt auf diesen Steffen auf«, sagte er und reichte sie Henry. »Der kommt auch, und … Na, ihr wisst schon.«

»Was wissen wir?«, fragte Henry. Nils ahnte bereits, was folgte.

»Na, der ist vom anderen Ufer.« Mo verzog das Gesicht. »So ’ne richtige Tucke. Montag kam er hier rein und hat mir erzählt, wie hübsch er meine Haare findet. Saueklig.«

»Was ist daran eklig?« Henry ließ sich auf dem nächstbesten Hocker nieder und schnürte seine eleganten Schuhe auf. »Klingt wie ein nettes Kompliment.«

»Ja, aber das will ich doch nicht hören!« Mo schüttelte sich. »Von einem anderen Kerl.«

»Ne. Versteh ich.« Nils hoffte, dass seine Stimme richtig klang. Dass man ihr nicht anhörte, wie er sich fühlte. Bleischwer. Er schluckte. Kniete sich vor Henry hin und murmelte: »Zieh nochmal an der Zunge, bevor du die Schnallen zumachst. Das muss fest am Schienbein anliegen. Wie viel Platz ist hier?«

Er steckte zwei Finger in den Spalt zwischen Schuh und Fußknöchel.

»Genug, denke ich. Ist das zu locker?« Henry sah ihn fragend an. Nils spürte die Wärme unter seinen Fingern. Blöd, sich davon irritieren zu lassen. Das war doch … nichts. Sie probierten hier Schuhe an und Füße waren eklig.

»Ich denke, das passt.« Er räusperte sich.

 

Nach einer Viertelstunde war Henry endlich ausgerüstet. Seite an Seite stapften sie zu dem breiten Hangareal. Lärm empfing sie. Skifahrer und Snowboarder rasten die Hänge hinunter. Weiter hinten kreischte eine Horde Kinder am Anfängerhügel. Die Luft roch nach Bratwurstbuden und aufgewühltem Schnee.

»Fangen wir da an?«, fragte Henry und deutete auf den Minihügel, den die Kleinen einer nach dem anderen herunterschlitterten. Die meisten waren noch zittrig und ungelenk und ruderten wild mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten.

»Ne. Wir fangen da an.« Nils zeigte auf eine vollkommen ebene, plattgetrampelte Strecke nicht weit vom Glühweinstand. Henry runzelte die Stirn.

»Wieso nicht wenigstens am Anfängerhügel? Wann kann ich die erste Piste fahren? Morgen?«

Nils sah ihn ungläubig an.

»Alter, du kannst noch nichts. Denkst du, ich lass dich auf die Piste, bevor du nicht hundertmal den Kinderhügel runter bist?«

Henry betrachtete die sanfte Erhebung, die gerade ein kreischender Junge herunterglitt.

»Okay, und wann kann ich auf den Kinderhügel?«

»Morgen. Vielleicht.«

»Wie bitte?« Henry sah ihn ungläubig an. Fast … entsetzt. Diese ab und zu aufblitzenden Stimmungen irritierten Nils. »Was für ein Schneckentempo ist das denn?«

»Vertraust du mir?«

Henry verzog den Mund. Legte den Kopf schief.

»Ja. Ja, ich denke schon.«

»Gut. Dann zeig ich dir jetzt, wie man die Skier anzieht.«

»Und wie viele Stunden wird das in Anspruch nehmen?«, murrte Henry.

»Höchstens eine.«

 

Er ließ Henry auf einem Bein über die ebene Fläche gleiten. Dann brachte er ihm bei, einen Stern in den Schnee zu stapfen, bei dem die vorderen Kanten der Skier die Mitte bildeten.

»Wozu ist das gut?«, fragte Henry keuchend bei der zigsten Umdrehung. Wenn man an die Bewegungen nicht gewöhnt war, war selbst das anstrengend.

»Für alles Mögliche.« Nils verschränkte die Arme und betrachtete das Muster, das Henry in den Schnee trat. Viel zu unregelmäßig. Zu wenig Kontrolle. »Später, wenn du die Hänge hochmusst oder im Schneepflug bremst, zum Beispiel. Dann wird der ganze Rest leichter.«

»Hm.« Henry rammte einen Stock in den festen Schnee und sah in die Ferne. »Hast du auch Hunger? Können wir eine Pause machen?«

Nils atmete tief ein. Davor hatte er sich gefürchtet.

»Stört's dich, bei Marie zu essen?«, fragte er.

»Nein, gar nicht.«

»Super. Ich … muss noch kurz mit ihr reden.«

»Willst du dich entschuldigen?«, fragte Henry. »Das ist eine gute Idee.«

»Weiß ich selbst«, murrte Nils. »Ich …« Er verstummte.

»Hast du die Kellneruniform dabei?«

»Ja, Mutti.«

 

Die Türglocke bimmelte hell. Marie sah von dem Tisch auf, den sie gerade abräumte. Ihre Augen wurden größer, als sie Nils erkannte.

»Na, das ist eine Überraschung«, sagte sie und kam auf sie zu. Der Mittagsansturm hatte noch nicht begonnen und nur wenige Gäste saßen in der Stube herum. Essensduft zog durch die warme Luft.

Gulaschsuppe, dachte Nils. Lecker. Er räusperte sich und hielt ihr die Plastiktüte mit seiner Uniform hin.

»Ich … hier«, sagte er. »Ich hab sie gestern noch gewaschen und … es tut mir leid.«

Kein Muskel zuckte in Maries Gesicht. Irgendwie ähnelte sie Henry, in ihrer unterkühlten Art. Aber die beiden konnten nicht verwandt sein, oder?

»Wenn du magst, helfe ich in der Küche, solange Henry isst«, sagte er. »Umsonst natürlich. Als Wiedergutmachung.«

»Das passt schon.« Sie nickte Henry zu, der hinter ihm in den Raum stapfte. Die Skischuhe hatten ihm auf der Treppe ein paar Probleme bereitet. »Ich schätze, Henry möchte wieder, dass du ihm Gesellschaft leistest, nicht wahr?«

»Ich …« Nils zögerte. Er hatte kein Geld, wie immer eigentlich.

»Ich lade dich ein«, sagte Henry, dieser Trottel. Warum musste der sich so gönnerhaft aufführen, dass … Wut brodelte in Nils hoch.

»Zieh’s von meinem Gehalt ab«, zischte er Henry zu. »Ich brauch keine Almosen.«

Henry zuckte mit den Schultern und wandte sich an Marie.

»Können wir den Tisch da hinten haben? Den in der Ecke?«

»Selbstverständlich. Ich bringe euch gleich die Karte.«

Der Zweiertisch in der Ecke war durch eine Holzverkleidung abgetrennt, sodass man größtenteils vor Blicken aus dem Raum geschützt war.

Das ist ein Tisch für ein erstes Date, fuhr es Nils durch den Kopf und sogleich fühlte er, dass seine Ohren heiß wurden. Das war … Was war denn das für ein Gedanke? Sie waren doch nicht so. Überhaupt nicht. Er konnte diesen Henry nicht leiden und außerdem war der ein Kerl und … Aber Nils stand auf Kerle. Egal, wie sehr er versuchte, es zu unterdrücken. Er hatte das bis jetzt in keiner Form ausleben können und nun reagierte er viel zu stark auf den Ersten, der ihn auch nur geküsst hatte. Wobei, wenn er ehrlich war, hatte er ihn vorher schon ziemlich hübsch gefunden …

Er kam sich wie ein Trottel vor. Mal wieder.

Energisch setzte er sich. Henry nahm auf der schmalen Bank gegenüber Platz. Marie brachte die Karten und Nils tat so, als würde er sie ausgiebig studieren und nicht darauf achten, dass Henry sich seiner Skijacke entledigte, unter der er nicht mehr trug als sein Unterhemd. Von nahem waren seine bloßen Arme noch interessanter. Schlanke Muskeln. Die Träger der Skihose lagen auf recht kräftigen Schultern. Nicht sehr breit, aber … breit genug. Wofür? Nils hatte keine Ahnung.

Nervös veränderte er seine Position und stieß prompt mit den Knien gegen Henrys. Den schien das nicht zu stören. Hitze kroch Nils' Hals hoch und brachte ihn dazu, seine Jacke ebenfalls auszuziehen. Zum Glück trug er einen dünnen Pullover darunter. Er wäre sich mit kurzen Ärmeln zu nackt vorgekommen.

Nachdem sie bestellt hatten, faltete Henry die Hände unter dem Kinn und richtete die dunklen Kaffeeaugen auf Nils.

»Kann ich dich etwas fragen?« Seine Stimme klang ungewöhnlich zögernd.

»Geht’s um den Skiunterricht? Nein, du hast kein Talent, aber das brauchst du auch nicht. Wir kriegen das schon hin.«

Henrys Augenbraue hob sich.

»Danke für deine Ehrlichkeit, aber darum geht es nicht. Ich …« Er schien tatsächlich verunsichert. Ein wenig. Was war jetzt los? »Ich war doch bei euch zuhause. Gestern.«

»Als ob ich das vergessen hätte, du Stalker.«

»Also, als ich … Ich hab die Fotos gesehen.«

»Was für Fotos?«

»Die im Flur. Eure Kinderfotos. Zum Beispiel das, auf dem du als Känguru verkleidet bist und Shirley als dein Baby. Sehr süß übrigens.« Henry lächelte.

»Danke, ich geb’s an sie weiter«, knurrte Nils.

»Oh, ich meinte dich.«

Was erzählte der Kerl da? Das war doch … Das war kein Date, oder? Bestimmt nicht. Es war auch überhaupt nicht so, dass Nils das gewollt hätte, und … Er lehnte sich zurück, so weit er konnte. Versuchte, in der weich gepolsterten Bank zu versinken.

»Was ist jetzt mit den blöden Fotos?«

»Mir ist aufgefallen, dass kein Vater darauf zu sehen ist. Auf keinem davon.«

Ein Blitz zuckte durch Nils' Brust und mit einem Mal war ihm überhaupt nicht mehr warm. Mit Mühe hielt er sich davon ab, über die Gänsehaut auf seinen Armen zu reiben.

»Das … liegt daran, dass es keinen gibt. Für keinen von uns.«

»Oh.« Er sah Henry an, dass der nicht ganz verstand. »Seid ihr per Samenspende gezeugt worden, oder …«

»Das andere.« Nils' Stimme war rau. »Meine Mutter hat einen beschissenen Männergeschmack. Die … Keiner von denen hat auch nur bis zur Geburt durchgehalten.«

»Oh.« Henry schien verblüfft. Plötzlich zeigte sein Gesicht das Letzte, was Nils darin sehen wollte: Mitleid.

»Wir kommen klar«, blaffte er. »Immer schon. Ist doch egal, dass ihre Kerle Versager sind.«

»Dein Vater ist also ein Versager.«

»Ja. Und ein Feigling.«

»Hm-hm.« Wieso klang der Kerl plötzlich wie so ein … Psycho-Fritz? »Wer genau ist dein Vater, Nils?«

»Ein dummes Arschloch ist er.« Er spürte, wie Bitterkeit seine Kehle hinaufdrängte. Wie alles in ihm sich anspannte, wie immer, wenn er an den Wichser dachte, der ihn gezeugt hatte.

»Es ist jemand von oben, nicht wahr?«

Was? Woher … Diese blöden Kaffeeaugen schienen seine Seele zu durchbohren und ihr alle Geheimnisse zu entreißen. Dieser Henry war so ein Klappspaten.

»Und wenn er es wäre?«, brummte Nils. Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn herausfordernd an.

»Dann würde das deine Wut auf sie erklären. Auf uns«, sagte Henry. »Wenn …«

Er verstummte. Und dann geschah das Letzte, mit dem Nils gerechnet hätte: Henrys Wangen liefen rot an. Er fuhr sich durch die Haare, so nervös, als …

»Es tut mir leid«, sagte Henry. »Das … ich wollte nicht, dass du … Du musst mir nichts erzählen, was du nicht erzählen willst. Das tut dir immer noch weh, oder?«

Nils wandte den Kopf ab und schaute auf die Holzverkleidung neben seinem Kopf. Elche. Natürlich.

»Geht schon«, murmelte er. »Früher war’s … Na, es ist … nicht so leicht, wenn du das Kind von …« Er schluckte. »Weißt du, solche Partys wie deine, die gab’s damals schon. Da hat meine Mutter ihn kennengelernt. Den Dreckskerl. Die Mädels hier, die mit denen von oben feiern gehen … Jedes Jahr wird eine schwanger, mindestens, nur … die meisten lassen das wegmachen. Weil … Na, in Ebernau sehen die das nicht gern. Klar, die Leute in unserem Alter feiern mit euch, aber … Sie haben meine Mutter richtig fertiggemacht, weil sie mich bekommen hat. Weil ich von einem von oben bin. Und weil sie meinten, die Männer von hier wären ihr wohl nicht gut genug …«

Warum zur Hölle erzählte er das? Er war, als ob dieser komische Henry ihn mit einem Wahrheitsfluch belegt hätte oder so. Und immer noch war seine Schönlingsfresse voll Mitleid. Mitleid für ihn. Das sollte sich nicht … gut anfühlen, verdammt.

»Wie war es für dich?«, fragte Henry.

Nils zuckte mit den Schultern. Er presste die Lippen aufeinander und sah auf die weiße Tischdecke.

Scheiße war es gewesen. Die anderen Kinder hatten sich nicht zurückgehalten.

Mein Papa sagt, du bist ein Bastard. Eine Stimme aus der Vergangenheit. Das war … Mo gewesen. Mit sieben Jahren. Nils erinnerte sich, dass er heulend auf dem Schulhof gestanden hatte. Dann war er zum Supermarkt gelaufen, wo seine Mutter außerhalb der Saison gearbeitet hatte. Oft. Bis es ihr gereicht hatte. Sie hatte ihn angepflaumt. Ihm gesagt, wenn er sich jetzt nicht wehrte, müsste er gar nicht mehr nach Hause kommen.

Erstaunlicherweise hatte das funktioniert. Als das nächste Balg den Mund aufgemacht hatte - richtig, das war auch Mo gewesen - hatte er ihm eine gezimmert. Es hatte eine Prügelei gegeben und sie hatten eine Woche lang nachsitzen müssen. Gemeinsam. Komischerweise waren sie so Freunde geworden. Das hatte es ein wenig leichter gemacht. Aber … Erinnerungen drängten in ihm hoch.

Wie das Geld in der Apotheke nicht gereicht hatte und der weißgekleidete Mann gesagt hatte, das wäre kein Wunder, wenn man solche Entscheidungen traf. Wenn man sich für etwas Besseres hielt, bekommt man halt die Rechnung. Seine Mutter hatte die Lippen so fest aufeinander gepresst, dass sie ganz weiß gewesen waren. Ausnahmsweise. Oft genug hatte sie zurückgeschossen. Zurückgebrüllt. Später dann nicht mehr so häufig …

Ein Teller mit dampfender Gulaschsuppe erschien vor ihm und er schreckte hoch. Was?

»Wenn ihr mehr Brot möchtet, gebt Bescheid«, sagte Marie, drehte sich um und verschwand. Nils schaffte es nicht, Henry in die Augen zu sehen.

»Guten Appetit«, sagte der.

»Danke … gleichfalls.«

Die Suppe war so lecker, dass sein leerer Magen einen Freudentanz aufführte. Heiß und würzig, mit Fleischbrocken, die so zart waren, dass er sie mit der Zunge zerdrücken konnte. Er seufzte leise.

»Siehst du deinen Vater nie?«, fragte Henry und er zuckte zusammen. »Nicht mal an den Feiertagen?«

»Ne.« Irgendwie wollte er dem Kerl den ganzen Rest erzählen, aber … Nils wusste einfach, dass das eine blöde Idee war. Zwischen zwei Löffeln Suppe brummte er: »Bist du geschockt? Deine Familie ist bestimmt perfekt, oder? Dein kleiner Bruder mit seinem Klavier, und … Was machen deine Eltern?«

Einen winzigen Augenblick lang glaubte er, Schmerz in Henrys Augen aufflackern zu sehen.

»Meine Mutter ist Doktorin der Mikrobiologie. Sie war eine der Jüngsten, die je promoviert haben.« Nein, er musste sich geirrt haben. Henrys Stimme war kalt wie immer. Aber seltsam brüchig. »Und mein Vater … Nun, der hat sich vor allem um das Vermögen meines Großvaters gekümmert. Bis er es dann geerbt hat. Er hat es in den letzten Jahren recht erfolgreich angelegt, und … Ja, ich schätze, wir sind das, was du »perfekt« nennen würdest. Natürlich haben wir auch ein paar Probleme, aber …«

»Haben sie euch mal die Heizung abgestellt, mitten im Januar, weil ihr die Rechnung nicht zahlen konntet?«

»Nein.«

»Dann habt ihr keine Probleme.«

»Nein.« Henry wandte den Blick ab. »Ich schätze nicht.«

Nils hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen und wusste nicht, weshalb. Sollte er Mitleid mit diesem reichen Mistkerl haben? Nein, entschied er. Warum auch? Warum …

»Alles gut?«, fragte er und kam sich blöd vor. Henrys Gesicht war die übliche arrogante Maske, also wieso fühlte er sich, als hätte er ihm wehgetan?

»Ja. Ja, selbstverständlich.« Henry räusperte sich. Sein Blick wurde hart. Unverwandt sah er Nils an und der weigerte sich natürlich, wegzusehen.

»Weißt du«, sagte Henry leichthin. »Mein Angebot steht.«

»Welches Angebot?«, fragte Nils. Sein Nacken kribbelte und er wusste nicht, ob es ein angenehmes oder ein unheimliches Kribbeln war.

»Wir können nachher rummachen, wenn du willst. Ich hätte Lust darauf.«

Hitze schoss in Nils' Gesicht. Irgendwer sprang in seinem Bauch Trampolin. Er … dieser Henry hatte das nicht wirklich gesagt, oder?

»Ich … Wer sagt, dass ich das will?« Er wusste, dass er knallrot war. Dass man ihm jede Lüge ansah, aber … Was zur Hölle hatte der Typ vor? »Ich meine, ich … Nein, danke.«

»Schade.« Henry legte den Löffel zurück in die Suppe und schaute … tatsächlich enttäuscht. »Ich war nicht sicher … Ich habe auf dem Heimweg darüber nachgedacht, ob du nicht vielleicht doch die Wahrheit gesagt hast. Dass du vollkommen ausgehungert bist. Ich meine, es hat so echt gewirkt.«

»Ich …« Nils wusste nicht, was er antworten sollte. »Ich hab …« Was hatte er? »Äh.«

»Willst du es nicht wenigstens probieren?«, fragte Henry. Wie erstarrt glotzte Nils auf seine weichen Lippen. »Vielleicht gefällt es dir ja.«

»Ich …« Sag Nein, dachte Nils. Schnell.

Aber etwas anderes hatte die Kontrolle über seinen Körper übernommen. Das Kribbeln vermutlich, das sich langsam zu seiner Körpermitte hin ausbreitete.

»Ich weiß nicht … Vielleicht … nochmal küssen«, stammelte sein verräterischer Mund.

Henry wirkte erfreut. Er spähte hinter der Holzverkleidung hervor in den Raum. Er konnte nicht … Nils hörte das Besteckklappern und die leisen Gespräche bis hierher. Henry hatte doch nicht etwa vor …

»Es sieht uns keiner«, flüsterte Henry. Ein Lächeln, ein wunderschönes Lächeln erschien auf seinen Lippen und Nils' Herz stolperte. Wie hypnotisiert schaute er zu, wie Henry sich zu ihm vorbeugte. Wie er näher kam, bis sein Weihnachtsmarktduft Nils' Herz zum Hämmern brachte. Dunkle Augen, direkt vor seinen. Warmer Atem auf seinem Gesicht, Lippen, die so einladend waren, dass … Nils sich nach vorn lehnte, obwohl er es wirklich nicht wollte, und … seinen Mund auf Henrys legte.

Er schmeckte Gulaschsuppe und Zimt. Spürte das sanfte Zittern von Henrys Lippen. Eine zarte Berührung, wie ein leises Flüstern, das stetig lauter wurde. Der Druck von Henrys Mund verstärkte sich, ließ Nils' ganzen Körper aufheulen. Eine Bewegung. Etwas … Henrys Zungenspitze stupste gegen seine Lippen, versuchte, in seinen Mund einzudringen. Er konnte nicht anders. Langsam öffnete er sich, schmeckte … Henry, spürte die nasse Zunge, die …

Nils wich zurück, prallte gegen seine Rückenlehne und starrte Henry aus weit aufgerissenen Augen an. Und der … sah ihn verträumt an. Zärtlich. Scheiße. Scheiße! Warum …

Nils' Puls raste. Er konnte die Augen nicht von Henry abwenden, von diesem samtigen Blick. Langsam setzte der Kerl sich wieder. Er blinzelte.

»Wow«, flüsterte dieser Schnösel und Nils' ganzer Körper brüllte ihn an, ihn nochmal zu küssen.

Nein!

»Ich bin gleich zurück«, murmelte er und drängte sich an Henry vorbei. »Nur eben … pissen.«

Hals über Kopf flüchtete er in die Toiletten. Zum Glück waren alle drei Kabinen leer. Er verschloss die erstbeste hinter sich und setzte sich auf den Klositz. Atmete hektisch die nach Zitrone duftende Luft ein.

Scheiße. Wie war das passiert? Was plante der Kerl? Hatte er gemerkt, wie Nils auf ihn reagierte? Aber was hatte er davon? Und … er hatte … hatte ihn angesehen, als ob …

Als ob ich ein dreifacher Schokomuffin mit Elfenstaub wäre und als ob er es kaum glauben kann, dass ich ihm gehöre, hörte er seine Mutter sagen.

Zu dem aufgeregten Flattern in seinem Bauch gesellte sich Kälte. Und Übelkeit. Nein. Dieser Henry, der … der war wie all die Typen von oben. Der würde bald abreisen. Heute da, morgen weg und er würde mit … Nun, Nils würde nicht mit einem dicken Bauch zurückbleiben. Nur mit einem zerschmetterten Herzen.

Wenn er nicht aufpasste.

»Nein«, sagte er und atmete tief ein. »Nein.«

Er sah nach unten, auf den Schritt seiner Skihose. Die war so dick, dass man nichts erkannte. Glücklicherweise. Denn er spürte, wie hart er war. Wie diese Härte gegen die vielen Lagen des Stoffs drängte. Er gab der Versuchung nach, darüber zu streichen, nur eine Sekunde lang und wurde mit einem lustvollen Ziehen belohnt.

Ein leises Knurren drang aus seiner Kehle. Nein. Nein!

Mit weichen Knien erhob er sich. Er würde diesem arroganten Schnösel keinen Millimeter mehr nachgeben. Nie. Fest entschlossen öffnete er die Kabinentür und marschierte hinaus.

 

9. Risse

 

Henrik spürte wieder etwas. Ganz sicher. Wie Lichtstrahlen, die durch die Risse im Eis schienen, brachen Gefühle aus ihm heraus. Immer öfter. Immer, wenn er mit Nils zusammen war. Angefangen mit dem Kuss im Restaurant, der ihn erwischt hatte wie ein Blitzschlag.

Leider weigerte Nils sich seitdem, ihm zu nahe zu kommen. Mit knallrotem Gesicht (verdammt süß), hatte er Henrik erklärt, dass er nicht mit zu ihm nach Hause kommen würde und auch nicht wünschte, erneut geküsst zu werden. Was sehr schade war.

Trotzdem löste er Dinge in Henrik aus. Echos, tief in seiner Brust. Wenn Nils überprüfte, ob die Skier ordentlich saßen und Henrik die feinen Härchen in seinem Nacken sah. Wenn er ausnahmsweise zufrieden war und ihn lobte, und … Nun, das kam nicht oft vor. Leider. Henrik war, wie er vermutet hatte, immer noch ein grottiger Skifahrer.

 

***

 

Am zweiten Tag ließ Nils ihn endlich den läppischen Hügel herunterfahren, den außer ihm nur Anfänger und Kinder benutzten. Henrik hörte Jubeln neben sich. Ängstliches Kreischen. Er erinnerte sich, dass er früher genauso geklungen hatte. Davor …

Egal. Er würde … sich das zurückerobern. Solange nur das Monster nicht ausbrach, würde er …

»Konzentrier dich!« Nils' Gesicht erschien neben ihm. Schon hatten sie den Fuß des Anfängerhügels erreicht und wurden langsamer.

»Warum?«, fragte Henrik. »Was soll mir hier passieren?«

»Darum geht’s nicht.« Nils' Limettenaugen schauten vorwurfsvoll. »Du musst vernünftig fahren lernen, wenn du dir auf einer richtigen Piste nicht das Bein brechen willst.«

»Oh, heißt das, wir fahren bald auf einer richtigen Piste?«, fragte Henrik und grinste. »Na endlich.«

»Erst, wenn du dir hier Mühe gibst«, knurrte Nils. »Und jetzt wieder hoch mit dir.«

Der Aufstieg mit seitlichen Schritten gehörte zum langweiligsten am ganzen Skifahren. Drei Minuten hoch und drei Sekunden runter. Statistisch gesehen war Skifahren Blödsinn. Henrik war sicher, dass er längst aufgegeben hätte, wenn …

Wenn sein Lehrer nicht Nils gewesen wäre. Der war nicht nur hartnäckig, sondern auf seine ruppige Art auch erstaunlich geduldig. Er drängte Henrik nie und ließ ihn alles in seinem Tempo lernen. Nur, wenn er nicht aufpasste, wurde er schroff.

»Weißt du«, sagte Henrik, als er es den Hügel hinaufgeschafft hatte und sie Seite an Seite oben standen. »Morgen Abend steigt in meinem Chalet eine Vor-Silvester-Party. Wenn du magst, kannst du kommen. Mo ist auch da.«

Nils schüttelte den Kopf.

»Danke, aber … ich muss auf Shirley und Josh aufpassen.«

»Ich habe nichts anderes erwartet.«

»Was willst du damit sagen?«, fragte Nils.

»Dass du es total hasst, Spaß zu haben«, sagte Henrik leichthin.

»Tu ich nicht«, brummte Nils. »Und mit lärmenden Idioten zu feiern, ist kein Spaß.«

»Was macht dir denn Spaß?«, fragte Henrik. Nils öffnete den Mund, um zu antworten, sah ihn an … und errötete.

»Nichts«, sagte er.

»Du bist ein furchtbarer Lügner«, murmelte Henrik, so leise, dass die kreischenden Kinder um sie herum nichts mitbekommen konnten. »Nur, dass du’s weißt: Mir hat es auch Spaß gemacht. Ich würd’s jederzeit wieder tun.«

»Sei ruhig.« Hektisch sah Nils sich um. »Und jetzt runter mit dir.«

Henrik seufzte ergeben und glitt auf den Abhang zu. Auch an diesem Abend schlug Nils sein charmantes Angebot aus, ihn in das Chalet zu begleiten.

Henrik würde … ihn verführen müssen. Nur hatte Henrik keine Ahnung, wie man einen cholerischen Wikinger verführte.

Versuchen würde er es trotzdem.

 

***

 

»Aah!«, rief Henrik und stürzte in den plattgefahrenen Schnee. Er rollte sich über die Schulter ab und achtete darauf, dass seine Skier sich nicht verkeilten. Die vorbeifahrenden Kinder sahen ihn ängstlich an. Eine Sekunde später war Nils bei ihm.

»Alles Okay?«, fragte er. Besorgnis ließ sein mürrisches Gesicht weicher wirken.

»Ja, ich … au.« Henrik setzte sich auf. Massierte stirnrunzelnd seinen Knöchel und warf Nils einen verstohlenen Blick zu. War das überzeugend?

»Lass mal sehen.« Nils schnallte Henriks Skier ab und berührte den Knöchel. »Tut es weh, wen ich es biege?«

Überhaupt nicht.

»Ja«, zischte Henrik zwischen zusammengebissenen Zähnen.

»Okay.« Nils klopfte sich auf die Schenkel. »Auf zum Arzt. Ich bring dich hin.«

»Nein, das …« Henrik räusperte sich. »Ich kenn das schon. Das ist nicht so schlimm.«

»Sicher?«, fragte Nils. Er schien alles andere als überzeugt.

»Ja. Bin beim Basketball oft genug umgeknickt, um das zu wissen.« Henrik grinste schief. »Zwei Tage ausruhen und ich bin wieder fit. Ich brauche ein Kühlpad, aber ich hab eins im Chalet.«

»Oh. Gut.« Nils wirkte leicht verunsichert. Tat es ihm leid um zwei Tage Verdienstausfall? Oder würde er Henrik vielleicht … vermissen?

Nils erhob sich und streckte ihm eine Hand hin. Henrik ergriff sie und bedauerte, dass sie beide Handschuhe trugen. Aber, wie um das auszugleichen, legte Nils Henriks Arm um seine Schulter. Ihre Wangen berührten sich beinahe. Wärme schwebte zu ihm herüber. Henrik sah Nils' Atemwolke vor sich aufsteigen.

»Geht das?«, fragte Nils.

»Ja.« Das schlechte Gewissen plagte Henrik, aber … er wollte doch nur wissen, ob Nils Lust hatte, mit ihm … Er räusperte sich. »Das ist bestimmt sehr anstrengend, aber würdest du mich zu meinem Chalet bringen?«

»Alter, was meinst du, was ich vorhabe?«, fragte Nils.

Er stützte Henrik nicht nur, sondern trug auch noch ihre Skiausrüstungen. Der Weg war nicht leicht, aber nach zwanzig Minuten durch den festen Schnee hatten sie es geschafft.

Henrik wühlte in seiner Tasche herum und förderte den Schlüssel zutage. Sein Herz klopfte bis zum Hals. Ja, er war richtig aufgeregt. Den ganzen Weg über hatte er Nils' kantiges Profil direkt vor der Nase gehabt. Hatte seinen Geruch eingeatmet, eine unverfälschte Mischung aus … Feuerholz und getrockneten Kräutern. Heimelig. Ja, Nils roch wie ein Zuhause.

Der Gedanke ließ seine Ohren heiß werden. Das war ein wenig voreilig, oder? Bisher hatten sie sich gerade mal geküsst und … die Chancen standen nicht besonders gut, dass sie es wieder tun würden. Andererseits auch nicht so schlecht, wenn alles nach Plan lief. Nach seinem sehr improvisierten Plan.

»Wow.« Nils' Blick wanderte über die Armee aus Getränkekisten, die im Flur aufgereiht standen. Vorbereitungen für die Party heute Abend. »Meinst du, das wird leer?«

»Glaub schon.« Henrik lehnte sich gegen die Wand, um, mit nur einem Fuß auf dem Boden, seine Jacke auszuziehen. Nils blieb bei ihm, anscheinend immer bereit, ihn aufzufangen, falls er stürzen sollte. »Letztes Mal haben sie genauso viel geschafft.«

»Hm.«

Oh. Offensichtlich dachte Nils daran, wie das für ihn geendet hatte. Und tatsächlich war es Henrik ein wenig peinlich. Ausgezeichnet. Das Gefühl kehrte zurück und … wenn es nach ihm ginge, würde dieser hübsche Kerl ihm helfen. Henrik wühlte in der Tasche seiner Skihose herum, bis er sein Portemonnaie gefunden hatte. Die Scheine, die er Nils reichte, waren kühl.

»Dein Gehalt.«

»Oh, richtig«, sagte Nils. »Aber das ist zu viel. Oder ist das ’ne Anzahlung für morgen? Ich glaube nicht, dass du dann schon wieder fit bist.«

»Nein, das ist dein Verdienstausfall für morgen.« Henrik schenkte Nils sein freundlichstes Lächeln. Sein Herzschlag legte noch einen Zahn zu, als er sah, dass dessen Wangen sich leicht röteten.

»Das kann ich nicht annehmen.« Nils versuchte, ihm fünf Hunderter zurückzugeben, aber Henrik hob abwehrend die Hände.

»Aber das war meine Schuld. Das mit meinem Knöchel, meine ich. Ich hab nicht aufgepasst. Wär doch blöd, wenn du wegen mir morgen kein Geld verdienen würdest.«

Nils runzelte die Stirn. Offensichtlich passte es ihm gar nicht, Geld zu bekommen, ohne zu arbeiten.

»Ich … könnte trotzdem vorbeikommen«, sagte er. »Wir können Videos übers Skifahren gucken oder so. Die Theorie üben.«

»Eine fantastische Idee!« Henrik strahlte. »Magst du Popcorn?«

»Klar.« Nils zuckte mit den Achseln. »Du hast bestimmt ’nen größeren Fernseher als wir, oder?«

»Willst du ihn ansehen? Ich glaube, du musst mich sowieso ins Wohnzimmer begleiten.«

»Klar, kein Problem.« Ein Lächeln zuckte um Nils' Mundwinkel. »Ich kann dir auch das Kühlpad holen und dein Aua wegpusten.«

»Wegküssen wäre mir lieber.«

Nils öffnete den Mund, schaffte es aber nicht, zu antworten. Er sah Henrik nicht an, obwohl der den rechten Arm um seine breiten Schultern legte und sich extra tapsig anstellte, während Nils ihn ins Wohnzimmer schleppte. Die Tür zum Flur fiel hinter ihnen zu. Perfekt.

Es roch nach frischem Holz und Honig. Nils' Blick wanderte durch den lichtdurchfluteten Raum, über grob gemauerte Steinwände, bodenlange Vorhänge und rustikale Designermöbel, bevor er schließlich auf dem 65-Zoll-Fernseher in der Nische vor der Sofaecke landete.

»Nicht schlecht«, brummte er. »Soll ich dich davor ablegen? Dann wird dir nicht langweilig bis zur Party.«

»Nein, bestimmt nicht«, flüsterte Henrik gegen Nils' Hals.

Aufgeregt betrachtete er die Gänsehaut, die sich dort bildete. Er ließ sich mitziehen, auf das gigantische weiße Ledersofa zu. Hing an Nils, als hätte er absolut keine Kraft mehr … und setzte einen Fuß vor seinen, als sie davor standen. Nils strauchelte, Henrik prallte gegen ihn und sie kippten über die Lehne auf die weiche Sitzfläche.

Henrik landete auf Nils, der mit riesigen Augen zu ihm hochsah.

»Sorry«, murmelte Henrik. »Das wollte ich nicht.«

»Schon gut, du …« Nils vergaß offenbar, was er sagen wollte.

Sein kantiges Gesicht war so nah, dass Henrik seinen Atem auf den Lippen fühlte. Nils' Kopf lag eingezwängt zwischen Henriks Armen. Die Wärme seines Leibs drang durch die Kleidung zu Henrik durch.

Und Henrik sah ihn. Den verwirrten Blick aus limettengrünen Augen. Angst und Erwartung. Und … er spürte ihn. Da wo ihre Unterleiber zusammengepresst wurden, bewegte sich etwas. Wurde fester. Härter. Henrik schluckte. Sein Pulsschlag verdoppelte sich. Lichtstrahlen brachen aus dem Eis.

Nils wurde knallrot.

»Ich … sorry«, stammelte er und versuchte, sich aufzurichten. Aber Henrik hielt ihn fest. Und Nils gab schnell auf.

»Ich …« Henrik kam näher. Genoss das Gefühl, als ihr Atem sich vermischte. Endlich konnte er diese Augen richtig betrachten. Das Limettengrün war in Wahrheit zusammengesetzt aus Splittern von dunklerem Grün und einer Farbe, die fast goldgelb war …

»Ich … darf ich?«

Nils nickte, wie hypnotisiert. Ein Ruck ging durch seinen Körper, als Henrik ihn küsste. Dann noch einer, als Henrik das Gewicht verlagerte und Nils zeigte, dass er genauso erregt war wie er. Nils keuchte in Henriks Mund. Seine Lippen zitterten unter der suchenden Zunge. Seine Hände wanderten langsam an Henriks Seite hoch und der wusste, dass er gewonnen hatte. Raue Fingerspitzen fuhren durch seine Haare. Sie tasteten über die Wangen und kitzelten den Nacken. Eine heiße Welle fuhr durch seinen Körper, als Nils sich ihm entgegenreckte, den Druck auf seinen Unterleib verstärkte. Den Kuss erwiderte. Leise und verzweifelt stöhnte.

Der Geruch nach Kaminfeuer und Zuhause war es, der den ersten Riss im Eis verursachte. Den ersten großen Spalt, der krachte und knackste und sich unaufhaltsam verbreiterte. Gefühle, echte Gefühle rasten durch Henriks ganzen Körper. Er konnte nicht aufhören, Nils zu küssen, seine Lippen gegen dieses weiche Paradies zu pressen, zu spüren, wie der warme Leib unter ihm reagierte. Es war, als könnte er zum ersten Mal seit einem Jahr wieder Farben sehen. Kribbeln und Glück strömten aus der Spalte im Eis und …

… Nein!

Er spürte es. Das Monster. Es wollte heraus. Geifernd schlug es seine Klauen in den Spalt, drängte und schob und riss, streckte sich zähnefletschend, schon leckte seine schwarze Zunge über die Kante …

Henrik bäumte sich auf. Er krallte die Finger in Nils' Schulter. In das Sofakissen. Biss die Zähne aufeinander und schrie stumm. Sein Atem ging stoßweise. Seine Augen, weit aufgerissen, starrten in Nils' wunderschöne, die erschrocken zu ihm aufsahen.

»Was ist los?«, hörte er durch den Nebel, der hinter seinen Pupillen aufstieg. »Ist es dein Fuß?«

Fast hätte er gelacht, wenn er nicht so damit beschäftigt gewesen wäre, die Bestie zurückzuhalten. Zurückzudrängen.

Du nicht, flehte er. Du … bitte nicht du.

Er war ein Idiot, so ein Idiot. Wolfram hatte es ihm doch gesagt. Gefühle konnte man nicht kontrollieren. Ließ man eins zu, ließ man alle zu und … das Monster war ein Gefühl. Eins, das nicht sein durfte.

Er schaffte es. Knapper als je zuvor. Wie in Zeitlupe, Eiskristall um Eiskristall, schloss sich der Spalt in seiner Brust. Umschloss die Reißzähne des Biests, seine blutunterlaufenen Augen, die modrig stinkende Schuppenschicht. Und vereiste alles andere. Kein Glück floss mehr durch seine Venen, kein …

»Henry? Henry!« Kräftige Hände packten seine Oberarme. Schüttelten ihn. Nur einen Moment noch …

Der Spalt war geschlossen. Wie betäubt blickte er Nils an.

»Du musst gehen«, flüsterte er tonlos.

»Was?« Nils schaute ihn ungläubig an. Sie saßen sich gegenüber. Wann hatten sie sich aufgesetzt? »Auf gar keinen Fall. Irgendwas stimmt nicht, oder? Irgendwas …«

»Du musst gehen!«, brüllte Henrik. Verdammt. Nein! Keine Wut. Zurückdrängen. Verschließen.

»Hey.« Wunderbar warme Handflächen an seiner kalten Wange. »Was ist los?«

Warum klang die Stimme dieses Cholerikers plötzlich so … sanft? Warum war das Gesicht unter den zerstrubbelten blonden Haaren so besorgt?

»Bitte geh weg«, flüsterte Henrik. Tief atmen. Die Kontrolle behalten.

»Henry, du …« Nils' Gesicht näherte sich seinem und das konnte er nicht zulassen.

»Merkst du denn nicht, was ich hier abziehe?« Henrik lachte derb und … vollkommen gefühllos.

Er rutschte vom Sofa. Weg von Nils. Stellte sich vor ihm hin. Auf beide Füße.

»Ich hab nur so getan, du Idiot. Mein Knöchel ist in Ordnung. Ich … ich wollte dich doch nur hierher locken. Dich ins Bett kriegen.« Er holte tief Luft. »Ich bin ein Stück Dreck. Genau wie wir alle. Genau wie dein Vater.«

Er sah das Erschrecken in Nils' Augen. Die Verletzung. Aber er konnte nicht zurück. Wenn das Monster ausbrach, dann war alles vorbei. Dann hätte er sie endgültig verloren.

»Würdest du also bitte gehen?« Seine Stimme war so hochnäsig, wie er sich das nie zugetraut hätte. »Ich hab genug von dir.«

»Du laberst Scheiße, Alter.« Was? Nils' Gesichtsausdruck war irgendwo zwischen wütend und besorgt. »Jetzt hör auf zu lügen und sag mir, was los ist. Es geht dir nicht gut, das seh ich doch.«

»Verschwinde endlich oder ich rufe die Polizei«, sagte Henrik und wich zurück. »Wenn ich ihnen sage, dass du mich bedroht hättest, glauben sie mir sicher. Schließlich wissen alle, wie sehr du uns hasst. Uns reiche Arschlöcher.«

»Du bist kein Arschloch«, murmelte Nils. »Das hab ich doch nur so gesagt, damals.«

»Und du hattest recht. Geh jetzt bitte.« Henrik zog sein Handy aus der Hosentasche. Alles tat weh. »Oder ich sehe mich gezwungen, meine Drohung wahrzumachen.«

»Henry …«

Henrik tippte auf das Display.

»1 … 1 … 0«, murmelte er.

»Ist ja gut!« Nils warf die Hände in die Luft. »Ich hau schon ab. Aber … meld dich, wenn du was brauchst, okay? Wenn nicht bei mir, dann bei … Mo oder meiner Mutter oder Marie oder irgendwem.«

»Mach ich«, sagte Henrik, nur damit der Kerl ihn endlich in Ruhe ließ. Ihn nicht weiter belästigte mit seinen schönen Augen und seinem besorgten Gesicht.

»Versprich es.« Nils wusste wohl, dass er auf verlorenem Posten stand.

»Ich verspreche es. Feierlich. Hoch und heilig. Und jetzt hau ab.«

Henrik warf ihm den kältesten Blick zu, den er drauf hatte. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn er Nils in eine Eisstatue verwandelt hätte. Aber der sah ihn nur traurig an und bewegte sich langsam auf die Tür zu. Ein lautes Jaulen wollte aus Henriks Kehle dringen, als er die zusammengesunkene Gestalt sah, die sich auf den Flur zuschleppte. Aber das durfte es nicht. Also schluckte er es hinunter.

Selbst, als er die Haustür ins Schloss fallen hörte, blieb er ruhig. Setzte sich auf das Sofa, faltete die Hände und verdichtete das Eis in seiner Brust, bis es so undurchdringlich war wie eine Stahlmauer.

 

10. Sorgen

 

»Ich hab Angst«, murmelte Nils.

»Was?«, fragte seine Mutter und er schrak auf.

»Nichts. Sorry, ich … hab nur laut gedacht.«

Er wusste auch nicht, was mit ihm los war. Es war Abend. Der 30. Irgendwo da oben feierte Henry seine Vor-Silvester-Party. Das wusste er, weil er Mo überredet hatte, ihm jede Stunde zu schreiben. Zu berichten, wie es Henry ging.

Sitzt auf dem Sofa. Trinkt Bier, hatte Mo vor einer Viertelstunde geschrieben. Mädchen bei ihm. Schätze, da läuft gleich was.

Nils schluckte seine Eifersucht herunter. Ihm doch egal, was Henry trieb. Na ja, solange er sich nichts antat. Das würde er nicht. Bestimmt nicht. Warum auch, der Kerl hatte doch ein perfektes Leben. Mit Mädels, die ihn toll fanden und reichen Eltern und … keine Ahnung.

Wenn Nils ganz ehrlich war, war Henry in Ordnung. Er war nicht mal ein schlechter Skischüler. Auch wenn er sich ständig über das langsame Tempo beschwerte, hörte er auf ihn. Benahm sich anständig für einen von oben.

Nur war da noch die andere Sache. Dass er Dinge in Nils zum Vorschein brachte, die niemand sehen durfte.

Henrys Zimtgeschmack lag noch auf seinen Lippen. Er spürte den schlanken Körper an seinem, als hätten sie sich nie voneinander gelöst. Dabei war es schon Nacht. Nach zehn.

Er saß mit seiner Mutter in der Küche und bereitete das Essen für morgen vor. Vier dampfende Laibe Brot lagen vor ihr auf dem Tisch. Er hob die letzte leere Form aus dem Spülwasser und reichte sie ihr. Da waren noch schmutzige Messer vom Frühstück. Gut. Abwaschen beschäftigte die Hände und das verhinderte, dass er zuviel nachdachte. Na ja, wenigstens ein bisschen.

Seine Mutter sah aus dem Fenster, hinter dem die schwarze Nacht lag.

»Meinst du, es geht heute schon los?«, fragte sie. »Sie haben den Sturm für morgen angekündigt, aber …«

»Ist doch egal. Wir sind alle daheim. Uns kann nichts passieren.« Er merkte selbst, dass seine Stimme anders klang. Rauer, ohne Gleichgewicht.

»Ja, das stimmt.« Sie lächelte. »Bin ich froh, dass wir die Bande ins Bett gekriegt haben. Ich hab das Gefühl, es wird jeden Tag schwieriger.« Ihre Augen wurden sanft, als sie ihn betrachtete. »Weißt du, Nilsi, wenn du nicht …«

Rumms. Etwas landete vor dem Fenster. Etwas Schweres. Sie fuhren herum und sahen hinaus, nur, um Marcs rote Jacke zu erkennen. Nils' Bruder war aus dem ersten Stock auf die Straße gesprungen. Er richtete sich auf, sah sich um … und erstarrte, als er ihre Gesichter sah.

Ein breites Grinsen erschien auf seinen Lippen.

Blitzschnell drehte er sich um und rannte davon. Sie hörten seine Schritte in der Gasse verklingen.

»Das …« Seine Mutter ballte die Fäuste. »Dieser Rotzlöffel! Wo will der um die Uhrzeit noch hin, der … Der kriegt was zu hören!«

Schon hatte sie ihr uraltes Handy vom Küchentisch gerissen und Marcs Nummer eingetippt.

»Du unverschämtes kleines Blag!« Humpelnd tigerte sie auf und ab. Ihre Beinschiene rumpelte über den dunklen Holzboden. »Wenn ich dich in die Finger kriege …«

Natürlich ging Marc nicht an sein Handy. Nils beobachtete seine Mutter, während sie immer und immer wieder versuchte, ihn zu erreichen. Schwer wie Blei setzte er sich an den Küchentisch. Er legte die Arme auf die abgewetzte Platte und lehnte das Kinn darauf.

Vermutlich war Marc auf dem Weg zu einer Party. Er war jetzt fünfzehn, ein guter Snowboarder und die Mädels mochten ihn, wie er immer wieder behauptete. Klar war der nachts lieber unterwegs. Wahrscheinlich war er sogar auf dem Weg zu Henrys Party. Da würde er mit Mo und den anderen feiern, und …

Nils machte sich nicht viel aus Partys. Er sah die Mädchen, die mit den reichen Touristen tanzten, und dachte an seine Eltern. Fragte sich, ob in dieser Nacht ein Kind wie er entstehen würde, und … Na, er war echt kein Spaßvogel. Henry hatte schon recht gehabt. Kein Wunder, dass der ihn rausgeworfen hatte …

Nein, das war etwas anderes gewesen. Nils hatte genau gemerkt, dass es Henry genauso gefallen hatte wie ihm, ihn … Hitze kroch seine Wangen hoch … zu küssen. Anzufassen. Er hatte sich nicht viel mehr getraut, als durch Henrys dunkle Haare zu streichen, aber selbst das … Wenn er geblieben wäre und … wenn sie weitergemacht hätten … Was dann? Wäre er jetzt vielleicht … Er schluckte. Wie weit wären sie gegangen? Hätten sie es getan? Hätte er es gut gemacht, obwohl er wirklich keine Ahnung davon hatte? Er wusste es nicht.

Ich will das auch gar nicht wissen, dachte er. Gut, dass das nichts geworden ist. Mit diesem Schnösel. Diesem arroganten Sack. Der hätte mich genauso schnell fallen lassen, wie dieser Dreckskerl Mama verlassen hat.

Er sah zu, wie sie wutentbrannt auf die Spüle schlug. Ihr Gesicht sich vor Schmerzen verzog.

»Fünf Jahre Hausarrest!«, zischte sie. »Mindestens!«

Ob sie sich damals so gefühlt hatte wie er jetzt?

»Mama?« Er räusperte sich. »Ich muss dich was fragen.«

»Hm?« Ihre Züge wurden weicher, als sie ihn sah. »Was schaust du denn so traurig, Nilsi?«

Ihre Hand verwuschelte seine kurzen Haare und er fühlte sich ein wenig getröstet. Sog ihren Geruch nach Sauerteig und Mehl ein, als könnte das alles in Ordnung bringen.

»Mein Va… Dieser Matze.« Er atmete tief ein. Sah die Verwunderung in ihrem Blick. »Wie war der? Wie … war das mit euch? Für dich, meine ich?«

»Also …« Sie setzte sich ihm gegenüber. Schaute im Raum umher und wusste offenbar nicht, wo sie anfangen sollte. »Warum jetzt? Du wolltest doch nie was über ihn wissen.«

Er zuckte mit den Achseln.

»Weiß nicht«, murmelte er. »Ich … Das interessiert mich nur.«

»Na ja, klar.« Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Immerhin ist er dein Vater.«

»Ist er nicht.« Die alte Wut brodelte in Nils hoch. »Höchstens mein Erzeuger.«

Ihre kurzgeschnittenen Fingernägel trommelten auf die Tischplatte.

»Na, Matze war, wie soll ich sagen … Er war echt hübsch.« Mit einem Mal wirkte sie verletzlich. »Wunderschön, der reinste Märchenprinz. So wie du.«

Sie lächelte. Er schnaubte.

»Ich hab nichts mit dem Kerl gemeinsam.« Sie betrachtete ihn, schien etwas sagen zu wollen und sich dann doch für etwas anderes zu entscheiden.

»Okay.« Die kleinen Fältchen um ihre Augen erschienen, als sie wieder lächelte. Ein warmes Mutterlächeln. »Gar nichts. Ihr seht total verschieden aus. Na, jedenfalls war er der Star unter den Jungs, die in dem Jahr hergekommen sind. Er hatte zwei Freunde dabei, aber die konnten nicht mithalten. Nie. Wenn der ins Rashomon gekommen ist, haben sich alle nach ihm umgedreht …«

»Das Rashomon? Das, wo jetzt das Joannas ist?«

»Ja, genau. Hat sich nicht viel geändert seit damals. Nur die Musik.« Sie fuhr sich durch die Flammenmähne. In Ebernau gab es ungewöhnlich viele Rothaarige. Erst letztens war wieder ein Team aus Wissenschaftlern da gewesen, um irgendwas zu erforschen. Nils hatte leider die Haare von diesem Arschloch Matze geerbt.

»Hast du ihn gemocht?«, fragte Nils. »Ich meine, hattest du … das Gefühl, dass du ihn besser kennst als andere Leute?«

Sie verzog den Mund.

»So … würde ich das nicht ausdrücken. Ich war einfach hin und weg, weil sich der hübscheste Kerl weit und breit für mich interessiert hat. Ein Mädel aus dem Fleischhauer-Viertel.« Ein Grinsen erhellte ihr Gesicht. »Okay, ich war echt ein Feger damals. Fast wäre ich Skikönigin geworden, wenn Marie nicht alle Fragen auswendig gelernt hätte, aber egal, das ist ’ne andere Geschichte. Matze, der war alles für mich. Ich hab … Ich weiß nicht. Wenn wir uns getroffen haben, nachts, da hab ich jedes Mal geglaubt, gleich holt er ’nen Verlobungsring raus, weil … das war so wie im Film. Ich hätte nie gedacht, dass das irgendwie schieflaufen könnte. Ist es natürlich, aber damals … hat es sich so richtig angefühlt.«

Ihre Augen sahen in weite Ferne und ihre Stimme nahm einen schwärmerischen Klang an.

»Er hat seine Freunde rausgeworfen, wenn ich vorbeigekommen bin. Die mussten immer auf dem Sofa pennen. Eigentlich ganz schön fies, aber … ich kam mir vor wie eine Prinzessin. Klar hab ich gesehen, dass er arrogant und oberflächlich war. Aber ich hab's nicht wahrhaben wollen. Dachte immer, ich wäre die Einzige, die hinter seine Fassade schauen könnte. Dabei war da gar nichts.«

Nils' Laune sank. Das klang viel zu sehr wie das, was er für Henry empfand. Vielleicht … war der wirklich nur ein stinkreiches Arschloch. Vielleicht hatte Nils ihn echt gelangweilt und er hatte ihn rausgeworfen und alle Gefühle, die Henry scheinbar für ihn gehabt hatte, waren nur eine Illusion gewesen.

Leider hatte seine Mutter sich langsam warmgeredet.

»Wir waren essen, in einem total süßen Restaurant. Giovannis, das gibt’s leider nicht mehr. In so einer dunklen Ecke, wo keiner reinschauen konnte. Da hat er mich zum ersten Mal geküsst. Ich … Mann. Ein richtiges Date. Die Jungs hier haben immer nur versucht, mir auf den Feten unter den Rock zu greifen. Ich war so ausgehungert, so versessen auf Liebe. Kein Wunder, dass ich so blöd war.«

Nils hinderte seinen Kopf mit Mühe daran, auf die Tischplatte zu schlagen. Ja. Mist. Das kannte er doch alles irgendwoher. Na ja, er wurde eher selten auf Partys belästigt, aber der Rest stimmte.

»Und dann?«, fragte er, obwohl er den Teil schon kannte.

»Dann …« Ihre Miene wurde düster. Ihr Körper sackte zusammen, als hätte dieser beschissene Matze nach all der Zeit immer noch Macht über sie. »Dann war er weg. Eines Tages. Marie hat es mir gesagt. Richtig gefreut hat die sich. Die war total eifersüchtig. Erst wollte sie ihn auch und dann, als er sich für mich entschieden hat, hat sie ihn immer schlecht gemacht.«

Sie seufzte.

»Sie müssen früh morgens abgereist sein. Einfach so. Keinen Brief, oder … irgendetwas hat er mir zurückgelassen. Ich hab gewartet, dass er sich meldet, aber … Irgendwann hab ich ihn angerufen. Er hat sich total gefreut, und ich dachte, es ist alles gut. Aber als ich kapiert habe, dass du unterwegs warst und ihm davon erzählt habe, da … kam nichts mehr. Und nach ein paar Tagen ging die Nummer nicht mehr. Da wusste ich, dass ich verloren hatte. Ich konnte ihn nicht finden. Matze heißen viele und ich hatte nicht mal einen Nachnamen von ihm. Da war ich so verliebt und wusste nicht mal, wie der Kerl heißt.«

Wie hieß Henry eigentlich mit Nachnamen? Moment mal: War Henry nur ein Spitzname? So wie Matze?

Nils streckte die Hand aus und sie ergriff sie. Ihre Augen glänzten feucht.

»Aber denk nicht für einen Moment, dass ich es bereue, hörst du?« Sie richtete sich auf. »Egal, wie mies der Kerl war, ohne ihn hätte ich dich nicht. Und ich wäre verdammt traurig, wenn ich dich nicht hätte.«

Ein Kloß bildete sich in Nils' Kehle.

»Klar«, sagte er leichthin. »Ohne mich hättest du ja keinen, der Josh und Shirley ins Bett bringt.«

»Mach dich nicht so klein, Nilsi.« Sie lächelte. »Du spülst auch ganz gut.«

Nils schnaubte leise. Grinste sie an und sie grinste zurück. Immer noch lag ihre Hand in seiner. Es half ein bisschen.

 

11. Kater

 

Ihm war übel. Henrik öffnete ein Auge und stöhnte leise. Grelle Sonnenstrahlen trafen auf seine sensible Netzhaut. Morgensonne. Viel zu früh. Blitzschnell schloss er die Lider wieder.

Das hatte er doch schon mal … Immerhin hatte er diesmal in seinem Bett geschlafen, wie er nach einem weiteren Blick feststellte. Alleine. Und nicht gekotzt, soweit er sich erinnerte. Auch sonst war die Vor-Silvester-Party ein voller Erfolg gewesen. Höchstens die richtige Silvesterparty heute Abend, bei Noella-Sophie, würde sie noch toppen können. Wenn sie stattfand. Mo hatte irgendetwas von einem Schneesturm erzählt.

Henriks trübe Augen betrachteten das Kopfkissen, das sich vor ihm ausbreitete wie eine rotkarierte Berglandschaft. Er würde wohl aufstehen müssen, denn seine Blase war mal wieder kurz vorm Überquellen. Verdammt. Leise stöhnend richtete er sich auf.

Lauter stöhnend tapste er die kalten Treppenstufen hinunter. Nur Glück und das Treppengeländer verhinderten, dass er stürzte. Biergeruch hing in der verbrauchten Luft. Auf dem Weg ins Bad warf er einen Blick auf die Verwüstungen, die die Gäste hinterlassen hatten. Der Bildschirm hatte überlebt, aber eine der teuren Bodenvasen lag zerschmettert am Boden. Egal, die würde er bezahlen. Er würde …

Er runzelte die Stirn. Legte den Kopf schief.

Eva und Amelie lagen auf dem Sofa. Fast wie damals in seinem Bett. Nackt, sich fest umarmend, mit zerzausten Haaren und schlafweichen Gesichtern. Diesmal war es Eva, die die Arme um Amelie schlang. Eine der flauschigen Lammfelldecken lag über ihnen, zum Glück, sonst wäre er sich wie ein Spanner vorgekommen.

Er vermisste Nils.

Keine Ahnung, warum es ihn plötzlich so hart traf. Auf diesem nach altem Zigarettenrauch stinkenden Schlachtfeld, total verkatert. Vielleicht, weil die beiden so friedlich aussahen. So, wie er gehofft hatte, dass … Aber das ging nicht. Das Monster musste in seinem Käfig bleiben.

Henrik würgte seine Gefühle hinunter und schlurfte ins Bad.

Als er wieder heraustrat, war Eva wach. Verschlafen sah sie sich um, so ähnlich wie er eben. Schrak zusammen, als sie ihn sah. Die Situation war ein wenig peinlich. Sie war vollkommen nackt und er trug nur Boxershorts.

»Morgen«, flüsterte er und sah weg, bis sie die Decke hochgezogen hatte. »Ich mache Kaffee. Willst du auch einen?«

Sie sah ihn panisch an. Die verschmierte Schminke um ihre Augen ließ sie wie einen verwirrten Panda aussehen. Amelie schnarchte weiter.

»Ja … nein …« Hektisch raffte sie ihre Klamotten zusammen, die größtenteils über der Sofalehne verstreut lagen. Er drehte sich um und ging in die Küche.

Noch bevor er die Maschine eingeschaltet hatte, folgte sie ihm.

»Du darfst keinem was sagen«, zischte sie. Ihr Shirt war auf links gedreht und ihre Skihose zerknittert, aber sie war angezogen. Es war fast wie nach seiner letzten Party, nur, dass sie diesmal nicht einfach floh.

»Keinem was sagen«, wiederholte Henrik. »Okay.«

»Vor allem nicht Luisa, die geht in unsere Klasse, und … Moment.« Und schon war sie wieder verschwunden. Er schaltete die Maschine ein. Hörte das leise Mahlen, mit dem die Kaffeebohnen zerkleinert wurden. Roch ihren würzigen Duft und fühlte … nichts. Gut.

»Geht das auch leiser?«, flüsterte Eva. Im Hintergrund vernahm er das Geräusch der Klospülung, das langsam verklang. »Sie darf nicht aufwachen.«

»Ach so.« Henrik gähnte. »Macht ihr das oft? Zusammen im Bett landen?«

»Das war das Sofa.« Sie verzog ihre Lippen zu einem erstklassigen Schmollmund.

»Letztes Mal war es das Bett.«

»Ja, und? Kann doch mal …« Sie verschränkte die Arme. »Ich meine, das kann halt mal passieren, wenn man besoffen ist. Ab und zu. Heißt ja nicht, dass wir … Du weißt schon.«

»Dass ihr Lesben seid?« Henrik stellte die erste Tasse unter die Maschine. Er hörte sie leise keuchen.

»Wie kannst du sowas sagen?«, zischte sie. Wütend. Verdammt wütend. »Sie ist … wir mögen uns nicht mal.«

»Und trotzdem landet ihr immer wieder in einem Bett … Zucker?«

»Ne. Macht dick.« Ihre schlanken Finger schlossen sich um die Tasse, die er ihr hinhielt. »Danke. Das passiert nicht oft.«

»Immerhin zweimal in den letzten Tagen. Oder etwa häufiger?«

Sie zuckte mit den Achseln. Nahm einen Schluck und verzog angewidert das Gesicht.

»Viel zu stark«, motzte sie.

Er versuchte es noch einmal.

»Wie oft passiert das denn?«

Sie zuckte mit den Achseln. Sah weg.

»Auf jeder Party?«

»Ach, sei ruhig.«

Henrik überlegte. »Damals ist sie dazwischen gegangen, als du mich angeflirtet hast. Und gestern hast du dich zwischen sie und diesen Salvatore gedrängt.« Er räusperte sich. »Denkst du, dass … ihr vielleicht ineinander verliebt seid?«

»Was?« Ihre Augen waren kugelrund. »Auf gar keinen Fall! Ich bin doch … Ich mag sie nicht! Überhaupt nicht! Die ist ein unverschämter Trampel und ein blödes Miststück und ich werde einen reichen Kerl heiraten und aus Ebernau wegziehen. Egal, was mit Amelie ist …«

Ein leises Geräusch hinter ihnen ließ sie verstummen.

Amelie war vollständig bekleidet und … verletzt. Ihre dunklen Augen schwammen in Schmerz. Henrik schien sie nicht mal wahrzunehmen, sie schaute unverwandt auf Eva, die in der Bewegung erstarrt war. Amelie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber dann presste sie die Lippen aufeinander und ballte die Fäuste. Wandte sich ab und verschwand. Sie hörten die Haustür knallen.

»Aber …« Evas Unterlippe zitterte. »Das war nicht … Sie weiß doch, wie das gemeint ist … Wir haben uns schon immer gestritten. Wir …«

»Du solltest ihr hinterherlaufen«, sagte Henrik. »Schnell.«

»Nein, ich …« Eva schluckte. »Aber sie …« Ein Schluchzen drang aus ihrer Kehle. »Amelie«, flüsterte sie.

Henrik nahm ihr die Kaffeetasse ab.

»Hinterher«, sagte er. »Oder du bereust es. Für immer.«

Sie schaute ihn an. Blinzelte. Teilnahmslos sah er zu, wie sie herumfuhr und ebenfalls aus seinem Blickfeld verschwand. Die Haustür knallte ein zweites Mal. Lauter diesmal.

Ein Kloß drängte seine Kehle hoch. Ihn herunterschluckend stellte er die beiden Kaffeetassen auf die Kiefernholz-Anrichte. Frische Brötchen lagen auf dem Tisch. Der Lieferdienst war da gewesen. Aber er hatte keinen Hunger. Er hatte gar nichts. Er …

Henrik knetete seine Nasenwurzel. Schleppte sich auf das Sofa und sah aus dem Panoramafenster. Bergketten. Weiß, nur weiß. Er musste den Schneesturm verschlafen haben. Dabei hatten alle so getan, als wäre der ein großes Ding … Etwas Grünes bewegte sich, hinten, bei den halb versunkenen Kiefern. Amelie stapfte in ihrer dicken Skijacke durch den Tiefschnee. Hinunter ins Tal.

Hatte Eva … Nein, da war sie. Stolperte Amelie hinterher, die sie ignorierte. Bis sie bei ihr war. Henrik blinzelte. Er versuchte, nichts zu fühlen, während die Mädchen sich anbrüllten. Durch die Glasscheibe konnte er nichts hören. Aber an den weit aufgerissenen Mündern und an den Tränenspuren auf ihren Gesichtern erkannte er, dass sie laut waren. Verdammt laut. Amelie packte Evas Oberarme und schüttelte sie. Wandte sich um und versuchte, weiterzulaufen, aber Eva riss sie herum.

Und umarmte sie. So fest, als hätte sie Angst, dass jemand sie ihr wegnehmen wollte. Amelies Arme baumelten kraftlos an ihrem Körper herunter. Selbst aus der großen Entfernung konnte er den Ausdruck in ihren Augen erkennen. Furcht. Aber auch etwas Anderes. Hoffnung? Langsam hob Amelie die Hände. Sie strich über Evas grellgelbe Jackenärmel und ihren schmalen Rücken.

Ein unerwünschtes Gefühl blitzte in Henrik auf, als er die beiden sah. Neid. Brennender, verzweifelter Neid, der sich durch das Eis fraß, so schnell, dass das Gefühl fast ausgebrochen wäre. Henrik schluckte hart. Verschloss sich wieder. Vor allem.

Die beiden Mädchen umarmten sich lange. Als wollten sie sich nie wieder loslassen, als wäre es ihnen egal, dass aus den umliegenden Chalets die ersten Menschen kamen und Kaffee schlürfend auf die Verandas traten. Er sah, wie die Mädchen sich gegenseitig mit den Ärmeln über die Gesichter fuhren. Verlegen lächelten. Und sich schließlich Hand in Hand auf den Heimweg machten.

Er starrte hinaus, aber es passierte nichts Spannendes mehr. Nur Kaffeetrinker in Morgenmänteln. Er erkannte Daniel auf der Veranda von dieser Noella-Sophie. Beide schauten, als wäre die Nacht alles andere als befriedigend verlaufen.

Sein Blick wanderte höher. Über die Bergkuppen, deren Zacken in den grauen Himmel stießen. Ja, es war außergewöhnlich trüb heute. Aber von dem angeblichen Schneesturm war nichts zu sehen. Links, hinter dem Chalet der Familie Krüger, lag der Gneislerhang. Der, den Grigori hatte herabfahren wollen. Er hatte es nur bis zur Hälfte geschafft und lag mit einem gebrochenen Arm im Krankenhaus.

Nils hatte Henrik nie auch nur eine blaue Piste fahren lassen. Die am Gneislerhang war schwarz. Der höchste Schwierigkeitsgrad. Nils war da bestimmt schon runtergesaust. Mo auch. Ob er …

Irgendwie kam es ihm richtig vor. Langsam erhob Henrik sich, suchte seine Skibekleidung zusammen und schaute nach, ob Nils die Skier dagelassen hatte, als er gestern gegangen war. Hatte er. Die orange-weißen Dinger leuchteten ihm aus dem Flur entgegen.

»Gut«, sagte Henrik laut.

Eigentlich war das Schwachsinn. Er hätte Angst vor dem Gneislerhang haben müssen. Aber erstmal war »Gneislerhang« ein saudummer Name und außerdem … war Angst ein Gefühl.

Henrik fühlte nichts mehr.

 

12. Morgen

 

Gähnend betrat Nils die Küche und wäre fast über Marc gestolpert, der komplett angezogen auf den Holzdielen schlief. Natürlich. Seine hellen Haare glänzten auf den trüben Bodendielen. Marcs hübsches Profil war darunter kaum zu sehen. Unter seinem Mund hatte sich eine kleine Pfütze gebildet.

Vorsichtig trat Nils ihm in die Rippen.

»Aufstehen«, befahl er. »Du bist im Weg.«

»Hm?« Marc brummte unwillig. Rollte sich zusammen und weigerte sich, etwas zu tun. Wie immer. Eigentlich hätte er heute Frühstück machen müssen, aber wenn Nils von dem beißenden Zigaretten- und Schnapsgestank ausging, den er ausströmte, würde das nichts werden.

»Marc. Steh auf! Du bist dran mit Frühstück machen!«

»Scheiß auf Frühst…« Marc verstummte. Riss die Augen auf. Nils sprang aus dem Weg, gerade noch rechtzeitig, um nicht von seinem Bruder umgerannt zu werden, der an die Spüle stürzte und begann, zu würgen. Schwungvoll. Eklige Spritzer landeten auf der Abtropffläche und dem Boden.

Nils knurrte leise. Als mittleres der Geschwister hätte Marc eigentlich das typische Sandwichkind sein sollen. Strebsam, fleißig und stets darauf bedacht, zu gefallen. Stattdessen war er … Marc. Ein selbstverliebter Trottel, der nie tat, was er sollte.

Widerwillig trat Nils neben seinen Bruder, der spuckte, als gäbe es kein Morgen. Rieb ihm in kreisförmigen Bewegungen den Rücken, bis er sich einigermaßen beruhigt hatte. Er stellte den Wasserhahn an, damit Marc sich das Gesicht waschen konnte. Und, um die gelbliche Flüssigkeit im Waschbecken wegzuspülen.

»Gab's gestern Oliven?«, fragte er nach einem Blick auf die halbverdauten Brocken.

»Im Salat«, krächzte Marc. Schon zierte ein Grinsen seine bleichen Lippen. »He. Komisch, egal, wie viel die saufen, es gibt immer Salat bei denen da oben. Als ob’s das Bechern edler machen würde.«

»Seit wann kennst du dich denn da aus?« Nils nahm das nächstbeste Küchentuch und reichte es Marc, der sich damit durchs Gesicht fuhr.

»Mann, Nilsi, ich geh auf die Partys, seit … Schon ewig.«

»Seit letztem Jahr, meinst du?«

»Mindestens.« Seit letztem Jahr also.

Marc stützte sich auf die Spüle und blinzelte. Würgte noch einmal, trocken. Dann ließ er sich langsam sinken. Mit einem Plumps landete er auf dem Boden und lehnte den Rücken gegen den Unterschrank.

»Musste das sein?«, fragte Nils. Er füllte ein Glas mit Wasser und reichte es Marc. Dann füllte er sich ein eigenes. »Kannst du nicht einfach aufhören, wenn du genug hast?«

»Ich hab nie genug.« Marc schaute stolz. »Nicht vom Bier oder den Mädchen oder der Piste. Von nichts!«

»Super.« Nils trank einen Schluck. »Wenn du so weitermachst, bist du mit zwanzig ein verfetteter Alkoholiker mit fünf Blagen.«

»Und du bist ein Langweiler«, brummte Marc. »Ein richtig … langweiliger Langweiler.«

»Ein richtig langweiliger Langweiler.« Nils schnaubte. »Wie viele Gehirnzellen musstest du gestern versaufen, um so schlagfertig zu werden?«

»Fresse«, murmelte sein dämlicher Bruder. Vorsichtig nippte er an dem Glas. Verzog den Mund. »Zu kalt. He, ich hab Mo getroffen. Der war total geschockt, als er mich gesehen hat. Hat wohl immer noch nicht kapiert, dass ich jetzt groß genug zum Feiern bin.«

»Du bist fünfzehn.«

»Sag ich ja. Ich glaub, der war neidisch. Gestern hab ich mit so einem Mädel rumgemacht, die … hieß …« Marc strengte sich offenbar schwer an, sich an ihren Namen zu erinnern. »Na, jedenfalls hatte die solche Euter.«

Nils verzog angewidert das Gesicht. Marc ebenfalls.

»Du hast doch keine Ahnung, wovon ich rede.« Er nahm einen zweiten Schluck. »Hast du überhaupt schon mal rumgeknutscht? Ich meine, außer mit Bettina, als Mo dich mit auf die Sommerparty geschleppt hat.«

Nils gab sich Mühe, nicht an Henry zu denken und versagte. Marc laberte weiter.

»Du könntest echt viel Spaß haben, wenn du wolltest. Auf den Partys da oben. Die Mädels würden dir hinterherlaufen. Nicht so wie mir aber … Echt, ich versteh dich nicht. Die sind nun mal da, also kann man das auch ausnutzen. Die Gelegenheit er… Dings.«

»So wie diese Typen das mit Mama gemacht haben?«, knurrte Nils. »Nein. Nie.«

»Du bist so ein Spießer.« Marc hob den Zeigefinger. »Ein … verbitterter Langweilerspießer.«

Nils verpasste ihm eine Kopfnuss und er jaulte auf.

»Das tut weh, du Idiot!«

»Gut.« Nils sah ihn an und wünschte, Marc wäre weniger besoffen und außerdem älter. Dann wäre es fair gewesen, sich richtig mit ihm zu prügeln.

»Ich zieh aus, sobald ich kann.« Marc schob die Unterlippe vor. Nils lachte trocken.

»Von was willst du denn leben?«

»Von Sponsoren. Sobald ich achtzehn bin, werd ich …« Er stockte. Schlug die Hände vor den Mund, kniff die Augen zusammen und schluckte krampfhaft.

»Auf welcher Party warst du überhaupt?«, fragte Nils und hoffte, dass das unverfänglich klang. Er musste auf eine Antwort warten. Marc brauchte ewig, um sich von dem Übelkeitsanfall zu erholen.

»Bei Henry. Wo sonst?« Er atmete tief ein und aus. Nils tätschelte seine Schulter und einen Moment lang sah Marc ihn dankbar an.

»Geht’s ihm gut?«

»Hm? Ja, klar. Dem geht’s doch immer gut.« Warum glaubten das alle? Nils hatte ganz deutlich gesehen … Aber vielleicht war er nur genauso verblendet wie seine Mutter damals. »Weiß nicht, wie der das macht. Alle anderen strengen sich voll an, um Mädels zu beeindrucken … Na, ich natürlich nicht.«

»Natürlich«, sagte Nils.

»Aber Henry, der sitzt einfach da und die kommen zu ihm.«

»War er …« Etwas zerrte in Nils' Brust. Schmerzhaft, aber er sprach trotzdem weiter. »Hat er was mit einer von ihnen gehabt?«

»Hm. Glaub nicht.« Marc kratzte sich am Hinterkopf. »Komisch eigentlich. Dabei hat der doch alle Chancen …«

»Marc Anselm Winter!«

Ihre Mutter stand in der Küchentür wie ein flammender Racheengel, die Hände in die Hüften gestützt. Marcs Gesicht verlor erneut alle Farbe. Schwankend stand er auf.

»Aber alle waren da und die Eltern von denen erlauben es ihnen auch und …«

»Das ist mir egal!«, brüllte seine Mutter. »Du gehst nach elf nicht mehr raus und schon gar nicht auf Partys und schon gar nicht bei einem Schneesturm!«

»Da war kein Schneesturm!«

»Da hätte einer sein können!«

Die beiden schrien hin und her und Nils begann, den Frühstückstisch zu decken. Richtig, der Schneesturm hatte Ebernau immer noch nicht erreicht. Er würde kommen, aber wann? Da war sich der Wetterbericht heute unsicher gewesen. Vielleicht erst gegen Mittag, aber …

Sein Handy vibrierte in der Hosentasche. Mo.

»Mo? Alles gut?«

»Hm, ja ich …« Mo klang unsicher, ob alles gut wäre. »Also bei mir schon. Ich hab bei Noella-Sophie auf dem Sofa gepennt. He, Daniel war mit ihr zugange und ich hab mal wieder in die Röhre geschaut, aber dann, so um drei rum, ist sie runtergekommen und hat sich plötzlich zu mir gelegt …«

»Worum geht’s, Mo?« Rief der echt an, um zu erzählen, dass er es endlich geschafft hatte, flachgelegt zu werden? Okay, ja, das passte zu ihm. Aber warum klang er so ängstlich?

»Na, eben bin ich raus auf die Veranda und ich glaub, ich hab Henry gesehen.«

Ein Blitz durchzuckte Nils.

»N-na und?«, stotterte er. »Und, äh, was hat er gemacht?«

»Er war in voller Skimontur, unterwegs nach oben. Zum Gneislerhang.«

»Was?!«

»Ja, ich … Hätte ich ihn aufhalten sollen? Ich dachte, vielleicht trefft ihr euch da oben, und du zeigst ihm wie man …«

»Der kann das nicht! Wir üben immer noch am Kinderhügel!«

»Oh.«

»Scheiße.« Nils holte tief Luft. »Aber … die Lifte fahren eh nicht mehr, wegen dem Sturm. Er kommt nicht nach oben.«

»Äh, der ist … der ist den Berg hoch gestapft«, sagte Mo. »Hab ihn nur an seiner Skijacke erkannt.«

Nils erstarrte. Verdammt! Er hatte sich nicht geirrt. Henry ging es überhaupt nicht gut und er hatte ihn allein gelassen. Der würde sich am Gneislerhang den Hals brechen, und … Schreckensvisionen stiegen in seinem Kopf auf: Henrys verdrehter, zerbrochener Körper auf der harten Schneefläche, Blut in seinen seidigen Locken, kaffeebraune Augen, die weit aufgerissen ins Nichts starrten …

Er würgte. Knapp schaffte er es, nicht auf den Boden zu spucken.

»Ich muss los«, murmelte er. Marc und seine Mutter unterbrachen ihren Streit und starrten ihn an.

»Jetzt?«, fragte sie. »Nilsi, der Sturm kann jeden Moment anfangen …«

»Ich weiß.« Er streifte seine abgetragene Jacke über und suchte im Flur nach seinen Schuhen. »Henry ist da draußen. Ich muss ihn retten.«

»Aber …« Sie fuhr sich durch die Haare. »Marc, ruf die Bergwacht an. Wo genau ist er?«

»Auf dem Gneislerhang.« Nils hatte seine Schuhe übergestreift. Er öffnete die Tür.

»Nilsi! Du bleibst hier! Es ist gefährlich da draußen und …«

Den Rest hörte er nicht mehr. Schon war er aufs Fahrrad gesprungen, die verdreckte Straße hinuntergesaust und auf dem Weg zur Hauptstraße. Bert-Ernst hatte heute Dienst am Lift, erinnerte er sich. Dem, der zum Gneislerhang führte. Wenn der Kerl noch da war, trotz der Sturmwarnung. Wenn nicht, war er in Willis Kneipe und bestimmt konnte Nils ihn überreden, ihn trotzdem hoch zu lassen.

Er beschleunigte sein Tempo.

 

13. Oben

 

Schnee fiel. Dicke Flocken wehten über die Abfahrt vor ihm. Die Luft schmeckte nach Eis und Frost und der Himmel wurde immer grauer.

Henrik stand da und starrte auf die schräg abfallende Fläche. Seit einer halben Stunde. Ganz allein. Das Lifthäuschen war verlassen und niemand außer ihm befand sich in der weißen Wüste. Felsen stachen aus dem festgefahrenen Schnee. Ihre rissigen Kanten blitzten dunkel aus dem grellen Weiß. Da unten würde er eine Rechtskurve machen müssen, um nicht an einem von ihnen zu zerschmettern. Unschlüssig sah er auf seine Füße. Er stand direkt vor der Abfahrt. Er …

Was zur Hölle tat er hier?

Er hatte keine Ahnung vom Skifahren. Na ja, in den letzten Tagen hatte er ein wenig gelernt, aber … Warum war er hier hochgekommen? Es war ihm logisch erschienen, aber …

Er schluckte.

Verdammt. Wolfram hatte recht gehabt. Und Nils auch. Damit, sich Sorgen um ihn zu machen. Er war … Es ging ihm nicht gut.

Vorsichtig rutschte er ein wenig zurück. Stemmte die Skistöcke in die feste weiße Fläche und drückte sich Stück um Stück nach hinten. Eisige Flocken schmolzen auf seinen Wangen.

Er hatte versucht, nichts mehr zu fühlen und irgendwie … Hieß nicht zu fühlen, nicht zu leben? Aber er wollte doch leben, oder? Klar wollte er das, selbst wenn er ganz alleine weitermachen musste, weil …

Ein Geräusch hinter ihm. Ein Quietschen. Knarren. Oh. Der Skilift bewegte sich. Eine der roten Gondeln zog vorbei. Jemand kam.

Nils, jaulte sein Herz, durch hundert Meter Eis.

Nein, das war nicht Nils. Den hatte er verschreckt, der würde bestimmt nicht hier hochkommen, nachdem er ihn so gedemütigt hatte.

Bestimmt nicht.

Gondel um Gondel zog vorbei. Bis … Ja, in der da saß jemand. Die Scheiben waren beschlagen, und er konnte es nicht genau erkennen … Doch, konnte er. Irgendwie hatte er sich die Umrisse von Nils' Körper eingeprägt. Er war gekommen. Zu ihm.

Henrik zitterte. Auf einmal schämte er sich dafür, wie er hier stand. Bebend, in seinen dämlichen Skiklamotten, mit den blöden Stöcken, obwohl er gar nicht fahren konnte, so verzweifelt und einsam, dass man es selbst auf einen Kilometer Entfernung erkannte … Na ja, dass Nils es erkannte. Den anderen war nichts aufgefallen.

Wie betäubt sah er zu, wie Nils aus der Gondel sprang, Skier und Stöcke in der linken Hand. Wie er aufschaute. Wie er ihn ansah.

Nur hundert Meter lagen zwischen ihnen und er konnte ihn nur mit Mühe erkennen, so dicht war der Schneefall. Wann war der so stark geworden? Seit wann riss der Wind ihn fast den Abhang hinunter?

»Henry!«, brüllte Nils zu ihm herüber. »Bleib stehen!«

»Ich will mich nicht … Mach dir keine Sorgen!«, schrie Henrik.

Er spürte das Glück in seiner Brust aufquellen. Das Monster, das dahinter lauerte. Für einen Moment war es ihm egal. Er wollte nur noch zu Nils hinübergleiten und sich in seine Arme werfen. Sofern diese unpraktischen Dinger an seinen Füßen das zuließen. Aber er blieb wie versteinert stehen, während Nils auf ihn zustapfte.

Sorge verzerrte sein kantiges Gesicht. Sorge um ihn. Henrik kam sich vor wie ein Idiot. Was zur Hölle hatte er sich dabei gedacht, herzukommen?

»Es tut mir leid«, rief er. Nils war fast bei ihm. »Ich wollte … Keine Angst, ich fahre nicht da runter. Ich … Sieht aus, als wäre ich doch nicht so blöd.«

Nils schien ihm kein Wort zu glauben. Vorsichtig näherte er sich. Wie ein Raubtier, das sich anschlich. Ein wunderschönes blondes Raubtier mit breiten Schultern.

»Ehrlich«, beteuerte Henrik. Er wollte nicht, dass … dass Nils merkte, wie gestört er war. Er musste von diesem Abhang weg. Ihm zeigen, dass er nicht selbstmordgefährdet war. Energisch zog er den rechten Ski aus dem Schnee, drehte ihn und setzte auf. Versuchte, einen Schritt zu machen.

Und kam ins Rutschen. Eine Böe traf ihn. Sie drückte ihn nach hinten. Langsam, so unausweichlich wie ein Ozeankreuzer, der auf einen Eisberg zusteuerte, glitt er rückwärts. Er spürte, dass sein Gewicht ihn den Hang hinunter zog.

»Nils!« Er sah, wie der blass wurde. Wie die grünen Augen sich entfernten, erst gemächlich … dann immer schneller.

Fuck.

Er spürte den Fahrtwind. Die kleinen Unebenheiten, über die er raste, die unter seinen Füßen kribbelten. Die Geschwindigkeit, die seinen Magen hob. Die Panik. Rechts, erinnerte er sich. Er wandte sich um und sah, dass er genau auf die Felsen zusteuerte. Er verlagerte das Gewicht, aber es reichte nicht, und …

»Henry!«

Plötzlich war Nils wieder da. Er raste auf Skiern auf ihn zu und hielt ihm etwas hin. Seinen Skistock. Henrik ließ seinen los und griff nach der Spitze. Fast hätte er ihn nicht erwischt, aber … Dann fühlte er die runde Plastikscheibe unter seinen Händen. Er packte fest zu.

Nils machte einen Schlenker, mühelos, mit einer Eleganz, die Henrik trotz der Geschwindigkeit bewundern musste, und zog ihn mit sich. Weg von den Felsen. Haarscharf flog er an den grauen Zacken vorbei. Plötzlich fuhr Henrik wieder richtig herum. Leider schlitterten sie nun viel zu schnell auf die Seite der Piste zu. Wo sehr hart aussehende Baumstämme standen.

»Fahr Kurven«, brüllte Nils. »Lass los und fahr Kurven!«

Das hatte er ihm beigebracht. Gottseidank. Henrik löste die verkrampften Finger von Nils' Skistock und neigte seinen Oberkörper. Die Fahrt ging nach links. Langsamer. Er warf sich nach rechts und das Tempo wurde erträglicher.

»Da hinten!«, rief Nils. Eine freie Fläche. Eine gerade freie Fläche. Henrik schaffte es, dorthin zu steuern. Er prallte gegen Nils, der stoppte und ihn mit seinen Armen auffing. Heller Schmerz blitzte in seiner Schulter auf. Aber seine Beine verkeilten sich nicht und er blieb stehen. Zum Glück.

Schwer atmend standen sie sich gegenüber, mitten im Sturm. Ja, das musste der Sturm sein, der Nils' blaue Jacke bedeckte. Der seine Haare weiß werden ließ und seine Wangen rot.

»Wir müssen runter«, rief Nils. »Aber wir gehen. Hier entlang.«

»Gut«, flüsterte Henrik. »Gut. Danke.«

Er konnte Nils' breiten Rücken kaum noch erkennen. Kein Zweifel, wenn er allein gewesen wäre, hätte er sich verirrt. Alles, was er sah, war grellweiß. Ab und zu schälte sich ein Baumstamm aus dem Chaos, unwirklich dunkel, und verschwand wieder. Er fror. Frost peitschte in sein Gesicht. Es fühlte sich an, als würden mindestens drei Hautschichten heruntergeschmirgelt. Als würden seine Wangen zu rohem, blutigem Fleisch. Dann wurden sie taub.

Sie kamen immer schwerer voran. Der Wind drang in seinen Kragen, unter seine Ärmel, überallhin. Er spürte, wie er kälter und unbeweglicher wurde. Er vereiste. Diesmal von außen.

Wie lange waren sie schon unterwegs? Wie lange heftete er schon den Blick auf den blauen Fleck vor ihm? Wenn der verschwand, war es aus, das wusste er. Der Wind heulte so heftig, dass ihnen die Worte aus dem Mund gerissen wurden. Er war …

Er konnte es nicht glauben, als eine weitere dunkle Form vor ihnen auftauchte. Eine riesige. Eckig, oben spitz, auf einer Seite Schnee, auf der anderen Seite Mauer und Holz.

»Das Chalet«, flüsterten seine gefühllosen Lippen. »Nils, du … Genie.«

Fast wären sie auf den letzten Metern weggeweht worden. Sie schnallten die Skier ab und kämpften sich zur halb verschwundenen Tür vor. Nils winkte ihm, aufzuschließen, Henrik sprach ein stummes Gebet, streifte den Handschuh von den gefrorenen Fingern und griff in seine Hosentasche.

Der Schlüssel war da.

Er brauchte drei Anläufe, um ihn ins Schloss zu nesteln. Rutschte ab, als er ihn drehen wollte, und versuchte es nochmal.

Die Tür sprang auf und sie stolperten in den Flur. Fast fielen sie übereinander und schafften es gerade so, die Tür hinter sich zu schließen. Die Luft drinnen kam ihm höllisch heiß vor.

Auf nassen Socken, ohne Jacke und total durchgefroren taumelte Henrik ins Wohnzimmer. Seine Finger, nein, sein ganzer Körper brannte. Nils folgte ihm.

»T-T-Tee?«, fragte Henrik zwischen rasant klappernden Zähnen hervor. Nils nickte, ebenfalls vom Frost geschüttelt.

»I-ich mach d-den Kamin an.«

»Gu-gute Idee.«

Die Küche war so, wie er sie heute Morgen zurückgelassen hatte. Er schlug auf den Lichtschalter und es wurde hell. Zum Glück. Der Sturm, der draußen heulte, tauchte alles in tiefe Dunkelheit.

Sobald das Wasser gekocht hatte, füllte er zwei Tassen, hängte pyramidenförmige Beutel hinein und trug sie in das Wohnzimmer.

Kleine Flammen leckten an großen Scheiten. Nils hatte in Rekordzeit für Feuer gesorgt. Im Schneidersitz saß er davor und streckte die Hände vor der Glasscheibe aus. Er war so … schön im goldgelben Schein, dass Henrik schlucken musste. Er spürte, wie brüchig das Eis in ihm inzwischen war.

Er räusperte sich.

»Hier.« Er hielt Nils den Tee hin wie ein Versöhnungsgeschenk. Der nahm ihn.

»Danke.«

»Ich hab zu danken.« Langsam ließ Henrik sich neben Nils nieder. »Du hast mir gerade das Leben gerettet. Zweimal. Ich … Es tut mir so leid. Ich wollte nicht … Ich wollte dich nicht in Gefahr bringen.«

Nils antwortete nicht. Vorsichtig nippte er an seinem Tee. Als er schließlich sprach, sagte er nicht das, was Henrik erwartet hatte.

»Hast du noch Holz? Das hier reicht maximal für ein paar Stunden.« Richtig, der Stapel unter dem Kamin bestand nur noch aus wenigen chaotisch durcheinander liegenden Scheiten.

»Oben. Da ist auch ein Kamin.«

»Wie viel?«

»Mehr als hier. So ein Stapel.« Er zeigte die Höhe mit seiner Hand und Nils schien beruhigt. »Wieso? Meinst du, der Sturm geht länger als ein paar Stunden?«

»Es könnten Tage werden, haben sie gesagt.« Nils sah sich um. »Hast du saubere Behälter? Wir müssen Wasser abfüllen, falls die Leitungen einfrieren.«

»Ja, ich glaub schon …«

Die Putzfrau war hier gewesen, während er seinen idiotischen Ausflug unternommen hatte. Der Boden war blitzblank und der blumige Maiglöckchengeruch von Putzmittel lag in der Luft. Aber der Getränkemarkt hatte nichts abgeholt. Gut. So hatten sie eine Menge leerer Flaschen, die sie in der Spüle auffüllen konnten. Erst, als der halbe Esstisch vollstand, meinte Nils, dass es reichte. Er sah auf Henrik, der immer noch zitterte. Und gähnte.

»Oh Mann.« Nils kratzte sich hinter den Ohren. »Ich bin so müde. Na, kein Wunder, nach dem Tag.«

»Es tut mir echt leid«, wiederholte Henrik. »Ich … Sag mal, hast du deiner Mutter Bescheid gesagt, dass es dir gut geht?«

Nils' Unterkiefer klappte runter.

»Ne. Mist, die wird schon halb am Durchdrehen sein … und sie wollte die Bergwacht rufen …«

Leise Flüche murmelnd tippte er auf sein Handy ein. Er hielt es ans Ohr und wartete. Henrik sank auf einen der Küchenstühle. Auch er spürte es. In allen Gliedern. Jetzt, wo die Wärme langsam zurückkehrte, wurden seine Augenlider schwer.

»Mama, mir geht’s gut!«, hörte er. »Echt, ich … aha. Ne, ich hab ihn gefunden. Bin jetzt bei ihm. So schnell komm ich hier nicht weg, aber ich glaube, wir sind versorgt.« Schritte. »Ja, der Kühlschrank ist voll. Hat sogar … Meerrettichschaum? Ne, keine Ahnung, was das ist.«

Henrik lehnte den Kopf auf die Tischplatte und umfasste ihn mit seinen Armen. Schlafen, dachte er.

»Okay, gut. Gut, mach ich. Bis dann.« Nils seufzte. »Henry?«

»Hm?«

»Sie sagt der Bergwacht Bescheid. Hast du deine Familie angerufen?«

Nein. Dreckiger Schmerz zuckte durch Henriks Brust.

»Ja, ich hab eben eine Nachricht geschickt.«

»Gut.« Nils gähnte wieder. »Dann … war das alles, was wir tun können. Ich glaub, ich leg mich hin. Du auch?«

Henrik nickte müde. Plötzlich fühlte er starke Arme, die ihn hochzerrten. Blinzelte.

»Passt schon.« Er lächelte. »Ich schaff’s allein hoch.«

»Oh, gut.« Nils gähnte. Gähnte nochmal.

»Komm mit«, murmelte Henrik und winkte ihm, ihm zu folgen. Die Treppe hinauf, ins Schlafzimmer.

 

14. Müde

 

Kurz darauf lagen sie nebeneinander unter der karierten Bettdecke. In Unterhemd und Boxershorts. Stocksteif, ohne sich zu berühren. Mist. Nils' Puls klopfte einen stetigen, nervenzerfetzenden Rhythmus. Er hätte nachdenken sollen, bevor er das Schlafzimmer betreten hatte. Bevor er sich in diese Lage begeben hatte.

Warum hast du dich nicht auf das Sofa gelegt, du Idiot?, dachte er.

In seinem Körper stritten sich die bleierne Müdigkeit und das Bedürfnis, die Hände nach Henry auszustrecken. Mit dem Wunsch, ihn in die Arme zu schließen. Er war zu kaputt, um viel zu machen, aber … alles in ihm sehnte sich nach dem Kerl neben ihm. Nach dem zarten Geruch nach frischgebackenen Keksen, der von ihm ausging. Er atmete tief ein. Warf einen kurzen Blick hinüber.

Oh.

Kaffeefarbene Augen betrachteten ihn aus der Dunkelheit heraus.

Kaum hatten sich Nils' und Henrys Blicke gestreift, zuckten sie zusammen und drehten sich weg. Rücken an Rücken lagen sie da, während der Sturm draußen heulte und Schnee die hohen Fenster von Henrys Schlafzimmer verdunkelte. Während er gegen die Verandatür flog und unten ein weißes »U« bildete.

Kiefernholz. Die Luft war erfüllt von seinem harzigen Duft und doch überlagerte Henrys Geruch alles andere. Diese herbe Mischung aus Zimt und Nelken und, na gut, frischem Schweiß. Verdammt leckerem frischen Schweiß. Nils hätte nichts dagegen gehabt, davon zu kosten. Mit der Zunge über Henrys Brust zu fahren, jede Erhebung zu spüren und den salzigen Geschmack zu genießen … Was zur Hölle dachte er da?

Er stöhnte leise. Sein Unterleib wurde von einem sehnsuchtsvollen Ziehen ergriffen. Henrys Wärme drang zu ihm herüber. Die Matratze wackelte, als er sich bewegte.

Nils atmete tief ein. Atmete aus. Es half nicht. Der Geruch wurde nur noch intensiver. Er fühlte sich zum Zerreißen gespannt. Vorsichtig, damit Henry nichts merkte, wanderte seine linke Hand nach unten. Dort, unter dem rauen Stoff seiner Boxershorts, fühlte er die pralle Härte. Ja, er war so erregt wie … noch nie, wenn er ehrlich war.

Kribbelnde Erwartung pulsierte durch seinen Schritt. Drängte ihn, fester zuzupacken. Er gehorchte, nur für einen Moment. Spürte das Prickeln stärker werden. Mit Mühe unterdrückte er ein Stöhnen. Trotz der Müdigkeit, die seine Augenlider zum Sinken brachte, überlegte er, aufzustehen. Irgendwie so, dass Henry nichts von seinem Zustand mitbekam. Vielleicht musste er ihm nur schnell genug den Rücken zuwenden. Dann könnte er so tun, als müsste er pissen und sich ins Bad schleichen und …

Bei dem Gedanken daran fuhr eine heiße Welle durch seinen Körper. Er fühlte sich, als würde er kurz vorm Platzen stehen. Seine Finger bewegten sich erneut, ohne, dass er sich dagegen wehren konnte. Sie umschlossen sein Glied durch den Stoff und ein Wimmern entkam seinen Lippen.

Mist! Er versuchte, es im nächsten Atemzug als Schnarchen zu tarnen. War Henry überhaupt noch wach? Würde er es merken, wenn er sich hier einen runterholte? Aber es wäre zu peinlich, dabei erwischt zu werden, beschloss Nils. Er musste ins Bad verschwinden, und zwar schnell. Das Ziehen war kaum noch zu ertragen, und …

»Nils?«

Er schreckte zusammen.

»J-ja?«

»Kann ich …« Henry räusperte sich. »Wäre es schlimm, wenn ich dich in den Arm nehmen würde? Mir ist kalt.«

Ein Blitz raste durch Nils' Körper und schlug in seinen Unterleib ein.

»Okay«, murmelte er.

Er hörte seinen Herzschlag in den Ohren. Starb fast, als Henrys schlanker, kräftiger Arm sich um ihn legte. Eine Hand ruhte auf seiner Brust und er hatte panische Angst, dass Henry seinen rasenden Puls spüren konnte. Dass diese warmen Finger abwärts wandern und seinen Zustand entdecken würden. Gleichzeitig wünschte er sich nichts mehr, als dass Henry genau das tun würde.

Aber er lag still. An seinem Rücken fühlte er Henrys Brust, in seinem Nacken seinen Atem, der sanft über die Haut dort strich. Weiter unten berührten sie sich nicht. Ob Henry auch … nein, wahrscheinlich nicht. Obwohl, gestern auf dem Sofa war Henry so hart gewesen wie er.

Nils fühlte alles zugleich. Sein hämmerndes Herz, die Umarmung, die sich so vertraut anfühlte, den verführerischen Geruch … Er hielt es kaum aus. Aber jetzt konnte er nicht mehr ins Bad, der sanfte Druck von Henrys Arm über ihm hielt ihn fest, als wäre er tausend Kilo schwer.

Nach einer Weile gab sein Körper den Kampf auf und er schlief einfach ein.

 

15. Monster

 

Henrik fuhr aus dem Schlaf hoch. Sein Herz hämmerte. Sein Hals brannte und seine Wangen waren nass. Nein! Er hatte … Im Traum war er …

Er war bei ihnen gewesen.

Mama, Papa und Titus. Sie waren im Urlaub gewesen, wie damals auf den Malediven und am Strand entlanggewandert.

Mama hatte ihnen erklärt, welche Fische auf dem Korallenriff weit draußen lebten. Er hatte in ihre dunklen, warmen Augen geblickt, die seinen so ähnlich waren. Das scheue Lächeln gesehen, das er kannte, seit … Bevor er denken konnte. Immer war es da gewesen. Papa hatte gesagt, er hätte sich in dieses Lächeln verliebt, weil es aussah, als trüge sie ein Geheimnis, und …

Titus war zu ihm ins Zimmer geschlichen und hatte ihn wachgerüttelt, weil er nicht mehr schlafen konnte. Jeden Morgen. Unten hatten ihm zwei Zähne gefehlt. Milchzähne. Der Urlaub war lange her.

»Henny, mir ist langweilig.« Flehende Augen, das gleiche Maronenschalenbraun, das Henrik stets im Spiegel entgegenblickte. »Spielen wir was?«

Und Henrik hatte sich aus dem Bett gequält und war gähnend hinter dem Kleinen her ins Wohnzimmer ihrer Suite getapst. Hatte mit ihm gepuzzelt. Aus irgendeinem Grund hatte er das Puzzle deutlich vor Augen. Ein gigantisches 2000-Teile-Ding, das er selbst nie fertigbekommen hätte. Aber Titus war schon immer hartnäckig gewesen. Viel willensstärker als er, der sich wie sein Vater von Stimmungen leiten ließ.

Das Motiv war eine Schneelandschaft. Weiße Hügel, Eiszapfen im Vordergrund. Eine Blockhütte und ein See, auf dem Kinder Schlittschuh liefen. Eins davon kannte er doch, oder? Er hatte genauer hingeschaut. Ja. Inmitten der Kinder stand ein kleiner Junge, seine Schwester an der Hand. Er trug ein schlecht sitzendes Kängurukostüm. Trotzdem lachte er, dass seine limettengrünen Augen blitzten.

Nils, hatte Henrik gedacht und war aufgewacht. Denn Nils gehörte nicht in dieses Bild. Nils war hier und seine Familie war tot.

Der Schmerz verbiss sich in Henriks Hals. Er öffnete den Mund, aber kein Ton kam heraus. Mama, wollte er sagen. Papa. Titus. Kommt zurück. Bitte, kommt zurück.

Er ballte die Fäuste, aber das half nicht.

Bitte kommt zurück, dachte er. Ich schaff das nicht. Ich … Ihr dürft nicht …

Nein. Mit aller Kraft versuchte er, den Riss im Eis zufrieren zu lassen.

Zitternd sah er sich um. In der Dunkelheit neben ihm – Ja, es war inzwischen Nacht – lag jemand. Nils. Er wandte ihm den Rücken zu und schlummerte friedlich. Henrik sah nur einen scharfgeschnittenen Wangenknochen und dunkelblonde Haare. Eine Welle der Zärtlichkeit verschlang ihn, verstärkte das Chaos in ihm nur noch. Denn dieses Gefühl, diese kribblige Wärme, die … die schlug Risse in das Eis und er spürte bereits, wie das Monster sich dahinter regte. Es durfte nicht ausbrechen.

Aber … Er schluckte, qualvoll. Eins existierte nicht ohne das andere. Sie gehörten zusammen wie zwei Seiten einer Münze. Liebe und Schmerz. Die Lebenden und die Toten.

Wenn er diese Zärtlichkeit spüren wollte, wirklich spüren wollte, dann musste er auch das Monster freilassen. Dann musste er das Eis schmelzen und zulassen, dass die Bestie ihn verschlang. Dass sie … Dass er …

Henrik atmete tief ein. Er sah auf Nils' kräftige Gestalt. Lauschte seinem Atem, spürte, ohne ihn anzufassen, wie lebendig er war.

Er entschied sich.

Seine Füße berührten den kalten Holzboden. Schritten über den flauschigen Lammfellteppich. Über die glattpolierten Treppenstufen bis ins Wohnzimmer.

Im Kamin glimmten immer noch die Reste des Feuers, das Nils gemacht hatte. Henriks klamme Finger öffneten die Klappe und legten neue Scheite auf. Alle Scheite, die noch da waren. Schon knisterten die Flammen über die raue Holzwolle auf der Rinde. Henrik setzte sich auf den Teppich. Sah ins Feuer und faltete die Hände im Schoß. Dunkelheit hinter ihm, Licht vor ihm.

»Gut«, flüsterte er. »Ich bin bereit.«

Er ließ los.

Ein leises Knacksen in seiner Brust. Als würde man auf einen trockenen Ast treten. Noch eins. Lauter. Ein ohrenbetäubendes Krachen. Ein Riss im Spalt, aus dem warmes Licht drang.

Nils, dachte er. Danke, dass du mir geholfen hast. Danke, dass …

Es erwischte ihn wie eine Flutwelle. Wie ein Hammerschlag vor die Brust. Er verlor die Orientierung. Wirbelte durch alles verschlingende Liebe und reißende Qual. Er spürte, wie das Eis zersplitterte, wie glitzernde Kristalle durch die Luft flogen und absolut alles hervorbrach, was er im letzten Jahr zurückgedrängt hatte.

In der Mitte schüttelte sich das Biest. Es streckte seinen Körper, endlich befreit. Bleckte die schwarzen Zähne, wetzte die schillernden Krallen.

Es sprang.

Deine Familie ist tot, höhnte es. Tot! Titus ist nicht mehr da! Er kommt nie wieder morgens in dein Zimmer. Er spielt nie wieder Klavier und seine Finger verrotten in seinem Grab.

Henrik sah die Krallen auf sich zukommen. Er wehrte sich nicht.

Das Monster schlug klaffende Wunden in sein Herz.

Nie wieder Frühstück zusammen, nie wieder Urlaub und zwischen ihnen sitzen und ihre Stimmen hören. Nie wieder Papas Glucksen, wenn er einen schlechten Witz erzählt und nie wieder Mamas kleines Prusten, wenn sie trotzdem lachen muss. Keiner von ihnen wird dir mehr über die Haare streichen.

Nie mehr.

Henriks ganzer Körper brannte. Krampfte. Er beugte sich vornüber und klammerte sich am Teppich fest.

Nie mehr! Du hast keine Familie. Von jetzt an bist du allein.

Für immer.

Die Bestie lachte, schrill und geifernd. Henrik würgte trocken. Versuchte, den Kloß loszuwerden, der seine Kehle zudrückte. Schrie stumm.

Er gab auf.

Bring es zu Ende, flüsterte er der Bestie zu. Die hob ein letztes Mal die Krallen. Schlitzte ihn auf, von Kopf bis Fuß.

Und verschwand.

Henrik atmete rasselnd ein. Spürte Nässe auf seinen Wangen. Starrte in die Flammen, ohne sie richtig wahrzunehmen. Und begann, zu weinen.

 

16. Nähe

 

Nils wusste, dass er träumte. Er war nie am Strand gewesen und doch spürte er die feinen Körner unter seinen nackten Fußsohlen. Die Sonne schien so hell, dass er nicht erkannte, wo er war. Ein Ozean rauschte, er schmeckte Salz auf seinen Lippen, und … die Luft summte. Sein Körper summte. Er war fast schmerzhaft erregt, aber er konnte nichts dagegen tun. Wenn seine Hände nach seinem Schritt griffen, glitten sie hindurch, als würde er dort aus Luft bestehen.

Ich halte das nicht mehr aus, dachte er. Nicht mehr …

Er fühlte etwas Neues. Kühles Wasser an den Füßen. Es kitzelte, als winzige Wellen über seine Haut flossen. Vielleicht konnten sie ihn abkühlen. Halb blind vor Sonne und Lust stolperte er ins Meer und setzte sich. Kalt. Sein Unterleib beruhigte sich ein wenig.

Er blinzelte, versuchte, etwas zu erkennen. Ganz verschwommen sah er den Horizont, aber davor glitzerten die Wellen, so gleißend hell, dass sie ihn blendeten. Dann spürte er die sanfte Strömung zwischen seinen Beinen und es war wieder so schlimm wie vorhin. Quälte ihn, ohne ihn zu erlösen.

Wie lange noch?, murmelte eine Stimme in seinem Kopf. Ich … ich kann nicht mehr. Bitte …

Er zuckte zusammen, als etwas seinen Unterschenkel berührte. Zarte Fingerspitzen. Ein Kopf tauchte aus den Wellen auf. Nass schimmernde dunkle Haare, genau zwischen seinen Knien. Und das schönste Lächeln von allen. Henry strahlte ihn an.

Soll ich dir helfen?, fragte er, so leise. So … lieb.

Nils nickte. Zitterte, als er Henrys Hand spürte. An seinem Oberschenkel. Innen. Aufwärts streichend …

Rumms!

Nils schreckte auf. Was war … Schwer atmend starrte er in die Dunkelheit. Draußen jaulte der Wind, Schnee trieb hinter dem großen Fenster durch die Nacht. Sein Schwanz drückte sich in die Matratze, so prall, als wollte er sie durchstoßen. Henry durfte nichts …

Henry war nicht da. Der Platz neben ihm war leer. Und er wäre fast aus dem Bett gefallen … Ah, das war das Geräusch gewesen: Auf dem Boden lag ein dickes Buch. Er war wohl im Schlaf gegen den Nachttisch gestoßen und hatte es herunter geworfen.

Sein Atem ging schwer. Er fühlte sich betrogen. Wenn er nicht aufgewacht wäre, dann … Okay, dann hätte er endlich Erleichterung gefunden, aber andererseits hätte er seine Boxershorts und das Bett vollgesaut und das wäre am nächsten Morgen doch ziemlich peinlich gewesen. Verdammt peinlich. Vor allem vor Henry.

Der nicht da war. Nils' Gehirn sprang langsam an. Henrys Platz im Bett war leer. Und, wie er gestern eindrucksvoll bewiesen hatte, ging es ihm nicht gut. Irgendetwas fraß an ihm und Nils wusste nicht was. Hoffentlich war er nicht nach draußen gegangen. In dem Sturm würde Nils ihn nie finden und bei der Kälte erfror man innerhalb von … Keine Ahnung. Einer Stunde?

Er glitt aus dem Bett und sah sich um. Suchte nach irgendetwas, einem Bademantel vielleicht, mit dem er den Pfahl in seinen Boxershorts bedecken konnte. Es sah pervers aus, wie er sich gegen den grauen Stoff drängte. Da, wo die Spitze lag, hatte sich ein kleiner dunkler Fleck gebildet. Nein, er konnte auf keinen Fall so raus. Weil er nichts Besseres fand, stieg er in seine Skihose, die außen noch feucht war.

Angst schnürte seine Brust zusammen. Henry hatte doch gewirkt, als würde es ihm besser gehen, oder? Oder … nicht?

Die Türklinke war frostig in seinen verschwitzten Fingern. Er trat heraus, auf den Treppenabsatz … und sah ihn. Henry kauerte unten vor dem Kamin, das Gesicht auf den Knien, die Arme um den Körper geschlungen. Feuerschein tanzte über die bloßen Beine. Von hier oben sah es fast aus, als ob er … weinte.

Nils schluckte. Henrys Schultern zuckten krampfhaft. Die Fingerknöchel schienen weiß, so fest pressten sie sich ineinander. Nils zögerte. Sollte er hinuntergehen? Wollte Henry das oder wäre es ihm zu peinlich, wenn Nils ihn mitten in einem Heulkrampf erwischte? Er sah auf Henrys verschwitzte Locken, die in seinem Nacken klebten. Hörte ein ersticktes Schluchzen.

Nein, entschied er. Er konnte ihn nicht allein lassen.

Leise stieg er die Stufen hinunter. Er schlich über den Teppich und stand schließlich unschlüssig hinter Henry.

»Äh …« Er sah, wie ein Ruck durch den zusammengekauerten Körper ging. »Ist alles in Ordnung?«

Natürlich ist nichts in Ordnung, schalt er sich. Ein Typ wie Henry heult sich doch nicht die Augen aus, wenn’s ihm gut geht.

Seit wann fühlte der überhaupt etwas? Er war ihm so kalt vorgekommen bisher, na, bis auf ein paar kurze Ausnahmen.

Ein Schluchzen durchbrach das Jaulen des Sturms. Henrys Körper wurde wieder von Krämpfen geschüttelt.

»Kann nicht …«, hörte er, aber ein weiteres Schluchzen ließ den Satz abreißen. »Kann n…«

Keine Chance. Henry schien vollkommen hilflos gegenüber … was immer ihn in den Klauen hatte. Langsam, um ihn nicht zu verschrecken, setzte Nils sich neben ihn. Er rutschte näher und traute sich schließlich, einen Arm um ihn zu legen. Er verbrannte fast, da, wo sein Oberarm Henrys Nacken berührte. Henry zuckte wieder zusammen. Verstummte für einen Moment, nur um umso heftiger weiterzumachen.

»Ist schon gut«, murmelte Nils in sein Ohr. Er roch Salz und Zimt und Wärme. Einen Augenblick lang streiften seine Lippen Henrys zerzauste Locken und ein winziger Stromstoß zuckte hindurch. »Du kannst ruhig heulen. Ich sag's keinem.«

Henry schien zu nicken. Nils konnte sein Gesicht nicht sehen, das war immer noch in seinen Armen vergraben. Aber er spürte die Krämpfe, die seinen Körper durchrüttelten. Er rückte noch ein wenig näher heran. Und Henry öffnete sich. Er lehnte die tränennasse Wange an Nils' Brust und schluchzte ungehemmt weiter.

Nils streichelte seine Arme. Er flüsterte ihm tröstende Worte ins Ohr und versuchte, das hier nicht zu genießen. Henry ging es schlecht, das durfte er nicht ausnutzen. Eine Sekunde später drückte er einen zarten Kuss auf Henrys glühende Stirn. Verdammt.

Aber es schien zu helfen. Nach einer Weile wurden die Schluchzer schwächer. Leiser. Henry entspannte sich allmählich. Und sank noch näher an Nils' Körper. Legte einen Arm um seinen Bauch und schmiegte sich an ihn wie ein Kätzchen. Nils betete, dass dieser Arm nicht tiefer sinken würde. Wenn Henry entdeckte, wie scharf er auf ihn war … Würde er denken, dass Nils einen kranken Fetisch oder so hatte? Dass er auf unglückliche Männer abfuhr? Dabei war er einfach vollkommen ausgehungert. Genau, wie er gesagt hatte. Nils war ein furchtbarer Lügner.

»Besser?«, murmelte er in die feuchten Locken hinein. Sie rochen so köstlich, dass sich alles in ihm zusammenzog. Er spürte ein schwaches Nicken.

»Sorry, ich …« Henry rieb sich über das Gesicht. Endlich blickte er auf. Seine Wangen waren nass und seine Augen rot geheult. Nur … sah er trotzdem aus wie ein Engel. Und als er lächelte, war er so schön, dass es fast wehtat. »Ich bin echt das Letzte. Es tut mir leid.«

Er richtete sich auf. Nils wollte protestieren, als er sich von ihm löste, ließ es aber. Was für ein Recht hatte er auf Henrys Körper? Seinen … verdammt warmen, köstlich riechenden Körper?

»Scheiße.« Henry räusperte sich. »Scheiße.« Er fuhr sich durch die Haare. »Ich kann mir vorstellen, was du von mir hältst. Erst kotze ich dir vor die Füße, dann zwinge ich dich, mein Skilehrer zu werden, dann bringe ich mich fast um und sorge dafür, dass du beinahe in einem Schneesturm erfrierst und jetzt … heul ich dir die Ohren voll. Ich bin so ein Drecksack.«

Nils schluckte. Henry klang so zerknirscht. Aber da war etwas Neues in seiner Stimme. Etwas, das Nils erahnt, aber nie gesehen hatte.

Leben, dachte er. Henry … ist aufgewacht.

»Ach, passt schon.« Nils schaffte es nicht, ihn anzusehen. »Ich war auch nicht immer nett und … außerdem hab ich drei Geschwister. Kotzen und Heulen schocken mich längst nicht mehr.«

»Echt?« Er hörte das ungläubige Lächeln in Henrys Stimme.

»Echt. Hab erst heute Morgen meinem Bruder geholfen, die Spüle vollzuspucken.« Er schnaubte. »Wenn ich die Wahl hab, ist mir Heulen lieber.«

»Oh. Gut.«

Er wollte nicht hinsehen, weil das seinen ganzen Brustkorb zum Kribbeln brachte, aber … er tat es natürlich trotzdem. Henrys Lächeln ließ seine Kaffeeaugen strahlen. Ja, er war unter die Lebenden zurückgekehrt. Alles an ihm schien energiegeladener. Seine Locken schwungvoller, sein Körper kraftvoller, seine Lippen … praller. Nils schluckte.

Nicht küssen, sagte er sich. Du weißt, dass er dir nur das Herz brechen wird.

Das wird er so oder so, flüsterte ein Teufelchen in sein Ohr. Ob du ihn küsst oder nicht. Du kannst es also ruhig tun.

Nein, sagte er sich. Du …

Weiche Lippen legten sich auf seine. Nur einen Moment lang. Dann schreckte Henry zurück. Sah ihn schockiert an.

»Scheiße! Sorry, ich … ich bin so daneben.« Leise fluchend sprang er auf. Sah Nils an, als wäre der eine Schnecke, auf die er gerade versehentlich getreten war. »Tut mir leid. Tut mir wirklich leid. Ich … geh mir das Gesicht waschen.«

Und schon war er verschwunden. Nils hörte die Tür des unteren Badezimmers klappen. Starrte ihm nach. Starrte in die Flammen, die unbeirrt die Holzscheite fraßen. Spürte sein Herz hämmern.

Dann stand er auf.

Er kam sich wie ein Vollidiot vor, als er neben der Badtür auf Henry wartete. Aber nicht genug, um auch nur einen Zentimeter zurückzuweichen. Er hörte Wasser laufen. Leises Seufzen hinter der Tür. Dann ging sie auf.

Henrys Augen weiteten sich, als er Nils vor sich sah, aber ihm blieb keine Zeit, etwas zu sagen. Nils legte die Hände an Henrys Wangen und küsste ihn. Zart. Kribbelig. Wunderbar vertraut. Mit rasendem Herzen löste er sich von ihm.

Henry blinzelte. Sein Mund sprang auf wie eine reife Blüte und sein Körper war nah, so nah, dass er sich heißer anfühlte als das Feuer im Kamin.

»Du …«, begann er, aber dann entschied er sich um, lehnte sich vor und presste seine Lippen auf Nils'.

Irgendwie war es anders. Endgültiger und noch viel besser. Für einen Moment hatte Nils keine Angst. Er schloss die Arme um Henry und drängte sich an ihn, so nah, als könnte er mit ihm verschmelzen. Weihnachtsmarktgeruch vernebelte seine Sinne. Glücklich empfing sein Mund Henrys Zunge. Genoss den … geilen Geschmack, leicht salzig, den sie mitbrachte. Und traute sich endlich, mit seiner eigenen Zungenspitze in Henrys Mund zu stoßen. Sie bewegte sich instinktiv vor und zurück, als würde er … Seine Wangen brannten, aber er konnte nicht aufhören. Das war nicht mehr ein wenig rummachen. Das war … irgendwie Sex.

Henrys Finger gruben sich schmerzhaft in seinen Rücken und er lachte leise. Grinste Henry breit an. Und wurde mit dem schönsten Lächeln belohnt, das er je …

Das Lächeln verschwand und Henrys Gesicht verzog sich.

»Fuck«, murmelte Henry. »Ich dachte, ich …«

Blitzschnell senkte er den Kopf, aber Nils hatte schon gesehen, dass seine Augen sich wieder mit Tränen gefüllt hatten. Er schmiegte seine Wange an Henrys und hielt ihn fest. Strich über seinen Rücken, während er von einem weiteren Heulkrampf durchgerüttelt wurde. Er schluchzte gegen Nils' Schulter, versuchte immer wieder stammelnd, sich zu entschuldigen und jedes Mal flüsterte Nils in sein Ohr, dass das nichts machte.

Tat es nicht. Überhaupt nicht. Er war so seltsam … glücklich, obwohl sein Herz vor Mitleid fast überquoll. Und er wusste nicht mal, was Henry hatte. Vielleicht die Nachwirkungen von dem Schneesturm? Aber es hatte doch vorher schon angefangen.

Er legte Henrys Arm um seine Schultern und schleppte ihn die Treppe hinauf. Behutsam brachte er ihn ins Bett, entledigte sich seiner Skihose und schloss Henry fest in die Arme. Immer darauf bedacht, dass sich ihre Unterleiber nicht berührten. Er konnte Henry jetzt nicht mit seinem Ständer belästigen, egal, wie sehr der ihn quälte. Aber er konnte seine Lippen auf Henrys Stirn drücken und jede Träne, die fiel, wegküssen. Und durch die seidigen Locken streichen, wie er sich das gewünscht hatte, seit … er sie das erste Mal gesehen hatte, wenn er ehrlich war. Selbst damals, als er noch gedacht hatte, Henry wäre ein arrogantes Arschloch, hatte er ihn verdammt hübsch gefunden. Verdammt … heiß. Nils knurrte leise. Befahl seinem Unterleib, sich zu beruhigen.

Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, schalt er ihn.

Henry wurde ruhiger. Diesmal entschuldigte er sich nicht. Stattdessen kuschelte er sich an Nils, dass dem Hören und Sehen verging. Viel besser … Ups. Henrys Oberschenkel streifte über Nils' Erektion. Er versuchte, ein Stöhnen zu unterdrücken, aber es drängte unaufhaltsam hinaus.

»Sorry«, knurrte er. »Ich bin nur … äh.«

»Schon lange?«, flüsterte Henry gegen seinen Hals.

»Ja.« Nils spürte, dass die Hitze seine Wangen hochkroch. »Ich … Mann, ich halt’s kaum noch aus.«

»Oh.« Henry schaute auf. Verwundert und … irgendwie, als hätte man ihm ein Geschenk gemacht.

»Ich kann kurz ins Bad gehen, wenn’s dich stört«, murmelte Nils.

»Das ist nicht nötig.« Ein fast schüchternes Lächeln erschien in Henrys verheultem Gesicht. »Zieh dich aus.«

Nils schluckte.

»O…kay.«

Er sollte Henry noch erklären, dass er … was auch immer der vorhatte, garantiert noch nie getan hatte. Wahrscheinlich würde er furchtbar darin sein. Aber er war bereit. Für alles. Na ja, fast alles.

So nervös, dass in seinem Magen ein Ameisenschwarm Amok lief, streifte er das Shirt ab. Warf einen Blick neben sich und sah, dass Henry dasselbe tat. Viel zu trübes Mondlicht erhellte seinen flachen Bauch. Seine nackten Arme. Nils biss sich auf die Lippen.

Du schaffst das, sagte er sich.

Im Schutz der Decke zog er die Boxershorts aus und spürte den kühlen Luftzug an der prallen Eichel. Henry lag vor ihm. Er streckte die Arme aus und lächelte wieder. Wunderschön.

»Komm her.«

Henry zu umarmen fühlte sich so richtig an. Die zarte Wärme der nackten Haut auf seiner, die Arme, die Nils fest an ihn zogen. Nils' Schwanz drückte gegen Henrys und sein Kopf begann, zu glühen. Henry war auch hart. Genauso hart wie er.

Und der Kerl wusste, was zu tun war. Langsam bewegte er sich unter Nils. Blitze zuckten über sein schmerzhaft erregtes Glied. Henrys Atem strich über seine Wange. Etwas schwoll in Nils an, ein von weit her tönendes Rauschen, ein lustvolles Ziehen, ein … seine Zähne gruben sich in seine Unterlippe. Durfte er …

»Komm«, flüsterte Henry in sein Ohr und mehr brauchte er nicht. Sein Körper bäumte sich auf, endlich, endlich, endlich drängte es aus ihm heraus, brannte sich durch seinen Unterleib, überströmte Henrys Bauch mit weißem Saft.

»Oh … oh Mann« … stöhnte Nils. »Oh …«

Ein Lichtblitz erstrahlte hinter seinen Augen. Dann flutete die Erlösung seinen Körper und er sackte auf dem warmen Leib unter sich zusammen.

»Endlich«, flüsterte er. »Verdammt, ich … Endlich.«

Beschämt merkte er, wie groß die Pfütze war, in der er lag. So viel … Henry wusste nun, wie nötig er es gehabt hatte. Wie lange schon.

»Nils …« In Henrys Stimme hörte er das gleiche Drängen, das er gerade gefühlt hatte. Sein Leib wand sich unter Nils wie eine Schlange und bockte gegen ihn. Er spürte den harten Pfahl, der durch die Rille zwischen seinen Bauchmuskeln glitt. Fühlte sich groß an. Nicht so lang, aber … umfangreich. Ob Nils … Ob er ihn berühren durfte?

Henry gab einen Protestlaut von sich, als er sich aufrichtete. Aber der ging gleich darauf in ein Stöhnen über, als er Nils' Hand in seinem Schritt spürte.

Nils verfluchte die Dunkelheit. Seine Finger schlossen sich um die samtige, nasse Härte. Nass von seinem Saft. Vorsichtig strich er darüber. Ja, Henry war kein Riese, aber so dick, dass er kaum die Faust um ihn schließen konnte. Sein Daumen glitt über die spitz zulaufende Eichel, spürte, wie sie nachgab, fuhr durch die kleine Rille in ihrer Mitte.

»Gut«, seufzte Henry. »Mehr …«

Nils verstärkte den Druck. Strich auf und ab und erhöhte allmählich das Tempo. Fasziniert beobachtete er, wie Henry die Augen schloss. Wie die vollen Lippen sich öffneten, ein stummer Schrei aus dem Mund entkam, der Körper sich verkrampfte … und er in hohem Bogen kam. Ein weißer Schwall zerplatzte auf seinem Bauch. Er zitterte unter Nils' Händen und der fühlte sich, als ob er gleich sterben würde vor Glück und Aufregung und Erfüllung.

»Gut?«, fragte er leise. Henry lachte rau.

»Das Beste.« Er sah Nils an. »Du bist der Beste.«

»Äh …« Nils bekam nicht so oft Komplimente, dass er wusste, wie er darauf reagieren sollte. »Danke«, brachte er schließlich heraus. Andere Worte drängten seine Kehle hoch, aber er verschloss den Mund rechtzeitig.

Erschöpft sank er in die Kissen und sofort war Henry da und umarmte ihn. Zwängte seinen Kopf zwischen Nils' Halsbeuge und den karierten Stoff und seufzte wohlig.

»Ist das nicht unbequem?«, fragte Nils.

»Egal.« Henry klang wie ein schnurrender Kater. »Ganz egal. Ich bleib so. Für immer.«

Nils lächelte. Seine Hände fanden Henrys und legten sich über sie. Henry griff zu, verschränkte ihre Finger ineinander und ließ sie so. Die ganze Nacht lang.

 

17. Warm

 

Langsam schwebte Henrik in die Realität zurück. Verließ den Traum, in dem er sich gerade noch befunden hatte. Er hatte keine Ahnung, was er geträumt hatte. Die Erinnerung verschwand, sobald er sich seines nackten Körpers bewusst wurde. Und des anderen nackten Körpers neben ihm. Auf ihm. Er spürte seinen linken Arm nicht mehr.

Dafür roch er Nils. Ein Seufzen drang aus seinem Mund. Nils war da.

Er fühlte sich … seltsam. Als hätte man ihn meilenweit über rissige Felsen geschleift. Und so warm, wohlig und geborgen, als hätte ihn danach ein freundlicher Bär gefunden, aufgehoben und in seine Höhle getragen. Moment, nein. Das war ein furchtbarer Vergleich. Ein Bär hätte ihn gefressen. Der hätte ihn nicht die ganze Nacht gehalten. Getröstet, ohne Fragen zu stellen. Ihn mit seinen Fingern zum Stöhnen gebracht. Nicht, dass er von einem Bären … Henrik gab auf und öffnete die Augen.

Es war hell. Theoretisch zumindest. Der Sturm hinter dem Verandafenster tobte weiter. Ein wenig schwächer vielleicht. Henrik fragte sich, wie lange der halten würde.

Hoffentlich lange, winselte sein Herz. Dann muss Nils bleiben.

Nils schlief noch. Henrik sah den Hinterkopf direkt vor sich. Die nackte Schulter, die sich mit seinem Atem hob und senkte. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, zog Henrik den Arm unter Nils' schwerem Körper hervor.

Erst spürte er nichts darin. Dann ein leises Kribbeln. Dann raste ein Termitenschwarm unter seiner Haut auf und ab. Unangenehm. Unwichtig. Sein Herz weitete sich, als er Nils betrachtete. Das entspannte Gesicht, die gerade Nase, den scharfen Schwung seiner Oberlippe. Hoffentlich würde es ihm nicht total peinlich sein, was zwischen ihnen geschehen war. Hoffentlich hielt er Henrik jetzt nicht für total gestört.

Henrik schlich aus dem Schlafzimmer und machte sich im Bad unten frisch. Als er in den Spiegel sah, erkannte er sich für einen Moment selbst nicht. Er sah anders aus. Nicht mehr wie der Kerl, der er im letzten Jahr gewesen war. Der, dem alles egal gewesen war. Der alles weggeschoben hatte, was er nicht sehen wollte.

Aber er war auch nicht mehr der Junge, der er davor gewesen war. Der gut gelaunt und voreilig von einer Katastrophe in die nächste gestolpert war. Ja, richtig, das war er. Jonathan und Livia hatten so oft die Köpfe geschüttelt, wenn er mal wieder im Krankenzimmer gelandet war. Weil er ausprobiert hatte, ob man auf die Straßenlaternen vor ihrem Haus klettern konnte. Auf das Dach der Schule. Ob man die lustigen Beeren auf ihrem Campingausflug essen konnte …

Jonathan und Livia waren ihm irgendwie abhandengekommen, im Verlauf des letzten Jahres. Sie hatten versucht, für ihn da zu sein, aber er … hatte sie weggeschoben. So wie alle.

Wie alles, was ihn daran erinnert hatte, dass seine Familie gestorben und er allein zurückgeblieben war. Onkel Falk war wirklich kein Ersatz. Henrik hatte neue Freunde gefunden. Freunde, mit denen er feiern konnte, obwohl er keinen Spaß dabei hatte, die interessante Pillen besorgten und noch interessantere Frauen, mit denen er geschlafen hatte, obwohl ihn eigentlich nichts interessierte …

Seltsam, die Erinnerung verblasste bereits. Zurück blieb sein neues Spiegelbild. Kantiger als vor einem Jahr, lebendiger als danach. Ja, er war unter die Lebenden zurückgekehrt. Er hatte sich entschieden.

Henriks Finger fuhren durch seine Haare. Ein unangenehmer Geruch stieg in seine Nase. Er stank. Wie ein Iltis. Okay, das Wasser floss hier unten, also funktionierte es vielleicht auch oben, wo die breite Badewanne stand.

Es floss. Und war sogar warm. Er hoffte, dass die Wände so dick waren, dass Nils das Rauschen nicht hörte und stieg in das heiße Wasser. Gut. So gut. Er lehnte sich zurück und genoss die Hitze, die seinen Körper durchflutete. Das leise Plätschern, mit dem die Mini-Wellen gegen seine Schultern schlugen. Er sank noch tiefer, bis nur noch seine Nase und der obere Teil seines Kopfes aus dem Wasser schauten. Schnee fegte vor den Fenstern vorbei. Die Deckenbalken wölbten sich über ihm. Und das Wasser schwemmte alles Unklare fort.

Seine Familie war fort. Seine Sicht verschwamm und seine Kehle brannte, aber er wehrte sich nicht gegen die Tränen. Brachte nichts. Er musste heilen. Akzeptieren und heilen. Das hatte Wolfram ihm oft genug gesagt.

Er sah auf die Ziffern der Digitaluhr, die an einem der rustikalen Balken hing. Halb acht. Am … Er blinzelte erneut. Am 1.1. Natürlich. Er hatte Silvester verschlafen und … Kein Wunder, dass er endlich zusammengeklappt war. Es war ein Jahr her. Genau ein Jahr.

Sie waren auf dem Weg zu einer Silvesterparty gewesen. Titus hatte gewollt, dass Henrik mitkam, aber sein Vater hatte ihm erklärt, dass sein Bruder ein großer Junge war und lieber mit seinen Freunden feierte. Mit Mädchen.

Er hatte Henrik zugezwinkert und der hatte versucht, nicht rot zu werden. Es hatte geschneit. Sie waren … Die Polizisten hatten gesagt, dass der Geisterfahrer eine Minute vor dem Unfall gemeldet worden war. Hatten sie die Durchsage noch gehört? Oder hatte sein Vater das Radio komplett ausgeschaltet, um die anderen mit seiner Singstimme zu belästigen? Er hatte die Neue Deutsche Welle geliebt. Vielleicht hatte er von blauen Augen gesungen, als die Scheinwerfer vor ihnen aufgetaucht waren. Aus dem strömenden Regen, gleißend wie die Augen eines Riesen …

Henrik schluchzte. Wischte mit einer nassen Hand über sein Gesicht und schluchzte weiter. Irgendwann wurde er leiser. Sein Atem beruhigte sich. Das Monster war nicht zurückgekommen. Er hatte es hereingelassen, es hatte die Verwüstungen vollbracht, wegen denen es gekommen war und es war wieder verschwunden. Das war seine Aufgabe.

Ein Klopfen an der Tür.

»Komm rein«, rief Henrik und wischte über sein Gesicht, was es nur noch nasser machte. Waren seine Augen gerötet? Geröteter als gestern, falls das überhaupt möglich war? Ein leises Knarren hinter ihm. Er richtete sich auf. Nils trug nichts als Boxershorts an seinem prächtigen Körper. Er strahlte Kraft aus, immer. Selbst jetzt, wo er Henrik unsicher ansah und sich am Bauch kratzte.

»Baden. Gute Idee«, sagte er unschlüssig. »Ich stinke.«

»Nicht so sehr wie ich eben.« Henrik lächelte.

Er konnte nicht anders, wenn er Nils' Gesicht sah. Freudig bemerkte er, dass dessen Ohren sich röteten, als er ihn in der Wanne betrachtete. Nils' Blick tanzte über die nasse Brust und die Arme, die Henrik auf dem Wannenrand abgelegt hatte. Ein Zucken brachte den dünnen Stoff der Boxershorts zum Zittern und Augenblicke später drängte etwas dagegen. Pfeilförmige Falten entstanden, die genau auf Henrik zeigten.

Blitzschnell drehte Nils sich um. Im Spiegel über dem Waschbecken sah Henrik seinen beschämten Gesichtsausdruck.

»Nils.«

»Hm?«

»Das ist kein Problem. Falls du es gestern nicht gemerkt hast: Ich finde dich mindestens so scharf wie du mich. Mindestens.«

Die Röte erreichte Nils' Nacken.

»Aber … ich darf das nicht.«

»Was? Lust auf einen anderen Kerl haben? Oder auf einen von oben?«

Nils kratzte sich am Arm. Unschlüssig.

»Beides?«, sagte er schließlich. »Ich … Oh Mann. Ich bin so peinlich.«

»Nicht so peinlich wie ich.« Henrik seufzte und sah an die Decke. »Noch hast du mir nicht die Ohren vollgeheult.«

»Das ist mir doch egal.« Nils räusperte sich. »Stört mich nicht, meine ich. Du kannst heulen, soviel du willst, wenn es dir dann besser geht.«

»Und du kannst mich ansehen, soviel du willst.« Henrik war selbst überrascht, wie zärtlich seine Stimme klang. »Ich freu mich darüber.«

Er sah, wie sich Nils' Körper versteifte.

»Aber«, murmelte der, »ich sollte … echt nicht …«

Eine Idee blitzte in Henriks Kopf auf.

»Wie wär's damit?«, sagte er. »Wie wär's, wenn nichts, was hier geschieht, wirklich passiert? Wenn der Sturm vorbei ist, vergessen wir alles, was wir getan haben. Ich habe nie geheult und was auch immer du mit mir anstellen willst, war nur ein komischer Traum.«

Nils drehte sich um. Halb. Henrik konnte immer noch keinen Blick in seinen Schritt erhaschen. Nur auf seinen Hintern, der so stramm war, dass der Stoff über den festen Halbkugeln spannte. Auch nicht schlecht.

»Versprochen?«, fragte er. »Du vergisst alles?«

»Versprochen«, sagte Henrik mit fester Stimme. Nils rieb noch einmal über seinen Arm und drehte sich um. Sein Ständer sprengte seine Boxershorts fast. Henrik pfiff leise durch die Zähne und Nils lief knallrot an.

»Alles gut«, sagte Henrik. »Es ist nur ein Traum, nicht wahr?«

»Stimmt wohl.« Nils grinste schief. »Ich hab nur … Ich hab mich so gut zusammengerissen, die ganzen Jahre über. Und jetzt, wo ich 'nen kleinen Vorgeschmack davon bekomme, was geht, bin ich so ein übler Lustmolch.«

Henrik lachte. Er zuckte mit den Achseln und lehnte sich in der Wanne zurück.

»Ich glaube, bevor der Sturm vorbei ist, hast du dich für die nächsten Jahre abreagiert.«

»M-meinst du?«

»Ich bin zu hundert Prozent überzeugt.«

Nils' Adamsapfel hüpfte. Mit drei Schritten war er bei Henrik, beugte sich über ihn und gab ihm einen zarten Kuss. Erst auf die Stirn, dann auf die Nase und schließlich auf den Mund. Zwischen Henriks Beinen entstand ein freudiges Ziehen, sobald er sich fragte, was Nils noch vorhatte. Der schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, so glücklich, als befänden sie sich in den Flitterwochen.

»Ich mach Frühstück«, sagte er und erhob sich. »Und dann muss ich baden.«

»Oh, gut. Danke.« Henriks Herz pochte in seiner Kehle. Verdammt, dieser Kerl …

Draußen jaulte der Wind, trieb Schneemassen vor sich her und verdunkelte die Atmosphäre. Henrik betete, dass er noch tagelang weiterjaulen würde.

 

18. Experimente

 

Das Frühstück war köstlich, obwohl die Brötchen vom Vortag ziemlich pappig waren. Dafür war der Kaffee lecker und so herrlich heiß, dass er bis zu Nils' Herz vorzudringen schien. Aber vielleicht kam das Lodern in seiner Brust auch von Henry, der nur mit einem Bademantel bekleidet vor ihm auf dem Teppich saß.

Schwungvoll biss Henry in ein Honigbrötchen und sah in die Flammen. Es ging ihm besser, davon war Nils überzeugt. Wenn er vorher schon sexy gewesen war, dann war er jetzt … überirdisch oder so. Geschmeidig und kraftvoll wie eine Wildkatze und gleichzeitig so entspannt, als hätte er im Leben nichts weiter vor, als mit Nils zu frühstücken und sich vom Feuer wärmen zu lassen.

Nils betrachtete die Brötchenhälfte auf seinem Teller. Er hatte etwas darauf geschmiert, das er für Leberwurst gehalten hatte. War aber irgendeine vegane Paste gewesen. Sie schmeckte super, doch das lag vielleicht auch an Henrys Gesellschaft, die alles irgendwie toll machte.

Nils schluckte. Nichts, was er hier sagte, würde je nach außen dringen. Konnte er Henry vertrauen?

»Ich mag deine Augen«, sagte er. Das Herz sprang ihm fast aus der Brust. »Die sehen aus wie starker Kaffee. So dunkel.«

Was laberte er da für einen Blödsinn? Wie peinlich war das bitte? Aber dann sah er verwundert, wie Henrys Wangen dunkler wurden. Wie der ihn erst ansah und dann wegschaute, nur, um Momente später wieder den Blick auf Nils zu heften.

»Deine Augen sind wie Limetten.« Er grinste schief. »Ich mag das, das ist so … erfrischend. Ich hab die Farbe noch nie vorher gesehen.«

»Oh, die … ist hier gar nicht so selten. Ebernau war früher lange von der Außenwelt abgeschnitten, da hat sich nicht viel vermischt. Gibt viele Rothaarige und Grünäugige.«

»Aber nicht solche wie dich«, sagte Henry. »Die meisten haben dunklere Augen. Deine, die leuchten richtig. Als würden sie von einer Batterie angetrieben … Ich rede Blödsinn, nicht wahr?«

»Ne.« Nils schüttelte den Kopf. »Keinen schlimmeren Blödsinn als ich zumindest.«

»Oh, gut.« Henrys Zähne blitzten. Nils atmete tief ein. Die Frage, die er eigentlich stellen wollte, platzte aus ihm heraus.

»Hast du das schon mal gemacht? Mit einem anderen Jungen?«

Henry sah ihn an. Blinzelte. Schien nachzudenken.

»Einmal habe ich mit einem rumgeknutscht. Der konnte mich danach nicht mal mehr anschauen, als er wieder nüchtern war.«

»Oh.« Zwei Gefühle stritten sich in Nils. Eifersucht und … Neugier. »Und, war's schön?«

»Ja, doch. Der hat gut geküsst. So gut wie ein Mädchen.«

»Ah. So.« Nils stellte sich vor, wie Henry einen anderen Kerl küsste, und die eifersüchtige Erregung wurde stärker.

»Kein Vergleich zu dir natürlich«, sagte Henry. Einfach so, als wüsste er nicht, was er damit anrichtete. Nils verschluckte sich. Hustete. Starrte Henry aus feuchten Augen an. Zarte Röte kroch dessen Wangen hoch.

»Ich meine … Also ich fand es gut gestern. Und du? Hast du schon mal einen Jungen geküsst?«

»Ich?« Nils schluckte. Egal, Henry würde das ja eh alles vergessen, nicht wahr? »Also ich … hab mal mit einem Mädchen … aber …«

Er verstummte. Konnte es nicht sagen.

»Also war dein erstes Mal mit einem Mädchen?«

»Äh, nein.« Nils sah zu Boden. Spürte die Hitze in seinem Gesicht. »Das war … gestern. Mit dir. Wenn das überhaupt zählt.«

»Oh.«

Er konnte Henry nicht anschauen. Alles, was er sah, waren sein Teller und ein Stück Teppich. Der Teppich hatte einen roten Rand aus … Elchen. Warum auch nicht?

»Gibt nicht viele Gelegenheiten in Ebernau«, murmelte Nils. »Und Mädchen haben mich nie so interessiert.«

»Ach so.« Schweigen. »Also, ich finde, das zählt.«

»Meinst du?« Nils schaute ihn zweifelnd an. »Wir haben doch gar nicht … Also ich hab dich nicht und … du mich nicht … in … Du weißt schon.«

Oh Gott, das war so schwierig. Warum war das so schwierig?

»Ach, das.« Henry klang ein wenig traurig. »Glaub mir, das wird überbewertet.«

Nils glaubte ihm kein Wort. Wenn er nur daran dachte, wie … es sich anfühlen würde, in Henry zu sein oder … andersherum, richtete sein Glied sich freudig auf.

»Du hast das getan, oder? Oft?«

»Ich glaub schon.« Henry kratzte sich am Nacken. »Ich kann mich nicht an alles erinnern. Mir geht's jetzt besser, aber damals … war ich so oft besoffen. Rückblickend ist das ziemlich peinlich.«

»Hey, hier ist nichts peinlich.« Nils spürte, wie sein Mundwinkel sich verzog. Seit wann lächelte er so viel? »Das ist doch nur ein Traum.«

»Ach deshalb.« Henrys Augen blitzten. »Ich wollte schon immer mit einem heißen Wikinger eingeschneit sein.«

Nils verschluckte sich erneut. Und schaffte es noch weniger, Henry anzusehen als vorher. Aber sein Herz hämmerte vor Freude wie verrückt.

»Weißt du …« Hä? Oh, Henry war wieder ernst. Nachdenklich strich er über den Rand seiner Kaffeetasse. »Ich … wollte immer, dass mein erstes Mal was Besonderes ist. Nicht sehr männlich, ich weiß. Aber ich hab's mir immer so schön ausgemalt. Ich wollte … Ich hatte schon Gelegenheiten, vorher, aber ich habe jedes Mal irgendeine Ausrede erfunden. Weil ich … auf was gewartet habe.« Er räusperte sich. »Die große Liebe. Du kannst ruhig lachen.«

»Ich versteh das schon«, sagte Nils. »Das wäre doch schön, oder? Irgendwie … romantisch.«

»Ja, nur dass ich's nicht geschafft habe.« Henry lachte bitter. »Nachdem … Es ist was passiert. Das hat mich total aus der Bahn geworfen und dann … hab ich mit der Erstbesten geschlafen, die sich angeboten hat. Damals war's mir egal, aber jetzt tut es mir fast leid.«

»Na ja.« Nils kratzte sich am Hinterkopf. »Immerhin hast du gestern gewusst, was du tust. Nicht wie ich.«

Henry wirkte überrascht.

»Du hast verdammt gut gewusst, was du tust. Ich fühl mich, als hätte ich deine Finger immer noch an meinem Schwanz.«

Nils verhinderte mit Mühe einen dritten Hustenanfall. Er rieb sich den Nacken.

»Den Teil hab ich ja auch geübt. An mir selbst.« Er schnaubte. »Von allem anderen hab ich keine Ahnung.«

»Das kann man lernen.« Henrys Stimme war leise. Seit wann hatte der diesen Schlafzimmerblick drauf? »Mein Angebot steht.«

Etwas anderes stand auch. Unter Henrys weichem Bademantel erhob sich ein Zelt. Und in Nils' Boxershorts sowieso. Er zögerte. Durfte er … Dann hörte er den Sturm draußen toben. Hörte den Schnee gegen die Scheibe wehen und das Prasseln des Feuers. Nichts, was hier geschieht, passiert wirklich, erinnerte er sich. Er beugte sich vor.

Henry saß vollkommen entspannt da, den Rücken an das Unterteil des Sofas gelehnt, mit verführerisch gesenkten Lidern. Nils wollte ihn küssen. Aber nicht auf den Mund. Na gut, dort auch, aber vor allem wollte er herausfinden, wie Henry da unten schmeckte. Er atmete tief ein und presste seine Lippen erst einmal in Henrys Halsgrube. Dahin, wo Schulter und Hals aufeinandertrafen. Erstaunlich weich. Hier roch er mehr nach Milch und Spekulatius. Auf den Schultern nach Salzkaramell. Und seine Nippel … den Geschmack kannte Nils nicht, aber er war köstlich. Voll und würzig.

Henry sackte tiefer. Er ließ den Kopf auf den Sitz des Sofas sinken. Seine Lippen bewegten sich.

»Weiter«, flüsterten sie. Genau wie gestern. Er war so … hingebungsvoll. Ja, er lag da, als sei er Nils vollkommen ausgeliefert. Als könnte er sich nichts Schöneres vorstellen, als von einer ungeschickten Jungfrau abgeknutscht zu werden.

Obwohl, langsam hatte Nils das Gefühl, dass er es ganz gut machte. Vorsichtig strich er über Henrys flache Brustmuskeln und spürte die Gänsehaut, die seine Berührung dort erzeugte. Er rutschte tiefer. Der Bademantel war aufgesprungen, legte Henrys helle Brust und den wunderbaren Bauch frei. Andächtig fuhr Nils durch die Rille in der Mitte, umkreiste den kleinen Bauchnabel, der ein wenig hervorstand. Hauchte auch dort einen Kuss hin.

Er atmete tief ein. Dann stützte er sich auf den rechten Ellenbogen und griff nach dem schlampig zusammengeknoteten Gürtel. Der Knoten löste sich ohne Probleme. Die Stoffhälften glitten zur Seite und endlich sah er ihn. Henrys Latte ragte ihm entgegen, voll aufgerichtet und irgendwie … erwartungsvoll. Prall und glänzend, mit einer purpurroten Spitze. Nils hätte fast gejubelt, so glücklich war er. Er durfte …

Vorsichtig griff er danach. Sobald seine Fingerspitzen die samtige Haut berührten, lief ein Beben hindurch. Nils packte ihn fester. Ein wohliges Seufzen erklang.

»Ich hoffe, er reicht dir«, flüsterte Henry. Nils sah auf.

»Was?«

»Na, die Größe. Ich bin nicht gerade ein Pornostar.«

»Du bist perfekt.«

Die Worte waren raus, bevor Nils darüber nachdenken konnte. Aber es war die Wahrheit. Er hatte nie von überdimensionierten Rohren geträumt. Zwei Hände voll waren mehr als genug.

»Ich dachte nur.« Henry lächelte träge. »Weil du selbst so gesegnet bist.«

»Mann, ich hasse das.« Nils' Ohren wurden heiß. »Ich … du siehst doch, wie das wirkt, wenn ich ’nen Ständer habe. Total … pervers. Wie ’ne Karikatur oder so.«

»Die meisten Männer wären stolz darauf.«

»Ich bin nicht die meisten Männer. Ich wäre lieber normal.«

»Du bist nicht normal. Du … bist auch perfekt.«

Henrys Lächeln ließ alles in ihm schmelzen. Weil er den kaffeebraunen, zärtlichen Blick kaum aushielt, senkte er den Kopf, um endlich das zu tun, was er die ganze Zeit vorgehabt hatte. Er küsste die rot schimmernde Spitze. Spürte, wie sie zwischen seinen Lippen leicht nachgab und fühlte, wie sich ein Tropfen dort bildete, der salzig schmeckte, als er ihn ableckte.

Henry seufzte leise. Er lag unter ihm, als wollte er sich nie wieder wegbewegen. Das Gesicht genießerisch verzogen, hob er die Hand und fuhr zärtlich durch Nils' Haare.

»Das machst du toll«, murmelte er. »Richtig gut.«

»Äh. Danke.« Nils' Brust quoll fast über vor Glück.

Er strich mit der linken Hand über die ganze Länge, umfasste die Hoden, die sich unter seinen Handflächen zu regen begannen. Dann senkte er den Kopf und öffnete die Lippen. Würziger Salzgeschmack erfüllte seinen Mund. Der Geruch von purem … Sex drang in seine Nase und vernebelte sein Gehirn. Ihm war schwindlig.

Das passiert wirklich, dachte er. Echt. Mit Henry.

Er schaffte es bis über die Mitte, bis die Spitze an seinen Rachen stieß und er nicht mehr weiterkam. Seine Zunge genoss die Glätte von Henrys Haut. Sie presste sich dagegen, fühlte jede Ader nach, tanzte über das Bändchen, das Eichel und Schaft verband, und saugte sich schließlich fest. Er wollte Henry ganz in sich hineinziehen. Natürlich schaffte er es nicht, dazu fehlte ihm die Übung, aber er kam ziemlich weit.

Henry wimmerte »Mehr« und er verlor alle Hemmungen. Sein Mund verstärkte den Druck, seine Finger packten die Hoden, so fest, dass es wehtun musste, aber Henry beschwerte sich nicht. Erst, als er sie fast zerquetschte, murmelte er »etwas sachter« und Nils lockerte seinen Griff.

Sein Kopf bewegte sich auf und ab. Immer neue salzige Wellen mischten sich in den herzhaften Vanillegeschmack. Er hatte keine Ahnung, wie weit Henry bereits war. Wenn er aufsah, erblickte er ein Gesicht, das zwar lustverzerrt, aber entspannt war. In ihm selbst ballte sich bereits alles zusammen, drängte auf Entladung, obwohl nichts seinen Schwanz berührte als der dünne Stoff seiner Boxershorts. Er war so erregt, dass er wahrscheinlich kommen würde, ohne sich auch nur anzufassen, wenn er weiter machte. Die Geräusche, die Henry von sich gab, reichten aus.

Allmählich änderte sich Henrys Gesichtsausdruck. Seine Muskeln spannten sich an, seine Finger gruben sich in den Teppich und sein Bizeps sprang deutlich hervor.

»Nils …«, stöhnte er. Sein Kopf schwang unruhig von einer Seite auf die andere. »Nils, nicht … nicht aufhören ja? Ich …«

Dann seufzte er nur noch. Die Laute, die seinen aufgeworfenen Lippen entsprangen, wurden immer drängender. Nils bewegte sich schneller auf und ab, so schnell, dass er Henrys sich windenden Leib nur noch verschwommen wahrnahm.

»Oh …« Ein Knurren aus Henrys Kehle. Er riss die Augen auf. Seine Hände packten Nils' Schulter und schoben ihn zurück, bis er aus seinem Mund glitt. Einen Moment später kam Henry. Die Zähne gefletscht, die Augen fest zusammengekniffen, wand er sich auf dem Teppich, stöhnte und keuchte, bis er seine Ladung überall verteilt hatte. Auf seinem Bauch, auf Nils' Knie und dem dämlichen Elchteppich. Nils spürte seine eigene Erregung wieder, fast schmerzhaft in den zu engen Boxershorts. Schwankend stand er auf. Sah auf Henry hinunter, der sich lüstern streckte, und zu ihm hochgrinste.

»Bleib stehen«, befahl er. Nils hätte sich eh nicht mehr bewegen können. Schon gar nicht, wenn Henry nach dem Bund seines Slips griff und ihn mit einem Ruck herunterzog.

Ich hab nicht geduscht, dachte er, aber Henry war das wohl egal.

Die Latte sprang hervor. Ein Tropfen löste sich von ihrer Spitze und traf Henrys Wange. Henry packte zu, legte die andere Hand auf Nils' Hüfte. Und dann verschluckte er ihn.

Eine Hitzewelle riss Nils fast um. Rasende, gleißende Lust erfüllte seinen Unterkörper. Eine nasse Zunge schlängelte sich um …

»Komme«, flüsterte er. Henry versuchte, auszuweichen, aber es war zu spät. Eine weiße Ladung traf sein Gesicht. Sie tropfte vom Kinn und erwischte sein Knie. Eine weitere schoss heraus, mitten in Henrys zerzauste Locken. Nils konnte nur hilflos zusehen, zitternd vor Geilheit und Erlösung. Als er fertig war, sah Henry aus, als hätte er versucht, Sahne zu schlagen und den Mixer falsch gehalten.

»Ups.« Nils musste lachen. Er konnte nicht anders. Und Henry lachte mit.

»Nicht schlimm.« Er wischte sich mit dem Ärmel des Bademantels über das Gesicht. »Ehrlich gesagt fand ich's ganz schön heiß.«

»Und ich erst«, murmelte Nils. Seine Beine zitterten so stark, dass er sich setzen musste. Gegenüber von Henry, der so zufrieden aussah wie ein satter Kater. Er strich durch seine Haare und verschmierte die letzten Spuren.

»Das wird trocknen«, sagte Nils. »Und dann siehst du aus, als hättest du weiße Haare.«

»Na und? Das steht mir bestimmt.« Henry schüttelte seine Locken. »Lässt mich erwachsener wirken. Und gut für die Kopfhaut ist es garantiert auch.«

»Du Spinner.« Nils sah ihn skeptisch an. In seinen Lenden spürte er immer noch die Nachwirkungen von Henrys Mund. Wie ein sehnendes, ziehendes Echo. »Warum bist du nicht in meinem Mund gekommen?« Er räusperte sich. »Das hättest du gedurft, weißt du?«

»Na ja, ich …« Henry seufzte. »Ich hab ehrlich gesagt keine Ahnung, mit wem ich im letzten Jahr Sex hatte. Mit wie vielen Frauen. Und ob das mit Kondom war oder ohne.«

»Oh.« Nils kratzte sich am Hals. »Meinst du …«

»Ich weiß nicht«, sagte Henry. »Wahrscheinlich nicht, aber … ich will dich nicht in Gefahr bringen.«

»Danke.« Verdammt, dieser Kerl wurde immer … anständiger, je länger Nils ihn kannte. Immer netter und liebenswerter und … Nils sah zu Boden. »Ich … also bei mir ist alles clean. Nicht nur, weil ich keine Erfahrung hab. Ich hab im November erst Blut gespendet.«

»Ziemlich edel von dir.«

»Na ja, ne. Die geben dir zwanzig Euro, wenn du das machst, und Shirley brauchte neue Schuhe.«

»Oh, dann ist das gleich doppelt edel.«

»Laber doch nicht«, murrte Nils und hörte Henry lachen. Er überlegte. Wenn er die nächste Frage stellte, würde er Henry damit etwas versprechen, das er vielleicht nicht halten konnte? »Hast du Kondome da?«

Henrys Gesicht zeigte tiefstes Bedauern.

»Nein«, seufzte er. »Wir können nur so weitermachen. Ohne zu … du weißt schon.«

Er machte eine eindeutige Handbewegung.

»Oh.« Nils hatte nicht gewusst, wie er den Gedanken fand, es … richtig zu tun. Aber nun war er enttäuscht.

»Na, das scheint dir doch auch zu gefallen«, sagte Henry. Fast schelmisch. Ja, wenn er lächelte, wirkte er wie ein frecher Faun oder so. Spitzbübisch.

»Und wie mir das gefallen hat.« Nils spürte das breiteste Grinsen aller Zeiten in seinem Gesicht. »Machen wir das nochmal, ja?«

»Gern.«

»Äh …« Er räusperte sich. »Vielleicht … jetzt?«

Henry lachte laut auf. Und einen Moment später lag er auf Nils und presste die Lippen auf seine, als wollte er mit ihm verschmelzen.

 

19. Pläne

 

Nils hatte auch eine Klasse wiederholt, erzählte er. Stunden später, um die Nachmittagszeit, als sie müde und glücklich aus dem Fenster sahen und den Schneesturm beobachteten. Nackt, in Decken gewickelt. Hier konnte eh keiner reinschauen, bei dem dichten Gestöber.

Henrik wusste nicht mehr, wie oft er gekommen war. Wie oft er Nils zum Kommen gebracht hatte. Vorhin, unter der Dusche, als er beschlossen hatte, Nils beim Waschen zu helfen, war das … dritte Mal gewesen. Beim Abtrocknen das vierte, auf der Anrichte in der Küche das fünfte, und danach hatte er sein Zeitgefühl verloren.

Und jetzt saßen sie hier und redeten über alles Mögliche. Über Nils' Familie, über Henriks alte Schule. Darüber, wie Titus beim Klavierspielen so konzentriert gewesen war, dass er nicht gemerkt hatte, dass hinter ihm eine Kerze umgekippt war und ein Wandvorhang Feuer gefangen hatte. Darüber, wie Shirley mit vier Jahren verlangt hatte, dass Nils ihr das Alphabet beibrachte. Wie sie seitdem nie ohne Buch anzutreffen war, überall dicke Wälzer deponierte und alles als Lesezeichen benutzte, was ihr gerade in die Hände fiel. Marc hatte tagelang nach seiner Liftkarte gesucht, bis Shirley endlich wieder »Die Krabbentaucher-Chroniken 4: Harter Seegang« aufgeschlagen hatte. Darin hatte sie gelegen.

Zweimal hätte Henrik Nils fast von seiner Familie erzählt. Davon, wie sie gestorben waren. Aber er wollte damit warten. Nur ein wenig. Nur noch ein, zwei Tage wollte er so über sie sprechen, als wären sie noch da. Bis der Sturm vorbei war.

»Warum hast du wiederholt?«, fragte Henrik und nippte an seinem Tee. »Bei mir war es Saufen und Rumhuren, aber wie ich dich kenne, hast du dich zu viel um deine Familie gekümmert.«

Sein Rücken lehnte an der Wand der Fensternische. Wer auch immer beschlossen hatte, eine Bank hierhin zu bauen, war ein Genie gewesen. Es war so verdammt schön, Nils' warme Füße auf seinen zu spüren. Sein glückliches, erschöpftes Gesicht zu sehen.

»Na ja, irgendwie war die elfte Klasse wie verhext. Erst ist Marc krank geworden. Richtig übel, der wäre fast im Krankenhaus gelandet. Dann hat die Sommergrippe Josh und Shirley erwischt und Mom hat sich im Backofen den Arm verbrannt. Und im Winter war ich dran. Lungenentzündung. Hab fast ’nen Monat verpasst.«

»Oh. Und du bist zuhause geblieben und hast alle gepflegt?«

»Nur, wenn’s richtig schlimm war. Aber abends bin ich nicht zum Lernen gekommen. Irgendwer musste ja die ganze Hausarbeit machen und ich hatte auch noch 'nen Zeitungsjob.«

»Du schreibst?«

Nils sah ihn verwundert an.

»Ne, ich trage aus. Na, die Noten hätten noch für die Versetzung gereicht. Aber nicht für Sport. Das will ich studieren.«

»Und wie sieht es jetzt aus?«

»Gut.« Nils nickte ernsthaft. »Scheint zu klappen. In etwas mehr als ’nem Jahr bin ich hier raus.«

»Du willst wegziehen?«

»Ja, schon. Na, eigentlich nicht.« Nils runzelte die Stirn. »Ich mag's hier. Sehr. Aber ich dachte immer, dass ich weg muss, um … das hier zu haben.«

Er machte eine unbestimmte Bewegung zu Henrik, die seine nackten Schultern und seinen wundgeküssten Mund mit einschloss.

»Verstehe.« Henrik nippte erneut an seinem Tee. Langsam kühlte der ab. »Und jetzt?«

»Wie, jetzt?«

»Na, jetzt hast du das. Hier. In Ebernau.«

»Hier ist nicht Ebernau. Hier ist oben.« Nils sah ihn nicht an. Er kämpfte mit sich, offensichtlich. »Das ist was anderes.«

»Hm.« Henrik beobachtete ihn.

Sein ohnehin schon lädiertes Herz zerrte in seiner Brust. Blöde Wünsche quälten ihn, die nichts mit der Abmachung zu tun hatten. Die ihr komplett entgegenliefen.

Sag, dass du weitermachen willst, schrie es in ihm. Wenn der Sturm vorbei ist und … noch viel länger. Schon jetzt wusste er nicht, wie er es ohne Nils' Wärme, seine raue Stimme, seine ruppige und manchmal erstaunlich schüchterne Art aushalten sollte. Aber er räusperte sich und drängte den Gedanken zurück.

Wir haben eine Abmachung. Das ist nur ein Traum. Es sei denn … dass Nils es anders will.

Dann wäre er zu allem bereit. Sofort, auf der Stelle. Egal, wie voreilig das war. Klar hätte er nicht gedacht, dass er so plötzlich Gefühle für einen anderen Kerl entwickeln würde. Aber … das Leben war kurz und man musste das Glück packen, wenn man es fand. Das hatte sein Vater gesagt. Und der war verdammt glücklich gewesen …

Ein Schluchzer brach aus seiner Kehle. Er wehrte sich nicht. Ließ es zu, dass die Trauer ihn schüttelte, dass salzige Tränen in seinen Tee tropften. Egal. Weinen war gut. Und Nils' Hand, die sich wie selbstverständlich über seine legte, die war auch gut. Wunderbar.

Als der Anfall vorbei war, stand er auf, um sich ein Taschentuch zu holen. Er spürte Nils' Blicke auf seinem nackten Körper und überlegte, ob er verführerischer gehen konnte. Leider hatte er keine Ahnung, wie.

»Sport also«, sagte er, als er wieder auf der Fensterbank saß und seine Zehen an Nils' wärmte. »Weißt du schon, wo?«

»Köln, denke ich.« Nils runzelte die Stirn. »Wenn’s klappt. Die Prüfung ist echt übel. Es gibt zwanzig Einzeldisziplinen und man muss neunzehn bestehen. Mindestens die Hälfte fällt da durch. Ich … na, Ski oder so wäre kein Problem. Gibt’s aber nicht. Fußball kann ich ganz gut und in Schwimmen und Leichtathletik bin ich auch nicht übel. Ich muss vor allem Basketball üben. Und gute Noten schreiben natürlich.«

»Basketball?« Henrik grinste. Eine blöde Idee formte sich in seinem Kopf. Gut. Er hatte schon viel zu lange keine blöden Ideen mehr gehabt. »Da kann ich dir helfen.«

Zum zweiten Mal sprang er auf, rannte splitternackt durch die Wohnung und fühlte, dass Nils ihn beobachtete. In dem kleinen Schrank im Flur fand er ihn. Einen Basketball, sogar frisch aufgepumpt.

»Fang!« Er warf ihn Nils zu, durch das gesamte Wohnzimmer. Nils reckte sich, schloss die Hände um die orangefarbene Kugel … und die Decke rutschte zu Boden. Sein muskulöser Körper kam zum Vorschein. Henrik war für einen Moment abgelenkt.

»Wo willst du denn spielen?«, fragte Nils.

»Na, hier.«

»Hier.« Nils' Blick wanderte durch das Wohnzimmer, über weiche Teppiche und kostbare Möbel. »Echt?«

»Hast du Angst?« Henrik legte den Kopf schief.

Ein Grinsen erhellte Nils' Gesicht. Er stand auf und ließ den Ball probeweise auf die Holzdielen prallen. Er machte ein paar Schritte. Henrik stürzte auf ihn zu, täuschte an … und nahm ihm den Ball ab.

»Hey!« Nils lachte.

Sie tobten durch die Wohnung wie junge Hunde, sich immer wieder austricksend, den Ball abnehmend. Nils war nicht übel, fand Henrik. Technisch unperfekt, aber er hatte ein gutes Ballgefühl. Wenn sie mehr Zeit hätten, könnte er ihm so viel beibringen …

Henrik schnappte sich den Ball, setzte über das Sofa und dribbelte durch den Flur. Schon war Nils bei ihm und drängte ihn in eine Ecke. Henrik hätte es vielleicht geschafft, zu entkommen, wenn … wenn Nils' nackter Körper ihn nicht so abgelenkt hätte. Immer, wenn er den herrlich festen Hintern vor sich sah, bekam er neue Ideen. Und … Nils schien es genauso zu gehen. Zwischen seinen Beinen regte sich erneut etwas, füllte sich mit Leben und deutete auf Henrik.

Und Nils war nicht länger schüchtern. Den Ball ignorierend packte er Henrik und zog ihn zu sich her. Henrik hörte das dumpfe Geräusch, mit dem der Ball über den Boden davon hüpfte. Seine Finger glitten über Nils' Rückenmuskeln. Tiefer. Feste Muskeln auch hier. Ein leises Stöhnen entwich ihm, als er über die kräftigen Halbkugeln strich.

»Gehen wir nach oben, ja?«, flüsterte er in Nils' Ohr.

Sie schafften es bis zur Treppe. Küssend und klammernd. Dann strauchelte Nils, fing sich, stützte sich mit den Händen auf den Stufen ab … und Henrik hatte seinen Hintern vor der Nase.

Das ist alles, was ich mir je gewünscht habe, juchzte sein Gehirn.

»Bleib so«, murmelte er. Nils sah ihn fragend an.

»Was hast du vor?«

»Vertraust du mir?«

»Nein.«

Henrik blinzelte.

»Nicht sehr nett«, murmelte er. »Dann bleib halt ruhig und sag Bescheid, wenn es dir zuviel wird.«

»Zuviel?« Nils biss sich auf die Unterlippe.

Aber er bewegte sich nicht. Stattdessen blieb er mit den Knien auf den unteren Treppenstufen und den Händen auf den oberen. Henrik ließ sich neben ihm nieder. So, dass er Nils' Nacken küssen konnte. Und, wenn er ein wenig tiefer rutschte, seine festen Backen streicheln und in die schweißnasse Spalte dazwischen fahren konnte. Nils' gesamter Körper versteifte sich, als er Henriks Finger dort spürte.

Aber er schwieg. Schaute Henrik nicht an, sondern betrachtete konzentriert die Holzstufe vor seiner Nase.

»Weiter«, flüsterte er, als Henrik sich nicht mehr bewegte.

Henrik lächelte. Er drückte ihm noch einen Kuss auf die nackte Schulter und rutschte abwärts. Sein Knie drängte Nils' Oberschenkel auseinander. Er sah, wie sich dessen Rückenmuskeln anspannten. Vorsichtig, um ihn nicht zu verschrecken, legte er die Hände auf die glatten Backen und zog sie auseinander.

»Was machst du da?«, zischte Nils. Seine Wangen färbten sich rosa. Immer noch schaute er Henrik nicht an und der glaubte zu wissen, warum. Nils ahnte, was Henrik vorhatte. Und er hatte Angst, dass es ihm gefallen könnte.

»Sag Stopp und ich höre auf«, schlug Henrik vor. Kein Wort kam über Nils' Lippen. Er hielt die Augen starr geradeaus gerichtet und schwieg. Also doch.

Selbst wenn das nur ein Traum war, er wollte nicht, dass Nils ihn vergaß. Nie. Gemächlich, obwohl sein Herz bis zum Hals schlug, fuhr er mit dem Zeigefinger über die schweißfeuchte Haut. Sehr gemächlich. Er ließ Nils abwarten, ob er es wirklich tun würde. Tastete sich heran und drehte wieder ab. Als sein Finger schließlich in die Rille zwischen Nils' Backen fuhr, hörte er ein leises Keuchen. Er ließ die rechte Hand auf Nils' Hüfte ruhen, um ihn ruhig zu halten und suchte mit der linken den Eingang. Ah, da. Kaum drückte seine Fingerkuppe dagegen, fand er auch schon Einlass. Fast war es, als würde Nils ihn in sich hineinsaugen.

»Das war leicht«, murmelte er und sah, wie sich Nils' Rückenmuskeln mit feiner Röte überzogen.

Vorsichtig drang er tiefer ein. Spürte, wie heiß Nils innen war. Der enge Kanal umschloss seinen Finger, als wäre er nur dafür gemacht worden. Einen Moment lang stellte er sich vor, dass er nicht mit seinem Finger in ihn eindrang, sondern … Fast hätte er eine Herzattacke bekommen.

Von Nils kam nur Schweigen. Krampfhaft verbiss er sich jedes Geräusch. Henrik konnte die Anspannung all seiner glänzenden Muskeln sehen.

Dann spürte er sie. Die kleine Erhebung, fest, aber nachgiebig und … Nils schrie auf. Henrik hielt verblüfft inne.

»War das gut?«, fragte er. Sein Herz klopfte bis zum Hals.

Erst dachte er, Nils würde nicht antworten. Dann sah er ein knappes Nicken. Er wollte noch einen Schrei hören. Unbedingt. Aber Nils riss sich zusammen. Selbst, als Henrik den Finger drehte, um besseren Zugang zu seinem Lustpunkt zu haben, als er ihn vorsichtig umkreiste und bearbeitete, schaffte er es, sich auf unterdrücktes Stöhnen zu beschränken.

Ein heller Tropfen zerplatzte auf den Stufen. Henrik konnte Nils' Schritt nicht sehen, aber er wusste, was der glitzernde Fleck war. Langsam, immer noch auf einen Schrei hoffend, glitt seine Rechte abwärts, um Nils' Hüfte herum und nahm ihn in die Hand.

Ein Ruck ging durch Nils' Körper. Ja, er war stahlhart. Er musste kurz davor sein. Gemächlich fuhr Henrik auf und ab und bewegte im gleichen Rhythmus seine Finger. Er wurde mit einem leisen Wimmern belohnt. Aber er wollte mehr. Er wollte … Er spürte, wie Nils noch einmal wuchs, noch härter wurde. Wie er den Kopf neigte, sein ganzer Körper sich anspannte. Gleich …

Henrik stoppte. Hörte schweres Atmen vor sich.

»Weiter«, keuchte Nils. »Mach schon.«

Wenn er Henriks Grinsen gesehen hätte, hätte er ihm wahrscheinlich den Hintern versohlt.

»Hm?«, murmelte Henrik. »Ach so, ja. Sorry, war kurz abgelenkt.«

Er packte Nils fester und glitt mit seinem Finger ein und aus. Vernahm ein leises Wimmern. Roch den köstlichen Geruch nach Schweiß und Feuer und spürte ihn wieder anschwellen. Ein weiterer Tropfen zerplatzte auf der Treppe. Noch einer. Fast da.

Er hielt an.

Nils stieß ein unbeherrschtes Fauchen aus. Beinahe ein Schrei, aber … Nein, das reichte nicht.

»Jetzt mach endlich«, zischte er. »Hör auf, mit … ah!«

Henriks Fingerkuppe hatte einen Schlenker um Nils' Lustknoten gemacht.

»Damit, dich zu quälen?« Er seufzte. »Ich würde ja gern, aber … ich will dich nochmal schreien hören.«

»Was?« Einen Augenblick lang drehte Nils den Kopf. Sah ihn aus Augen an, die vor Erregung glänzten. Aber dann wandte er sich ab. »Vergiss es.«

Henrik sah Schweißperlen auf seinem Rücken glitzern. Ein Zittern rann durch das verschlungene Muskelgeflecht, als er erneut die Finger bewegte. Hin und her, bis Nils wieder kurz davor war. Und Henriks Hände innehielten.

»Jetzt mach endlich, verdammt nochmal!«, rief Nils.

Henrik hob die Augenbrauen.

»Als ich meinte, ich will einen Schrei, habe ich nicht so einen gemeint.«

»Das ist mir klar.« Nils' Stimme war zu Zerreißen gespannt. Unterdrückte Lust blubberte aus jedem seiner Worte. »Henry …«, drängte er.

Henrik gab nach. Langsam strich er an Nils' Schwanz auf und ab. Ließ seine Finger in ihm kreisen. Aus den Tropfen auf der Stufe war inzwischen ein kleiner See geworden. Unablässig perlte es von Nils' Eichel, schmierte Henriks träge Bewegungen.

Ein tiefes Grollen kam aus Nils' Kehle. All seine Muskeln spannten sich noch einmal an. Er senkte den Kopf, presste sich Henrik entgegen, keuchte … und Henrik verlangsamte das Tempo. Wartete, bis aus dem Anspannen ein enttäuschtes Zittern geworden war. Dann erhöhte er die Geschwindigkeit wieder. Ja, er genoss das.

Du bist ein Arschloch, Henrik, dachte er. Wie konnte er es so genießen, Nils zu quälen? Ihn so ausgeliefert vor sich zu haben, um seinen Finger zitternd. Henrik tropfte selbst. Schmierige Perlen trafen auf Nils' Unterschenkel und liefen langsam herunter.

»Hen…ry, du … ah!« Nils bäumte sich auf. Wurde an den Rand der Klippe getrieben, so weit, dass er die nahende Erlösung spürte, aber … nicht darüber hinaus.

»Henry … mach …«

Henrik starb fast vor Geilheit. Er war ein Sadist, so viel war klar. Er fürchtete, dass er noch vor Nils kommen würde, wenn der sich weiter so wand. Nils' Finger klammerten sich an die Stufen. Seine Knöchel waren weiß.

»Ah …«, wimmerte Nils. Dann hörte Henrik es. In den Tiefen von Nils' Kehle ballte es sich zusammen, stieg auf … Henrik beschleunigte sein Tempo. Er rieb fester über Nils' Härte, nahm ihn mit dem Finger, lauschte auf das dunkle Grollen, als Nils den Nacken beugte, den Kopf zurückwarf … und schrie. Nein, brüllte. Wie ein Tier, während es aus ihm heraussprudelte, über die Treppe, über Henriks Hand, zitternd, bebend, immer noch brüllend …

Langsam sank Nils' Kopf auf die Stufe vor ihm. Minutenlang war er nur mit Keuchen beschäftigt.

»Ich hasse dich«, murmelte er. Sein rechtes Auge öffnete sich und funkelte Henrik an. »Du blödes Arschloch.«

Das war so sexy, dass Henrik endlich von ihm abließ. Seine Hand verließ Nils' Schwanz und schloss sich um seinen eigenen. Heiße Glut raste durch ihn, als er Saft darüber verteilte … Gut …

Plötzlich konnte er sein Handgelenk nicht mehr bewegen. Nils hatte es gepackt. Sein Gesicht erschien direkt vor Henriks.

»Das kriegst du zurück«, knurrte der Mund, der gerade so ohrenbetäubend geschrien hatte.

»Echt?« Ein Lächeln breitete sich auf Henriks Gesicht aus. »Äh, aber kann ich das noch eben zu Ende …«

»Nein. Das mach ich.« Nils riss Henriks Hand unsanft aus seinem Schritt. Dann packte er ihn, warf ihn über seine Schulter und schleppte ihn die Treppe hinauf. Henrik konnte den ganzen Weg lang nicht aufhören, zu grinsen.

 

20. Ende

 

Der Sturm hatte aufgehört. Nils hörte es. Er hatte sich noch nicht umgedreht und nachgesehen, weil … es dann endgültig wahr wäre. Es sollte nicht wahr sein. Aber er vernahm es ganz deutlich. Beziehungsweise vernahm er es nicht: kein Jaulen und Heulen, kein Schnee, der gegen die Fenster geschleudert wurde. Und es war hell. Es war Morgen und das Licht drang ungehindert durch die Fensterscheiben und wärmte seinen nackten Rücken.

Nur noch ein paar Minuten, sagte er sich. Nur noch ein paar Minuten lang Henry betrachten, der neben ihm schlief und nicht wusste, dass ihr gemeinsamer Traum beendet war. Ein Lächeln lag auf seinem Engelsgesicht. Ein glückliches, zufriedenes, freches Lächeln, das seine geschwungenen Lippen noch schöner wirken ließ. Nils schluckte. Trauer steckte in seinem Hals fest und ließ sich nicht wegdrängen.

Es war vorbei.

Nur zwei Nächte und schon fühlte er sich, als wäre er irgendwie mit Henry verschmolzen. Als müsste er ihre Verbindung mit einer Kettensäge zerschneiden, um von ihm loszukommen. Als wären sie zusammengewachsen und nur mit Blutvergießen zu trennen. Dabei würde es leicht sein. Für Henry. Leute wie er waren gut im Verabschieden.

Silvester war vorbei und die ersten Gäste reisten heute schon ab. In einer Woche würden die Hütten und Chalets sich leeren und im Frühling würden auch die letzten Gäste nur noch eine Erinnerung sein. Würde Henry nur noch eine Erinnerung sein.

Der würde in sein richtiges Leben zurückkehren, an die teure Privatschule, von der er gestern erzählt hatte. Er wollte wieder lernen, hatte er gesagt. Das Abi schaffen, das er in dem verlorenen Jahr total vergessen hatte.

Nils wusste nicht, was ihm passiert war. Was die Gefühlskälte, die Weinattacken ausgelöst hatte. Henry hatte es ihm nicht erzählt. Natürlich nicht. Henry, der wusste genau, was das hier war: eine kurze Urlaubsaffäre. Und … es war auch besser so.

Erstmal kannte Nils ihn kaum. Wenn er es genau nahm, wusste er nicht mal Henrys Nachnamen. Oder seinen Vornamen, falls Henry nur ein Spitzname war. Und … es war besser, wenn nie jemand von diesen beiden Nächten erfuhr. Wenn niemand wusste, dass er sich hatte verführen lassen, von einem von oben. Von allem, was er behauptete, zu hassen.

Seine Geschwister durften nicht darunter leiden, dass er auf Jungs stand. Die hatten es schwer genug, mit Mamas Ruf, dem ständigen Geldmangel und den abgetragenen Klamotten, die sie weiter auftrugen … Josh war am schlechtesten dran. Der hatte ausschließlich Pullover, die vor ihm schon Nils und Marc besessen hatten.

Er hielt sich tapfer, aber … es gab Kinder in seiner Klasse, die ihn damit aufzogen, täglich. Der konnte nicht noch einen schwulen Bruder verkraften. Den einzigen Schwulen von Ebernau. Das konnte doch eigentlich nicht sein, oder? Wenn … Aber wenn es mehr gab, tarnten die sich wohl auch. Zu Recht. Selbst Mo war davon angeekelt und der war sein bester Freund.

Nils seufzte leise und bereute es sogleich, denn der schwache Luftzug brachte Henrys Lider zum Flattern. Irritiert blinzelte er. Als er Nils sah, erstrahlte ein Lächeln, das sein Herz fast zerfetzte.

»Hey«, murmelte Henry. »Bist du noch sauer?«

Nils schüttelte den Kopf. Er versuchte zu sprechen und schaffte es nicht. Wieder wollten die Worte aus seinem Mund klettern. Diese Worte. Aber … das war lächerlich. Er würde sich nur lächerlich machen. Selbst, wenn Henry niemandem davon erzählen würde, konnte er das nicht tun.

»Na, du hattest deine Rache ja.« Henrys Lächeln wurde lüsterner. »Ich spür dich immer noch … da drin.«

»Waren doch nur zwei Finger«, murmelte Nils. Er konnte es tun, aber darüber zu sprechen fiel ihm schwer. Selbst vor Henry, mit dem er das alles entdeckt hatte.

»Super war das.« Henry räkelte sich wohlig. Seine Haare waren so zerzaust, als wäre er durch einen Orkan gelaufen.

»Ja.« Nils schluckte wieder. Mist. Der Kloß in seiner Kehle drängte hoch. Ewig würde er ihn nicht unten halten können.

»Was ist?« Henry streckte die Hand nach ihm aus. Sah man es ihm an?

»Der Sturm ist vorbei«, flüsterte Nils. »Ich muss gehen.«

Henrys Mund öffnete sich. Einen Moment lang sah es so aus, als ob er den gleichen Schmerz spürte wie Nils. Aber dann war sein Gesicht auf einmal … ausdruckslos. Wie eine Wachsmaske. Nils war sicher, dass er sich das nur eingebildet hatte.

Es war vorbei.

»Willst du zum Frühstück bleiben?«, fragte Henry. Nett von ihm. Höflich. Seine Stimme war irgendwie matt. »Ich meine, es gibt kaum noch was, aber …«

»Ich muss nach meiner Familie sehen«, sagte Nils und setzte sich auf. Vor allem, damit Henry sein Gesicht nicht sehen konnte. Mist. Er würde heulen. Er hatte seit Jahren nicht geheult, aber heute … fühlte er es nahen wie eine Gewitterfront. Er musste weg von hier. Weg von Henry.

»Natürlich.« Henry schwieg, während Nils sich anzog. In Gedanken versunken sah er auf die Bettdecke vor sich. Unbarmherziges Sonnenlicht schien auf seine nackten Schultern. Tanzte über die chaotischen Haare.

Ja, der Sturm war vorbei. Vor dem Fenster wellte sich ein weißes Meer. Die Fichten waren halb eingeschneit, aber … er würde wohl einen Weg in die Stadt finden.

Nils streifte den Pullover über und trat auf die Veranda. Ja, da hinten war schon der Bulldozer im Anmarsch, der die Wege zu den Chalets freiräumte. Super. Er sah jemanden auf der nächstgelegenen Veranda. Kannte er … Nein, das war ein Tourist. Gut.

Er schluckte. Wussten alle, dass er den Sturm hier oben mit Henry verbracht hatte? Würden sie … Schlüsse daraus ziehen? Aber warum sollten sie? Henry würde schweigen und … bald war er ja auch weg.

»Ich bring dich zur Tür«, sagte Henry und stand auf.

Nils blickte ein letztes Mal auf seinen geraden Rücken, den Schwung der Schultern. Den festen, kleinen Hintern, der einfach … makellos war. Aber am meisten würde er Henry selbst vermissen. Sein Lachen, den gelassenen Humor, die unerwartete Freundlichkeit, seine entspannte Art. Die plötzlich aufschäumende Begeisterung. Selbst das Weinen. Der Henry, den er in den letzten beiden Tagen kennengelernt hatte, war anders. Ganz anders, als er gedacht hatte.

Oder bildete er sich das alles nur ein, weil er genauso verblendet war wie seine Mutter damals?

Nils trottete voran, die Treppe hinunter. Schon im Flur hörte er das Dröhnen des Bulldozers. Er spürte Henry hinter sich. Wunderschön und verschlafen in seinem locker um den schlanken Leib gewickelten Bademantel.

Es tat weh.

Nils zog seine Schuhe an und legte eine Hand auf die Klinke. Wenn er sie öffnete … Wenn er heraustrat … Sobald sein Fuß die Schwelle berührte, war es vorbei. Dann war der Traum beendet und sie würden nie wieder davon reden.

Er hörte ein leises Räuspern.

»N-nils?« Henrys Stimme war rau.

Nein. Er konnte das nicht. Er konnte …

Nils wirbelte herum. Starrte Henry an, dessen dunkle Augen feucht schienen, der … Sein Körper bewegte sich wie von selbst. Rauschte auf Henry zu, packte ihn, schlang die Arme um ihn und klammerte sich an ihn, so verzweifelt, so … ängstlich, so …

»Ich liebe dich«, flüsterte Nils in Henrys Ohr.

Oh.

Scheiße.

Er spürte, wie Henrys Körper sich versteifte. Verdammt! Das …

Nils schreckte zurück. Er riss die Tür auf und, bevor Henry auch nur lachen konnte, stürmte er bereits durch den kniehohen Schnee. Wütend und so verloren, dass er es nicht mal schaffte, zu heulen.

Nach unten. Wo er hingehörte.

 

21. Euphorie

 

Henrik starrte auf die Tür, die Nils zugeschlagen hatte. Die Worte klangen in seinem Ohr.

Ich liebe dich.

»Das …«, murmelte er und rieb über seine Brust, auf der er Nils' Wärme immer noch spürte. »Das ändert alles.«

Er hatte sich abgefunden. Wirklich. Vor einer Minute noch hatte er akzeptiert, dass Nils ging. Dass ihre gemeinsame Zeit zu Ende war. Er hatte versucht, tapfer zu sein. Diesem Wikinger nicht zu zeigen, wie sehr es ihn schmerzte, dass er ihn verließ.

Er hatte keine Ansprüche. Der Sturm war vorbei. Der Traum war vorbei und ihre Abmachung besagte, dass nichts geschehen war. Nichts. Nur, dass …

Hatte Nils das ernst gemeint? Er hatte, oder? Dass er ihn liebte, dass … Henriks Herzschlag raste. Hämmerte, pochte, galoppierte. Langsam sank er auf die Treppe zurück, weil seine Knie nachgaben.

Nils liebte ihn.

Ein ungläubiges Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus. Nils liebte ihn. Er …

Und er liebte Nils.

Diesen wunderbaren, trotzigen, fürsorglichen Kerl, der stark genug war, um ihn die Treppe hochzutragen und zärtlich genug, ihn die ganze Nacht im Arm zu halten.

»Scheiße«, flüsterte Henrik, vollkommen überwältigt. Er hatte … So etwas hatte er noch nie gefühlt. Dieses nervöse Summen in seinem ganzen Körper.

Dabei hatte er so lange darauf gewartet. Und nun war es geschehen. Mit … Nils.

Er lachte. Glucksend. Mit einem Mal waren seine Knie überhaupt nicht mehr weich. Er sprang auf. Er musste … er musste Nils sagen, dass er ihn auch liebte. So schnell wie möglich. Persönlich.

Nils würde bei seiner Familie sein, oder? Er … Aber so konnte er da nicht hin. So verschwitzt. Und stinkig und … Also, er musste duschen. Schauen, ob er noch frische Sachen hatte. Kleidung, die gut genug für einen Antrittsbesuch bei Nils' Familie war. Hoffentlich mochten die ihn. Er wusste, wie wichtig sie ihm waren. Nils hatte so viel von ihnen erzählt, gestern. Na ja, wenn sie nicht gerade miteinander beschäftigt gewesen waren …

Er musste einen guten Eindruck machen. Geschenke mitbringen? Auf jeden Fall. Ob sie mit einem wie ihm gerechnet hatten? Oder hätten sie sich für Nils' ersten Freund einen aus Ebernau gewünscht? Er hatte … Nils hatte ihnen gesagt, dass er schwul war, oder?

Henrik schüttelte den Kopf. Natürlich hatte er das. Er hatte doch selbst eine Familie gehabt und denen hatte er alles erzählt, ob es sie interessiert hatte oder nicht.

Gut.

Er atmete tief ein. Genoss das wilde Pochen seines Herzens und ging los, um anständige Kleidung zu finden.

 

22. Verborgen

 

Scheiße! Nils hätte sich ohrfeigen können. Warum erzählte er so einen Blödsinn? Nun ja, weil es stimmte. Er hatte sich in Henry verliebt.

Scheiße!

Henry, der in ein paar Tagen weg sein würde. Vielleicht schon heute, was wusste er denn? Henry, der … Nils ballte die Fäuste, so fest, dass seine Fingernägel sich in seine Handflächen gruben.

Henry, der ihn überall berührt hatte. Echt. Überall.

Es wurde ihm bewusster, sobald er die ersten Ferienhäuser passiert hatte und in die Hauptstraße einbog. Die Fachwerkhäuser warfen ihre Schatten auf ihn. Heute kamen sie ihm bedrohlich vor, wie Bergmassive, die die Sonne daran hinderten, zu ihm vorzudringen.

Und die Leute. Überall auf der Straße waren Menschen. Augen, die sich auf ihn richteten. Touristen, die endlich wieder einkaufen konnten. Ladenbesitzer und Hausbesitzer, die Schnee schippten. Weiße Hügel türmten sich neben der Straße auf.

»Nils!« Benno winkte ihm zu. Sein roter Afro schaute auf beiden Seiten seiner selbstgestrickten Mütze heraus, was ihm das Aussehen eines Clowns verlieh. Nils winkte zurück und versuchte, normal zu schauen.

Oh Mann … Ihm war schlecht. Wenn Benno wüsste, dass … Sein Magen drohte, sich umzustülpen. Wenn diese Leute hier - Frau Derner, die ihn freundlich grüßte, der Apotheker, der ihm einen hochnäsigen Blick zuwarf - wüssten, wo Henry seine Finger gehabt hatte … Nils verkroch sich in seiner Skijacke. Aber natürlich erkannten sie ihn.

Mos Mutter streute großzügig Salz vor ihrer Haustür, als er versuchte, vorbeizuhuschen.

»Nils!« Sie strahlte ihn an. Ihre Apfelbäckchen glänzten mit den Kupferhaaren um die Wette. »Wo hast du denn überwintert? Hab gehört, du warst oben?«

Nils hätte sich fast verschluckt. Er nickte zaghaft.

»Ist nicht wahr.« Interessiert sah sie ihn an. »Ausgerechnet du. Mit deinem Hass auf alles überm Goldäquator.« Der Goldäquator war die Querstraße, die Ebernau in »oben« und »unten« teilte. Eigentlich hieß sie Gollnertorgasse.

»Na ja …« Nils hob unbestimmt die Hände. »War halt so.«

»Und, wie kam’s?«

»Ich … hab da ’nen Skischüler. Brauchte ’nen Ferienjob, weißt du?«

»Ach ja, Mo hat davon erzählt.« Sie schüttelte den Kopf. »Der ist ein Riesenfan von diesem Henry. Warum auch immer.«

Ich doch auch, dachte Nils.

»Weiß auch nicht, warum«, sagte er. »Der Kerl ist so ein Schnösel.« Sofort hatte er ein schlechtes Gewissen. »Aber in Ordnung ist der schon. Hat immer pünktlich gezahlt und zugehört, wenn ich ihm was erklärt hab.«

»Also habt ihr euch gut verstanden, die Tage?«

Nils hatte das Gefühl, zu verbrennen. Sie … Das musste man ihm doch ansehen, oder? Sein Gesicht brannte, das Herz hämmerte und er konnte nur beten, dass man nicht sah, was sich vorne in seiner Skihose abspielte.

»Geht so. Ganz okay«, brummte er.

»Ach schön … Wirst du rot, Junge?«

»Was, ich?« Mist, Mist, Mist, er war doch ein viel zu schlechter Lügner. »Kann sein. Ich hab … mich ’n bisschen erkältet.«

»Ach, Junge.« Sie sah ihn mitleidig an. »Dann mal schnell nach Hause mit dir, was?«

»Ja. Bis … bis bald!«

»Grüß deine Mutter!«

»Mach ich.«

So schnell er konnte, hastete er die Straße entlang. Nicht schnell genug. So viele Leute grüßten ihn. Wollten wissen, wie er den Sturm überstanden hatte. Er versuchte, mit Gegenfragen abzulenken, aber er war nicht sicher, ob er es schaffte.

Genau dafür liebte und hasste er Ebernau. Alle interessierten sich. Für alles. Was gut war, wenn man zum Beispiel im Bad gestürzt war und sich nicht aus eigener Kraft zum Telefon schleppen konnte. Wie Herr Grozberger im letzten Jahr. Es hatte drei Stunden gedauert, dann hatte die Familie nebenan gemerkt, dass er nicht wie jeden Tag auf den Balkon getreten war, um eine zu rauchen. Sie hatten geklopft und als keiner aufgemacht hatte, sofort die Polizei gerufen. Er fragte sich, wie lange man in Köln verletzt im Bad liegen konnte, bis einen einer fand. Tage vermutlich. Vielleicht, bis …

Er seufzte. Wenn man, wie er, eine schwule Affäre verbergen wollte, war dieses Interesse leider tödlich. Wenn man sich Hals über Kopf verliebt hatte und niemand etwas merken durfte.

Das schiefe Haus am Ende der Straße erschien ihm wie ein rettender Hafen.

»Nilsi!« Seine Mutter schloss die Arme um ihn, kaum, dass er den Flur betreten hatte. Fest. »Geht’s dir gut? Hast du genug zu essen gekriegt? Ach Mensch …«

»Klar geht’s mir gut«, murmelte er. »Ist nicht so, als wäre ich noch nie zwei Tage weg gewesen.«

»Aber doch nur einmal! Als du im Landschulheim warst.« Sie drückte ihn nur noch fester. Ihre Haare rochen nach Kamillenshampoo. Wie immer. Nils seufzte und legte die Arme um sie.

»Nils!«

Plötzlich waren auch Shirley und Josh da und er wurde von drei Seiten umklammert. Fast befürchtete er, er würde gleich in Tränen ausbrechen. Zum Glück steckte Marc seinen Kopf in den Flur und verzog das Gesicht.

»Mann, seid ihr peinlich«, sagte er.

»Hast du dich von deinem Kater erholt?«, fragte Nils.

Marcs Miene wurde noch finsterer.

»Klar, bin doch kein Baby …«

»Aber von deinem Hausarrest erholst du dich nie mehr. Nie. Mehr.« Oh, seine Mutter war immer noch sauer. Marc hätte ihm beinahe leidgetan. Zwei Tage mit einer wütenden Mutter und Nils wäre freiwillig hinaus in den Sturm geflüchtet.

»Was hast du gekriegt?«, fragte Nils, als sie in die Küche gingen. Marc zuckte missmutig mit den Achseln.

»Zwei Monate.« Josh grinste breit.

»Klappe, Zwerg«, schnappte Marc.

»Und er musste die ganze Küche schrubben«, sagte Shirley, wie immer auf der Seite ihres Zwillingsbruders.

»Total übertrieben«, brummte Marc. Aber nicht so laut, dass seine Mutter es hätte hören können.

»Und, habt ihr euch vertragen?«, fragte seine Mutter Nils. »Joshi, setzt du mal Teewasser auf? Nils muss mir alles erzählen. Was habt ihr gemacht? Ging der Fernseher? Unserer war hinüber, aber die Schüsseln oben haben besseren Empfang, oder?«

Nils' Hals schnürte sich zu. Nein. Nicht auch noch sie.

»Ja, wir haben meistens ferngesehen«, behauptete er.

»Was denn? Was schaut dieser Henry? Oder durftest du aussuchen?«

»Äh, der schaut …« Denk!, brüllte er sein Gehirn an. Denk! »Äh, Kochduell.«

»Was, echt?« Seine Mutter schaute verwirrt.

Er konnte das nicht. Er war der schlechteste Lügner der Welt und seine Mutter würde was merken. Schon sah er, wie sie den Kopf leicht neigte. Wie ihre Augen sich auf ihn richteten wie ein Zehntausend-Watt-Lügendetektor.

»Sag mal, suchen die wieder Leute, die den Marktplatz freischaufeln?«, fragte er. »Beim letzten Sturm war das doch so, oder?«

»Ja, bestimmt«, sagte seine Mutter. Oh nein. Auch seine Geschwister schauten ihn leicht verwirrt an. Ahnten die was? Nils schluckte.

»Ich denk, ich geh helfen. Hab gestern ja nur rumgelegen, da kann ich auch was tun. Und … sie schenken allen Helfern einen Brezelkorb, oder?«

»Schon … Na, wenn du willst. Aber sobald du zurückkommst, reden wir, Nilsi.« Sie zwinkerte ihm zu. »Ich will doch wissen, ob das Chalet noch so aussieht wie zu meiner Zeit.«

»Was? Wann warst du …«

»Na, damals.« Sie grinste breit. »Könnte sein, dass du in dem Haus gezeugt worden bist.«

»Mama! Erzähl doch sowas nicht!«

Marc und Josh machten laute Würgegeräusche. Nils machte, dass er rauskam. Das wurde ja immer schlimmer. Wenn er sich jetzt noch Geschichten über seinen Erzeuger anhören musste …

Er hatte es echt vergessen. Zwei Nächte lang hatte er … zumindest ignoriert, wie die da oben waren. Wo er selbst herkam.

Na ja, überlegte er. Beim Schnee schippen kann ich mir eine plausible Geschichte ausdenken. Und runterkommen. Und Henry … der ist bestimmt schon am Packen. Und wenn er verschwunden ist, gibt es keinen Beweis mehr dafür, wie blöd ich bin.

Er spürte ein Loch in seiner Brust, wenn er an Henry dachte. Ein blutendes, mit ausgefransten Ecken. Den ganzen Weg zum Marktplatz über.

 

23. Geschenke

 

Henriks Herz klopfte bis zum Hals. Er hatte ein Taxi nehmen müssen, weil er zu voll beladen gewesen war, um zu laufen. Frostgeruch schlug ihm entgegen, sobald er die Tür öffnete. Kalte Luft umhüllte sein Gesicht. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, vor Nils' Haus den Schnee beiseite zu räumen, und das frische Weiß ließ die Straße weniger schäbig erscheinen als sonst.

Aber vielleicht sah er auch alles durch eine rosarote Brille. Wildes Glück rotierte in ihm, gepaart mit Nervosität. Er war sicher, dass Nils es ernst gemeint hatte, nur … Konnte der seine Vorurteile überwinden? Würde er den Antrag von einem von oben annehmen? He, Antrag. Das klang, als ob … Henrik atmete tief durch.

Nicht zu voreilig sein, dachte er. Alle haben gesagt, dass ich zu unbesonnen bin. Damals. Dass ich immer zehn Schritte zu weit bin.

Er bezahlte den Taxifahrer, schleppte die riesigen Tüten den Weg hinauf und klingelte. Nils, dachte er.

Gleich würde das wunderbare, kantige Gesicht erscheinen, und … durfte er ihn gleich küssen oder wäre es besser, erst zu reden?

»Ni…« begann er, als die Tür sich mit einem erbärmlichen Quietschen öffnete. Aber es war nicht Nils. Joshs Lausbubengesicht schaute zu Henrik hoch. Abwartend, als wäre Henrik der Letzte, den er erwartet hätte.

»Hallo, Henry«, sagte er. »Nils ist nicht da.«

»Oh.« Mist. Henrik ärgerte sich über sich selbst. Mit der Möglichkeit hatte er nicht mal gerechnet, voreilig, wie er war. Josh schob seinen Kopf aus der Tür und betrachtete das Arsenal an Tüten, das Henrik mit Mühe aufrecht hielt.

»Was ist das?«, fragte er.

»Ach, das.« Henrik hob eine davon. »Kunstbedarf Radler« stand in geschwungenen Lettern darauf. »Die sind für euch.«

»Was, für uns?« Joshs Augen wurden groß. »Wieso?«

»Ich wollte mich bedanken. Weil Nils mir geholfen hat. Er hat mich vor dem Schneesturm gerettet, weißt du?«

Josh nickte ernsthaft, den Blick nie von der »Kunstbedarf Radler«-Tüte lassend.

»Ja, Marc meinte, er ist einfach losgelaufen. Er war schneller als die Bergwacht.« Stolz schwang in seiner Stimme mit. Stolz, den Henrik gut verstehen konnte. »Und deshalb schenkst du uns was?«

»Nils hat so viel von euch erzählt, als wir eingeschneit waren. Dass du malst, zum Beispiel. Also war ich in diesem Laden und …«

»Wer ist es?«, erklang die Stimme von Nils' Mutter aus der Küche. »Macht die Tür zu, es wird kalt!«

»Es ist Henry!«, brüllte Josh zurück. »Er hat Geschenke dabei! Voll viele!!«

»Geschenke?« Ah, das musste Shirley sein.

»Komm rein.« Josh strahlte Henrik an. »Soll ich dir tragen helfen?«

»Ja, bitte.«

Sie waren alle da. Bis auf Nils. Seine Mutter, Marc und Shirley saßen um den Küchentisch herum und schälten Kartoffeln. Alle in gemütlichen abgetragenen Weihnachtspullis. Sie alle schauten auf, als Henrik und Josh hereingewankt kamen.

»Was wird das denn …«, begann seine Mutter, als Marc aufsprang.

»Ist das ein Burton Skeleton Key? Wo hast du das her?«, fragte er und starrte auf das Snowboard. Sonst hatte er auf Henrik eher arrogant gewirkt, aber nun leuchteten seine Augen wie die eines kleinen Jungen. »Kannst du mir das mal leihen?«

»Es ist deins.« Henrik schob es zu ihm rüber, froh, die Last los zu sein.

»Was?« Marc blinzelte, aber seine Hände schlossen sich um das gigantische Board, als wollten sie es nie mehr loslassen. Beinahe hätte die Spitze die Küchenlampe erwischt.

»Das ist für Sie.« Henrik überreichte Nils' Mutter die violetten Skistöcke, von denen Nils erzählt hatte. Eine glänzende Schleife prangte daran. »Die sind bestimmt praktisch, wenn Sie wieder Ski fahren können. Und bis dahin sollten die hier helfen.« Er gab ihr die rot eingepackten extraleichten Krücken.

»Was ist das?«, fragte sie, aber Josh zog an ihrem Pullover.

»Mach auf«, rief er. »Dann bin ich dran!«

»Du kannst dein Geschenk auch gleich haben«, sagte Henrik und überreichte ihm die gigantische »Kunstbedarf Radler«-Tüte. Josh griff sie, ließ sich auf den Boden plumpsen und zog ein Päckchen nach der anderen heraus. Seine Mutter ließ sich ächzend neben ihm nieder, das gebrochene Bein weit von sich gestreckt.

»Danke, Henry«, sagte sie. »Aber …«

»Pack aus!«, rief Josh, der bereits bis zu den Ohren in zerknülltem Papier und Farbtuben steckte. Sein Bruder Marc fuhr an der Kante des Snowboards auf und ab und schenkte ihm so leidenschaftliche Blicke, als wäre es die Erfüllung all seiner Träume. Gut soweit. Schade, dass Nils nicht da war.

Henrik setzte sich neben Shirley, die ihre Familie durch schmutzige Brillengläser betrachtete.

»Das ist für dich.« Er schob ihr die schwer beladene Papiertüte zu, die sie ihm in der Buchhandlung gegeben hatten. »Du hast doch erzählt, dass sie in der Bücherei Band fünf von den Einhornkriegern nicht haben. Ich habe gleich die ganze Reihe gekauft, das sieht im Regal besser aus.«

Shirley sah ihn an. Kniff die Augen zusammen.

»Was hast du vor?«, zischte sie.

»Ich?« Henrik war nicht sicher, wovon sie redete. Shirley warf einen Blick auf die Tüte, rührte sie aber nicht an.

»Du willst dich bei uns einschleimen, aber warum?«

»Das ist … nicht ganz unwahr«, gab er zu. »Dennoch bevorzuge ich den Begriff »einen guten Eindruck machen«.«

»Und wieso willst du das? Einen guten Eindruck machen?« Wieder flackerte ihr Blick zwischen der Büchertüte und ihm hin und her. Die Versuchung war stark, aber sie widerstand. Sie schien Nils von all seinen Geschwistern am ähnlichsten zu sein.

»Ich will …« Er räusperte sich. Seine Wangen wurden heiß. »Äh. Also weißt du, Nils und ich, wir …«

Er hatte keine Ahnung, wie er das erklären sollte. Blöderweise hatte das Rascheln und Juchzen aufgehört, als hätten alle gewittert, dass sich hier etwas Spannendes abspielte.

»Ist irgendetwas passiert, als ihr da oben eingeschneit wart?«, fragte Nils' Mutter und Henriks Gesicht verwandelte sich in einen Hochofen. Er schaffte es nicht, ihr in die Augen zu sehen, schaute stattdessen auf die Krücken in ihren Händen. »Nilsi war so komisch, als er zurückgekommen ist. Habt ihr euch gestritten?«

»Nein, äh, im Gegenteil.« Ach egal. Henrik holte tief Luft. Vor Nils' Familie konnte er ruhig ehrlich sein. In einer Familie ist man immer ehrlich, hörte er seinen eigenen Vater sagen. Da erzählt man sich alles. »Wir … wir lieben uns.«

»Was?«, riefen vier Leute gleichzeitig.

Ihre tellergroßen Augen ließen das ungute Gefühl in ihm erwachen, dass er einen Fehler gemacht hatte. Wussten sie gar nicht … Oh nein.

»Hat er nicht … Mist!«, stammelte er. »Sorry, ich wusste nicht, dass er euch gar nichts gesagt hat. Dass er … Ich dachte, ihr wisst, dass er …«

Sie glotzten ihn an. Seine Mutter, Marc, Josh und Shirley. Oh nein. Das ging sowas von schief.

»Wir hatten keine Ahnung«, sagte seine Mutter langsam. Henrik stöhnte leise.

Zu voreilig, du Idiot, dachte er. Wie immer.

»Äh …« Shirley räusperte sich. »Es stimmt, oder? Du verarschst uns nicht?«

Er wusste nicht, was er sagen sollte. Aber sie sahen es ihm anscheinend an.

»Deshalb war er so seltsam«, murmelte seine Mutter. »Er …«

Henrik sah Joshs geschocktes Gesicht. Marc wirkte … angewidert? Hoffentlich nicht. Mist, so ein …

Im Flur klappte eine Tür.

»Bin wieder da!«, rief Nils.

 

24. Enthüllt

 

»Ne, wir haben es nicht getan«, erzählte Mo und stützte sich auf seinen Besen. »Aber fast.«

Er schien so glücklich darüber, dass seine Augen funkelten wie Sterne.

»Sie hat mir … also …«, begann er, doch da schallte eine Stimme über den ganzen Platz.

»Mo! Mehr arbeiten, weniger quatschen!«

»Mann, wir sind freiwillig hier«, murmelte Mo, setzte sich aber wieder in Bewegung.

Sie waren fast durch. Der Schnee war zu mehreren Hügeln aufgetürmt, die bald abtransportiert werden würden und nun galt es nur noch, mit dem Besen vorzuarbeiten, bis das Streusalz ankam.

Das Kopfsteinpflaster hob sich dunkel von den weißen Massen ab und die Mittagssonnen tauchte das Rathaus in goldenes Licht. Nils' Muskeln brannten, aber er fühlte sich besser. Fast hatte er bereits verdrängt, was geschehen war. Und er hatte Frau Gerstner über das Fernsehprogramm der vergangenen Tage ausgefragt. Ihre Schüssel hatte glücklicherweise während des Sturms funktioniert. Er würde einem Kreuzverhör seiner Mutter standhalten. Er würde sich nicht verraten.

Neben ihm erzählte Mo die Details seiner Affäre. Wo sie ihn berührt hatte und wie. Nils musste das gar nicht so genau wissen, aber Mo schien so glücklich, dass er ihn nicht aufhalten wollte. Auch wenn vieles davon ihn schmerzlich an die letzten Tage erinnerte.

»Weißt du, ob Henry schon weg ist?«, fragte er Mo, als der eine kurze Pause machte. »Wann wollte er denn abreisen?«

»Henry? Keine Ahnung.« Mo brüllte: »Ist Henry schon weg?« zu Daniel hinüber, der weiter entfernt eine Straßenlaterne mit seinem Besen bearbeitete. Schnee rieselte auf seine dicke Wollmütze.

»Ne, der ist noch da«, rief er. »Hab ihn vorhin auf der Hauptstraße gesehen.«

Oh. Na gut. Nils wusste nicht, ob er sich freuen sollte, oder … Eigentlich drängte alles in ihm darauf, zum Chalet hochzustapfen, andererseits … konnte er Henry nie wieder in die Augen sehen. Nie wieder. Er seufzte.

»So, also«, sagte er, um sich abzulenken. »Seht ihr euch wieder? Du und Noella-Sophie?«

»Was? Nein.« Mo kratzte seine rotgefrorene Nase. »Die ist heute Morgen gefahren, sobald sie die Straßen halb geräumt hatten. Die von oben hauen nach Silvester doch immer ab.«

»Vielleicht wäre sie geblieben, wenn du sie darum gebeten hättest?«, fragte Nils. Sein Magen zog sich zusammen, während er auf Mos Antwort wartete.

»Ne.« Mo schüttelte den Kopf. »Die doch nicht. Die ist zurück zu ihrem Internat mit Reitstunden und Bogenschießen und so. Warum sollte die hierbleiben wollen? Nur weil ich … Na, ich war bestimmt nicht schlecht, aber du weißt schon.«

Er schien es einfach zu akzeptieren. Nicht mal unglücklich darüber zu sein. Irgendwie verkraftete er das alles besser als Nils. Der fühlte sich, als würde er gleichzeitig in fünf Richtungen gerissen, ohne, dass er sich wehren konnte.

 

Kurz darauf war der Rathausplatz fertig und sie bekamen ihre Brezelkörbe. Nils lief ein Stück mit Mo, so wie fast jeden Tag, wenn sie Schule hatten. Dann bog Mo rechts ab und er ging weiter. Nach Hause.

Gut, sagte er sich. Unauffällig sein. Wir haben Angriff der Hybrid-Haie geschaut und Dings … Werhamster gegen Killerkaninchen.

Frau Gerstner hatte einen interessanten Filmgeschmack.

Er atmete dreimal tief durch, bevor er die Tür aufschloss. Dann betrat er den Flur und schlüpfte aus seinen Schuhen.

»Bin wieder daheim!«, rief er.

Stille. Warum? Er spürte, dass sie da waren. Ein Stuhl knarrte. Etwas raschelte. Papier?

Fast fürchtete er sich davor, vom Flur in die Küche abzubiegen, obwohl das total bescheuert war. Als ob da ein Killerkaninchen lauern würde oder so. Er ballte die Fäuste um den Korb und machte die letzten Schritte über die kalten Holzdielen. Betrat die Küche.

Ja, sie waren da. Alle.

Mama, Marc, Josh, Shirley und … Henry, der in dem dunklen Hemd einfach fantastisch aussah, aber auf keinen Fall hierher gehörte. Und sie glotzten ihn an, entsetzt, in der Bewegung erstarrt. Sein Magen stürzte ab. Was …

»Es tut mir leid«, begann Henry, aber Marc fiel ihm ins Wort.

»Du bist schwul?!« Er schaute Nils an, als wäre er fünf und hätte gerade den Glauben an den Weihnachtsmann verloren. »Alter, das … Sag, dass das nicht wahr ist! Weißt du, was meine Freunde sagen werden, wenn das rauskommt?«

»Marc!« Seine Mutter sah seinen Bruder vorwurfsvoll an. Der Boden unter Nils' Füßen rutschte weg. Er strauchelte. Stürzte vorwärts, fing sich wieder.

Nein!

Eine eiskalte Faust rammte seinen Bauch. Versteinerte ihn. Nein, sie … wussten Bescheid. Wer …

Natürlich. Henry.

Der ihn so schuldbewusst anschaute, als hätte er sich am liebsten wieder von der schwarzen Piste gestürzt.

»Es tut mir echt leid«, flüsterte er. »Ich wusste nicht …«

Mit einem Mal sah Nils nur noch Henry. Diesen Mistkerl. Diesen Verräter.

»Wir hatten eine Abmachung!«, brüllte er.

Henry zuckte zusammen. Die anderen ebenfalls, aber die waren egal, nur dieser Verräter, dieser verdammte Verräter … Mit drei Schritten war er bei Henry und hatte seinen Oberarm gepackt. Am liebsten hätte er ihm eine gescheuert. Oder ihn geküsst. Aber …

So wütend, dass in seinen Augen roter Nebel wirbelte, zerrte er Henry hinter sich her. Durch den Flur. Er öffnete die Haustür und stieß Henry hindurch. In die Kälte, über das eisige Pflaster.

»Raus!« Nils' Stimme ließ die Wände wackeln. »Hau ab!!«

»Aber …«

Verdammt, Henry sah so verzweifelt aus, dass Nils' ganze Brust sich zusammenkrampfte. So traurig mit seinen kaffeedunklen großen Augen und seinen Füßen, die noch in Pantoffeln steckten. Nils drehte sich um, hob Henrys Schuhe auf und schleuderte sie vor seine Füße.

»Und komm bloß nicht wieder!«, brüllte er und schmetterte die Tür ins Schloss. Nein. Scheiße, nein. Er … Sie wussten es. Was hatte Henry erzählt? Warum, verdammt?

Warum schon? Er war von oben und konnte man denen trauen? Nein. Denen war scheißegal, was sie hier unten anrichteten. Das wusste er seit seiner Geburt. Wie hatte er so blöd sein können?

Und jetzt musste er seiner verdammten Familie entgegentreten. Irgendwie. Er holte tief Luft.

Mit geballten Fäusten stapfte er in die Küche. Sie schauten ihn immer noch an, als hätte er sich vor ihren Augen in einen Elch verwandelt.

»Was?«, motzte er. Wo kamen eigentlich diese Berge an Geschenkpapier her? Und … war das ein Burton Skeleton Key in Marcs Händen?

Seine Mutter schien etwas sagen zu wollen, aber ihr Mund verharrte halbgeöffnet.

»Wo kommt der ganze Scheiß her?«, fragte Nils.

»Das ist kein Scheiß«, sagte Josh. »Das sind Geschenke. Von Henry.«

»Was?« Warum brachte der Mistkerl Geschenke in sein Haus? »Wieso?«

»Weil du ihn gerettet hast«, sagte Shirley. Sie schien verstimmt. »Das da ist für dich.«

Sie deutete auf eine grüne Tüte auf dem Boden. Sport Meurer stand darauf. Das teuerste Sportgeschäft von Ebernau. Natürlich. Was … Nein. Nicht denken. Wütend sein. Das war gerade alles, was er konnte.

Er versetzte der Tüte einen Tritt, dass sie durch die halbe Küche flog. Dann stürmte er die Treppe hinauf. Trampelte über die Stufen, als wären sie Henrys Gesicht. Nein, eigentlich wollte er Henry nicht ins Gesicht treten, nur … Warum hatte er das getan? Er hatte … Ja, er hatte ihm wirklich vertraut. Dummerweise.

Nils warf die Tür hinter sich zu und fiel der Länge nach auf sein Bett. Nahm das Kissen und presste es auf seine Ohren. Nichts hören, nichts sehen, nichts … riechen vermutlich. Hoffentlich ließen sie ihn in Ruhe. Hoffentlich …

Es war ruhig. Niemand kam die Treppe herauf. Sein Atem ging langsam gleichmäßiger. Der Kloß in seinem Hals erstickte ihn fast und er hätte so gern geheult. Vielleicht wäre er so dieses Gefühl losgeworden. Dieses Gefühl, als würde er gleich platzen vor Schmerz. Dieses Gefühl, als hätte er einen furchtbaren Fehler gemacht.

 

25. Planänderung

 

»Henry, du Idiot«, sagte Henrik laut. »Du blöder … Vollidiot.«

Die Haustür vor seiner Nase bewegte sich nicht. Immer noch geschlossen. Seit Nils sie zugeschmettert hatte. Henrik wollte seinen Kopf dagegen hauen, so wütend war er auf sich. Aber … Nun, es ging ihm besser. Die Lust auf Selbstzerstörung war verschwunden. Unter anderen, weil Nils sich um ihn gekümmert hatte. Nils, den er vor seiner ganzen Familie geoutet hatte, ohne es zu wissen.

»Scheiße.« Henrik versuchte noch ein paar andere Flüche, aber keiner war der Situation angemessen. »Scheiße« traf es noch am besten.

Und jetzt? Er musste sich bei Nils entschuldigen. Sich richtig entschuldigen, weil er mal wieder viel zu vorschnell gehandelt hatte. Und so blöd, so verdammt blöd. Warum hatte er ihn nicht mal gefragt, ob seine Familie Bescheid wusste? Die würden … ihn nicht irgendwie anders behandeln, nun, da sie es wussten, oder? Marc hatte echt entsetzt gewirkt.

Henrik schluckte. Hatte er Nils etwa ins Unglück gestürzt? Aber …

Wütend auf sich selbst merkte er, dass er … hungrig war. Wie konnte er hungrig sein, nachdem er es sich gerade mit dem Kerl, den er liebte, verscherzt hatte? Ob Nils … Man hörte nicht einfach auf, jemanden zu lieben, nur weil der sich so idiotisch verhielt wie er eben, oder? Vor allem nicht Nils, der … der wirkte einfach nicht so wankelmütig. Wobei Henrik von vornherein schlechte Chancen gehabt hatte, mit seiner Herkunft. Von »oben«. So ein Blödsinn. Dabei war Nils selbst zur Hälfte »von oben«. Wenn sein Vater nur nicht …

Er legte den Kopf schief. Sah auf die schäbige Tür vor seiner Nase. Was war mit dem Kerl eigentlich? Offensichtlich hatte er die Familie im Stich gelassen und so, wie die Bude aussah, bekamen sie auch kein Geld von ihm. Dabei war er doch einer von oben, ergo reich. Hm. Eine Idee erwachte in seinem Schädel. Eine sehr schwammige, weil er viel zu wenig Informationen hatte. Aber er wusste, wo er die herbekommen konnte.

 

Marie sah auf, als er hereinkam. Das Restaurant war fast leer. Nur in einer Ecke saßen zwei ältere Männer und unterhielten sich.

»Hallo, Henry.« Sie nickte ihm zu, lächelte aber nicht. Marie lächelte nie. Trotzdem schaffte sie es, dass man sich willkommen fühlte.

»Hallo, Marie. Nicht viel los heute.«

»Sie überprüfen die Pisten noch.« Sie deutete aus dem Fenster. »Bis der Skibetrieb wieder aufgenommen wird und der Lift wieder läuft, ist es hier leer.«

»Oh, das ist ärgerlich.«

Sie zuckte mit den Achseln.

»Die Pause tut mir ganz gut. Wo möchtest du sitzen?«

Kurz überlegte er, den kuscheligen Platz hinten zu nehmen, an dem er mit Nils gesessen hatte. Aber das hätte ihn traurig gemacht. Und er musste den Kopf frei haben. Er musste seinen Patzer von heute wiedergutmachen. Und vielleicht konnte Marie ihm helfen.

Er hielt sie auf, als sie ihm die Speisekarte brachte.

»Marie, ich habe eine Frage.«

»Geht es um Nils?« Ihr gepflegtes Gesicht blieb unbewegt.

»Äh, ja.« Er räusperte sich. »Woher weißt du das?«

Sie sah ihn mit einem wissenden Blick an. Nein, wissend war noch untertrieben. Konnte es sein, dass Marie, Restaurantchefin und Chaletbesitzerin, allwissend war?

»Es geht dir immer um Nils, oder?«

Er spürte die Röte, die seine Wangen hochkroch. Und die Wärme, die sich in seinem Magen ausbreitete, sobald er Nils' Namen hörte. Er lächelte.

»Ja, tut es wohl. Aber … Also er hat mir viel erzählt. Unter anderem von seinem Vater.«

Bildete er sich das ein oder huschte ein wütender Ausdruck über Maries Gesicht?

»Was hat er gesagt?«, fragte sie. Als wollte sie ihn testen. Sie hatte ihm nichts erzählen wollen, das Nils ihm nicht freiwillig anvertraute.

»Dass er einer von oben war. Und dass er abgehauen ist und … Nun, er scheint ein ziemliches Arschloch zu sein.«

»Das ist noch untertrieben.« Ihre Stimme war kühler als sonst. »Der Mistkerl hat sie sitzengelassen. Hat den Kontakt abgebrochen, sobald er gehört hat, dass der Kleine unterwegs war.«

»Ja, nur …« Henrik überlegte, wie er das am besten ausdrücken sollte. »Haben sie gar keinen Kontakt? Ich habe gesehen, wie sie wohnen, und … bekommt seine Mutter keine Alimente? Für keins der Kinder?«

Marie seufzte.

»Das weiß ich leider nicht. Was seine Mutter treibt, interessiert mich nicht.«

»Doch, du weißt es.« Henrik durchbohrte sie mit seinem Blick. Und Marie hob eine Augenbraue.

»Gut, angenommen, ich weiß es. Angenommen, sein Vater ist abgehauen, ohne eine Spur zu hinterlassen und sie hat ihn nie gefunden. Was würdest du mit dieser Information anfangen?«

Sein Vater war …

»Na, ihn finden!« Henrik sprang auf. Ein Plan formte sich in seinem Kopf, rasend schnell. Ein Plan, wie er alles wiedergutmachen konnte. Vielleicht. »Was weißt du über ihn? Wie sah er aus? Du warst damals dabei, oder?«

Marie betrachtete ihn lange. Als würde sie abwägen, ob man ihm trauen konnte. Er schien die Prüfung, worin auch immer sie bestand, zu bestehen.

»Nils wird das nicht gern hören, aber«, sie seufzte, »er sieht genau aus wie sein Vater. Ich habe irgendwo ein Fotoalbum aus der Zeit herumliegen. Er hat damals bei meinem Schwiegervater gebucht, aber ich fürchte, die alten Gästebücher sind längst durch den Schredder gewandert.«

»Wo ist das Album?«

»Oben, im Büro« Sie machte eine unbestimmte Geste hinter sich. »Wenn du willst, bring ich dir das Essen da rauf.«

»Du bist die Beste!« Er strahlte. Marie verzog keine Miene.

»Ich weiß.«

 

Das Büro war ein kleiner Raum, eine richtige Höhle. Zu beiden Seiten türmten sich Regale voll mit Aktenordnern, Büchern und Schubladen, die aussahen, als würden sie unter der Last gleich zusammenbrechen. Ein Junge, etwa 14, saß an dem Schreibtisch, der vor dem mit Schnitzereien verzierten Fensterrahmen stand. Er schaute ängstlich auf, als sie hereinkamen. Erst dachte Henrik, er hätte etwas Verbotenes angesehen, aber auf dem Bildschirm erkannte er nur zwei Excel-Tabellen.

»Das ist mein Sohn. Florian.« Marie nickte ihm zu und er hob schüchtern eine Hand. »Kannst du Henry helfen? Er sucht Informationen über jemanden.«

»Ja«, murmelte der Junge. Er wirkte ganz anders als Marie, die stets gelassenes Selbstbewusstsein ausstrahlte. Henrik schenkte ihm sein freundlichstes Lächeln.

»Das wäre super. Vielen Dank, Florian.«

»Ja«, wiederholte der Junge und sah zu Boden. Marie seufzte leise und verließ sie.

Florian war nicht besonders gesprächig, aber er wusste, wo alles war. Er kramte sogar eine alte Festplatte heraus, auf der vielleicht Informationen zu finden waren. Henrik setzte sich derweil auf den Boden und blätterte die Fotoalben durch.

Staub hatte sich oben abgesetzt, der durch die Luft wirbelte, als er darauf pustete. Er sah Skitouristen, Leute von oben und unten. So wie jetzt war immer klar, wer wohin gehörte. Nur, dass ihre Outfits aus heutiger Sicht verdammt lustig waren. Da …

Er legte den Kopf schief.

Da war ein Foto von Marie und Nils' Mutter. Vor einem Skilift. Im Hintergrund konnte man die Bergketten erahnen. Arm in Arm strahlten sie in die Kamera. Na ja, Nils' Mutter strahlte. Marie lächelte immerhin. Sie waren, trotz der seltsamen Klamotten, ein wunderschöner Anblick. Ein stürmischer Rotschopf und eine kühle Dunkelhaarige. Sie mussten unzählige Herzen gebrochen haben. Eigenartig, er hatte nicht das Gefühl, dass die beiden sich heute noch gut verstanden. Aber damals …

Er blätterte um und da stand er.

Nils. Verdammt. Natürlich war es nicht Nils, sondern sein Vater. Ein gutaussehender Wikinger mit hell gebleichten Haarspitzen, einem Kinnbärtchen und einem selbstsicheren Lächeln. Es musste ein Partyfoto sein. Im Hintergrund sah Henrik tanzende Leute mit Bierflaschen in den Händen. Rauch vernebelte die dunklen Deckenbalken und … die in die Wand eingelassene Treppe. Das war sein Chalet! Beziehungsweise das, was er gemietet hatte.

Und da war wieder Nils' Mutter. Sie lachte in die Kamera, mit blitzenden Limettenaugen. Die Arme hatte sie fest um den blonden Wikinger geschlungen. Bei näherer Betrachtung sah Henrik Unterschiede zwischen Nils und seinem Vater. Soweit er das erkennen konnte, hatte der Kerl blaugraue Augen. Seine Nase war ein wenig schmaler. Und er strahlte eine Selbstsicherheit und Arroganz aus, die mit Nils' Pflichtbewusstsein und Fürsorglichkeit und überhaupt allem, was ihn so charmant machte, nichts gemeinsam hatte.

Nein, eigentlich … waren sie sich nicht sehr ähnlich, das erkannte man bereits auf den zweiten Blick. Aber äußerlich gab es keine Zweifel an seiner Vaterschaft. Der Kerl würde zahlen müssen. Wenn ein Richter auch nur einen Blick auf ihn und Nils warf, würde Nils' Mutter ein unerwarteter Geldsegen ins Haus stehen.

Wenn er ihn fand.

»Äh.« Florians Stimme ließ Henrik hochfahren. »Also, der Name, unter dem das Chalet damals gebucht wurde, ist »Walther Großmann«. Das ist nicht der, den du suchst, aber vielleicht kann man den finden. Er hat bar gezahlt, a-aber sie müssen ihre Personalausweise vorzeigen, also stimmt der Name.«

»Fantastisch!« Henrik sprang auf. Sein ganzer Körper jaulte. Wie lange hatte er hier gesessen und Alben durchgeblättert? Und hatte Marie ihm nicht eigentlich etwas zu essen bringen wollen?

Er sah die Daten von diesem Walther Großmann durch und freute sich gleich noch mehr. Wenn die Angaben stimmten, hatte der zumindest damals in München gewohnt. Genau wie er.

Sein Magen stieß ein ohrenbetäubendes Knurren aus.

»Ich schau mal eben, was deine Mutter macht.«

»Okay«, murmelte Florian, ohne aufzusehen.

»Vielen Dank für deine Hilfe.«

Florian antwortete nicht. Aber Henrik sah ein schwaches Lächeln durch sein Gesicht huschen.

Er verließ das Büro und zog, einer spontanen Eingebung folgend, das Handy aus der Tasche. Wolfram ging beim dritten Klingeln ran.

»Henrik.« Er klang verstimmt. Und verschnupft, wie üblich.

»Wolfram! Ich habe eine Frage. Zu psychologischen Dingen. Wenn …«

»Bevor ich sie beantworte … falls ich es überhaupt kann, musst du mir eins versprechen.«

»Klar, was denn?«

»Dass du diesmal nicht auflegst.«

»Oh. Gut. Mach ich … Äh, nicht. Also, was ich fragen wollte … Wenn man ein Trauma hat, weil der Vater einen verlassen hat und der war ein reicher Tourist und man sich deshalb auf keine Beziehung mit jemandem einlassen kann, der auch ein reicher Tourist ist …«

»Ja?« Offenbar war das nicht die Art Frage, mit der Wolfram gerechnet hatte.

»Meinst du, es würde einem guttun, seinen Vater kennenzulernen? Oder würde es einen … Würde man reiche Touristen nur noch mehr hassen?«

Wolfram schwieg. Räusperte sich. Es kam Henrik vor, als würden Minuten vergehen, ehe die nasale Stimme wieder erklang.

»Das … hängt ganz von dem jeweiligen Menschen ab. Je nach Persönlichkeit könnte man sich mit der Vergangenheit aussöhnen. Oder es könnte das, was du Trauma nennst, noch verstärken.«

»Ah. Und woher weiß man, was passieren wird?«

»Das weiß man nicht, Henrik.«

»Oh.«

Was nun? Würde es Nils helfen, wenn er seinen Vater fand? Oder würde er die Leute von oben nur noch mehr verachten? Würde er Henrik nur weiter von sich weg stoßen? Sein Herz wimmerte, wenn er an diese Möglichkeit dachte. Aber … Nun in jedem Fall konnte Familie Winter Geld gebrauchen. Da musste er notfalls zurückstecken, wenn das hieße, dass es Nils wenigstens finanziell besser ginge.

»Henrik?«

»Ja?«

»Du klingst verändert.«

»Ich bin verändert.« Henrik fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. »Ich habe … Ich habe akzeptiert, dass sie tot sind. So, wie du gesagt hast. Man muss die Gefühle … fühlen.«

Er räusperte sich. Schmerz drängte seine Kehle hoch. Er spürte Tränen in seinen Augenwinkeln. Aber diesmal versiegten sie, ohne dass er auch nur einmal schluchzte.

»Hm-hm. Es geht dir also besser.«

»Viel besser. Doch, ich glaube, ich werde klarkommen.«

»Das ist gut, Henrik. Sehr gut.« Wolfram klang richtig sanft. »Melde dich, wenn du wieder in München bist, ja?«

»Mach ich. Bis dann, Wolfram.«

»Mach's gut, Henrik.«

Er stieg die Treppe zum Restaurant hinunter. Und hörte die Stimme. Seine Schritte verharrten. Vorsichtig lugte er um die Ecke.

Mist.

Onkel Falk stand an der Theke und sprach mit Marie. Oder redete auf sie ein. Er war imposant wie immer, mit seinen fast zwei Metern, dem strengen Gesicht und der dröhnenden Stimme.

»Ich denke, Sie verstehen nicht, warum wir hier sind. Der Junge ist schwer traumatisiert. Wenn Sie uns nicht sagen, wo er ist, ist es durchaus möglich, dass er sich etwas antut. Und falls Sie etwas über seinen Aufenthaltsort wissen und ihn uns nicht verraten, machen Sie sich mitschuldig. Dann sehen wir uns vor Gericht wieder.«

Marie verschränkte die Hände vor der Brust und verdrehte die Augen. Hm. Wer war eigentlich die kleine Frau neben Onkel Falk? Die mit dem runzligen Gesicht, den weißen Haaren und der offensichtlich selbstgestrickten Wollmütze?

»Und ich habe gefragt, wer Sie sind und was Sie mit ihm vorhaben«, sagte Marie. »Und Sie haben nicht geantwortet.«

Onkel Falk warf sich in die Brust. Die kleine Weißhaarige gähnte.

»Ich bin sein Onkel! Ich hole ihn selbstverständlich heim! Nach Hause, wo er hingehört.«

»Und wer sind Sie?«, fragte Marie die Alte. »Seine Oma?«

»Natürlich nicht«, schnauzte Onkel Falk. »Sieht sie etwa so aus? Das ist die Privatdetektivin, die ich beauftragt habe, um ihn zu finden.«

»Was ich auch getan habe«, brummte die Alte. »Innerhalb von drei Tagen. Denken Sie dran, mir den Bonus zu überweisen.«

»Sie sind Privatdetektivin?«, rief Henrik. Alle drei fuhren zu ihm herum, als er ins Restaurant stürmte. »Fantastisch! Wie haben Sie mich gefunden?«

»Henrik!«, brüllte Onkel Falk. »Was zur Hölle hast du dir dabei gedacht, einfach abzuhauen?«

»Hallo, Onkel Falk!« Henrik schlüpfte an ihm vorbei und auf die Alte zu. »Ich habe einen Auftrag für Sie! Sie müssen einen Kerl finden, der …«

»Junge!« Eine schwere Pranke landete auf Henriks Schulter. Mist. Aber die Äuglein der Detektivin funkelten interessiert.

»Und wen soll ich finden, Kleiner?«, nuschelte sie zwischen einem Kaugummi hervor.

»Einen Kerl, der vor neunzehn Jahren hier Urlaub gemacht hat. Ich habe ein Foto und die Adresse von seinem Kumpel …«

»Junge!« Onkel Falk riss ihn herum. Sein Gesicht war rot vor Wut. »Antworte … Nein, komm einfach mit. Mit dir kann man ja eh nicht reden.«

»Doch, kann man.« Henrik sah ihm fest in die Augen. »Es tut mir leid, dass du dir Sorgen um mich gemacht hast. Ich habe Wolfram gesagt, dass er dir ausrichten soll, dass es mir gut geht …« Er überlegte, dann drehte er sich zu der Privatdetektivin um. »Haben Sie mich so gefunden? Über Wolfram? Haben Sie sein Telefon angezapft?«

Sie zuckte mit den Achseln und kaute weiter.

»Henrik …«, knurrte Onkel Falk. Henrik schluckte. »Onkel Falk.« Er versuchte, erwachsen und vertrauenswürdig auszusehen. »Wenn ich ihr das Foto und die Adresse zeigen darf, komme ich mit. Ohne Probleme zu machen. Außerdem begleite ich dich auf die Turandot-Premiere und mache einen guten Eindruck auf Papas alte Geschäftspartner. Deshalb bist du hier, oder?«

Onkel Falks Augenbraue hob sich.

»Warum denn sonst, äh … Ich habe mir natürlich vor allem Sorgen um dich gemacht.«

»Natürlich.« Henrik strahlte. »Darf ich sie engagieren?«

Er deutete auf die Alte.

»Ja, meinetwegen. Aber dann kommst du mit.«

Nun, wahrscheinlich hätte er eh nach München zurückgehen müssen. Die Schule fing bald wieder an, und …

Aber Nils war hier.

Henrik seufzte. Erstmal musste er das Richtige tun. Und hoffen, dass Nils ihm verzieh. Dann konnte er weiterschauen.

 

26. Allein

Nils wusste nicht, wie viele Stunden er auf dem Bett gelegen hatte, als er Schritte auf der Treppe hörte. Humpelnde, langsame Schritte.

»Nilsi?« Die Stimme seiner Mutter klang gedämpft durch die Tür.

Hau ab, wollte Nils rufen. Gleichzeitig wünschte er sich nichts mehr, als dass sie hereinkommen und ihn in den Arm nehmen würde. Dass sie ihm versichern würde, dass das alles nur ein böser Traum gewesen war.

»Hm?«, brummte er nach einigem Abwägen.

»Kann ich reinkommen, Nilsi?«

Nein. Lasst mich in Ruhe.

»Okay.« Er zog das Kissen vom Gesicht. Seine Mutter schloss die Tür hinter sich, humpelte über die unebenen Dielen und nahm auf seinem Bett Platz. Immerhin musste sie nicht weit humpeln. Das Zimmer, das er mit Marc teilte, war winzig. Hauptsächlich war es mit Plakaten von berühmten Snowboardern gepflastert. Und Joshs Zeichnungen, die sowieso das ganze Haus schmückten.

Nils drehte sich um. Er konnte ihr nicht ins Gesicht sehen. Eine Bleistiftskizze vom Kölner Dom hing direkt vor seiner Nase. Josh hatte sie gezeichnet, als Glücksbringer, damit es mit dem Sportstudium klappte.

»Nils.« Sie klang sanft. »Du … du hättest es uns sagen können.«

Er spürte Furcht und Scham in seinem Bauch rumoren. Wie sollte er ihr das erklären?

»Du hattest Angst, nicht wahr?«

Oh ja, das erklärte es ziemlich gut. Nils zuckte mit den Schultern.

»Vielleicht«, flüsterte er. »Ich wusste doch nicht, was ihr … also …«

Sanfte Finger fuhren durch seine kurzen Haare. Er roch ihr Kamillenblüten-Shampoo und hätte heulen können.

»Mir ist doch egal, wen du magst.« Die Wärme in ihrer Stimme trieb ihm die Tränen in die Augen. »Ich freu mich, wenn du jemanden findest. Ist mir wurscht, ob … na, ob Junge oder Mädchen. Josh und Shirley interessiert das eh nicht, solange du weiter für sie da bist. Shirley war sogar richtig begeistert von Henry. Komischerweise. Die ist doch sonst immer so misstrauisch.«

»Was, echt?«

»Ja, ich soll dir sagen, dass ihr ihren Segen habt.«

»Oh. Danke.«

Das war lieb von ihr, aber … Na ja, aber Henry würde trotzdem gehen. Und sie waren kein Paar. Er hatte keine Ahnung, was Henry für ihn empfand.

Nils räusperte sich.

»Was ist mit Marc? Was sagt der?«

»Der ist rausgestürmt.« Sie seufzte. »Der Blödmann.«

»Ah.« Natürlich. »Meinst du, er erzählt es jemandem?«

»Nein. Nein, auf keinen Fall. Er ist vielleicht ein wenig engstirnig, aber … na, er wird sich schon beruhigen. Weiß auch nicht, was er hat.«

»Einen schwulen Bruder hat er.« Nils drehte sich um. Sie sah auf ihn herunter, mit so einem lieben Mama-Blick, dass er sich fühlte, als wäre er ein Kleinkind. »Wird er damit klarkommen?«

»Das sollte er besser.« Ihr Blick verfinsterte sich. »Der Junge treibt mich noch in den Wahnsinn. Ich wette, er ist jetzt schon wieder bei irgendwelchen Idioten und trinkt und …«

Sie verstummte.

»Manchmal mache ich mir Sorgen um ihn«, sagte Nils. Er spürte ein schwaches Grinsen im Gesicht. »Aber ich habe gehört, du warst in seinem Alter auch nicht besser.«

»Ja, ja, und wo hat das geendet?« Sie sah sich in dem schrottreifen Raum um. »Allein mit vier Kindern in einer Bruchbude.«

»Ich mag es hier«, sagte er. »So übel ist das gar nicht.«

»Na ja, du kennst ja auch nichts anderes. Es … stimmt schon, es könnte schlimmer sein.« Sie lächelte, ein wenig traurig. Nils richtete sich auf und legte die Arme um ihre Schultern.

»Mama, du …«

»Schon gut, Nilsi. Ich …« Sie lehnte ihren Kopf gegen ihn und ihre Haare kitzelten seine Wange. Der vertraute Geruch ihres Shampoos stieg in seine Nase. »Ich bin froh, dass du jemanden gefunden hast. Dass du was … was Eigenes hast. Ich hab dich so in Anspruch genommen. Immer musstest du mit den Kleinen helfen und mit dem Geld, und allem. Gönn dir ruhig ein wenig Spaß. Wie wär’s, wenn du einfach losgehst und dich mit Henry versöhnst?«

Ja!, schrie sein Herz, das blöde Teil.

»Henry hat mich verraten.«

»Nilsi, ich glaub nicht, dass das Absicht war. Er hatte keine Ahnung, dass wir es nicht wussten. Das hat er zumindest gesagt.«

»Oh. Wie ist das denn …« Er schluckte. »Meinst du, es geht ihm gut?«

Seine Mutter sah ihn an.

»Wieso? Weil du ihn rausgeworfen hast? Das verkraftet der schon. Geh einfach zu ihm und sag ihm, dass es dir leidtut.«

»Es tut mir nicht leid«, brummte er, aber in seinem Kopf war ein Bild entstanden: Henry, mit dem Rücken zu ihm, mit einem Fuß auf der schwarzen Piste. Das würde er nicht wieder tun, oder? Es ging ihm besser. Einem reichen Schnösel wie ihm war doch egal, was einer wie Nils von ihm hielt. Aber so hatte Henry ihn nie behandelt. Als wäre er ihm egal. Nils hatte sogar das Gefühl gehabt, dass er … Aber vielleicht war das nur Einbildung …

»Ich hab ihm gesagt, er soll bloß nicht wiederkommen«, sagte er. Sah seine Mutter an. »Meinst du … meinst du, er ist so traurig, dass er … sich was antun könnte?«

»Wer, Henry?« Sie schüttelte den Kopf. »Der wirkt nicht, als würde ihn viel aus der Ruhe bringen.«

»Warum denken das alle?«, fragte er. »Ich weiß, dass er … Er hat Probleme. Es geht ihm jetzt besser, aber … er ist echt … verletzlich.« Und süß.

»Aha.« Sie legte den Kopf schief. »Ein Grund mehr, schnell zu ihm zu gehen, oder?«

Sie hatte recht. Er war immer noch stinksauer auf Henry, aber vielleicht konnten sie das ja irgendwie klären. Ein unrealistisches Szenario nach dem Anderen stieg in seinem Schädel auf. Henry, der die Tür seines Chalets öffnete, einen Blick auf ihn warf und sich in seine Arme stürzte.

»Nils, du bist zurückgekommen«, sagte dieser Traum-Henry. »Ich liebe dich! Ich habe dich doch nur geoutet, weil ich mit dir zusammen sein will!«

Na ja, das ginge trotzdem nicht. Offiziell schwul in Ebernau, das war … das war keiner. Dennoch raste sein Herz bei der Vorstellung. Nils schwang seine langen Beine aus dem Bett.

»Du hast recht«, sagte er. »Bis später.«

»Bis später, Nilsi. Grüß deinen Liebsten, ja?«

»Er ist nicht mein Liebster.« Nils spürte, wie seine Ohren knallheiß wurden. So schnell er konnte, rannte er aus dem Zimmer, die Treppe hinunter. Aus der Haustür. Er konnte seinen Herzschlag bis zu den Zehenspitzen spüren.

 

Niemand öffnete. Nils drückte immer und immer wieder auf die schmiedeeiserne Klingel (mit Elchmuster) des Chalets. Hinter sich hörte er den Vorderreifen seines Rads sirren. Er hatte es einfach in den Schnee gepfeffert. Sein Atem ging stoßweise, so schnell war er gefahren. Dampfwölkchen stiegen auf und bliesen gegen die schwere Holztür.

Stille. Nichts regte sich drinnen. Nils gab das Klingeln auf und hämmerte mit seinen behandschuhten Fäusten gegen die Tür.

»Henry! Mach auf, ich bin’s! Nils!«

Er lauschte. Immer noch nichts.

»Henry, du Idiot«, flüsterte er. »Sei bitte in Ordnung.«

Es half nichts. Die Tür blieb geschlossen. Vermutlich war Henry nicht da. Aber falls er da war und Nils ignorierte, dann war er doch eindeutig nicht okay, oder?

Nils stapfte um das Haus herum. Der Balkon stand auf dicken Pfosten. Es war ein Leichtes für ihn, da hochzuklettern. Er übte sowas schon seit Monaten, um die Sport-Aufnahmeprüfung zu bestehen.

Mühelos zog er sich das letzte Stückchen hoch und schwang sich auf den Balkon. Der Schnee war nicht weggeräumt worden. Noch bedeckte er die halbe Fensterscheibe. Nils wischte mit seinem Handschuh darüber und sah hindurch. Kein Henry. Wehmütig schaute er auf das Bett, in dem er heute Morgen erst aufgewacht war.

Er blinzelte. Ein kaltes Gefühl breitete sich in seiner Magengrube aus. Henry hatte nur wenig mitgebracht, aber … es hatte immer ein Pullover oder ein Hemd über einem der Stühle gehangen. Socken hatten herumgelegen. Aber nun? Nichts mehr. Kein einziges Stück Kleidung befand sich im Raum und auch sonst deutete nichts darauf hin, dass hier jemand wohnte.

Weil hier niemand mehr wohnte.

Ein Schluchzen versuchte, Nils' Kehle heraufzusteigen, aber er befahl ihm, abzuhauen. Er würde nicht … Er war doch nicht traurig, dass dieser Verräter … weg war. Für immer?

Doch, er war traurig. Sehr. Mit hängenden Armen stand er vor dem Fenster. Betrachtete sein erbärmliches Spiegelbild. Versuchte, nicht zu heulen.

Du bist viel zu sensibel, Nilsi, erklang die Stimme seiner Mutter in seinem Kopf.

Mit Armen und Beinen, die sich wie betäubt anfühlten, kletterte er wieder hinunter. Was jetzt? Henry war … weg. Und er war noch hier. Aber wohin war Henry gegangen? Zurück nach München? Er hatte wenig von daheim erzählt. Ein bisschen von seiner Schule. Seinen alten Freunden. Aber wo sollte er sonst sein?

Marie würde es wissen. Die hatte ihm die Hütte schließlich vermietet.

 

Er öffnete die Restauranttür mit einem Gefühl, als würde er über die Pforte der Hölle treten. Nicht, weil die Deko hier so höllisch grauenvoll war, sondern weil er … eigentlich gar nicht wissen wollte, dass Henry weg war. Er wünschte sich, dass er in Maries Restaurant saß, wie sonst auch und Mittagessen futterte, da er so reich war, dass er nie kochen musste.

Aber er war nicht da. Fast niemand war da. Die Skilifte waren immer noch geschlossen und die Touristen vertrieben sich die Zeit mit Shopping in der Innenstadt. Marie saß an einem der vielen freien Tische und tippte auf ihr MacBook ein. Sie sah auf, als die Türglocke bimmelte.

»Du bist wegen Henry hier, oder?«, sagte sie statt einer Begrüßung. Nils nickte stumm. Hoffentlich sah es aus, als kämen seine roten Wangen vom kalten Wind.

»Ist er ausgezogen?«, fragte er. Bitte sag nein!

»Ja, ist er.«

»Ah.« Nils fühlte sich mit einem Mal hundert Kilo schwerer und unendlich trauriger. »Ach so. Wann?«

Maries helle Augen durchbohrten ihn.

»Vor etwa einer Stunde haben sie ihn abgeholt.«

»Wer hat ihn abgeholt?«

»Sein Onkel und diese Privatdetektivin.«

»Was?« Er säuberte seine schneebedeckten Schuhe auf dem Fußabtreter und kam näher. Unentschlossen stand er vor ihrem Tisch und sah auf sie herab.

»Setz dich.« Ihre Fingernägel klopften auf die Tischdecke. Nils ließ sich auf dem Stuhl gegenüber nieder. Es war erneut viel zu warm. Aber er wollte seine Jacke nicht ausziehen. Er wollte sofort wieder raus, auf sein Fahrrad springen und Henry hinterher radeln. Den Weg bis nach München konnte er bestimmt in einer Woche schaffen, oder?

»Was ist passiert?«, fragte er Marie. »Warum hat sein Onkel ihn abgeholt? Wollte seine Familie nicht nachkommen?«

Sie schien kurz zu überlegen. Zu zögern, bevor sie sprach. Dann seufzte sie leise.

»Hat er das gesagt? Dass seine Familie nachkommt?«

Irgendetwas in Maries Blick gefiel ihm nicht. Es fühlte sich an, als würde ein kalter Luftzug über seine Knochen streichen.

»Ja«, sagte er unsicher. »Seine Eltern und sein kleiner Bruder. Titus.«

»Seine Eltern sind tot. Und sein kleiner Bruder auch.«

»Was?!« Nils wäre fast hintenüber gekippt. Henry hatte doch gesagt … aber er hatte immer diesen seltsamen Blick drauf gehabt, wenn er von ihnen sprach, als ob …

Oh nein.

»Was ist passiert?«, krächzte Nils.

»Also … Dieser rotbackige Schreihals kam plötzlich hier reingeplatzt und hat angefangen, rumzubrüllen.« Maries Stimme war ruhig, aber sie war eindeutig stinksauer. »Gut, dass kaum Gäste da waren, so, wie der sich aufgeführt hat. Er hatte diese ältere Dame im Schlepptau, eine Privatdetektivin. Die hat Henry aufgespürt. Sie wussten, dass ich ihm ein Chalet vermietet habe, und wollten erfahren, wo er ist. Sofort. Ich hab ihm erzählt, dass ich keine Ahnung habe, wo Henry steckt. Ich konnte ja nicht wissen, was mit dem Schreihals los war. Soweit ich das beurteilen konnte, hätte Henry allen Grund gehabt, vor dem zu flüchten. Das ging in drei Sätzen von »Wo ist mein Neffe?« zu »Ich verklage Sie und nehme ihnen alles, was Sie haben.« So ein … unangenehmer Mensch.«

»Und bei dem ist Henry jetzt? Warum hast du das zugelassen?« Wie konnte sie … Nils' Gedanken rasten. Henry hatte seine Familie verloren. Seine ganze. All die Menschen, über die er so liebevoll gesprochen hatte, als sie während des Sturms aus dem Fenster geschaut hatten … Die waren tot?

»Er kam plötzlich runtergestürmt. Er war im Büro, weil … hm. Nein, das sollte er dir wohl selbst erzählen. Sonst wirst du wieder wütend.«

»Werd ich nicht.« Nils verschränkte die Arme.

»Meinst du?« Eine perfekte Augenbraue hob sich. »Als er hier reinkam, war er nur noch ein Häufchen Elend. Hast du ihn angeschrien?«

Nils schluckte.

»Ja.« Scheiße. Scheiße, er war so ein Idiot. Okay, Henry war ein Verräter … ein versehentlicher Verräter, aber er hatte auch das Entsetzlichste hinter sich, was Nils sich vorstellen konnte, und … Auf einmal machte alles Sinn. Die Heulattacken, das Gesaufe, die seltsame Teilnahmslosigkeit. Wie hätte Nils reagiert, wenn er seine Familie verloren hätte? Mama und all seine Geschwister. Mindestens so schlecht vermutlich. Schlechter.

Nils rieb sich über das Gesicht. Versuchte, zu denken.

»Wo sind sie hin?«, fragte er. Seine Stimme war rau wie Schmirgelpapier.

»Zurück nach München. Sie haben die Sachen aus dem Chalet geholt und sind gefahren.«

»Haben sie … noch irgendwas anderes gesagt?«

Hat Henry vielleicht zufällig eine Bemerkung darüber fallengelassen, ob ich ihm etwas bedeute oder ob das mit uns nur eine bedeutungslose Affäre war?

»Irgendetwas über eine Opernpremiere, morgen. Turandot«, sagte Marie. »Sein Onkel wollte unbedingt, dass Henry dabei ist, weil er irgendwen beeindrucken muss.«

»Ah. So.«

Eine Opernpremiere. Klar, in Henrys Welt gab es sowas. Nils kannte solche Veranstaltungen nur aus den Geschichten, die er Shirley und Josh früher vorgelesen hatte. Da waren die Premieren meist von einem sprechenden Pferd gesprengt worden, dem eine Räuberbande in gestreiften Pullovern auf den Fersen gewesen war.

Henry und er waren … ziemlich verschieden. So verschieden, als würden sie auf zwei weit entfernten Planeten leben, wenn sie nicht gerade zusammen in einer Hütte eingeschneit waren.

Tiefe Mutlosigkeit ließ ihn in seinem Stuhl zusammensinken. Henry war weg. Er war hunderte von Kilometern weit weg und würde nie zurückkommen und …

Er stand auf, bedankte sich und verließ Maries Restaurant, bevor er noch anfing zu heulen.

 

Und nun? Er packte sein Rad, zu kraftlos, um draufzusteigen. Also schob er es langsam die Hauptstraße entlang. Drängte die Trauer zurück. Was nun? Er musste wissen, ob es Henry gut ging. Leider war der weg. Natürlich konnte er ihn anrufen, aber er traute sich nicht.

Wie feige, dachte er. Jetzt komm mal klar, Nilsi.

Tief durchatmend stellte er sein Fahrrad ab. Zog sein zerkratztes Handy aus der Jackentasche und tippte Henrys Nummer an. Schrammte knapp an einem Herzinfarkt vorbei und hielt es an sein Ohr.

Tut

Tut

Tut

Mit jedem mechanischen Tröten wurde sein Herzschlag lauter.

Henry, ich bin’s, Nils, dachte er. Es tut mir leid. Ich wollte nur wissen, ob es dir gut geht. Außerdem liebe ich dich immer noch, also falls du zufällig …

Henrys Stimme erklang und er wäre fast im Schnee ausgerutscht.

»Ich bin gerade nicht da. Rufe zurück.«

Mailbox. Die Nachricht musste er aufgenommen haben, bevor es ihm besser ging. Er klang vollkommen teilnahmslos. Da war nichts von der entspannten Freundlichkeit, die Nils kannte. Nichts von der Neugier, von Henrys Humor und der überschäumenden Begeisterung, die urplötzlich auftauchte … Hm. Ach ja, er musste etwas sagen.

»Äh, ich bin’s Nils«, stotterte er. »Ich … Also, es tut mir leid, dass ich … Ich wollte dich nicht rauswerfen. Na gut, wollte ich, aber … ich … Es tut mir leid. Geht’s dir gut? Kannst du … Würdest du dich melden, sobald du das hörst? Ich … mach mir Sorgen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie blöd ich mich fühle und …« Er räusperte sich. »Äh, ja, ruf zurück, wenn du kannst. Tschüss.«

Super. Erstklassig. Henry würde eindeutig klar sein, was er von ihm wollte, wenn er das hörte. Warum konnte er nicht hier sein? Nils war furchtbar darin, mit Worten auszudrücken, was er fühlte. Er …

Ein tiefes Dröhnen. Vor ihm hielt ein Jeep mit der Aufschrift »Jonas Waldmeier – Scheite, Pellets und anderes Holz«. Die Scheibe wurde heruntergekurbelt und Jonas' bärtiges Gesicht erschien. Er war ein Kumpel von Benno, fast so breit und doppelt so behaart.

»Nils!«, brüllte er über den Motorenlärm hinweg. »Suchst du noch ’nen Job? Mein Hof muss freigeschippt werden!«

Eine Ablenkung. Perfekt.

»Ja, klar.« Nils nickte. »Sofort?«

»Sofort.«

 

27. Zurück

 

Henrik saß in der Bibliothek und wartete. Etwas Besseres fiel ihm gerade nicht ein. Der Geruch nach altem Leder und noch älteren Buchseiten, das warme Licht der verschnörkelten Jugendstil-Deckenlampe, all das versetzte ihn in eine wohlige Trance. Das Sofa knarrte bei jeder Bewegung.

Onkel Falk war bei einem wichtigen Geschäftsessen, wie eigentlich immer, und er selbst hatte die Anweisung, das Haus auf keinen Fall zu verlassen. Was er verstehen konnte. Wenn er im letzten Jahr das Haus verlassen hatte, war er sturzbesoffen und zugedröhnt heimgekommen, oft mit einem blauen Auge, von dem er keine Ahnung hatte, wer es ihm verpasst hatte. Mehr als einmal hatte ihre Haushälterin ihn im Flur gefunden, wo er in einer riesigen Kotzlache vor sich hin geschnarcht hatte.

Er hatte ihnen versichert, dass das nie wieder vorkommen würde, aber … nun, er konnte verstehen, warum sie das nicht riskieren wollten. Morgen war ein wichtiger Tag. Onkel Falks Geschäftspartner waren da, beziehungsweise die alten Geschäftspartner von Henriks Vater. Männer und Frauen, von denen Onkel Falk sich einiges erhoffte. Solange Henrik minderjährig gewesen war, hatte Onkel Falk sich um den Nachlass gekümmert. Und da Henrik seinen achtzehnten Geburtstag in der Ausnüchterungszelle verbracht hatte, hatte er keinen Grund gesehen, das zu ändern.

Henrik vermutete, dass er gern für immer sein Vermögen betreut hätte. Henriks Vater und sein Onkel hatten die gleichen Anteile an den Geschäften ihres Vaters geerbt, aber … Nun Onkel Falk hatte seinen Teil nicht vergrößern können. Er war sogar ein wenig geschrumpft. Henriks Vater dagegen hatte sich, trotz seiner Voreiligkeit, die ihm manche als Naivität auslegten, als fähiger Geschäftsmann erwiesen.

Vermutlich sah Onkel Falk dies hier als zweite Chance.

Henrik betrachtete die Bücherregale um sich herum. Kolosse, die bis zur Decke reichten, überfüllt mit den Büchern seines Vaters, Großvaters und vor allem seiner Mutter, die einen langweiligen Mikrobiologieschinken nach dem anderen gekauft hatte. Drei Bretter voll mit Kinderbüchern, bunt und zerlesen, weil sie erst ihm und dann Titus in die Hände gefallen waren. »Spaßimir, das sprechende Pferd« las er. He. Das war sein Lieblingsbuch gewesen. Und darüber …

Henrik stand auf.

Die Fotoalben waren ledergebundene, schwere Monster. Er schaffte es, die fünf neuesten mit auf das Sofa zu schleppen. Mit seltsam steifen Fingern schlug er das erste auf.

»Danke für die schönen Erinnerungen«, hatte jemand über das dicke Büttenpapier der ersten Seite geschrieben. Schwungvoll, mit riesigen Ls und Fs. Sein Vater. Henrik zog die Buchstaben mit den Fingern nach. Melancholie kroch in sein Herz.

»Danke, Papa«, murmelte er. Unerwartet begann er, zu lächeln. Sobald er umblätterte, wurde dieses seltsame Gefühl stärker. Seine Eltern lachten ihm entgegen, ein zerknautschtes Baby im Arm. Seine Mutter im Krankenhauskittel, noch müde und erschöpft von der Geburt. Sein Vater überglücklich.

Der hatte seine Mutter in den Wahnsinn getrieben, hatte sie erzählt. Sie hatten ihn schließlich aus dem Geburtssaal geworfen, weil er herumgewuselt war wie ein hyperaktives Wiesel. Und als sie es endlich geschafft hatte, Henrik zur Welt zu bringen, hatte er seinen Sohn in seiner überschäumenden Freude fast in die Luft geschleudert. Außerdem hatte er vorgeschlagen, seinen Stammhalter nach all seinen Großeltern zu benennen.

Hubertus Hilarius Gerd-Anton Elfriedus von Murnau, hatte er fröhlich gerufen. Das klingt doch toll! Seine Mutter hatte seinem Vater verboten, an diesem Tag noch irgendeine Entscheidung zu treffen.

Während draußen die Bäume rauschten, blätterte Henrik weiter. Sah sich selbst beim Aufwachsen zu. Sah Titus zu, erinnerte sich an seinen ersten Tanzkurs mit Jonathan und Livia, erlebte Urlaube und Abschiedsfeiern und … weinte und lächelte. Aber vor allem fühlte er tiefe Dankbarkeit.

Sein Handy brummte und er schreckte hoch. Oh.

Oh!

»Guten Abend«, sagte er. »Haben Sie ihn gefunden?«

»Jupp.« Er konnte hören, dass Frau Puddel, die Privatdetektivin, schon wieder auf irgendetwas herumkaute. »Ich schick dir alle Daten gleich mit der Rechnung.«

»Fantastisch!« Henrik sprang auf. »Und … wer ist es? Wie heißt er?«

»Klaus Matthias Grachtenberger. Unternehmer aus München, seit zwölf Jahren wohnhaft in Wien. Scheint recht erfolgreich zu sein.«

»Sehr gut!« Dann konnte der Kerl es sich wohl leisten, Unterhalt zu zahlen. »Wie haben Sie das so schnell geschafft?«

»Betriebsgeheimnis.«

»Oh.« Henrik lachte. »Ach, kommen Sie. Ich muss das wissen.«

»Du wirst schwer enttäuscht sein.«

»Bestimmt nicht.«

»Ich hab meinen Praktikanten online nach seinem Kumpel Walther Großmann suchen lassen. Anscheinend haben die beiden zusammen Abi gemacht. Nach ’ner halben Stunde hatte er Grachtenberger. Glaube, es hat nie jemand wirklich versucht, den Mann zu finden.«

»Ah. Ach so.« Henrik grinste breit. »Egal, ich überweise Ihnen gleich das Geld. Und morgen fahre ich nach Wien …«

Ach Mist, die blöde Oper war morgen. Aber …

»Es gibt sogar eine weitere gute Nachricht«, brummte Frau Puddel zwischen zwei Schmatzern. »Er ist zurzeit in München.«

»Was? Meinen Sie etwa …«

»Japp, er besucht die Opernpremiere.«

»Nein.« In Henriks ganzem Körper kribbelte die Aufregung. »Dann … sehe ich ihn morgen und … Vielen Dank!«

»Nichts zu danken, Jungchen. Mach’s noch gut.«

»Sie auch.«

Henrik atmete tief ein und aus. Großartig. Fantastisch! Morgen Abend schon konnte er diesem Typen sagen, dass er einen Sohn hatte und dass er sich unbedingt bei ihm melden musste und sich aussöhnen und …

Verdammt.

Er sah auf seinen Handybildschirm. Wie hatte er einen Anruf verpassen können? Einen Anruf von Nils! Nils hatte ihn angerufen! Ob er … Mit zitternden Fingern tippte Henrik auf den Bildschirm.

 

28. Mitternacht

 

Die Küche war still und dunkel, als Nils hereinkam. Kein Wunder, es war schon fast zwölf. Das Schneeschippen bei Jonas hatte ewig gedauert, sich aber gelohnt. Sein ganzer Körper tat weh, doch er war um fünfzig Euro reicher.

Das Licht der Deckenlampe flackerte, bevor es sich von einem trüben Funzeln zu einem warmen Schein erhellte. Sie hatten aufgeräumt. Kein Geschenkverpackungschaos mehr. Der Papiermüll in der Ecke quoll fast über.

Essen ist im Kühlschrank, stand auf dem Zettel, der auf dem Küchentisch lag. Darunter die krakelige Zeichnung, mit der seine Mutter all ihre Nachrichten unterschrieb. Sie selbst als wolllockiges grinsendes Strichmännchen.

Es gab Brokkolisuppe. Er wusste es, bevor er die Kühlschranktür öffnete. Ihr Geruch hing in der ganzen Küche.

Während er dem Brummen der Mikrowelle lauschte, schaute Nils sich um.

Oh.

Unter dem Fenstersims, der fast zusammenbrach vor Tonskulpturen, stand die Sport Meurer-Tüte. Genauso riesig und edel wie sie heute Mittag ausgesehen hatte.

Das da ist für dich, hatte Shirley gesagt. Nils zögerte. Lauschte, aber bis auf die Mikrowelle war nichts zu hören. Langsam ging er auf die Tasche zu. Er sah hinein, holte das Geschenk heraus und riss rotes Glanzpapier auf, bis er eine große Pappschachtel in den Händen hielt. Als er das aufgedruckte Foto sah, schluckte er. Schluckte erneut. Und begann endlich, zu weinen.

Schwerfällig sank er auf den Boden, den Karton in den Armen. Tränen fielen auf das Foto des Basketballkorbs. Dunkle Flecken, die die Pappe aufwellten. Er wusste nicht, warum es ihn ausgerechnet jetzt überkam. Henrys Lachen erschien vor seinen Augen. Henry, wie er ihn splitternackt überredet hatte, durch das Wohnzimmer zu toben, dribbelnd und …

Ein Geräusch ließ ihn herumfahren.

Ausgerechnet Marc stand im Türrahmen und sah ihn an. Er trug ein verknittertes Shirt und eine Jogginghose. Seine Haare waren schlafverstrubbelt.

Nils schluchzte weiter. Er konnte nicht aufhören, selbst wenn sein jüngerer Bruder ihn dabei sah. Es tat einfach zu sehr weh. Also senkte er den Blick und ignorierte Marc. Mehr ging jetzt nicht. Egal, was für Vorwürfe der ihm machen wollte, er konnte sie gerade nicht anhören.

»Spalding NBA STANDARD RIM« las er auf dem Karton, auf dem immer mehr dunkle Flecken prangten. Er spürte die feuchten Spuren auf seinem Gesicht. Er fühlte die Tränen, die von seinem Kinn perlten, den glatten Karton unter seinen kräftigen Fingern. Henry hatte den ausgesucht, für ihn …

Plötzlich erschien eine Schüssel vor ihm, gefüllt mit grüner Suppe. Er sah auf. Marc hielt sie ihm hin. Sein hübsches Gesicht war … zerknirscht. Seine sonst so arrogante Haltung unsicher.

»Hier«, murmelte er.

Nils ließ den Karton sinken und nahm die Schüssel entgegen. Die Suppe war so heiß, dass er sich fast die Finger verbrannte. Unschlüssig stellte er die Schale auf die Pappschachtel. Köstlich riechender Dampf stieg in seine Nase.

Marc sank vor ihm auf dem Teppich nieder. Im Schneidersitz, die Hände an den Füßen. Er sah ihn nicht an.

»Danke«, sagte Nils, als er wieder reden konnte.

Marc murmelte irgendetwas Undeutliches. Kratzte sich an der Nase. Nils rieb sich mit dem Ärmel seines Kapuzenpullis über das Gesicht. Diese Stille war unerträglich. Nichts zu hören als weit entfernte Autos und das Knacken des alten Hauses.

»Wer weiß es schon?«, fragte er Marc schließlich. Der sah auf.

»Keiner außer uns.« Seine Stimme war fast so rau wie die von Nils. »Ich hab niemandem was gesagt. Dachte, das wollt ihr selbst machen. Du und dein Henry.«

»Ha.« Nils schaute trübselig in die Suppe. »Das glaub ich nicht.«

»Wieso?«

»Er ist weg.«

»Was?«

Marc schien ehrlich erstaunt, dass einer von oben abgehauen war, ohne sich zu verabschieden … nachdem Nils ihn rausgeworfen hatte. Scheiße, er war doch selbst schuld. Was beschwerte er sich jetzt?

»Ist bestimmt besser so«, log Nils. »Viel besser. Dann kriegt ihr keine Probleme in der Schule und …« Er atmete tief ein. Es musste raus, ob Marc damit klarkam oder nicht. »Das mit Henry war nichts. Das war nur … Ich war blöd genug, mich in den zu verlieben und … Na, jetzt ist er weg. Keine Ahnung, ob der mich auch mag.«

»Aber …« Marc zögerte kurz. Er schien mit irgendetwas zu kämpfen. »Aber er hat gesagt, er liebt dich.«

Ein Pfeil schlug in Nils' Brust ein. Was?

»Was? Wann …«

»Na, gestern.« Marc fuhr sich durch die hellen Haare. »Als er mit den Geschenken ankam. Der sah nicht aus, als ob er abhauen wollte. Das sah aus, als … würde er sich offiziell bei uns vorstellen oder so.«

Nils starrte ihn an. Spürte den Herzschlag im Hals. Fühlte ein heißes Zittern, das durch seinen ganzen Körper raste.

»Das hat er … Was hat er gesagt?«

»Äh, er hat gesagt … äh … Genau: Wir lieben uns.«

»Wir …« Er konnte nichts mehr hören, so brutal hämmerte sein Puls. »Aber …«

Sagen konnte er auch nichts mehr. Nur auf dem Boden sitzen und Marc anstarren, dem das sichtlich unangenehm war.

»Na.« Marc räusperte sich. »Ich … also meinetwegen könnt ihr auch … ein Paar sein, wenn ihr wollt. Was die in der Schule sagen, ist mir egal. Das sind eh Trottel. Und ich bin eh der Stärkste. Wenn euch einer Probleme macht, tret ich ihm die Fresse ein, okay?«

Er stand auf. Das … war für Marcs Verhältnisse eine durchaus herzliche Entschuldigung.

»Danke«, krächzte Nils.

Er hörte die Dielen knarren, als sein Bruder die Küche verließ. Ihn mit seinen Gedanken allein ließ. Ihn … Mist, er hatte nicht aufs Handy geschaut! Er war so mit Schneeschippen beschäftigt gewesen und Jonas' Motorsäge war so laut …

Er ließ Suppe und Karton stehen und hetzte in den Flur, wo seine Jacke hing. Griff in die Tasche und zerrte sein Handy heraus.

Ein verpasster Anruf. Von Henry. Sein Atem ging so schnell, dass er überlegte, sich eine Papiertüte zu suchen, zum Reinatmen, obwohl er keine Ahnung hatte, wie das funktionierte oder wofür das gut war …

»Nils!«, brüllte Henry per Mailbox in sein Ohr. Er klang überhaupt nicht, als ginge es ihm schlecht. Eher, als hätte er gerade im Lotto gewonnen. Erleichterung brachte Nils fast wieder dazu, auf den Boden zu sinken. »Ich hab … Also es ist … Äh, Scheiße.« Nervöses Lachen. »Danke. Danke, dass du … Mann, ich bin so glücklich, dass du … Es tut mir auch leid. Viel, viel mehr, das kannst du dir gar nicht vorstellen! Aber ich mach das alles gut. Ich bin gerade dabei und morgen … Ne, das wird eine Überraschung. Morgen ist diese Premiere und da muss ich jemanden treffen, aber … Kann ich nochmal vorbeikommen? Bald? Ich … ich ruf dich an, ja? Übermorgen? Dann weiß ich mehr und … Äh, mach’s gut!« Nils erwartete, ein Klicken zu hören. Aber er hörte nur aufgeregtes Atmen. Mehrere Versuche, etwas zu sagen, die alle mit »I…« begannen. Und dann:

»Ich liebe dich.«

Klick.

Verdammt. Seine Knie gaben doch nach. Er setzte sich auf Joshs ausgelatschte Turnschuhe. Verdammt.

Mit einem Mal war es ihm egal, was irgendwer in Ebernau sagen würde. Was Mo sagen würde oder die Leute in der Schule oder die Nachbarn oder …

Alles egal. Seine Familie würde zu ihm halten, sogar Marc, und …

Henry liebte ihn.

Er hatte es gesagt. Er … würde anrufen. Übermorgen?

Das war viel zu spät.

 

29. Feierlich

 

Mit einem aufgeregten Flattern im Magen betrat Henrik die Bayerische Staatsoper, flankiert von Onkel Falk und dessen derzeitiger Freundin Gabriele.

Klaus Matthias Grachtenberger, dachte er. Klaus Matthias Grachtenberger. Nils' Vater.

Er war hier. Oder würde es bald sein.

Henrik sah sich um, versuchte, jeden einzelnen der elegant gekleideten Gäste im Auge zu behalten. Er sah wunderschöne Damen, betagtere in raschelnden Kleidern und kleine Jungs, die an ihren Krawatten zerrten. Runzlige Greise und wohlgerundete Geschäftsmänner. Aber niemanden, der wie die ältere Variante von Nils aussah.

Der Geruch von Parfüm und Parkettpolitur lag in der Luft. Gespräche, überall, die zu einem ohrenbetäubenden Summen anschwollen. Onkel Falk grüßte lautstark nach links und rechts und Henrik machte halbherzig mit. Nachdem sie ihre Mäntel an der Garderobe abgegeben hatten, betraten sie den Vorsaal.

»Frau Mislhemmer!«, dröhnte Onkel Falk und schleppte Henrik zu einer Frau, die wie ein verwitterter Stock aussah. Frau Mislhemmer besaß eine äußerst erfolgreiche Spedition, erinnerte er sich. Sein Vater hatte ihr immer Komplimente für ihren scharfen Verstand gemacht.

»Herr von Murnau.« Sie nickte Onkel Falk zu. Als sie Henrik erblickte, schien sie überrascht.

»Frau Mislhemmer.« Er lächelte. »Schön, Sie wiederzusehen. Wie geht es Ihnen?«

Sie hob eine weiße Augenbraue.

»Mir geht es gut, Henrik.« Ihre Stimme war klar und, trotz ihres Alters, ohne jegliche Brüchigkeit. »Aber wie geht es dir? Mir scheint, du wärst über das Gröbste hinweg.«

Er hielt dem Blick ihrer dunklen Augen stand.

»Ja, das bin ich wohl. Glücklicherweise hatte ich Hilfe.«

»Das ist mal eine gute Nachricht.« Eine ungewohnte Wärme erhellte ihre Züge. »Eine sehr gute Nachricht, Henrik. Nachdem du so eine schwere Zeit hattest …«

»Ich denke, ab jetzt geht es aufwärts.« Komisch, irgendwie störte ihn ihr Mitleid nicht mehr.

Onkel Falk lenkte Frau Mislhemmers Aufmerksamkeit auf sich und begann ein Gespräch über eine mögliche Zusammenarbeit, dem Henrik nur halbherzig lauschte. Er hielt nach Nils' Vater Ausschau, konnte ihn in diesem Menschenmeer aber nicht finden.

»Henry! Oh mein Gott!«, rief jemand und er fuhr herum.

Er hatte kaum Zeit, Livia zu erkennen, als sie ihn schon umarmte. Stürmisch. Ihre hellbraunen Haare klatschten in sein Gesicht und grauenvolles Vanilleparfüm erstickte ihn fast. Richtig, sie liebte das Zeug, das verbrauchte sie literweise, seit sie es mit elf Jahren entdeckt hatte.

»Livia!« Er grinste sie an, als sie ihn endlich losließ. »Groß bist du geworden!«

»Halt die Klappe, du Idiot!« Sie grinste noch breiter und funkelte ihn aus einem Meter fünfundfünfzig an. »Du siehst immer noch aus wie ein Milchbubi.«

»Und du, als könntest du immer noch Kinderfahrkarten kaufen.«

»Ha, dafür hast du doch bestimmt Lockenwickler benutzt für deine billige Dauerwelle … Jonathan!«, brüllte sie plötzlich. »Es ist Henry! Ihm geht’s wieder gut!«

»Was?!« hörte Henrik von hinten.

Oh-oh. Kurz darauf wurde er in die Luft gehoben und herumgewirbelt. Schlaksige Arme umschlangen seine Brust. Er trampelte mit den Beinen und lachte.

»Lass mich runter, du Spargel!«

»Wehr dich doch, du Zwerg!« Jonathans Lachen dröhnte ihm in den Ohren und mit einem Mal hätte er heulen können vor Glück. Wann hatte er die beiden zuletzt gesehen? Seine besten Freunde. Irgendwann im letzten Jahr hatte er sie verloren, irgendwo in einem Strudel aus Saufen und Gefühlskälte und …

Als Jonathan ihn endlich runterließ, hatte Henrik Tränen in den Augen. Livia auch.

»Ich bin so froh, dass du zurück bist«, schniefte sie. »Du Muttersöhnchen.«

»Livia«, zischte Jonathan. »Er hat doch keine, äh …«

Livia schlug sich die Hand vor den Mund. Einen Moment lang spürte Henrik den Verlust. Dann lächelte er.

»Schon gut. Wie läuft’s bei euch?«

»Super.« Jonathans längliches Gesicht strahlte. »Ich hab gestern eine Frau kennengelernt, die …«

»… seine Mutter sein könnte«, ergänzte Livia und verdrehte die Augen.

»Sie ist nur drei Jahre älter als ich!«

»Womit sie volljährig wäre und du nicht.« Ein vorwurfsvolles Zungenschnalzen. Jonathan schnaubte.

»Das ist egal, solange man sich wirklich liebt. Nicht wahr, Henry?«

»Auf jeden Fall.« Henrik dachte an Nils und ein glückliches Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Ich bin jetzt mit einem Mann zusammen.«

Sie glotzten ihn an. Blinzelten. Sie wirkten immer ein wenig wie ein Cartoon, wenn sie so nebeneinanderstanden. Jonathan, der schlaksige Riese und Livia, die dralle Kleine. Sehr langsam legte sie den Kopf schief.

»Ist das dein Ernst?«, fragte sie vorsichtig. »Oder verarschst du uns?«

Er schüttelte den Kopf. Glücksblasen platzten in seiner Brust.

»Er heißt Nils. Und wir sind … Na ja, eigentlich sind wir nicht richtig zusammen. Leider.« Er runzelte die Stirn. »Wisst ihr, er kommt aus diesem Dorf, und da ist das wohl schwieriger … Aber er liebt mich. Und ich muss ihm helfen.«

»Ich komme nicht ganz mit«, sagte Jonathan. »Du … Also erstmal: Du bist jetzt schwul?«

»Oder bi.« Henrik kramte sein Handy aus der Tasche. »Keine Ahnung, ehrlich gesagt. Hey, habt ihr Lust, nach dem Kerl auf diesem Foto zu suchen? Er heißt Klaus Matthias Grachtenberger und ich muss unbedingt mit ihm reden. Er ist hier, und wenn ich Nils helfen will, muss ich ihn treffen.«

Die beiden sahen ihn wieder so komisch an. Blinzelten erneut. Dann brach Livia in Gelächter aus und Jonathan fiel ein.

»Was ist so lustig?«, fragte Henrik.

»Du … bist immer noch der Alte«, schnaufte Livia. »Alles auf einmal oder gar nicht.«

»Was?«

»Kannst du das nochmal der Reihe nach erzählen?« Jonathan schüttelte den Kopf. »So, dass man das auch versteht.«

»Oh. Klar.« Henrik sah sich um. Klaus Matthias Grachtenberger war nirgends zu sehen.

»Henry?«

»Äh, ja. Also, Nils ist … Wie erklär ich das? Voll süß, obwohl er eigentlich meistens schlechte Laune hat. Aber wenn er lächelt, dann … Irgendwie ist er dann so … äh …«

Schweigen. Einen Moment lang.

»Alles klar, du bist verliebt.« Livia verdrehte die Augen. »Erklär den Rest, wenn du wieder klar denken kannst.«

Sie deutete mit dem Kinn auf das Handy.

»Und den Kerl müssen wir finden?«

»Ja.«

»Okay, los geht’s.«

 

30. Suche

 

»Wo bist du, Nilsi?«, rief seine Mutter in sein Ohr. »Und warum rufst du erst jetzt zurück?«

»Ich hör dieses Handy nie«, behauptete Nils. In Wahrheit hatte er befürchtet, dass sie es ihm ausreden würde. Er packte den Rucksack und reihte sich in den Gang ein. Schwitzende Menschen vor und hinter ihm, die langsam auf die offene Zugtür zusteuerten. Es war bereits Abend und alle schienen sich darauf zu freuen, nach Hause zu kommen.

»Aber«, endlich wurde sie ruhiger, »was machst du am Münchener Hauptbahnhof?«

»Na, Henry wohnt doch in München.« Er spürte, wie die Hitze in seine Wangen kroch, und fragte sich, wie viel die Leute hier mithören konnten. »Ich will ihn zurückholen.«

»Was?«

»Er ist wegen mir gegangen, also hole ich ihn zurück«, sagte er trotzig.

»Warum?«

»Weil«, er räusperte sich, »weil ich ihn liebe, zur Hölle. Warum denn sonst?«

Schweigen.

»Nilsi … also … das klingt alles gar nicht nach dir.« Sie wirkte ratlos. »Einfach abzuhauen, nur einen Zettel dazulassen und so. Und die Mutter von Moritz hat angerufen. Die Berger vom Kartenhäuschen am Bahnhof hat ihr erzählt, du hättest ihr gesagt, du würdest zu deinem Freund fahren. Bist du sicher, dass es dir gut geht?«

»Super geht’s mir.« Nils streckte seine eingeschlafenen Glieder. Die Tür kam schrittweise näher. »Nur der blöde Zug hatte Verspätung, also weiß ich nicht, ob ich Henry noch erwische, wenn er bei der Oper ankommt. Auf deren Seite stand, die Vorstellung beginnt um sieben. Aber ich hab keine Ahnung, ob man da früher hingeht und Champagner trinkt oder so.«

»Wieso kommst du denn jetzt erst an? Du bist doch heute Morgen losgefahren.«

»Na, es war viel günstiger, so zu fahren. Fünfmal Umsteigen, aber dafür gab es einen Spezialpreis. Dauert halt zwölf Stunden.«

»Das … klingt schon eher nach dir.« Er hörte das Lächeln in ihrer Stimme. »Du hättest auch 'ne teurere Verbindung nehmen können, weißt du? Wenn du einmal im Leben was Romantisches tust.«

»Das, äh … danke.« Nur noch drei Leute standen vor ihm. Er sah bereits das Licht. Eine schäbige Taube flatterte vorüber. »Aber so klappt das auch, denke ich. Notfalls muss ich halt warten, bis diese Oper vorbei ist.«

»Gut, dann viel Glück.« Sie zögerte. »Und ich geh gleich mal zu der Berger rüber.«

»Was, wieso?«

»Na, um ihr die Meinung zu geigen! Moritz' Mutter meint, die wäre total entsetzt gewesen.« Ihre Stimme wurde höher, als sie die Berger imitierte. »Hätte ja nicht gedacht, dass der Junge einer von denen ist. So ein … Und unser Georg ist mit dem auf der Schule! Hoffentlich hat der ihm nichts angetan! Dass wir das überhaupt hier haben! Das muss an seinem Vater liegen … Oh! Sorry, ich sollte dir das nicht erzählen. Du bist doch so sensibel.«

»Gar nicht«, brummte er. Ja, es tat weh. Er wusste jetzt schon, dass noch mehr Sprüche kommen würden. Aber er wusste außerdem, dass er sich daran gewöhnen würde. Jetzt, wo er sich entschieden hatte. »Ich hab's ihr doch extra erzählt, weil ich wollte, dass es schnell die Runde macht. Hatte keine Lust, mich lang zu verstecken.«

»Oh. Ach so.« Stille. »Ja, das macht Sinn.«

»Hat Mos Mutter gesagt, was Mo davon hält?«, fragte er vorsichtig. Er ballte die Fäuste, um sich für die Antwort zu wappnen. »Wenn sie es weiß, weiß er es auch, oder?«

»Hm? Ja, der war ganz komisch, meinte sie. Aber ich seh ihn gleich.«

»Was? Warum?«

»Na, er kommt mit zu der Berger. Er will ihr ’nen Einlauf verpassen, der sich gewaschen hat, hat er gesagt. So redet die nicht über seinen besten Freund. Guter Junge, der Moritz.«

»Mama, bitte fallt nicht über die Berger her. Die ist fast sechzig.«

»Na, selbst schuld, wenn sie so einen Scheiß labert.«

»Mama. Bitte.«

»Aber …«

»Bitte

»Na gut, dann reden wir nur ganz freundlich darüber, dass sie meinen Sohn in Ruhe lassen soll. Höflich und gelassen, wie wir halt sind. Und du holst Henry zurück.« Sie zögerte. Mit einem Mal klang ihre Stimme rau »Was ist überhaupt euer Plan? In vier Tagen geht die Schule wieder los. Was macht ihr dann?«

»Äh, keine Ahnung. Darüber denk ich später nach.«

»Nilsi, wenn du nach München ziehen willst … dann …« Er hörte ein trockenes Schluchzen. »Dann kannst du das natürlich … machen.«

»Ne. Ich werd dich nicht allein lassen. Ich schätze, wir werden 'ne Fernbeziehung haben, oder so.« Selbst das schlichte Wort »Beziehung« entfachte ein freudiges Flattern in ihm.

Während er den Hörer am Ohr hielt, reichte er der alten Frau vor ihm den Koffer durch die Tür. Danach war er dran. Der Bahnsteig war dunkelgrau, beschienen von grellem Kunstlicht. Er schluckte. Dann packte er die Metallstange neben der Tür und setzte einen Fuß auf den Beton. Der zweite folgte.

Er war angekommen.

»Mama, ich muss jetzt Schluss machen. Wünsch mir Glück.«

»Viel Glück, Nilsi.« Ihre Stimme war immer noch heiser. »Mach’s gut.«

»Du auch.« Klick.

Nils stand auf dem Bahnsteig, während Leute, die sich hier auskannten, an ihm vorbeirauschten. Er betrachtete die blau leuchtenden Anzeigetafeln und die Buden am anderen Ende des Kopfbahnhofs, deren Würstchen- und Senfgeruch bis zu ihm herüberzog. Scheppernde Durchsagen, klappernde Rollkoffer und hektisch sprechende Menschen überall. Das war also Henrys Heimat.

Wo war jetzt diese S-Bahn?

 

Zehn Minuten und vier Stationen später stand er vor der Bayerischen Staatsoper. Ein Riesenteil, mit massiven Säulen, die über zwei hohe Stockwerke gingen und einem Dach wie ein Tempel, hell angestrahlt und mächtig. Aber er hatte keine Zeit, beeindruckt zu sein. Er musste zu Henry.

Mit schnellen Schritten überquerte er den Platz. Er nahm mehrere Stufen auf einmal, hetzte vorbei an einem elegant gekleideten Paar. Die Frau war mit einem gigantischen Schal und einem Pelzmantel bekleidet.

»Wir sind viel zu spät«, zischte sie ihrem Mann zu. »Hörst du? Die haben schon angefangen, nur, weil du …«

Mist. Als Nils oben ankam, sah er, dass hinter den offenen Türen tatsächlich niemand mehr zu sehen war. Der Parkettboden war leer. Und die Eingänge wurden von streng aussehenden Männern und Frauen in Jacketts bewacht.

Hm.

»Entschuldigung, hat es schon angefangen?«, fragte er einen älteren Einlasser. »Ich muss da rein.«

Der Mann musterte Nils' abgetragene Skijacke, an der Druckknöpfe fehlten und seine Frisur, die Josh mit einem Bartstutzer geschnitten hatte. Seine Augenbraue hob sich.

»Wos wuist du denn do?«, fragte er.

»Äh …« Nils straffte sich. »Ein Kellner ist ausgefallen und ich soll einspringen. Aber ich weiß nicht mal, wo der richtige Eingang ist.«

Ein knorriger Finger richtete sich aus wie eine Kompassnadel. Er zeigte ins Innere der Oper.

»Do lang. Dann rechts. Meld di bei da Kathrin.«

Der Mann verzog keine Miene. Ein Supertyp, entschied Nils. Kurz, knapp und keine unnötigen Worte. Jetzt musste er nur noch Kathrin, wer immer sie war, überzeugen, dass sie einen weiteren Kellner brauchte. Dass er ganz sicher einen Anruf bekommen hatte und dass er für heute eingeplant war.

Zu seinem eigenen Erstaunen funktionierte es.

 

31. Wiedervereint

 

Die Premiere war atemberaubend. Nicht nur waren die Künstler erstklassig, das Bühnenbild war schlichtweg eine visuelle Sensation. Zumindest vermutete Henrik das aufgrund der Gespräche, die er im Vorbeigehen mit anhörte.

Er selbst hatte nichts von dem Stück mitbekommen. Sein Blick war nur kurzzeitig über die opulent geschmückte Bühne gehuscht, bevor er wieder versucht hatte, in den anderen Rängen einen blonden Mann zwischen Mitte dreißig und vierzig zu finden, der fast so gut aussah wie Nils. Er war nicht fündig geworden. Was, wenn der Typ sein Ticket hatte verfallen lassen? Wenn er doch nicht gekommen war, weil … ihn irgendetwas aufgehalten hatte, oder …

Jonathan tauchte vor ihm auf. Seine Wangen waren gerötet von der Hitze, die mehrere hundert Leute ausstrahlten.

»Hast du ihn gefunden?«, fragte Henrik. Jonathan schüttelte den Kopf.

»Ne, leider nicht. Sind einfach zu viele Menschen hier.« Er schaute über die Köpfe der Leute durch den Saal. Summen, Brummen und Lachen dröhnten von der hohen Decke wieder, so laut, dass der Boden zu vibrieren schien. Henriks Handflächen waren schweißbedeckt.

»Mist. Und die Pause geht nur noch zehn Minuten. Wenn ich mich früher von Onkel Falk losgerissen hätte …«

»Ach ja, der sucht dich. Ich soll ihm Bescheid sagen, falls ich dich finde. Er will dich wichtigen Leuten vorstellen.«

»Bestimmt will er das.« Henrik seufzte. Sie hatten sich aufgeteilt und jeder ein Drittel des Saals übernommen. Seine ganze Hoffnung ruhte nun auf Livia, die … sich unter dem wild gestikulierenden Arm einer sportlichen Schönheit hindurchduckte und auf ihn zueilte. Ihr Blick sagte ihm alles, was er wissen musste.

»Ich hab ihn!«, rief sie, lange, bevor sie bei ihm und Jonathan angekommen war.

»Du bist die Beste!«, jubelte Henrik und ein zufriedenes Grinsen erhellte ihr Gesicht.

»Endlich siehst du es ein. Er ist bei deinem Onkel.«

»Was?«

Livia packte ihn am Arm und zerrte ihn hinter sich her. Jonathan folgte. Durch die Menschenmenge, vorbei an wild diskutierenden Männern und Frauen. Er erntete böse Blicke, als er sich vorbeidrängelte. Egal. Sie hatten ihn.

Der Mann stand mit dem Rücken zu Onkel Falk, aber Henrik erkannte ihn sofort. Nicht nur, weil er ein fast zwei Meter großer Wikinger war. Die Neigung des kräftigen Nackens, die Form der Schultern … all das erinnerte ihn schmerzhaft an Nils. Das musste klappen. Wenn er den Mann überredete, seinen Sohn kennenzulernen, konnte er Nils heute Abend anrufen und es ihm erzählen und vielleicht morgen schon zurück nach Ebernau fahren und … Sein Herz hämmerte wie verrückt, während er an den Mann herantrat.

Onkel Falks Augen wurden groß, als er ihn sah.

»Henrik!«, dröhnte er. »Na endlich! Leute, das ist mein Neffe.«

Die Runde aus etwa zehn Personen drehte sich um. Alle schauten ihn an, aber Henriks ganze Aufmerksamkeit galt Klaus Matthias Grachtenberger. Ein hübscher Mann. Die Nase war tatsächlich schmaler als die seines Sohnes, das Gesicht kantiger und die Haare länger und gepflegter. Ein feines Netz aus Fältchen zog sich um die Augen, wenn er lachte. So wie jetzt.

»Hallo Henrik«, sagte er. »Schön, dich kennenzulernen.«

Die Stimme war anders als die von Nils. Höher und wärmer. Eingeübter.

»Herr Grachtenberger«, sagte Henrik. Grachtenberger schaute verwundert, als Henrik seinen Namen nannte. »Gut, dass ich Sie endlich treffe. Ich habe nach Ihnen gesucht.«

Er hielt dem Mann seine Hand hin und der ergriff sie.

Fester Händedruck, dachte Henrik. Antrainiert? Grachtenberger wirkte, um ehrlich zu sein, ein wenig schmierig. Schien aber keinen zu stören, so, wie die anwesenden Damen ihn anschauten.

»Henrik.« Onkel Falk war leicht verwirrt. »Du hast nach Herrn Grachtenberger gesucht?«

»Ja, Onkel Falk. Ich habe doch die Privatdetektivin engagiert, um ihn zu finden.«

»Was?« Grachtenberger lachte, ein freundliches, warmes Lachen. Doch, er konnte sich vorstellen, dass Nils' Mutter dem verfallen war. »Das klingt ja abenteuerlich. Warum hast du mich denn suchen lassen?«

»Das würde ich gerne privat mit Ihnen besprechen«, sagte Henrik. »Hätten Sie einen Moment Zeit?«

»Henrik …« Onkel Falk schwante offenbar Übles. »Was hast du vor?«

»Nichts Schlimmes, Onkel Falk.« Hoffentlich. Ein Gedanke kam ihm. »Sag mal, ich habe dir doch das Foto gezeigt, gestern, auf der Fahrt.«

»Was für ein Foto?«

»Na, eins von ihm.« Henrik machte eine Kopfbewegung zu Grachtenberger. »Du hast gesagt, du kennst ihn nicht.«

»Ach, das … da hab ich ihn wohl nicht erkannt.« Onkel Falk verdrehte die Augen. »War das wichtig?«

»Ja.« Unglaublich. Dass Onkel Falk sich nicht mal die Mühe machte, richtig hinzuschauen. Er hätte ihn schon viel früher … Egal.

»Herr Grachtenberger.« Henrik lächelte so charmant wie möglich. »Können wir uns einen Moment lang unterhalten?«

»Sicher.« Grachtenberger nickte ihm zu. Er schien … in Ordnung zu sein. Wirkte gar nicht wie ein Mistkerl, der seine Freundin verlassen hatte. Vielleicht würde das hier nicht die hässliche Szene werden, die Henrik befürchtete.

Sie mussten bis vor die Tür gehen, um einen geeigneten Ort zu finden. Zwischen den Säulen war es ruhiger als drinnen. Aber auch verdammt eisig. Der kalte Wind fuhr durch Henriks Haare und zerrte an Grachtenbergers Anzug.

»Frisch«, sagte Nils' Vater. »Also, worum geht es?«

»Ich kenne Ihren Sohn«, sagte Henrik.

»Julius?«, fragte der. »Woher?«

»Ju… nein, Ihren anderen Sohn. Nils.«

Grachtenberger sah ihn an, als überlegte er, ob Henrik ihn veralberte.

»Ich fürchte, Julius ist mein einziger Sohn. Er ist gerade sechs geworden und …«

»Nils ist achtzehn«, sagte Henrik, jedes einzelne Wort betonend. »Er … Sie haben seine Mutter im Skiurlaub in Ebernau kennengelernt, vor ungefähr neunzehn Jahren. Jennifer Winter. Sie hat … ich habe gehört, dass Sie den Kontakt abgebrochen haben, nachdem Sie Ihnen gesagt hat, dass sie schwanger ist. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Aber Sie müssen …«

»Gar nichts muss ich!« Bei jedem Wort, das von Henriks Lippen kam, war der Mann blasser geworden. Sein Gesicht härter. »Was ist das für eine Farce? Warum erzählst du diesen Schwachsinn?«

»Bitte, ich …« Nein. Der Kerl war kurz davor, abzuhauen. In Henriks Magen bildete sich ein Knoten. »Ich bitte Sie, lernen Sie ihn kennen. Er … er wohnt nicht so weit von hier. Dass Sie damals verschwunden sind, hat ihn sehr geprägt und ich glaube, es wäre gut, wenn Sie ihn einfach mal treffen würden. Wenn er sehen könnte, dass Sie ein ganz normaler Mensch sind. Und wenn Sie sich vielleicht entschuldigen …«

»Lass mich in Ruhe!« Grachtenberger drehte sich auf dem Absatz um.

Seine Wangen waren inzwischen kalkweiß. Er fürchtete sich. Offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, dass Jennifer das Kind austragen würde. Seinen Sohn. Aber Henrik musste ihn dazu bringen, mit Nils Frieden zu schließen, sonst würde der nie ein besseres Bild von denen da oben haben und von … ihm. Er schluckte. Dann sprintete er los und hielt Grachtenberger am Ärmel fest. Der Anzugsstoff war weich unter seinen Händen. Edel. Teuer. Und Nils lebte in dieser Bruchbude …

»Herr Grachtenberger!« Henrik machte seine Stimme hart wie Stahl. »Sie verstehen nicht, in welcher Situation Sie sind. Nils ist Ihr Sohn. Eindeutig.«

»Sicher.« Mit einer einzigen schwungvollen Bewegung riss der Kerl sich los. Die Kraft hatte Nils auch von ihm. »Das musst du erstmal beweisen.«

»Gut. Wenn seine Mutter beschließt, auf Unterhalt zu klagen, wird sicher ein Vaterschaftstest gemacht.« Er funkelte Grachtenberger böse an. Der lachte überraschenderweise.

»Als ob die sich einen Prozess leisten könnte. Als ich sie gevögelt habe, war sie arm wie eine Kirchenmaus!«

Sein Gesicht war eine frostige Maske. Er hatte seinem Sohn nie weniger ähnlich gesehen.

»Sie erinnern sich also.« Henrik atmete tief ein. »Gut. Ich verspreche Ihnen, dass Sie sich bald an noch viel mehr erinnern werden. Ich werde ihr nämlich das Geld für den Anwalt leihen.«

»Sicher.« Grachtenberger schüttelte den Kopf. »Junge, du bist doch nicht geschäftsfähig. Als ob die dich an dein Geld lassen würden. Geh feiern und saufen wie sonst und ich lass dich in Ruhe.«

»Was?«

»Wir haben uns schon einmal gesehen, auch wenn du dich nicht daran erinnerst.« Seine Stimme war schneidend. »Auf dem Herbstball. Du warst so besoffen, dass du ins Büffet getorkelt bist. Dein Onkel musste dir eine Limousine rufen, weil du alleine nie nach Hause gefunden hättest. Denkst du echt, der gibt dir das Geld, um jemanden zu verklagen? Und dann noch einen wichtigen Geschäftspartner wie mich?«

»Ich … das werden wir ja sehen«, sagte Henrik. Mist, das lief völlig aus dem Ruder. Er wollte doch … Er hatte gehofft, dass Nils und sein Vater sich aussprechen könnten. »Warten Sie, ich … ich will doch nur, dass es Nils besser geht. Er leidet unter der Situation. Er hat es nicht leicht in Ebernau. Da ist es schwierig für einen Jungen ohne Vater und ich dachte …«

»Dachtest du, ich hol ihn zu mir?« Grachtenberger sah ihn ungläubig an. »In mein eigenes Haus?«

»Was? Nein! Ich hatte gehofft, Sie würden … vielleicht in Ordnung bringen, was Sie damals …«

»Seine Mutter hätte das in Ordnung bringen sollen, indem sie ihn wegmacht«, zischte Grachtenberger. Nein, er war überhaupt nicht mehr hübsch. Nicht mit dem verkniffenen Gesicht. »Wie ich’s ihr gesagt habe. Ihr Problem, dass sie ihn behalten hat.«

Henrik ballte die Fäuste, so fest, dass es wehtat. Er hätte dem Kerl am liebsten eine reingehauen. Aber das … stand Nils zu. Jawohl. Er würde ihn zu Grachtenberger bringen, nur, damit er ihm die Fresse polieren konnte!

Hasserfüllt sah er Grachtenbergers Rücken im Eingangsbereich verschwinden. Mit Mühe atmete er ein und aus, zu wütend, um sich zu bewegen.

»Du dummes Arschloch«, knurrte Henrik. »Nils wird dir eine zimmern, dass deine Nase in hundert kleine Teile zersplittert …«

Eine ekelhafte Vorstellung. Er schüttelte sich. Wenn er wollte, dass Nils den Mistkerl noch erwischte, musste er ihn sofort anrufen und herschaffen und … erstmal rausfinden, ob Grachtenberger morgen noch da war. Und wo er sonst wohnte.

Wutschnaubend stapfte er zurück ins Warme. Die Glocke läutete. Die erste. Unbeeindruckt redete die Menschenmasse weiter. Parfümgeruch schlug ihm entgegen, Champagnerduft und frischer Schweiß auf edlen Stoffen. Mit schnellen Schritten marschierte er an bunten Kleidern und dunklen Anzügen vorbei. Seine Füße machten harte Geräusche auf dem Boden …

»Henry!«

»Was?«, schnappte er und fuhr herum. Und stand vor …

Nils.

Nils in einer Kellneruniform, in der er unglaublich sexy aussah, mit einem riesigen Tablett voll Sektgläsern in der Hand, die Augen groß, die Wangen leicht gerötet und sein Blick … Der war so unsicher und gleichzeitig so zärtlich, dass Henriks Magen zu kribbeln begann. Das wurde gleich noch stärker, als Nils' Geruch nach Kaminfeuer und … absoluter Köstlichkeit in seine Nase stieg. Er machte einen Schritt auf ihn zu, blickte tief in die limettengrünen Augen, und …

»Hey.« Nils lächelte schwach und Henrik konnte nicht anders, als dümmlich zu ihm hochzugrinsen.

»Hey, was machst du denn …«, murmelte er. Dann wurde ihm klar, wie perfekt die Gelegenheit war. Er packte Nils am Kragen seiner Uniform und sah ihn entschlossen an. »Du musst mitkommen! Sofort!«

»Äh, okay.« Nils schaute ein wenig ratlos. Aber er drehte sich um und drückte sein Tablett dem nächstbesten Geschäftsmann in die Hände. »Halten Sie das mal. Also, was …«

Henrik ergriff seine Hand (seine wunderbare, große, kräftige Hand, deren Wärme sofort bis in Henriks Herz strömte) und zog ihn mit sich. Vorbei an plaudernden Operngästen, durch die Menge, die sich murrend teilte, bis sie wieder an dem Platz unter dem Balkon angekommen waren. Dem, an dem Onkel Falk immer noch Hof hielt. Mit den Geschäftspartnern plauderte. Jonathan und Livia standen dabei.

Grachtenberger war zurückgekehrt. Er verzog das Gesicht, als er Henrik erkannte. Aber dann flackerte sein Blick, und …

Ah.

Er starrte Nils an. Und der starrte zurück.

Nils' Augen wurden riesig, als der den Mann erblickte, der wie sein älteres Spiegelbild aussah. Gleiche Augen, gleicher Mund, gleiche Statur. Sein Vater. Der Kerl, der ihn verlassen hatte. Der ihn nicht gewollt hatte, wie er gerade noch glaubwürdig versichert hatte. Der gehofft hatte, seine Mutter würde ihn abtreiben.

Henrik sah, wie ein schmerzverzerrter Ausdruck über Nils' Gesicht huschte.

Und fragte sich, ob er einen katastrophalen Fehler gemacht hatte.

 

32. Showdown

 

Matze, dachte Nils.

Ein Name, den er nur selten gehört, aber umso öfter gedacht hatte. Nachts, als er klein gewesen war, hatte er wachgelegen, mit geballten Fäusten und sich vorgestellt, dass er ihn finden würde. Dass er ihn zurückschleifen würde, nach Ebernau, damit seine Mutter ihm die Meinung geigen könnte.

Aber Matze war unerreichbar gewesen, ein Geist, dessen Gesicht er nicht einmal kannte, weil es keine Fotos von ihm gab …

Er hätte auch keins gebraucht. Das Antlitz, in das Nils starrte, war sein eigenes. Nur zwanzig Jahre älter. Aber mindestens so entsetzt. Der Typ schaute ihn an, als würde Nils ihm gleich an die Kehle springen. Wollte er auch. Seine Fäuste ballten sich, fast ohne sein Zutun. Sein Gehirn schrie ihn an, dem Mistkerl seine Faust in die Fresse zu donnern für das, was er Mama angetan hatte. Sein ganzer Körper brodelte vor Wut. Aber … seine Füße blieben, wo sie waren.

Ein Keuchen ließ ihn zur Seite sehen. Erweiterte seinen Tunnelblick. Henry sah ihn an, vollkommen entsetzt.

»Scheiße, ich bin so ein Idiot«, stammelte er. Seine wunderbaren Kaffeeaugen waren feucht. »Ich … ich hab wieder nicht nachgedacht. Es tut mir so leid. Ich … Das war so eine blöde Idee, dich zu ihm zu bringen … ich …«

Nils blinzelte. Sein Atem beruhigte sich. Mit einem Mal war alles klar wie ein Frühlingsmorgen.

Er schüttelte den Kopf.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739439716
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Januar)
Schlagworte
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Autor

  • Regina Mars (Autor:in)

In einer magischen Vollmondnacht paarten sich ein Einhorn und ein Regenbogen und zeugten Regina Mars. Geboren, um Kaffee zu trinken, lebt sie im Süden Deutschlands und erfreut die Welt mit ihren poetischen Romanen, in denen die Liebe stets gewinnt und Witze so dumm, albern und fragwürdig sein dürfen, wie sie wollen. Ihre Website, auf der sie täglich über ihr erbärmliches Schreibtempo jammert, äh, »ein Schreibtagebuch führt«: reginamars.de
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Titel: Regina Mars Collection 4