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Regina Mars Collection 3

Lautstark verliebt, 2 Jahre später, Plötzlich Prinzgemahl - 3x Gay Romance

von Regina Mars (Autor:in)
1200 Seiten

Zusammenfassung

3x Gay Romance Lautstark verliebt Teil 1 Als Kors geliebte Gitarre repariert werden muss, wagt er sich endlich wieder in die Stadt. Sofort begegnet ihm Ärger. Ärger in Form von Charles, dem tätowierten Gitarrengott, der Kors Herzschlag in ein Drumsolo verwandelt. Leider steht Charles nicht auf Männer. Nun, zumindest behauptet er das. Und was für einen Grund hätte er, zu lügen? Trotzdem schafft Kor es nicht, sich von ihm fernzuhalten. Wenn es eine Chance gibt, dass Charles seine Gefühle erwidert, nur eine winzig kleine Chance ... dann muss er seine Schüchternheit überwinden und kämpfen. Teil 2 Nathan, Charles' bester Freund, Zyniker und Bassist, nimmt alles mit ins Bett, was er kriegen kann. Seine einzige Regel: Mit jedem nur einmal. Dann trifft er auf Jan. Nach einer heißen Nacht auf dem Friedhof will er ihn eigentlich vergessen. Doch er hat nicht mit der Hartnäckigkeit des Drummers gerechnet. Und noch weniger mit seinem eigenen verräterischen Herzen. Dieser Roman enthält homoerotische Handlungen, erfundene Bands und alberne Witze. 2 Jahre später Vor zwei Jahren wurden Kai und Arthur auseinandergerissen. Beide glauben, der jeweils andere sei schuld. Zwei Jahre der Verbitterung folgen. Zwei Jahre, erfüllt von Schmerzen, Veränderungen und frischen Wunden. Nun sind sie erneut am selben Ort: einem Internat voller düsterer Intrigen und tödlicher Geheimnisse. Einem Ort, der droht, beide zu verschlingen. Es sei denn … sie finden wieder zusammen. Enthält: Missverständnisse, Drama und homoerotische Szenen. Und ein wenig Humor. Plötzlich Prinzgemahl Der Plan ist einfach: Nat wird in den Palast eindringen, ein bisschen Gold stehlen und wieder verschwinden. Wenn er dafür Frauenkleider anziehen muss – na gut, damit kann er leben. Aber warum macht Solan, der arrogante Thronfolger, ihm plötzlich schöne Augen? Eine Blitzhochzeit später hat Nat mehr Ärger am Hals als je zuvor in seinem Leben. Können der Meister der halbdurchdachten Pläne und der hübscheste Mann der Welt zusammenarbeiten? Können sie sich sogar ineinander verlieben? Und ganz nebenbei gegen die tödlichen Intrigen bei Hofe, fliegende Monster und ihre eigene Sturheit kämpfen? Ihre Chancen sind hundsmiserabel. Aber Nat und Solan sind nicht halb so unfähig, wie sie scheinen ... Achtung: Enthält homoerotische Szenen, Drama und Zwergnacktrobben.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

 

*** LAUTSTARK VERLIEBT ***

Teil 1: K&C

Korbinian

Korbinian

Korbinian

Charles

Kor

Charles

Kor

Kor

Kor

Charles

Kor

Kor

Charles

Kor

Charles

Kor

Kor

Charles

Kor

Kor

Charles

Teil 2: J & N

Jan

Nathan

Jan

Nathan

Jan

Nathan

Jan

Nathan

Jan

Nathan

Jan

Nathan

Jan

Nathan

Jan

Nathan

Jan

Nathan

Jan

Nathan

Jan

Nathan

Jan

Nathan

Jan

Nathan

*** 2 JAHRE SPÄTER ***

Kai, 15

Arthur, 15

Kai

Arthur

Kai

Arthur

Kai

Arthur

Kai

Arthur

Kai

Arthur

Kai, 17

Arthur, 17

Kai

Arthur

Kai

Arthur

Kai

Arthur

Kai

Arthur

Kai

Arthur

Kai

Arthur

Kai

Arthur

Kai

Arthur

Kai

Arthur

Kai

Arthur

Kai

Arthur

Kai

Arthur

Kai

Arthur

Kai

Arthur, 18

*** PLÖTZLICH PRINZGEMAHL ***

Der gemeine Dieb

Der Thronerbe

Perfekt geplant ist halb versagt

Ein rauschender Ball

Wertvolle Beute

Hochzeitsglocken

Die Hochzeitsnacht

Familientreffen

Tudan

Der Morgen danach

Ein romantischer Ausflug

Wiedersehen

Badefreuden

Ein Attentat, mal wieder

Leben und überleben

Übungen

Pläne

Ein Scheißjob

Alltag einer Ehe

Zellengenossen

Planlos

Sabotage

Ein beschwerlicher Weg

Ein Turnier

Abathiy

Unterwegs

Vor Gericht

Mist

Ein Traum wird wahr

Sterben

Daheim

Neubeginn in alten Kleidern

*** LAUTSTARK VERLIEBT ***

 

Teil 1: K&C

 

Korbinian

 

Ich habe keine Angst, dachte Korbinian. Natürlich war das eine Lüge.

Er stand seit mindestens drei Minuten vor dem Laden und starrte auf das abblätternde Schild. Das Schild blätterte nicht, weil es alt und ranzig war. Sondern weil es cool war. Der ganze Laden war cool.

Die handgemalten Lettern im Schaufenster (Bellas Gitarren & Reparatur), die das Geschäft wirken ließen, als würde es irgendwo in L.A. stehen. Das dunkle Innere, die abgenutzten Gitarren hinter der Glasscheibe, die unzähligen Bandplakate, mit denen die Tür vollgeklebt war …

Korbinian schluckte. In seinem Rücken tuckerte ein Auto vorbei. Die kleine Seitenstraße, in der der Laden sich versteckte, war schmal, kalt und roch nach Benzin. Dreckiger Schnee schmolz in den Ecken und vorhin wäre er auf dem glatten Kopfsteinpflaster fast ausgerutscht.

Korbinian schluckte erneut. Dieser Laden war so cool. Und er? Überhaupt nicht. Nie gewesen. Von seiner grünen Outdoorjacke über die billige, schlecht sitzende Jeans bis zu den orthopädischen Schuhen und dem Schlimmsten, seinem Namen … war er diesem Ort nicht gewachsen. Zum ersten Mal wünschte er sich, dass er selbst seine Klamotten aussuchen würde, und nicht seine Mutter. Schließlich war er schon neunzehn.

Er sollte wirklich … Er sollte eine ganze Menge. Das sagten sie ihm immer wieder. Mama, Papa und Mina. Aber er kriegte nichts davon hin.

Wenigstens das musst du schaffen, dachte er. Jetzt reiß dich mal zusammen. Du hast das Geld, und … und du weißt, was du willst. Bestimmt.

Er spürte Cherrys Gewicht in seiner Hand. Sie schlummerte in dem Gitarrenkoffer, den er heute erst zum zweiten Mal benutzte. Seit er sie vor vier Jahren gekauft hatte, hatte sie sein Zimmer nicht verlassen. Bis heute.

Cherry. Seine Harley Benton CST-24T Black Cherry Flame. Sein Ein und Alles. Für sie musste er verdammt noch mal den Arsch in der Hose haben, einen viel zu coolen Laden zu betreten.

Du kannst das, sagte er sich und atmete tief ein. Er strich eine lange Haarsträhne hinter sein Ohr und überprüfte, ob sein Haargummi noch da war. Dann machte er die paar Schritte bis zur Ladentür und drückte sie auf.

Zumindest versuchte er es. Sie bewegte sich kein Stück.

»Ziehen!« kam eine Stimme von innen und Korbinians Ohren wurden heiß. Verdammt.

Er öffnete die Tür, hörte das blecherne Scheppern einer Glocke und trat ein. Das Geschäft war klein und langgezogen wie ein Schlauch. Hinten lehnte ein gelangweiltes Mädchen in schwarzen Klamotten an der Ladentheke. Ihre Stimme hatte er gerade gehört.

Es roch nach altem Rauch und Leder, vermutlich, weil drei Typen in Lederjacken vor der Wand mit den Gitarren saßen und reihum eine davon ausprobierten. Sie sahen nicht einmal auf, als Korbinian vorbeischlich. Alle Drei waren mindestens vierzig, was ihn ein wenig beruhigte. Bei Jugendlichen hatte er immer Angst, dass sie ihm hässliche Dinge nachrufen würden. Ein Erfahrungswert.

Er gab sich Mühe, mit dem Gitarrenkoffer nichts umzuwerfen und schaffte es bis zur Kasse. Das Mädchen schaute nicht auf, selbst, als er direkt vor ihr stand. Sie blätterte durch einen dicken Katalog, der auf der mit verblassten Stickern übersäten Theke lag. Korbinian sah E-Gitarren auf den Seiten, an denen irgendetwas anders war … Ah, das mussten Linkshänder-Gitarren sein.

»Hallo«, krächzte er. Seine Kehle war staubtrocken. Seine Hände dafür so schweißfeucht, dass ihm der Koffergriff fast aus der Hand rutschte.

Das Mädchen sah auf. Mit einem Blick scannte sie seine peinliche Erscheinung.

»Hi.« Ihre Stimme war hell. Wohlklingend. Er räusperte sich.

»Ich möchte … Ich hab meine Gitarre dabei«, stotterte er.

»Und?« Sie zog die Augenbrauen zusammen. In jeder steckten mindestens fünf Piercings. So cool. »Was willst du damit? Verkaufen?«

»Nein!« Instinktiv zog Korbinian den Koffer vor seine Brust. »Ich will … Sie ist kaputt. Die Bundstäbchen, äh …«

»Also willst du sie reparieren lassen?« Sie klang leicht genervt.

»Ja«, murmelte er und nickte dazu, falls er mal wieder zu leise gesprochen hatte.

»Da runter«, schnarrte sie und deutete mit einem schwarz glänzenden Fingernagel neben sich. Oh. Ja, da ging eine winzige Wendeltreppe hinab. Das Geländer sah aus, als ob man sich pro Zentimeter hundert Splitter holen konnte.

»Danke«, sagte er leise. Sie antwortete nicht, da sie ihre Aufmerksamkeit längst wieder dem Katalog zugewandt hatte.

Vorsichtig tapste er die Stufen hinunter. Er stieß sich den Schädel an einem Balken und stolperte schließlich in eine Höhle, die roch wie ein Meerschweinchenkäfig. Die Wände bestanden aus unverputztem Mauerwerk, nur geschmückt von unzähligen Holzregalen, auf denen Gitarrenteile lagen. Rechts von ihm schraubte eine ältere Frau in einem Metallica-Shirt gerade an einer rotbraunen Fender Standard Strat herum. Musik dröhnte aus einem scheppernden Lautsprecher. Irgendein Sänger brüllte Worte, die Korbinian nicht verstand und … Er schrak zurück.

Ein schwarzgekleideter Junge, nein, Mann, drehte sich um und sah ihn an.

Und Korbinian wäre am liebsten weggelaufen. Dieser Kerl war cooler als alles andere in diesem gesamten Laden. Das wusste er, selbst, als der ihm noch den Rücken zugedreht hatte. Groß, blond, sportlich. Attraktiv. Schwarzes Langarmshirt, aus dessen Halsausschnitt ein Tattoo schaute. Schwarze Lederhose. Kalte, graue Augen hinter hellen Strähnen, die ihm verwegen in die Stirn fielen. Geschmeidige Bewegungen. Und ein Gesicht, so unfreundlich, als würde er Korbinian gleich die Hose runterziehen und ihn auf die Straße jagen. So, wie es Benjamin Meier damals in der siebten Klasse gemacht hatte.

Korbinians Handflächen waren klatschnass. Aber er blieb stehen, selbst, als der Typ sich komplett umgedreht hatte und ihn verächtlich musterte. Nur das Gewicht in seiner Hand ließ ihn stehenbleiben. Der Typ sah aus wie ein Löwe, in dessen Revier er unbefugt eingedrungen war.

»Ja?«, brummte der Blonde.

Er schien nicht viel älter als Korbinian zu sein. Aber einen ganzen, nein, nur einen halben Kopf größer. Schlimm genug. Korbinian ballte die Faust. Dann hielt er dem Blonden den Koffer hin.

»Die Bundstäbchen sind abgenutzt«, murmelte er und sah zu Boden. Alte Holzdielen, aber blitzblank geputzt. Er spürte, wie ihm das Gewicht abgenommen wurde.

»Lass mal sehen«, sagte der Blonde, ein wenig freundlicher. Erstaunlich sanft legte er den Koffer auf die nächstbeste freie Fläche und klappte ihn auf.

Cherry glänzte im Licht der Deckenlampe. Blutroter Körper, grauer Hals, etwas abgenutzt, aber immer noch wunderschön. Der Typ pfiff durch die Zähne.

»Gut gepflegt«, sagte er anerkennend und Korbinian entspannte sich ein wenig. Der Kerl nahm Cherry aus dem Koffer und betrachtete sie prüfend.

»Wie alt?«, fragte er.

»Vier Jahre«, sagte Korbinian, leise.

»Hm.« Der Blonde besah die Bundstäbchen, die von den Saiten tief eingekerbt worden waren. »Und da ist die schon so abgenutzt?«

Seine Stimme kam Korbinian bekannt vor, aber er wusste nicht, woher. Es war eine schöne Stimme. Warm und voll.

»Ich … ich spiel halt jeden Tag.«

Der Kerl musterte ihn, so ausführlich, wie er gerade noch Cherry betrachtet hatte. Korbinian versuchte, kraft seiner Gedanken im Boden zu versinken. Warum hatte er nichts Schwarzes angezogen? Nun, weil er nichts Schwarzes besaß. Seine Mutter meinte immer, er sollte fröhliche Farben tragen.

»Jeden Tag«, wiederholte der Kerl. Korbinian hatte das Gefühl, vor Gericht zu stehen. Einem Gericht, in dem ihm niemand glauben würde, egal, was er tat. Er nickte.

»Wie lange?«

»Ein … paar Stunden.«

Wann immer er konnte. Sobald er heimkam, sobald das Abendessen vorbei war. Und, seit er das Abi geschafft hatte, fast den ganzen Tag über, nur unterbrochen von der Arbeit im Lager und dem Steuerkram, den er für seine Eltern erledigte. Das war die Bedingung gewesen. Dafür, dass er ein Jahr Zeit bekam, um zu überlegen, was er mit seinem Leben anfangen wollte. Bisher wusste er nicht viel, außer, dass er weiter Gitarre spielen wollte.

Zum Glück trat die alte Frau plötzlich neben den Blonden. Sie nahm ihm Cherry aus der Hand.

»Hm. Bundstäbchen? Macht achtzig Euro«, sagte sie. Ihre Stimme war so rau, als hätte sie statt Mandeln Schleifsteine. Korbinian zuckte zusammen und begann, in den Taschen seiner grünen Jacke zu wühlen. Wo war sein Weihnachtsgeld?

»Lass stecken«, brummte sie. »Du zahlst erst, wenn du sie abholst.«

»Oh.« Mist, seine Ohren wurden schon wieder heiß. »Ach so.«

»Charles.« Sie wandte sich an den Blonden, der Korbinian immer noch anschaute. »Das kannst du machen. Denke, du bist so weit.«

»Na endlich.« Der Typ nickte.

Was? Nein! Korbinian wollte nicht, dass der Kerl an Cherry herumdokterte, wenn der das offensichtlich noch nie getan hatte!

»K-kannst du das denn?«, fragte er. Eine Falte erschien zwischen den Augenbrauen des Blonden. Charles.

»Klar kann ich das.« Er wirkte verärgert. Oh nein. »Weißt du, wie lang ich schon lerne? Die Alte lässt mich alles hundertmal an irgendwelchem Schrott üben, bevor ich an die echten Dinger ran darf.«

»S-so habe ich das nicht gemeint«, stotterte Korbinian, obwohl er es genau so gemeint hatte. Panisch sah er zu der Alten, die Cherry einfach wegtrug. Er sah ihren blutroten Leib blitzen und hätte am liebsten geheult. »Ich meine, wenn du … äh. Ach, egal.«

Er ließ die Schultern sinken. Hoffentlich behandelten sie Cherry gut. Hoffentlich … Ein furchtbarer Gedanke kam ihm: Was, wenn sie sie klauten? Wenn er wiederkäme und sie sie ihm nicht wiedergeben würden? Behaupten würden, dass sie Cherry nie gesehen hätten, und … er zu schwach wäre, um sich zu wehren? Er würde sich das gar nicht trauen, schließlich stand ihm »Opfer« auf die Stirn geschrieben und … Korbinian schluckte die Tränen hinunter.

Reiß dich zusammen, dachte er. Du bist erwachsen.

Ein rosafarbener Zettel erschien vor seinem Gesicht. Etwas Unleserliches war darauf gekritzelt.

»Hier«, schnarrte die Alte. »In 'ner Woche ist sie fertig.«

Eine Woche?, wollte Korbinian rufen. Geht das nicht schneller?

Aber natürlich tat er das nicht, Opfer, das er war.

Damit schien alles geklärt zu sein. Die Alte drehte sich um und watschelte zurück zu ihrer Werkbank. Charles drückte Korbinian den leeren Koffer in die Hände und wandte sich wieder zu seinem Regal um.

Korbinian spürte kalten Schweiß in seinem Nacken. Cherry, dachte er. Sehnsuchtsvoll sah er zu der Wand, an der sie nun hing, zwischen einer blauen und einer mahagonifarbenen Gitarre. Sah auf Charles' muskulösen Rücken, das schwarze Langarmshirt, aus dessen Kragen ein Tattoo schaute, das er nicht identifizieren konnte. Etwas Beiges, Verästeltes. Ein … Geweih?

»Äh, also …«, begann er. Charles drehte sich um.

»War noch was?«, fragte er.

Korbinian atmete tief ein.

»Äh, ich …« Er straffte sich. »Pass auf sie auf, ja? Bitte.«

Er sah Charles an, vermutlich so flehend wie ein hungriger Welpe, aber das war ihm egal. Er brauchte keinen Stolz, er brauchte nur Cherry. Etwas Erstaunliches geschah in Charles' selbstbewusstem, absolut coolem Gesicht. Ein Lächeln erschien. Eins, das bestimmt jedes Mädchenherz zum Schmelzen gebracht hätte, so warm und freundlich und verständnisvoll, wie Korbinian es nie erwartet hätte.

»Mach ich«, sagte Charles. Seine Stimme war weich wie Karamell. »Versprochen.«

Korbinian nickte, sprachlos. Einen Moment lang konnte er nur starren, dann kroch ein Lächeln in sein Gesicht. Ein bestimmt saudummes Lächeln, aber das war egal.

»Danke«, flüsterte er. Und dann machte er, dass er aus dem Geschäft kam.

Erst, als er wieder auf dem Kopfsteinpflaster stand, merkte er, dass sein Puls raste und sein Atem stoßweise ging. Er hatte es geschafft. Er hatte diesen coolen Laden überlebt und war auf halbem Weg, Cherry heil zurückzubekommen.

Jetzt musste er nur noch eine Woche ohne sie überstehen.

 

Korbinian

 

Okay. Dieser Charles würde auf Cherry aufpassen. Er hatte es versprochen. Und irgendwie vertraute Korbinian ihm. Keine Ahnung, warum.

Aber dieses Vertrauen machte die Zeit bis zum nächsten Montag erträglicher. Eine Woche … Er hatte keine Woche mehr ohne Gitarre überleben müssen, seit sie ihm damals die Affinity gestohlen hatten. Cherry hatte er nie nach draußen mitgenommen. Er selbst ging nicht gern raus. Wenn ihre Saiten kaputt gewesen waren, hatte er neue aus dem Internet bestellen können. Nur den Bund konnte er nicht allein …

»Korbinian. Salat«, sagte seine Mutter und unterbrach seinen Gedankenstrom.

»Hier«, murmelte er und reichte die glattpolierte Olivenholzschüssel über den Tisch.

Seine Mutter schenkte ihm ein Nicken, dann hörte sie Mina weiter zu. Korbinian war froh, dass seine Schwester da war. Sie lenkte die Aufmerksamkeit seiner Eltern von ihm ab. Er schaute durch den Vorhang seiner Haare auf die Szene vor sich.

Sie saßen um den blankpolierten, reich gefüllten Tisch wie eine Familie aus der Werbung: sein Vater, imposant und gütig, mit graumeliertem Schopf. Seine Mutter, selbstbewusst, streng und frisch erblondet. Seine Schwester Mina, die so herzlich lachte, dass Grübchen in ihren Wangen erschienen. Schwungvoll warf sie ihre honigfarbene Mähne zurück.

Als wäre er in eine Sparkassenwerbung geraten. Nur er passte nicht ins Bild. Mager, schmächtig, zusammengesunken und schüchtern, die dunklen Haare vorm Gesicht, als wollte er sich dahinter verstecken. Wollte er auch. Immerhin, seine Akne war besser geworden.

»Oh mein Gott, der Prof ist so lustig!«, sagte Mina. Wilhelmina Schuster, Vorzeigestudentin und -tochter, dachte Korbinian, ein wenig neidisch. »Ich habe schon so viel gelernt, viel mehr als bei allen anderen. Im Vergleich zu ihm sind die pädagogische Nieten.«

»Ja, unterrichten will gelernt sein«, sagte ihre Mutter. »Das kann halt nicht jeder. Und nicht jeder will das lernen. Wir hatten im Studium so eine Nase …«

»Professor Mylius?«, fragte sein Vater. Seine Mutter nickte.

»Diese Pfeife. Hat immer nur vorn gestanden, auf seine Schuhspitzen geschaut und vor sich hingemurmelt. Kein Wort verstanden hat man.«

Korbinian zuckte zusammen. Dieser Professor Mylius tat ihm leid.

»Nian, komm doch mal mit!« Oh nein. Mina hatte ihre Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet. »Das würde dir guttun. Dann kannst du den Uni-Alltag schon mal kennenlernen. Wir könnten in der Mensa essen, wenn du magst. Dienstags gibt es 'nen superguten Hackbraten.«

»Vielleicht«, murmelte er. »Mal schauen.«

»Korbinian, das ist wirklich eine gute Idee.« Seine Mutter sah ihn ernst an. Das Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden. Korbinian versuchte, sich so klein wie möglich zu machen.

»Ich schau mal«, flüsterte er.

»Komm schon, Nian.« Mina setzte ihr bestes Große-Schwester-Lächeln auf. Als wollte sie ein verschüchtertes Kätzchen unter einem Auto hervorlocken.

»Muss noch die Vorsteuer machen«, behauptete er.

»Das hat doch Zeit«, sagte sein Vater entschieden. »Du schaust dir die Uni an, verstanden?«

»Ich … Na gut.«

Korbinian verstand ihre Frustration. Neunzehn Jahre mit einem Feigling, der sich nichts traute, mussten hart für sie sein. Für seine Eltern, mit ihrem erfolgreichen Laden für orthopädische Schuhe und den vielen Nebenprojekten. Dem Radfahren und dem Klettern und dem Fallschirmsprung im letzten Mai. Und seine Schwester, die eine Klasse übersprungen hatte, nie um eine Antwort verlegen war und jetzt als Beste ihr Studium meisterte … Ein Gedanke kam ihm.

»Können wir … Kann ich am Montag mitkommen? Dann bin ich eh in Stuttgart.«

»Bist du das?« Seine Eltern sahen ihn erstaunt an.

»Ich habe die Gitarre weggebracht«, sagte er. »Musste repariert werden. Die Bundstäbchen waren …«

»Ah.« Seine Mutter schüttelte den Kopf. »Ich habe mich schon gewundert. Klar, für das Ding wagst du dich aus dem Haus.«

Korbinian sah auf seine schlanken Hände mit den rauen Fingerspitzen. Seine Eltern mochten Cherry nicht. Sie hatten sich geweigert, ihm eine Gitarre zu schenken, also hatte er all seine Weihnachtsgeschenke auf eBay verkauft und mit dem Geld Cherry erstanden. Seine Mutter hatte eine Woche lang nicht mit ihm geredet.

»Ich … Sie ist mir wichtig«, murmelte er.

»Das wissen wir.« Seine Mutter verdrehte die Augen. Dann wurden ihre Züge weicher. »Das wissen wir doch, Schatz. Ich würde mir nur wünschen, dass du bei den Dingen, die dir wichtig sind, das richtige Maß finden würdest.«

Korbinian brummte etwas Unbestimmtes.

»Ach, lass ihn doch.« Mina zwinkerte ihm zu. »Das ist halt Liebe. Ich war damals doch dabei, als er beim Musik-Mischmasch seine erste Gitarre gefunden hat. Ich habe dich vorher nie wütend gesehen, Nian. Erst, als sie dir das Ding wegnehmen wollten, damit du mal was Anderes probierst.«

»Ich wollte nichts Anderes probieren.«

»Nein.« Sein Vater führte seine Gabel zum Mund. »Willst du ja nie. All das Geld für diese Musikschule und du hast die Geige nicht mal angerührt.«

»Das war aber auch die Schuld der Musikschule«, sagte seine Mutter. »Immer diese Kuschelpädagogik. Die hätten ihn zwingen sollen.«

»Den konnte man nicht zwingen.« Mina schüttelte den Kopf. »Und überreden auch nicht.«

Der Musik-Mischmasch war, trotz des Namens, eine renommierte Kinder-Musikschule. Spezialisiert auf Frühförderung. Und Förderung war seinen Eltern sehr wichtig gewesen. Mit sieben und acht Jahren hatten sie Mina und ihn da reingesteckt. Jahrelang hatte er sich durch Blockflöte, Klavier, Schlagzeug und alles Mögliche gekämpft.

Mina war besser als er gewesen, wie immer. Die hatte jedes neue Instrument gelernt und ohne Zögern wieder abgegeben. Die hatte die Synapsen im Gehirn, die nur durch künstlerische Betätigung entstanden, ausgebildet, und dann was Vernünftiges damit gemacht. Korbinian? War ein mittelmäßiger Schüler und zunächst auch ein mittelmäßiger Musikschüler gewesen.

Erst nach zwei Jahren Musik-Mischmasch hatte sein Tutor ihm eine E-Gitarre in die Hand gedrückt. Eine grellblaue Fender Affinity, das Modell, das er sich direkt darauf zu Weihnachten gewünscht hatte. Und er hatte … Es war gewesen, als würde sich die Welt endlich öffnen. Als hätte er in einem vollkommen chaotischen Universum die eine Sache gefunden, die Sinn machte.

Plötzlich war er der Beste im Kurs gewesen, hatte jeden Tag Griffe geübt, bis seine Fingerspitzen bluteten. Da hatte seine Mutter begonnen, sich Sorgen zu machen. Wenn er sich morgens mit zugepflasterten Händen hastig ein Brot schmierte, um noch vor der Schule zehn Minuten spielen zu können.

Und nach vier Wochen, als er die Gitarre eigentlich hätte abgeben müssen, um mit der Geige anzufangen, hatte er sich geweigert. Er war nicht zur Musikschule gegangen und hatte sich im Zimmer verschanzt, um sie behalten zu können.

Das hatte Ärger gegeben. Aber irgendwie hatte er seine Eltern überzeugen können, dass er den Musik-Mischmasch durch Gitarrenunterricht ersetzen durfte. Er hatte bis heute keine Ahnung, wie.

»Korbinian! Deine Schwester hat dich etwas gefragt«, unterbrach seine Mutter seine Gedanken.

»Was?«

»Weißt du schon, ob du nach Stuttgart an die Uni kommst, wenn das Jahr vorbei ist?«

Mina lächelte ermunternd. Korbinian schüttelte den Kopf, hörte das leise Seufzen seiner Mutter und wurde für den Rest des Abendessens in Ruhe gelassen.

Dieser Charles kam ihm plötzlich in den Sinn.

Er fragte sich, ob der auch gerade mit seiner Familie zu Abend aß. Vermutlich nicht. Der war zu cool dafür. Er konnte sich nicht mal vorstellen, wer dessen Eltern waren. Die ältere Dame im Metallica-Shirt hatte nicht gewirkt, als ob sie seine Mutter wäre, aber … hm. Er wirkte, als sei er mit Tattoos und diesem spöttischen Blick auf die Welt gekommen.

Wahrscheinlich war er gerade bei seiner Freundin. Oder auf einem Konzert. Was Leute eben so taten, die wirkten, als würden sie in diesen Gitarrenladen gehören. Korbinian war ein wenig neidisch. Und ein wenig … Hm. Er konnte das nicht erklären. Wenn er an Charles' verständnisvolles Lächeln dachte, stob ein winziges Gefühl in ihm auf. Wie eine Biene, die aus dem Winterschlaf erwachte.

Falls Bienen überhaupt Winterschlaf hielten. Vermutlich nicht.

 

Korbinian

 

Bellas Gitarren & Reparatur war geschlossen, als Korbinian am Montagmorgen dort ankam. So ein Mist. Aber auf der Tür stand doch, dass sie ab 10 Uhr aufhatten. Nur … hatten weder das Mädchen an der Kasse, noch Charles, noch die Alte (Bella?) gewirkt, als würden sie sich an Regeln halten. Oder an Ladenöffnungszeiten.

Korbinian zitterte trotz seiner dicken Jacke. Die Gasse war so klein, schäbig und kalt wie vor einer Woche. Vielleicht noch kälter. Er konnte sich nicht an eisigen Wind erinnern, der über seine geröteten Wangen gestrichen war. Es roch nach Mülleimer und Winter, und …

Was sollte er nun tun? Er musste warten, bis ihm jemand aufmachte. Sollte er in ein Café gehen? Er kannte kein Café und er traute sich nicht, Geld auszugeben, falls die Reparatur doch teurer sein würde, aber …

Er schluckte. Er hätte wissen müssen, dass sie nicht gleich um zehn öffneten. Außerdem … Was tat er schon hier? Er war erst um eins mit Mina verabredet. Selbst wenn die hier um zehn geöffnet hätten (und er war schon um fünf vor da gewesen), hätte er fast drei Stunden Zeit totschlagen müssen. Aber er vermisste Cherry so sehr, als wäre sie sein linkes Bein, mindestens, und er konnte es kaum erwarten, sie wiederzuhaben. Er …

»Hey!«

Er kannte die Stimme. Korbinian fuhr herum. Charles schlenderte die Gasse entlang, sicher und elegant wie ein Tiger. Ein Tiger mit dunklen Augenringen, was seiner Attraktivität keinen Abbruch tat. Natürlich trug er eine abgewetzte Lederjacke mit irgendwelchen Bandabzeichen auf den Armen. Er gähnte.

»Du warst der Typ mit der Black Cherry Flame, oder?«, fragte er und gähnte nochmal.

Korbinian nickte. Irgendetwas an Charles' Anwesenheit hatte ihm die Sprache verschlagen. Als er direkt vor ihm stand, konnte er ihn sogar riechen. Bier und alter Rauch und … irgendetwas Würziges, Gutes.

»Sorry«, brummte Charles und streckte sich. »War spät gestern.«

Er kramte in den Taschen seiner enganliegenden Jeans und förderte einen Schlüssel zutage, den er in das Schloss der Ladentür steckte. Korbinian wurde bewusst, dass er noch nichts gesagt hatte. Er sollte etwas sagen, oder?

»Äh … Wie spät war's denn gestern?«, stammelte er. War das eine dumme Frage?

»Hm.« Ein schwaches Lächeln zuckte über Charles' Lippen. Er fuhr sich mit den Händen durch die Haare und schien nachzudenken. »Halb drei? Gaia Gepardo haben gespielt und danach gab's noch 'ne kleine Party …«

»Gaia GepardoSei ruhig und tu so, als wüsstest du, wovon er redet, schaltete sich sein Gehirn ein. Einen Moment zu spät. Charles öffnete die Tür. Die Luft war abgestanden und roch nach altem Öl und Sägespänen.

»Speed Metal mit Melodic-Einflüssen. Die kommen aus Offenbach.«

»Ach so.« Korbinian zögerte vor der Türschwelle. »Äh … ich kann mit reinkommen, oder?«

Die grauen Augen musterten ihn belustigt und er kam sich wieder wie ein Idiot vor.

»Sicher«, sagte Charles.

»D-danke.«

Korbinian zuckte zusammen, als Charles hinter ihm abschloss. Warum … Leider bemerkte der seinen Blick.

»Ich kann die Tür nur offen lassen, wenn oben einer ist«, erklärte er. »Und ich habe in der Werkstatt zu tun.«

»Ah.« Korbinian nickte unsicher.

»Aber deine Cherry ist fertig. Ich kann sie abkassieren.« Charles drehte sich um und ging an den schwarzen Wänden entlang.

»W-woher weißt du, dass sie Cherry heißt?«, fragte Korbinian und hätte sich am liebsten geohrfeigt. Was für dämliche Fragen stellte er hier? Aber Charles zuckte nur mit den breiten Schultern.

»Wusste ich nicht. Ich habe sie so genannt, als ich an ihr gearbeitet habe. Macht ja auch Sinn.«

»Ja.« Korbinian entspannte sich ein wenig.

Zögernd folgte er Charles durch den Laden und die Treppe hinunter. Hier war es deutlich wärmer als draußen. Viel besser.

»Ich habe eine Les Paul«, sagte Charles, zog seine Jacke aus und warf sie über den nächstbesten Stuhl. Selbst im Dunklen traf er. Sein Mädchenschwarmlächeln blitzte auf. »Lesley.«

Korbinian lachte. Er entspannte sich zusehends, obwohl er mit einem Fremden in einem dunklen Raum stand, eingeschlossen in einem Laden … Okay, toll war das nicht.

Charles haute schwungvoll auf einen Schalter. Licht flammte auf. Regale, Bänke und Stühle schälten sich aus der Finsternis. Die Reihe der fertigen Gitarren an der Wand. Cherrys blutroter Leib funkelte und Korbinian hatte das Gefühl, nach einer Woche endlich wieder atmen zu können.

Charles fuhr sich durch die Haare, und Korbinian fiel erneut auf, wie attraktiv er war. Die wölfischen Augen, die scharfgeschnittene Nase, der kräftige Kiefer, der breite Mund … Doch, der hatte bestimmt eine Freundin.

Er beobachtete Charles' sichere Schritte, mit denen er zur Wand ging. Mühelos nahm er Cherry herunter. Aber statt sie Korbinian zu geben, der bereits die Hände nach ihr ausstreckte, trug er sie zu einem Verstärker und steckte sie ein.

»Hier, probier sie aus«, sagte er. »Damit du weißt, dass sie in Ordnung ist.«

»Was?« Kalter Schweiß bedeckte mit einem Mal Korbinians Nacken.

»Na, du hattest doch Zweifel.« Charles' Stimme klang ein wenig kühler. »An meinen Fähigkeiten.«

»Hatte ich nicht!«, stieß Korbinian hervor. »Ich hab nur … Cherry ist alles, was ich habe, und …« Peinlich, peinlich, peinlich. »Ich hatte nur Angst um sie.«

»Mann, das versteh ich doch.« Das Mädchenschwarmlächeln verjagte alle Frostigkeit aus Charles' Antlitz. »Würde mir doch genauso gehen. Aber ich habe gute Arbeit geleistet, wie du gleich merken wirst«

»Okay.« Korbinian räusperte sich. »Ich …«

»Was?«

»Ich habe noch nie vor jemandem gespielt«, brachte er heraus. Schweiß benetzte seine Handflächen. »Nur vor meiner Familie. Und die interessiert das eh nicht, also macht es mich auch nicht nervös …«

»Aha.« Charles' Augenbraue wanderte nach oben. Aber ihn konnte wohl keine Absonderlichkeit aus der Ruhe bringen. »Ich kann so tun, als ob du gar nicht da wärst. Kein Problem.«

»Ach, echt?«

»Wenn's dir hilft.« Charles zuckte mit den Schultern. »Ab jetzt bist du Luft für mich.«

Nein, rief etwas in Korbinians Hinterkopf. Das will ich doch gar nicht!

»Danke«, murmelte er.

Charles antwortete nicht. Er ging, ein Lied pfeifend, um die Werkbank herum und schaltete den kleinen Laptop ein. Dann setzte er sich und begann, den einzelnen Bund zu bearbeiten, der auf der Bank lag. Kurz darauf erklang wieder die Stimme aus den scheppernden Lautsprechern. Die schreiende, gruselige. Die, die dröhnte, als sei sie direkt aus der Hölle entsprungen. Leiser als das letzte Mal.

Korbinian wurde also ignoriert. Gut.

Mit klammen Fingern setzte er sich auf den Holzboden, so, wie er das zuhause tat. Er lehnte sich gegen die Wand, wie er sich normalerweise gegen sein Bett lehnte. Und legte Cherry quer über seine Brust.

Es tat so gut, sie wieder zu halten. Seine Fingerspitzen tasteten über die Saiten und eine tiefe Ruhe überkam ihn. Die Bundstäbchen unter seiner linken Hand waren anders, neuer und standen weiter heraus. Aber sie waren gut eingearbeitet. Charles hatte sie eingearbeitet. Irgendwie machte ihn das glücklich.

Versuchsweise griff er ein G und strich über die Saiten. Cherrys unverwechselbarer Klang drang aus dem Verstärker und mit einem Mal war er vollkommen entspannt. Als wäre er zuhause, griff er in die Saiten, spielte ein paar Riffs, dann eine simple Melodie. Ein Lied, das er aus einem YouTube-Video gelernt hatte. Eins, das er sich selbst ausgedacht hatte. Noch eins.

Er versank in einem Zustand, den seine Mutter »Koma« nannte. Korbinian war einfach weg, wenn er spielte. In einer anderen Welt, sagte Mina. In einer besseren Welt, dachte er, aber das sagte er keinem.

Er hielt inne und lauschte auf die ungewöhnliche Musik, die aus den Lautsprechern drang. Vielleicht war das Speed Metal? Probeweise versuchte er, der Melodie zu folgen, die der Gitarrist spielte. Er schaffte es fast, hinkte immer nur zwei Töne hinterher. Und als der Refrain zum zweiten Mal gebrüllt wurde, konnte er ihn taktgenau mitspielen. Je länger er es hörte, desto mehr gefiel es ihm. Er probierte, den Sänger anders zu begleiten, zu …

Er schrak hoch, als jemand die Treppenstufen herunterpolterte.

Die alte Frau, diesmal in einem anderen Metallica-Shirt.

»Ach was, du kümmerst dich schon um den ersten Kunden?«, fragte sie. »Sehr gut … Was ist?«

Hä? Aber sie sah nicht ihn an, sondern Charles. Und der … starrte auf Korbinian. Fassungslos. Die Hände auf die Werkbank gestützt, den Mund halb offen, mit riesigen grauen Augen … Korbinian hatte das Gefühl, hintenüber zu kippen. Zu fallen, obwohl sein Rücken sicher an der Wand lehnte. Warum schaute Charles ihn so an? Hatte er ihn … die ganze Zeit über so angesehen? Er spürte eine Gänsehaut, die seinen gesamten Rücken überzog.

»Wie … lange spielst du schon?«, fragte Charles.

»Ich … äh … zehn Jahre. Hab ich was falsch gemacht?« Korbinian hörte das Zittern in seiner Stimme. Charles schüttelte den Kopf, gottseidank.

»Zehn Jahre? So? Und da hast du immer nur vor deiner Familie gespielt?« Der Blonde schaute ihn an, als wäre Korbinian ein Rätsel, das er unbedingt lösen musste.

»Ja.« Korbinians Arm juckte. Er kratzte sich dort, dann juckte seine Kopfhaut. Alles juckte und kribbelte. Konnte dieser Charles aufhören, ihn anzusehen?

Die Alte lenkte endlich seine Aufmerksamkeit ab, als sie scheppernd lachte.

»Was, echt?« Sie grinste breit. »Die meisten gründen 'ne Band, bevor sie drei gerade Noten spielen können. Charles hier zum Beispiel. In der wievielten Band bist du jetzt, seit ich dich kenne? Der zehnten?«

»Der elften.« Charles schien verstimmt. »Na und?«

»Ich sag ja nur«, kicherte sie. »Ein bisschen von seinem Durchhaltevermögen würde dir nicht schaden. Und von seiner Bescheidenheit.«

Was? Nein. Er wollte nicht … Würde Charles jetzt sauer auf ihn sein? Korbinian hatte gerade begonnen, sich in seiner Gegenwart wohlzufühlen, was erstaunlich war, da er sich bei Fremden sonst nie wohlfühlte, und der Blonde ihm einfach in jeder Hinsicht überlegen war …

Zum Glück schien Charles kein bisschen verärgert zu sein. Er zwinkerte Korbinian zu, was wieder so eine Biene in seinem Magen abheben ließ.

»Vielleicht kannst du mir ja was beibringen. Wie heißt du eigentlich?«

Oh nein.

»Äh. Korbinian Schuster.«

»Kor-was?!« Die Alte schien entsetzt. Aber Charles nickte bedächtig.

»Korbinian. Hast du 'nen Spitznamen? Kor?«

Nian, dachte Korbinian. Aber Kor klingt soviel besser. Fast … cool.

»Ja«, behauptete Korbinian. »Kor. So nennen mich alle.«

»Deine ganze Familie?« Die Alte grinste spöttisch und Korbinian hätte sich gern hinter seiner Gitarre verkrochen.

Sah man ihm an, dass er keine Freunde hatte? Er hatte mal welche gehabt, na ja, zumindest Bekannte, aber die waren alle weggezogen, um irgendwo zu studieren …

»Ärger ihn nicht«, sagte Charles und … lächelte. Noch viel mädchenschwarmiger als sonst. Wenn er nicht so ein schwarz gekleideter, tätowierter Band-Typ gewesen wäre, hätte er auch in irgendeiner Boygroup sein können. Oder ein Schauspieler. Alle schönen Menschen sahen sich irgendwie ähnlich.

Korbinian war plötzlich furchtbar nervös. Ein Bienenschwarm schien durch seinen ganzen Körper zu rasen und er rappelte sich auf.

»Ich … äh, sorry, dass ich so lange geblieben bin. Ich … zahl dann, und …«

»Nein!« Charles sprang auf.

Einen Moment lang wirkte er gar nicht mehr entspannt und cool. Einen sehr kurzen Moment lang. Dann war er wieder die Ruhe selbst. Er lehnte die Arme auf die Bank, als hätte er alle Zeit der Welt.

»Ich meine … wenn du magst, kannst du noch ein wenig bleiben. Spielen. Mir gefällt's. Und Bella bestimmt auch, oder?«

»Macht dieses Gejaule erträglicher«, brummte die und deutete auf die Lautsprecher.

»Witzig.« Charles gähnte.

»Mir gefällt's«, sagte Korbinian. »Die Musik da. Echt. Ich habe sowas noch nie gehört, aber … ich mag es.«

»Grausig ist das«, sagte die Alte. Höhnisch. Und dann kapierte Korbinian etwas, das ihn schon die ganze Zeit unbewusst beschäftigt hatte. Diese Stimme aus der Hölle …

»Das bist du, oder?« Er deutete auf Charles. »Du bist der Sänger. Ich hab deine Stimme nicht erkannt, weil die so anders ist, aber … krass.«

»Das bin ich.« Charles verneigte sich und Korbinian stockte der Atem. Hammer! »Schön, dass es dir gefällt.«

»Total!« Korbinian strahlte. »Du, ich meine … wow. Ist das deine Band? Und die Gitarre, bist das auch du?«

Charles wollte etwas sagen, aber Bella unterbrach ihn.

»Das ist seine Ex-Band. Sie haben sich aufgelöst. Wie immer.«

»Na und?«, knurrte Charles. »Bands lösen sich halt auf, das ist ganz normal.«

»Die meisten schaffen mehr als ein paar Wochen«, sagte Bella.

»Wir sind nicht die meisten.« Charles schien leicht verstimmt. »Und es war 'ne gute Zeit, aber … dann hat es halt nicht mehr gepasst.«

»Nicht mehr gepasst. Da habe ich aber eine andere Version gehört.«

»Blödsinn.« Charles' Blick flackerte zu Korbinian hinüber und er verstand gar nichts mehr.

»Echt? Es lag also nicht an deinen«, sie machte eine flatternde Handbewegung, »romantischen Verwicklungen? Oder an denen von deinem besten Freund? Du weißt schon, der, der alles pudert, was nicht bei Drei auf den Bäumen ist? Der, mit dem du aus allen Bands fliegst?«

Charles verdrehte die Augen.

»Meistens fliegen wir wegen ihm raus. Ich bin ganz harmlos.«

Die Alte lachte dröhnend.

»Sicher. Kam letztens nicht dieser Kerl vorbei und wollte alles kurz und klein schlagen, weil du seine Freundin gepimpert hast?«

»Ich wusste nicht, dass sie seine Freundin war. Ich wusste nicht mal, dass sie überhaupt einen Freund hatte.« Zwischen Charles' Augenbrauen erschien eine Falte. »Und die mochte mich halt. Ich konnte nichts dafür.«

Eine kalte Klaue packte Korbinians Herz. Er kapierte nicht, warum. Aber natürlich hatte einer wie Charles … Sex. Affären. Der konnte sich vor Angeboten bestimmt kaum retten, attraktiv und selbstbewusst, wie er war. Korbinian wäre schon vollkommen glücklich damit gewesen, mal jemanden zu küssen. Irgendwann …

Irritiert merkte er, dass er auf Charles' Lippen sah. Starrte. Er schaute schnell zu Boden und spürte, dass seine Wangen heiß wurden. Hoffentlich hatte das niemand gemerkt …

»B-bist du jetzt in einer neuen Band?«, fragte er.

»Noch nicht.« Charles wiegte den Kopf. »Bald hoffentlich. Ich treff heute Abend jemanden, der 'nen Gitarristen sucht. Was ist mit dir?«

»Mit … mir?«

»Ja, bist du auf der Suche? Willst du in eine Band?«

»Ich?!« Wie konnte Charles … Hatte der Korbinian nicht angeschaut? So, wie er aussah, konnte er auf keinen Fall … Und überhaupt, allein der Gedanke, auf eine Bühne zu treten, verursachte ihm Übelkeit. »Nein, das … kann ich nicht. Glaub ich. Nein.«

»Schade.« Charles zuckte mit den Achseln. »Du bist gut.«

Korbinian wusste, dass er knallrot anlief. Er spürte die Hitze in seinen Wangen prickeln.

»D-d-danke«, brachte er heraus. »Aber ich weiß eh nichts darüber und … ich war noch nie auf einem Konzert.«

»Nicht?« Begeisterung erhellte Charles' Züge. Seltsam. »Willst du? Morgen Abend spielen Orkus Orbus und deren Gitarrist hat eh einen Stil, der ein bisschen wie deiner ist … Komm doch mit.«

Korbinian hätte nicht entsetzter sein können, wenn Charles ihm vorgeschlagen hätte, mit auf die Drachenjagd zu gehen.

»Ich?«

»Wer sonst?«

»Äh.« Korbinian sah an sich herunter. Ja, er trug immer noch die Jacke, die seine Mutter ausgesucht hatte und orthopädische Schuhe. »Ich … seh nicht richtig aus.«

»Ist doch egal, wie du aussiehst«, sagte Charles. Bella warf ihm einen Blick zu, den Korbinian nicht deuten konnte.

»Aber … Danke, aber ich würd mich da nicht wohl fühlen, glaub ich«, stotterte Korbinian.

»Weil du meinst, dass du nicht richtig angezogen bist?«

Er nickte, mit heißen Wangen. Nicht nur deshalb, dachte er. Auch wegen ungefähr tausend anderen Dingen. Charles kratzte sich am Kinn.

»Hast du hundert Euro?«

»J-ja.« Schließlich war vor kurzem erst Weihnachten gewesen. Selbst nach Cherrys Reparatur war noch Geld übrig.

»Perfekt.« Charles fuhr sich durch die Haare. »Wann hast du heute Zeit?«

»Äh, ich …« Was? »Ich treff meine Schwester um eins, an ihrer Uni, also, so um … halb drei. Was willst du …«

»Wir besorgen dir was Passendes«, sagte Charles. »Ist das die Uni Stuttgart? Ich hol dich ab. Muss heute eh nur halbtags arbeiten.«

»O…kay.«

Wilde Freude summte in Korbinian, plötzlich, wie ein Vogelschwarm, der aus dem Nichts auftauchte. Er wollte … Charles wollte ihm helfen? Und mit ihm auf ein Konzert und … Er brachte kaum die Lippen auseinander, um sich zu bedanken. Sie tauschten ihre Nummern aus (er hatte Charles' Nummer!).

Dann packte er Cherry und schwebte praktisch aus dem Laden, nicht, ohne vorher an der Kasse bezahlt zu haben. Irgendwie war das Mädchen dort heute freundlicher. War die ganze Welt freundlicher. War …

 

»Was ist denn mit dir los?«, fragte Mina ihn, sobald sie in der lärmenden Unimensa Platz nahmen. Essensdüfte vermischten sich mit dem Geruch von schmutzigen Winterstiefeln. Sie saßen inmitten einer lautstarken Menschenmenge auf Plastikstühlen und aßen Tortellini von Plastiktabletts. Immerhin die Teller waren echt. Die Tortellini auch. Ganz gut eigentlich … Oh, Mina hatte etwas gefragt.

»Nichts.« Er lächelte. »War nur ein schöner Morgen. Ich habe jemanden getroffen.«

Minas Augen wurden groß.

»Du hast was? Du …« Sie stockte. »Ein Mädchen etwa?«

»Was? Nein!« Er zuckte zusammen. Sah sich panisch um, aber niemand schien sich für ihn zu interessieren. »Einen Jungen. Mann. Der spielt auch Gitarre und … der will mich nachher treffen und morgen gehen wir auf ein Konzert.«

Minas Kopf legte sich langsam seitwärts. Ihre glatten Haare flossen über ihren hellen Pullover.

»Ist das ein Date oder so?«, fragte sie und Korbinian hätte sich fast verschluckt.

»Nein! Ich … äh. Ich glaube nicht?« Scheiße. An die Möglichkeit hatte er nicht mal gedacht. Er hatte sich nur gefreut, dass Charles etwas mit ihm machen wollte, egal, was. »Ich hoffe nicht? Er … Der war nur so nett und … ich …«

»Was ist das für ein Typ?« Die Augen seiner Schwester wurden schmal. »Kann man dem vertrauen? Woher kennst du den?«

»Aus dem Gitarrenladen. Er hat Che… meine Gitarre repariert.« Korbinian warf einen liebevollen Blick auf den schwarzen Kasten, der auf dem Stuhl neben ihm lag. »Er ist … total cool. Und nett. Er hat mich überhaupt nicht verarscht.«

»Das ist nicht nett, das ist selbstverständlich«, knurrte Mina. »Warum denkst du immer, dass du verarscht wirst?«

»Weil das dauernd passiert«, murmelte er. Sofort fühlte er sich wieder wie ein Versager. Zuletzt war eine Gruppe Zwölfjähriger neben ihm hergelaufen und hatte ihn als Loser und Jungfrau beschimpft.

»Das würde nicht passieren, wenn du dich ein bisschen aufrechter halten würdest.« Mina seufzte. »Und nicht immer so schauen würdest, als würdest du dich vor deinem eigenen Schatten fürchten. Mensch, Nian, gib dir doch mal ein bisschen Mühe …«

»Ich versuch's«, flüsterte er und machte sich so klein er konnte. Seltsam. Vorhin, im Laden hatte er sich gut gefühlt. Als wäre … Als wäre es okay, er zu sein, so trottelig, schüchtern und jungfräulich, wie er war. Selbst seine komischen Klamotten schienen Charles nicht zu stören.

»Nian, du musst mich nachher anrufen, ja?« Mina sah ihn durchdringend an. »Nur, falls was passiert. Es ist gefährlich, einfach so fremde Männer zu …«

»Mina!«, rief ein Kerl hinter Korbinian. Schon hatte er sich neben ihn gesetzt, zum Glück nicht auf Cherrys Kasten. »Wie läuft's? Hast du VFL schon nachgeholt?«

»Klar.« Mina lächelte entzückend. Oh, der dunkelhaarige Mann sah gut aus. Ohne Korbinian weiter zu beachten, verwickelte er Mina in ein Gespräch über … ihr Studium. Mehr verstand Korbinian davon nicht. Sie warfen mit Fachbegriffen um sich und seine Gedanken schweiften ab.

Das mit Charles … Das war kein Date, oder? Nein. Nein, ganz bestimmt nicht. Bella hatte was von einem Mädchen erzählt, mit dem Charles geschlafen hatte …

Aber was, wenn der bi war? Wie … wäre es, ein Date mit Charles zu haben? Allein der Gedanke verursachte ihm einen halben Herzinfarkt. Wenn der ihn küssen wollte? Oder gar …

Äh.

Irgendwie gefiel ihm der Gedanke.

Sein ganzer Körper wurde ungefähr hundert Grad heißer. Und tausend Prozent kribbliger. Mindestens. Wenn Charles … Wie es sich wohl anfühlen würde, ihn zu küssen? Wie weich waren diese Lippen, die so nett lächeln konnten?

Korbinian zuckte zusammen. Konnte man ihm seine Gedanken ansehen? Hektisch schaute er sich um. Immer noch beachtete ihn niemand. Wie immer. Gut.

Nur langsam beruhigte sich sein Atem. Eine Viertelstunde später, als Mina ihn wieder bemerkte, hatte er sich endlich normalisiert.

 

»Wo triffst du diesen Kerl denn?«, fragte Mina, als sie aus der Mensa traten. Eiskalter Wind schlug ihnen entgegen. Die stickigen Essensdüfte wurden durch dünne Stadtluft ersetzt.

»Hier«, sagte Korbinian. »Er wollte mich abholen …«

Da war er auch schon. Zwischen vorbeihastenden Studenten und Studentinnen stand Charles auf einem runden Betonblock, der im Sommer wohl als Sitzgelegenheit diente. Viele Studentinnen warfen ihm bewundernde Blicke zu. Er wirkte anders als die meisten. Selbstsicherer und gefährlicher, wie ein Raubtier in einer Herde Gnus. Elegant sprang er von dem Block und marschierte auf Mina und Korbinian zu.

»Kor!«, rief er und grinste. Graue Augen blitzten hinter blonden Haarsträhnen und Korbinians Herz setzte einen Schlag aus.

Nein, dachte er. Das kann kein Date sein. So viel Glück habe ich einfach nie.

»Hallo, Charles«, sagte er.

Mina starrte Charles mit offenem Mund an. Der nickte ihr zu.

»Hi«, sagte er. Sie schwieg weiter. Und als sie sprach, redete sie mit Korbinian.

»Das ist dein Kumpel?«, fragte sie.

»Ja. Das ist Charles.« Korbinians Stimme war voll Stolz. »Charles, das ist meine Schwester Mina. Sie studiert hier. Charles hat meine Gitarre repariert.«

»Das … weiß ich.« Verschiedene Gesichtsausdrücke huschten über Minas Gesicht, so schnell, dass Korbinian sie nicht deuten konnte. »Na dann, äh … Viel Spaß euch beiden. Ich muss los. Nian, du passt auf dich auf, klar?«

»Klar.«

Sie drückte Korbinian, behielt Charles aber immer im Auge. Der beobachtete sie interessiert. Oh nein. Was, wenn Charles Mina mochte? Lieber als Korbinian? Alle mochten Mina lieber als Korbinian, weil sie viel hübscher, klüger und lustiger war.

 

Als er Seite an Seite mit Charles losging, versuchte er, den Gedanken zu verdrängen. Sie mussten seltsam aussehen, zu zweit. Gar nicht, als würden sie zusammenpassen …

»War das deine große Schwester?«, fragte Charles. Jetzt, wo er sich bewegte, sahen ihn noch mehr Leute an. Bewundernd. Oder bildete Korbinian sich das nur ein?

»Ja«, sagte er. »Sie ist ein Jahr älter. Ich weiß, das sieht nach mehr aus.«

Ein leichtes Lächeln erschien auf Charles' Lippen und sofort zuckte ein verbotenes Bild durch Korbinians Kopf. Was, wenn er ihn wirklich küssen wollte?

»Wirkt fast, als wäre sie deine Mutter. Als wollte sie auf dich aufpassen.«

»Was?«

»Na, sie hat mich so angeschaut … als ob sie dich verteidigen müsste.«

»Meinst du?« Korbinian sah ihn fragend an.

»Ja.«

»Das …« Das kommt daher, dass ich keine Freunde habe und schon gar keine wie dich und sie sich fragt, was du von mir willst, wollte er sagen. Tat er aber nicht. Er fürchtete sich vor dem, was Charles davon halten würde.

»Wo gehen wir hin?«, fragte er stattdessen.

»Zu einem Freund. Ins Mephistos

»Wohin?«

»Den Laden, in dem ich meine Klamotten kaufe«, sagte Charles leichthin. »Ich krieg da Rabatt.«

»Oh. Oh, gut.« Rabatt, das würde seiner Mutter gefallen, wenn er … Würde er wirklich mit einer neuen Garderobe heimkommen? Was würden seine Eltern dazu sagen? Aber daran wollte er gerade nicht denken. Außerdem war er erwachsen. Und … Nun, Charles würde sich bestimmt bald mit ihm langweilen, also musste er die Zeit nutzen.

»Kann ich dich was fragen?«

»Klar, was denn?« Felsgraue Augen betrachteten ihn. Schritte hallten dumpf über den Asphalt.

»Heißt du wirklich Charles?«, platzte Korbinian heraus. »Oder ist das ein Spitzname?«

»Ne, so heiße ich wirklich.« Ein Schatten flog über Charles' Gesicht. Oder bildete er sich das ein? »Meine Mutter kommt aus England.«

»Oh. Ach so.«

»Was hast du denn gedacht?«

»Äh …« Korbinian kratzte sich mit der linken Hand an der Nase. »Dass du in Wahrheit Karl heißt oder so.«

Charles lachte, voll und dröhnend. Passanten sahen sich nach ihm um. So lustig war das doch gar nicht gewesen, oder? Aber Korbinian mochte dieses Lachen. Er mochte es auch, Seite an Seite mit Charles durch die grauen Straßen zwischen den noch graueren Hochhäusern zu schlendern. Der Großteil des Schnees war schon weggeschmolzen und es sah ziemlich trostlos aus.

»Ne, zum Glück ist das mein richtiger Name.« Charles schüttelte den Kopf.

»Ja, das ist wohl besser als Karl«, murmelte Korbinian in seinen Kragen. Hm. »Kann ich dich noch was fragen?«

»Okay, wenn ich danach dich was fragen kann.« Charles schenkte ihm ein Lächeln, das ihm den Atem verschlug. Er … Nein, das konnte kein Date sein. Bestimmt nicht. Aber er traute sich auch nicht, danach zu fragen. Stattdessen sagte er:

»Warum bist du so nett zu mir? Ich … also … Warum willst du, dass ich morgen mitkomme?«

Charles schaute ihn an. Etwas flackerte in seinem Blick, aber Korbinian war heute furchtbar darin, Leute zu lesen. Eigentlich war er das immer.

»Das klingt bestimmt komisch«, sagte Charles schließlich. Er wirkte ernster. »Aber ich habe dich mit deiner Cherry gesehen und … ich versteh dich. Sie hat dich gerettet, oder?«

Korbinian starrte ihn an. Schluckte hart.

»Ja.« Ja, so könnte man das ausdrücken. »Ja. Ich …«

Er wusste nicht, was er sagen sollte. Wie viel er von seinem traurigen Leben verraten sollte, dessen absoluter Höhepunkt es jeden Tag war, sich in seinem Zimmer einzuschließen und stundenlang zu spielen? Meistens mit Kopfhörern, weil der Sound seinen Vater in den Wahnsinn trieb.

»Was immer du denkst, ich kenn das«, sagte Charles.

»Meinst du?«, sagte Korbinian und dachte: Nein, tust du nicht. Du weißt nicht, wie sich das anfühlt, wenn man ein totaler Versager ist. Wenn alle ständig enttäuscht von dir sind.

Sie redeten über unverfängliche Dinge, während sie weiterliefen. Irgendwie fiel es ihm leicht, mit Charles zu reden. Vielleicht, weil er sonst niemanden kannte, der sich so für Musik interessierte wie er. Vielleicht, weil Charles' Lächeln ihm Sätze entlockte, von denen er selbst nicht gewusst hatte, dass sie in ihm steckten.

Charles erzählte von dem Konzert gestern, mit Worten, von denen Korbinian nicht jedes kannte, die aber toll klangen. Er mochte die Begeisterung in Charles' Blick. Seinen tigerhaften Gang und die Tatsache, dass sich bestimmt niemand trauen würde, Korbinian ein Weichei zu nennen, während er mit einem Kerl in einer Lederjacke und schweren Stiefeln unterwegs war.

Mephistos lag in einem riesigen Kellergewölbe. Nur wenig Licht drang hinein und die Beleuchtung war … ungewöhnlich. Ungewöhnlich rot. Man konnte kaum erkennen, welche Farben die Kampfstiefel, Lederjacken und unzähligen Bandshirts in den Regalen hatten. Na ja, vermutlich waren die schwarz.

Die Mädchen, an denen sie vorbeiliefen, hatten so bunte Haare, dass sie ihn an Einhörner erinnerten. Harte Musik dröhnte aus den Lautsprechern, so ähnliche wie eben in Bellas Laden.

»Ist das auch deine Ex-Band?«, fragte Korbinian Charles.

Der schüttelte grinsend den Kopf und Korbinian wusste, dass er etwas Blödes gesagt hatte. Aber da war keine Bosheit in Charles' Lächeln. Nur sanfter Spott und Unglaube.

Er leitete Korbinian an Kleiderständern und leuchtenden Totenköpfen vorbei, als wäre er sein Führer durch den Dschungel. Bis zur Kasse.

Die Ladentheke war so schwarz wie alles hier. Der Kassierer ruhte seine Füße darauf aus und hing in seinem Stuhl, als würde er in Kürze einschlafen.

»Nathan!«, rief Charles und der Typ setzte sich auf.

»Du Sack!« Der Kassierer grinste, irgendwie … fragwürdig. »Hättest du mir gestern kein Bier eingeflößt, hätte ich einen perfekten Tag gehabt. Mein Schädel platzt gleich.«

»Von wegen eingeflößt. Das hast du ganz allein verbrochen.« Charles lachte.

Der Typ erhob sich langsam. Schlangenartig. Er kam Korbinian etwas … böse vor. Klar, Charles war ein Riesenkerl mit Kampfstiefeln, aber der da sah aus wie die personifizierte Sünde. Wunderschön mit seinen dunklen Locken und dem schlanken Körper in der engen Lederhose, aber eben … böse. Kirschrotes Licht erhellte sein Engelsgesicht. Irgendwie schüchterte er Korbinian ein. Na gut, sehr viele Dinge schüchterten ihn ein. Er beschloss, mutig zu sein.

»Hallo«, sagte er und nickte dem finsteren Engel zu. Der schaute überrascht. Er betrachtete Korbinian eingehend, sah dann zu Charles und zurück zu ihm. Oh nein. Mochte er ihn nicht? Fragte er sich, warum Charles so einen Versager anschleppte?

»Hi. Ich bin Nathan.« Ein frisches Grinsen ging über das Gesicht des Verkäufers. »Wie sieht's aus, hast du Lust …«

»Hat er nicht«, sagte Charles. Hart. Nathan hob eine Augenbraue.

»Lass mich doch meine Frage stellen«, beschwerte er sich.

»Egal, was sie ist, die Antwort lautet: Nein.« Was hatte Charles?

»Pff.« Der Dämon schaute verärgert. »Da dachte ich, du bringst mir ein Versöhnungsgeschenk, weil du mich gestern so abgefüllt hast … Na gut. Was wollt ihr?«

»Kor braucht was zum Anziehen, meint er. Er kommt morgen mit zu Orkus Orbus

Nun wanderten beide Augenbrauen nach oben. Nathan legte den Kopf schief.

»Kor? Wie in Kirchenchor? Oder in … Hardcore?«

Charles schnaubte leise.

»Wie in Korbinian, du Trottel.«

»Ach so.« Nathan reckte sich. »Na, dann schaut euch mal um.«

»Wie sieht's mit meinem Rabatt aus?«

»Zehn Prozent Freundschaftspreis und zehn Prozent, weil du der Chefin nicht verraten hast, dass ich John im Lager flachgelegt habe.«

»Und zehn, weil ich nicht sage, was du mit Nancy auf der Theke getrieben hast.«

»Die zehn Prozent geb ich gerne.« Ein genüssliches Lächeln kräuselte Nathans Lippen. »Das hat sich gelohnt.«

»Kor.« Charles drehte sich zu ihm um und Korbinian zuckte zusammen. Dieses Gespräch überstieg eindeutig seine Fähigkeiten. »Wie du siehst, nimmt Nathan alles mit, was er kriegen kann. Halt dich von ihm fern.«

»O-kay«, stotterte er. Er warf Nathan einen schnellen Blick zu und sah dessen belustigtes Gesicht.

Charles zog seine Jacke aus und warf sie hinter die Theke. Dann befahl er Korbinian, ihm zu folgen und schritt voran durch den schwarzroten Dschungel.

»Der Freund, von dem Bella geredet hat«, begann Korbinian und beeilte sich, hinterherzukommen. »Das war Nathan, oder? Der, wegen dem sich die Band aufgelöst hat.«

»Ja.« Charles schüttelte den Kopf. »Die letzten beiden sogar. Ich schwöre, wenn der einmal sein Ding in der Hose behalten würde, könnten wir richtig was reißen. Der Idiot sieht nicht so aus, aber er ist ein ziemlich guter Bassist.«

»Der Beste!«, schallte es durch die Reihen. »Du meinst, ich bin der Beste!«

Charles verdrehte die Augen. Aber er schmunzelte. Hübsch. Richtig hübsch. Ob die beiden …

»Er ist dein bester Freund, oder?«, fragte Korbinian.

»Hm?« Charles hatte vor einem Regal gehalten und betrachtete die Shirts mit kritischem Blick. »Ja, wahrscheinlich ist der Idiot das.«

Korbinian seufzte unhörbar. Na, immerhin waren sie nicht … mehr. Komischerweise hatte er das befürchtet, und er wusste nicht, warum. Nathan hatte eindeutig von einem »John« gesprochen, also war er wohl auch an Männern interessiert und Charles war ein Mann … Ein sehr aufregender Mann. Muskeln bewegten sich unter seinem schwarzen Langarmshirt, als er etwas aus dem Regal holte und Korbinian zuwarf. Der fing es und hätte beinahe Cherrys Koffer fallen gelassen.

»Du kannst den ruhig zu Nathan hinter die Theke stellen«, sagte Charles. »Er ist ein Trottel, aber er wird Cherry nicht anrühren.«

»Passt schon«, murmelte Korbinian. Er musste ziemlich laut murmeln, um die Lautsprecher zu übertönen. »Warum ist eure vorletzte Band auseinandergebrochen?«

»Weil dieser Idiot mit dem Drummer und dem Sänger gevögelt hat«, knurrte Charles. »Okay, eigentlich hätten die es wissen müssen. Nathan versteckt sich nicht gerade. Und jeder weiß, woran er bei ihm ist. Der nimmt jeden nur einmal und zieht dann weiter. Aber der Drummer hat sich in ihn verliebt und der Sänger … Der hatte vorher nie was mit 'nem anderen Kerl und ist damit nicht klargekommen. Hat immer wieder behauptet, dass Nathan ihn verführt hätte und dass er eigentlich absolut hetero wäre. Nathan fand das total komisch und … das war's dann. Wir haben uns nur noch angeschrien.«

»Ah.« Korbinian schluckte. Die Röte stieg ihm in die Wangen. Da war eine Frage, die rausmusste, so peinlich sie auch war. »Aber du … Würdest du damit klarkommen? Mit … Wenn du … einen anderen Kerl … äh.«

Etwas huschte durch Charles' Gesicht. Wirkte fast wie Schmerz. Er wandte sich ab.

»Würde ich«, brummte er und besah den Inhalt eines Regals. Wich er ihm aus? »Wenn ich auf sowas stehen würde. Also auf Kerle.«

Enttäuschung schlug über Korbinian zusammen wie eine riesige Woge. Verdammt, das sollte ihm doch egal sein. Er war doch nicht … Zumindest hatte er selten daran gedacht, na ja, an Mädchen aber noch weniger … Er schluckte.

»Ach so, ja.« Würde Charles ihm ansehen, was er dachte? Hatte er sich schon verraten? Mist. Er musste sich da rausreden, dabei war er superschlecht im Reden, und … »Sorry, ich habe mich nur gefragt … Das heißt, meine Schwester hat gefragt, ob …« Er erstickte fast an den Worten. Charles' ihm zugekehrter Rücken schien angespannt. Oh nein. Hatte er Angst, dass Korbinian etwas von ihm wollte? »Sie hat gefragt, ob das hier ein Date ist, und … ich war plötzlich nicht mehr sicher. Es tut mir leid.«

Charles stand ganz still. So still, dass Korbinian die Musik mit einem Mal überdeutlich hörte. Irgendwas mit vergiftetem Blut … Er versuchte, zu schlucken, aber seine Kehle war zu trocken. Als Charles antwortete, klang seine Stimme rauer als sonst.

»Hättest du gern, dass das hier ein Date ist?«, fragte er. Korbinian zuckte zusammen. Panik stieg in ihm auf.

»Nein!«, stieß er hervor. »Natürlich nicht! Sorry, das … Ich bin auch … Ich steh auch nicht auf Männer.«

Lügner!, brüllte sein Gewissen ihm zu. Du dreckiger Lügner! Aber er wollte doch, dass Charles ihn noch mochte. So sehr.

»Ja dann …« Charles zuckte mit den Schultern. Als er sich umwandte, lag wieder ein spöttisches Lächeln um seinen Mundwinkel. »Dann ist das ja geklärt. Hier, zieh die an.«

Eine schwarze Jeans landete in Korbinians Händen. Sein Herz hämmerte bis zum Hals. Eine Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung schnürte ihm die Kehle zu.

»Wo ist die Umkleide?«, fragte er.

 

Charles

 

»Das war die frechste Lüge, die ich je gehört habe.«

Charles fuhr herum. Nathan stand hinter ihm im Gang und blickte ihn an, als hätte er ihn beim Keksklauen erwischt.

»Was?« Furcht stieg in Charles auf. »Hast du uns belauscht? Was soll das?«

»Mir war halt langweilig.« Nathan gähnte, wie zur Bekräftigung. Aber er schien ungewöhnlich ernst. Vorsichtig wandte Charles den Kopf. Kor war in der Kabine verschwunden und die beiden Mädels mit den bunten Haaren standen weit entfernt. Niemand hörte zu.

»Von was für einer Lüge redest du?«, fragte er Nathan.

»Dass das kein Date ist. Dass du nicht auf Männer stehst. Und dass du nichts von dem Kleinen willst.« Jedes Wort war wie ein winziger Schnitt in sein Herz.

»Leise«, zischte Charles ihm zu. »Was, wenn er das hört, du Idiot?«

Nathan sah ihn mit einer Mischung aus Verachtung und Mitleid an.

»Du bist so ein erbärmlicher Schwächling, wenn's um deine Gefühle geht.«

»Halt die Klappe!«, fauchte Charles. »Halt die … Was verstehst du denn davon? Du bist doch genau so ein Gefühlskrüppel wie ich!«

»Und genau deshalb sind wir so gute Freunde.« Nathans Mund verzog sich zu einem trägen Lächeln. »Ein Krüppel erkennt den anderen. Und du … bist verliebt.«

»Bin ich nicht!« Ups, viel zu laut. Charles atmete tief ein. »Bin ich nicht. Was laberst du da?«

Er war doch nicht in Kor … Charles ballte die Fäuste. Nein. Bestimmt nicht. Das war nur … Keine Ahnung.

»Junge, ich kenn dein Gesicht, wenn du verliebt bist. Das da.« Nathans Zeigefinger stach ihm fast ein Auge aus. »Genau so hast du damals geschaut, wenn du von diesem Spacken erzählt hast. Elias.«

Der Name durchstieß Charles' Herz wie ein Dolch. Immer noch. Allerdings schwächer als damals.

»Hab ich nicht.« Seine Fingernägel gruben sich in die Handflächen. Nathan rieb seine Nasenwurzel.

»Charles … Ach, egal. Bin ja nicht dein Therapeut. Woher hast du den Kleinen überhaupt? Der sieht nicht aus wie deine üblichen Freunde.«

»Er ist in den Laden gekommen«, sagte Charles. »Vor 'ner Woche. Wegen seiner Gitarre, die … Egal. Erst dachte ich: Was ist denn das für einer? Hast ihn ja gesehen, der ist nicht wie die gewohnte Kundschaft. Aber er hat … Na, irgendwie war klar, dass die Gitarre ihm total wichtig ist.«

»Noch so ein Freak also.«

»Ich bin kein Freak.«

»Charles, wir wohnen zusammen. Ich habe gesehen, wie du deine Gitarren behandelst. Du nimmst die mit ins Bett.«

»Na und? Du polierst deinen Bass doch auch jeden verdammten Tag.«

»Ich polier noch was anderes jeden verdammten Tag.«

Nathan grinste anzüglich und Charles verdrehte die Augen. Diese dämlichen Bemerkungen, egal, ob sie gerade passten oder lustig waren, gehörten zu den Dingen, die er an Nathan ganz und gar nicht schätzte. So wie diese plötzlich aufblitzende Neugier.

»Gut, Klosterschulboy«, sagte Nathan, und das war eine weitere Sache, die Charles hasste: seinen alten Spitznamen. »Und wann hast du dich in ihn verliebt?«

»Ich habe mich nicht in ihn verliebt«, knurrte Charles. »Er war nur … Ich glaub, wir verstehen uns. Wir sind uns ähnlich. Du hättest sein Gesicht sehen sollen, als er gespielt hat. Das war … als wäre er gar nicht mehr da. So weich, irgendwie.«

»So ähnlich wie deins grad?«

»Halt die Klappe.«

Charles verschränkte die Arme. Er war nicht verliebt. Auf keinen Fall. Mit Unbehagen erinnerte er sich an Elias, an … Er schüttelte den Kopf.

Ein neues Bild stieg in ihm auf. Kor und Cherry auf dem Boden, in der Werkstatt. Charles hatte gedacht, der Typ wäre irgendein Horst, der davon träumte, mit seiner miesen Schülerband groß rauszukommen. Mit Musik, die seine Mutti mochte, den Klamotten nach zu urteilen. Aber was der der blutroten Gitarre für Töne entlockt hatte … Charles hatte so etwas noch nie gehört. Wie problemlos Kor ihren alten Song nachgespielt hatte. Wie … er geschaut hatte, als wäre er einfach … weg. So, wie er sich fühlte, wenn er …

»Hey.« Eine schüchterne Stimme hinter ihm. Charles zwang sich, nicht zusammenzuzucken. Befahl sich, eine steinerne Miene aufzusetzen, als er sich umblickte.

»Nicht schlecht.« Nathan pfiff leise durch die Zähne. Er hatte recht.

Die Jeans saß wie angegossen an Kors schlanken Beinen. Das Shirt schmiegte sich um seinen Oberkörper und brachte seine blasse Haut zum Leuchten. Und ließ seine Augen noch dunkler aussehen. Ein zaghaftes Lächeln lag in seinem Gesicht und Charles' Herz zog sich schmerzhaft zusammen.

Nein, dachte er. Ich bin nicht verliebt. Das halte ich kein zweites Mal aus.

»Es passt, oder?« Kor strich eine Strähne hinter sein Ohr zurück. Er sah Charles an, nur Charles.

»Passt«, bestätigte der. Cool bleiben. Ganz ruhig. »Es gefällt dir, oder?«

»Total!« Kors Augen strahlten. »Ich sehe aus wie ein anderer Mensch, oder?«

»Irgendwie schon.« Selbst die komischen Schuhe, die Kor trug, fügten sich gut ins Gesamtbild ein. Na, die waren ja auch schwarz.

»Zum Anbeißen siehst du aus«, sagte Nathan und Charles hätte ihm am liebsten eine gezimmert. Noch mehr, als er sah, wie sich Kors Wangen röteten.

Mochte der Nathan? Na ja, die wenigsten Leute mochten Nathan … aber mehr als genug wollten mit ihm vögeln. Aber Kor doch nicht, oder?

Sein Gedankengang wurde unterbrochen, als Kor sich neben ihn stellte. Was? Oh, er betrachtete sie beide im Spiegel. Charles sah sich neben ihm. Groß, fast brachial, neben Kors zierlichem Körper. Der war … einfach süß. Verdammt. Verdammt, nein!

»Sieht fast aus, als würden wir zusammengehören, oder?«, fragte Kor unsicher. Charles hörte Nathan hinter sich kichern und seine Lust, ihm in den Arsch zu treten, wuchs. Er zwang sich zu einem spöttischen Lächeln.

»Meinst du?«

»Ja, so …« Kors Augen weiteten sich vor Schreck. »Nein, nicht so natürlich! So, als ob … wir die gleiche Musik hören würden. Dabei versteh ich gar nichts davon, aber die hier mag ich und die in der Werkstatt auch …«

Ach so hatte er das gemeint. Charles war so ein Trottel.

»Du verstehst was davon«, versprach er Kor. »Bald.«

»Echt?« Der Kleine sah ihn an, als hätte er ihm wer weiß was geschenkt.

»Bestimmt. Nimmst du die Klamotten?«

»Ja! Ja, auf jeden Fall!«

Als er wieder in der Umkleide verschwunden war, atmete Charles auf. Nathan hatte immerhin nichts verraten. Nur dumm gekichert. Leider musterten seine hellen Augen Charles, als könnten sie direkt in seine Seele spähen.

Bevor er etwas sagen konnte, platzte Charles damit heraus.

»Du fasst ihn nicht an. Nie. Hast du das verstanden?«

Nathan legte den Kopf schief.

»Was, wenn er von mir angefasst werden will? Darf ich dann …«

»Nein.« Charles lehnte sich vor. Er war nur wenig größer als Nathan, aber er wusste, wie gefährlich er wirken konnte. »Nie.«

»Schon gut.« Nathan hob beide Hände. »Ich fasse dein Schnucki nie niemals nicht an. Versprochen.«

»Gut.«

Er war nicht verliebt. Auf keinen Fall. Er hatte nur … Er hatte so ein gutes Gefühl bei der Sache. Mit Kor. So, wie der spielte. Okay, er hatte gesagt, er wollte nicht in eine Band und Charles respektierte das. Aber er konnte ihm wenigstens Dinge zeigen, Bands zeigen, schauen, ob es ihm gefiel …

Na ja, nachher traf er John, und wenn die Sonic Sons ihn wollten, wäre er eh erstmal in einer neuen Band. Ohne Nathan. Und die würden ihn wollen, das hatte John deutlich genug gemacht. Er war gut, das wussten alle.

Nur musste er Nathan noch klarmachen, dass … Er holte tief Luft.

»Ich treffe John nachher. In der Whiskyhölle.«

»Aha.« Nathan sah ihn fragend an. »Klingt romantisch. Aber falls du mich zu 'nem Dreier einladen willst, muss ich passen. John hatte ich schon, und …«

»Die Sonic Sons wollen mich als Gitarristen.«

»Oh.« Nathan blinzelte. »Hm, das … hm.«

Mist. Er wirkte fast ein wenig verletzt. Charles' Hals war mit einem Mal trocken.

»Ich dachte, das wäre 'ne gute Abwechslung. Wir beide müssen ja nicht ständig in der gleichen Band spielen. Vielleicht tut's uns mal ganz gut.«

»Stimmt wohl.« Erleichtert sah er, dass Nathan nickte. »Möglicherweise schaffen wir es alleine besser. Wenn du nicht wärst, wäre ich schließlich immer noch Bassist bei Odins Hoden. Hättest du Odins Freundin nicht gepimpert …«

Charles lachte.

»Das war einmal, du Spacken. Die letzten drei Mal war das deine Schuld.«

»Ich kann nichts dafür.« Nathan rückte stirnrunzelnd den Kleiderstapel zurecht, aus dem Charles Kors Shirt gezogen hatte. »Ich bin halt unwiderstehlich.«

»Oder unerträglich.« Charles fuhr sich durch die Haare. »Also ist alles gut?«

»Ist es.« Ein träges Grinsen. »Hattest du Angst, dass ich dir 'ne Szene mache?«

»Ich habe mit Heulen und Schreien gerechnet.«

Gut. Sehr gut. Es würde seltsam sein, mit jemand anderem zu spielen. Jemand anderem als seinem besten Freund, aber … Verdammt, er war müde. Bella hatte recht. Wenn er weiter von Band zu Band zog, würde das nie was werden.

»Ich habe einfach mal Lust, eine Weile bei einer Band zu bleiben«, sagte er. »Ohne Drama. Nur zusammenspielen, besser werden, gute Gigs abliefern …« Er zuckte mit den Achseln.

»Wenn du meinst.« Nathan lehnte sich an das Regal. »Mir gefällt es so. Aber ich bin ja auch nicht frisch verliebt, da wird man wohl sesshaft …«

»Halt. Die. Klappe.« Charles zwang sich, sich nicht umzudrehen. »Das ist ganz anders.«

»Sicher ist es das«, sagte Nathan gelangweilt.

 

Er begleitete Kor bis vor die Tür. Der bedankte sich noch einmal und sah Charles aus seinen Welpenaugen an, dass dem ganz mulmig wurde. Er wollte nicht verliebt sein. Nie wieder.

 

Kor

 

Kor. Das war jetzt sein Name, hatte Korbinian beschlossen. Er würde schwarze Kleidung tragen und zu Konzerten von … äh, Dings, Orkus Orbus, gehen und Charles' Freund sein.

Sein Freund. Nicht sein … fester Freund oder so. Er durfte sich nichts anmerken lassen, bis diese unerwünschten Gefühle sich gelegt hatten. Aber sie würden Freunde sein. Allein der Gedanke jagte Schauer über seinen Rücken.

Sein Atem ging schneller, als er sich fertigmachte und die neuen Sachen anzog. Er hatte sie heute dreimal gewaschen und getrocknet, damit sie nicht ganz so neu aussahen, wie sie waren. Er hatte bemerkt, dass Charles' Klamotten abgewetzt waren. Und Nathans Stiefel hatten ausgesehen, als wäre er damit über mehrere Kontinente gelatscht.

Hinter den Kunststofffenstern war es bereits dunkel. Es würde kaum noch jemand in der kleinen Vorstadtsiedlung unterwegs sein. Er wusste, wie er fahren musste. Mit dem Bus. Wie lange ging so ein Konzert? Hoffentlich würde er noch zurückkommen. Die Busse fuhren nur bis halb eins und er hatte panische Angst, dass er draußen würde übernachten müssen. Aber … er würde hingehen, selbst, wenn er an irgendeiner windigen Bushaltestelle ausharren musste, bis früh morgens.

Er wollte Charles sehen. Er wollte mehr Musik hören. Er wollte eine Band sehen. Eigentlich wollte er am liebsten Charles in einer Band sehen. Hören, wie er das machte, diese höllische, tiefe Stimme erzeugte, die so anders klang als seine sonstige. Er wollte …

Er schluckte. Nein. Er wollte Charles küssen. Aber das ging nicht. Sie waren … seiner Meinung nach auf dem besten Weg, Freunde zu werden und das durfte er nicht zerstören. Auf keinen Fall. Nur …

Prüfend sah er sich im Spiegel an. Dem Ganzkörperspiegel im Schlafzimmer seiner Eltern. Die waren über Nacht weg, was ihm ganz recht war. So würden sie das neue Outfit nicht sehen. Ihn nicht fragen, wo er hinwollte.

Er sah verändert aus. Nicht nur die Kleidung, auch die Haltung. Etwas anderes hatte sich in seinen Blick geschlichen. Natürlich war er immer noch viel zu unmännlich. Selbst mit neunzehn hatte er ein Kindergesicht. Aber eins, in dem eine Ahnung von etwas lag. Von Abenteuer?

Obwohl, irgendwie war alles für ihn ein Abenteuer. Weil er sich vor allem fürchtete. Davor, rauszugehen, sich zu blamieren, Charles zu küssen … Er schluckte. Sah auf seinen Mund. War der irgendwie küssenswert? Eigentlich hatte er ganz hübsche Lippen, voll und geschwungen. Wie wäre es, wenn Charles … wenn der seinen lächelnden Mund auf Kors pressen würde? Dann … Ohne darüber nachzudenken, legte er zwei Finger auf seine Lippen. Stellte sich vor, das wäre Charles …

Ein Blitz zuckte durch seinen Magen. Oh Gott. Durfte er sowas überhaupt denken? Er sah sich um. Aber niemand war im Haus und in diesem ordentlichen Raum erst recht nicht. Kor biss sich auf die Lippen. Verdrängte das Kribbeln darin. Und flüchtete in sein Zimmer.

Tief einatmend setzte er sich auf sein Bett. Er hatte noch über eine halbe Stunde Zeit. Genug Zeit, um … küssen zu üben. Nur für den Fall …

Du Idiot, er hat gesagt, dass er nicht auf Männer steht, schrie eine Stimme in seinem Hinterkopf.

Ja, stimmt, dachte er. Stimmt schon. Nur … darf ich mir das nicht wenigstens vorstellen?

Also, dagegen war doch nichts einzuwenden, oder? Sein Herz schlug schneller, sobald er Bilder in seinem Kopf aufrief. Charles, wie er auf ihn gewartet hatte, auf diesem Betonklotz, hoch über allen aufragend als wäre er ihr König. Vollkommen selbstsicher, unantastbar.

Bebend stellte er sich vor, wie Charles auf ihn zukam, über den Vorhof der Uni schritt und, als er ihn erreicht hatte, nicht anhielt. Sondern ihn fest in die Arme schloss, bis Kor seinen würzigen Duft und seine Wärme spürte und … Oh, Mist. Ein verbotenes Kribbeln breitete sich in seinem Körper aus und in seiner neuen Hose wurde es eng.

»War wohl doch eine dumme Idee«, murmelte er.

Seufzend legte er sich auf sein Bett und wartete, dass die Erregung nachließ.

Er wartete lange.

Hör auf, dachte er und vermied es, das Zelt in seinem Schritt anzusehen. Das ist zu peinlich. Du kannst nicht so bleiben, was, wenn er was merkt, nachher …

Dann würde er wissen, dass Kor ihn belogen hatte. Nicht nur, dass er behauptet hatte, sich kein Date zu wünschen. Er hatte ihn auch noch angelogen, kaum, dass sie sich kennengelernt hatten. Nein, so konnte er nicht da hin.

Er vergewisserte sich dreimal, dass die Tür wirklich abgeschlossen war und dass der Rollladen absolut dicht schloss.

Mit weichen Knien krabbelte er aufs Bett. Eigentlich hatte er das schon oft getan, aber … Er hatte immer Angst gehabt, dass er dabei erwischt werden würde. Die Panik, dass seine Mutter plötzlich die Tür aufschließen würde, saß ihm immer im Nacken.

Mit zitternden Händen holte er ein Taschentuch aus dem Nachttisch und öffnete die Knöpfe der neuen Hose.

Charles, dachte er, als er hineingriff. Sich anfasste. Neue Bilder tauchten auf. Charles' Arme um seinen Körper. Der Mund, der sich auf Kors legte. Er wusste nicht, wie sich andere Lippen auf seinen anfühlen würden, aber … allein der Gedanke erregte ihn so sehr, dass eine Hitzewelle durch seinen Körper rollte. Wenn er sich ausmalte, wie das schmecken würde …

Es ging schnell. Nach nicht mal einer Minute kam er in das Taschentuch. Mit flatterndem Herzen machte er sich sauber und befahl seinem Unterleib, sich für den Rest des Abends ruhig zu verhalten. Der weigerte sich, irgendetwas zu versprechen. Kor verabschiedete sich von Cherry und schlich aus dem Zimmer.

Als er im Flur nach der grünen Outdoorjacke greifen wollte, zögerte er. Hm. Ganz rechts auf der prall gefüllten Garderobe hing die alte Motorradjacke seines Vaters. Die war schwarz und … passte besser, oder?

Halbtot vor schlechtem Gewissen zog er sie an. Und stellte mit Erstaunen fest, dass sie ihm stand. Irgendwie hatte er erwartet, darin wie ein Kind auszusehen, das sich verkleidet hatte. Aber nein, er sah aus, wie … ein Typ namens Kor, der Schwarz trug, wusste, was er tat und vermutlich Speed Metal hörte. Dabei hatte er keine Ahnung davon. Sein Lehrer hatte ihm Mainstream-Rock beigebracht. Selbst gelernt hatte er alles Mögliche, nur das nicht, und seine letzte Lieblingsband hatte Ska gespielt und sich außerdem längst aufgelöst.

Mit einem seltsamen Gefühl, halb Aufregung, halb totale Panik, drehte er sich um und verließ das Haus.

Sobald er im Bus saß, wandelte sich das Gefühl zu reiner Panik.

Was tust du hier?, schrillte eine Stimme durch seinen Kopf. Das bist doch gar nicht du! Und jeder merkt es.

Die drei Teenager ganz hinten schienen es zu merken. Sie kicherten und grölten. Außer ihm und denen war fast niemand im Bus. Nur zwei ältere Frauen und ein glatzköpfiger Typ, der vermutlich ein Nazi war. Super.

Ruhig, sagte er seinem wummernden Herzen. Die meinen gar nicht dich. Bestimmt …

Etwas knallte gegen seinen Hinterkopf. Heller Schmerz ließ ihn aufkeuchen. Eine leere Bierdose klapperte über den Boden.

»Hey, du Opfer!«, erklang eine Stimme hinter ihm. »Dreh dich um!«

Kor drehte sich nicht um. Er sank so tief in den Sitz und in die Jacke seines Vaters, wie er konnte. Sie roch nach ihrer Wohnung. Ein Geruch, der schmerzlich vertraut war und ihm hier draußen nicht half. Stur heftete er den Blick auf die Lehne vor ihm. Glanzloses Metall, ein chaotisches Muster auf den Bezügen …

»Umdrehen, umdrehen …«, grölten sie in seinem Rücken.

Kor blinzelte eine Träne weg. Angst krallte sich in seinen Bauch.

Nein, dachte er. Ich dreh mich nicht um. Und hoffentlich steigen die bald aus …

Taten sie nicht. Als endlich Kors Station kam, wartete er bis zur letzten Sekunde, mit angehaltenem Atem, und sprang raus. Die Türen schlossen sich Millimeter hinter ihm.

Mit beiden Füßen landete er in einer Pfütze. Egal. Er hörte den Bus weiterfahren.

Kor atmete aus. Die Bushaltestelle war leer. Kein Mensch weit und breit. Die Straßenlaterne spendete grelles Licht, das alles irgendwie unwirklich erscheinen ließ. Er wollte sich gerade auf den Weg machen, die Straße herunter, als er ein Geräusch vernahm.

Quietschende Reifen. Der Bus hielt. Und als er sich umdrehte, sah er die drei Jungs aussteigen. Jungs oder Männer? Auf jeden Fall waren sie kräftig und schauten böse, also drehte er sich um und rannte los.

Die orthopädischen Schuhe dröhnten über das rutschige Pflaster.

»Hinterher!«, hörte er einen von ihnen brüllen.

Nein! Kor ballte die Fäuste. Er versuchte, noch schneller zu werden, obwohl seine Lungen schon nach wenigen Metern brannten. Er vernahm Schritte hinter sich. Sah den dunklen Asphalt vor sich, die verschwommenen Schatten seiner Füße, spürte seinen Atem, der schmerzte, schmerzte, weil er so schnell rannte.

Nur drei Straßen weiter wartete Charles. Er musste es schaffen. Er musste …

Er stolperte.

Rutschte weg, jemand packte seinen Ärmel … und er wurde gegen die Wand gepresst. Seine Schulterblätter krachten schmerzhaft auf Beton. Ein grinsendes Gesicht erschien vor ihm.

»Hab dich!« Der Typ hatte trübe Augen. Irgendwie unfokussiert. Ob der was genommen hatte?

Die anderen beiden gesellten sich dazu. Kor versuchte, sich loszureißen, aber der Kerl drückte ihn an die Wand und hielt seine Arme mit einem Schraubstockgriff fest. Es war dunkel. Die Straße war leer. Weit und breit keine Hilfe, zumindest, soweit er sehen konnte …

Warum hat der Busfahrer die rausgelassen?, dachte Kor. Der muss doch gesehen haben, was sie vorhaben. So ein Feigling, so ein …

Charles wartet auf mich.

Der Gedanke war plötzlich da. Charles wartete auf ihn, ganz nah, und diese Trottel hielten ihn auf.

»W-was wollt ihr?«, stieß er hervor. Der Typ vor ihm schien einen Moment lang verblüfft. Leider nur einen Moment lang. Dann kehrte sein Grinsen zurück.

»Deine Jacke, du Spast.«

»Was? Nein!« Er konnte doch nicht die Jacke seines Vaters verlieren! Vor allem, wenn der nicht wusste, dass er sie hatte. Aber die Drei hatten kein Verständnis.

»Jacke her. Und dein Geld«, knurrte der Typ links.

Kor ballte die Hände zu Fäusten. Wieder versuchte er, sich loszureißen und hatte keine Chance. Eine flache Hand traf seine Wange. Die Drei lachten.

Eine Faust erschien und knallte gegen die Schläfe des Kerls, der Kor festhielt. Sein Griff lockerte sich und Kor war plötzlich frei. Fast wäre er zu Boden gegangen, so abrupt geschah es. Was …

Es war der Nazi aus dem Bus. Der mit der blauen Jacke. Mit einem Gesichtsausdruck als hätte er Tollwut, stürzte er sich auf die Drei. Trat dem Ersten auf das Knie, bekam einen Schlag in die Nieren, jemand riss an dem blauen Ärmel …

Es ging viel zu schnell. Kor konnte nur zusehen, wie ein Wirbelsturm aus Tritten und Schlägen vor ihm tobte. Und dieser Glatzkopf war mittendrin. Voll konzentriert, gefährlich, mit Augen, die vollkommen tot schienen.

Schon lag einer der Drei am Boden und stöhnte. Mit dem zweiten wälzte der Nazi sich über das Pflaster. Der dritte der Bande rannte auf die Prügelnden zu, die Hand hoch erhoben. Ein dunkler Stein lag zwischen seinen Fingern …

»Nein!«

Kor flog auf ihn zu, bevor er auch nur daran denken konnte, wie gefährlich das war. Der Typ in der blauen Jacke half ihm. Den konnte er doch nicht hängenlassen! Er rammte den Kerl mit dem Stein, bevor er die beiden Prügelnden erreichte. Heller Schmerz schoss durch seine Schulter. Kor stürzte.

Er kam hart auf. Selbst die Motorradjacke schützte ihn nicht vor dem Aufprall. Lichtblitze wirbelten hinter seinen Augen.

»Du verficktes Arschloch!« Der Typ, den er zu Boden gerissen hatte, sprang auf. Schwankte.

Oh nein.

Kor stützte die Hände auf den kalten Boden und krabbelte rückwärts, egal, wie erbärmlich das aussehen mochte. Er fühlte eisigen Asphalt unter seinen Fingern. Schnell! Der Typ kam auf ihn zu …

Die Faust des Kerls in der blauen Jacke erwischte den Typen genau am Kinn. Er ging zu Boden. Mit einem dumpfen Geräusch schlug er auf dem Pflaster auf und blieb liegen.

Kor starrte den Nazi an, der sich die Fingerknöchel rieb.

»B-bist du überhaupt ein Nazi?«, fragte er. Nein! Warum fragte er sowas? Wie konnte er seinen Helfer so beleidigen? Lag das am Adrenalin? An der Aufregung, die seinen Puls so laut hämmern ließ, dass ihm schwindlig wurde?

Der Kerl sah ihn an, Verwunderung im wutverzerrten Gesicht.

»Was?«, knurrte er. Dann schüttelte er den breiten Schädel. »Nein. Ich prügel mich nur gern.«

»Oh. E-entschuldigung.«

»Passt schon.«

Der Typ sah sich um. Alle Drei lagen auf dem Boden. Der, den er zuerst erwischt hatte, kam schwankend hoch. Er warf einen Blick auf den Nicht-Nazi in der blauen Jacke und haute ab. Seine Schritte verklangen hinter der Bushaltestelle.

»Äh, danke«, sagte Kor. »Danke, dass du mir geholfen hast.«

Der Nicht-Nazi nickte ihm zu. Und ging. Kor konnte es nicht glauben, als sein breiter Rücken am anderen Ende der Straße verschwand. Was war gerade geschehen?

Hm, wahrscheinlich sollte er abhauen, ehe die beiden Typen zu seinen Füßen sich aufrappelten. So schnell er konnte, lief er durch die Gassen. Die Maurerstraße entlang, links einbiegen, dann rechts in die …

Er hörte sie schon von weitem. Die dröhnende Musik. Gelächter und laute Stimmen. Als er in die enge Gasse einbog, sah er eine Menschentraube vor dem Smokes. Zigarettenrauch zog an ihm vorüber.

Das Smokes war ein schäbiges Ziegelgebäude. Charles hatte davon erzählt. Eine Bar, in der es regelmäßig Konzerte gab und außerdem günstiges Bier. Total … cool. Und so sah es auch aus, mit den grün leuchtenden Laternen vorne, den Neonlettern, von denen das »m« beständig flackerte und den schwarzgekleideten Leuten, die davor rauchten und redeten …

Charles! Kor entdeckte ihn sofort. Selbst in dieser Masse war sein blonder Kopf unverwechselbar. Er stand inmitten einer Runde und sprach gerade mit einem Mädchen mit türkisblauen Haaren. Als Kor herangehumpelt kam, blickte er auf. Ein Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus … und erstarb.

»Kor!«, rief er und schob sich durch die Menge. »Was ist passiert?«

»Äh …«

Scheiße. Sah man es ihm an? Kor spürte einen Kloß im Hals, der rasend schnell größer wurde.

Nein, dachte er. Nicht weinen. Nicht vor all diesen Leuten. Die sich umdrehten, ihn anschauten … Aber die Tränen drängten unaufhaltsam aus ihm heraus …

Dann war Charles da. Und schlang die Arme um ihn und alles war gut. Perfekt. Kor vergaß vollkommen, zu heulen, weil diese Umarmung besser war als alles, was er sich vorgestellt hatte. Viel besser. Der Geruch von Charles' kalter Lederjacke, die Wärme, da, wo Kors Wange seinen Hals berührte. Der feste Griff, mit dem er ihn hielt. Kor schmiegte sich hinein, war plötzlich butterweich und wollte nur noch hier bleiben … Leider löste Charles sich von ihm. Seine Hände legten sich auf Kors Schultern und sein grauer Blick drang mitten durch seine Seele.

»Was ist passiert?«, fragte Charles. Kor starrte ihn an. »Kor?«

»Äh, ja, ich bin überfallen worden. Aber es war nicht so schlimm. Ein Nicht-Nazi hat mir geholfen. Äh.«

»Ein was?« Charles sah ihn fragend an.

Kor wurde bewusst, wie viele Leute auf einmal um ihn herumstanden. Wo kamen die alle her?

»Da waren diese drei Typen, die meine Jacke und mein Geld wollten. Die sind mir aus dem Bus gefolgt. Aber das ist gutgegangen. Ein Kerl, der sich gern prügelt, hat sie verhauen.«

»Okay.« Charles wirkte verstörter als Kor sich fühlte. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihm aus. Charles hatte sich Sorgen um ihn gemacht!

»Woher hast du gewusst, dass mir was passiert ist?«, fragte Kor.

»Mann, das sieht man dir doch an«, sagte Charles. Irgendwie schien er verärgert.

»Also mir ist nichts aufgefallen«, schnurrte jemand.

Oh, Nathan war auch da. Charles drehte sich zu ihm um. Ja, er war wütend. Warum?

»Sein Knie ist voll Dreck«, knurrte er. »Und sein Ärmel auch. Offensichtlich ist etwas passiert.«

Er sah Nathan noch böser an. Der zuckte mit den Achseln, schwieg aber. Was war los? Egal. Leider nahm Charles die Hände von Kors Schultern. Das Mädchen mit den türkisfarbenen Haaren zückte ein Taschentuch.

»Im Gesicht hast du auch was. Halt mal still.« Sie tupfte seine Wange ab. Fast wie seine Mutter, nur mit mehr Metall im Gesicht.

»Danke«, sagte Kor.

»Dafür nicht.« Sie schien zufrieden mit dem Ergebnis. »So, jetzt bist du wieder hübsch.«

Sie grinste und Kor wurde mal wieder rot.

»Danke«, murmelte er erneut.

Dann wusste er nicht, was er sagen sollte. Warum schauten ihn alle an? Wunderten die sich, was für ein Versager er war? Die …

»Versager«, grollte einer von ihnen, ein moppeliger Riese mit tätowiertem Hals. »Solche Typen sind Versager. Mich haben die auch mal erwischt, am Anfang.«

»Am … Anfang?«, fragte Kor vorsichtig.

»Als ich mich verändert habe. Als ich damit angefangen habe.« Der Riese deutete auf seinen bunten Hals. Mehrere Vögel und ein Schriftzug, den Kor nicht lesen konnte, leuchteten auf seiner Haut. »Aber das hört auf. Mach dir keine Sorgen.«

»Das? Dass sie mich ärgern, meinst du?«

»Genau. Das legt sich.«

»Äh …«

Nein, tut es nicht, dachte Kor. Tut es nie. Ich weiß das, weil sich das seit neunzehn Jahren nicht legt.

Aber Charles' Freunde waren nett, also wollte er nicht widersprechen.

»Menschen hassen Veränderung«, sagte ein Typ, der schaute, als wäre gerade sein Hund gestorben. »Die wittern, wenn einer was gefunden hat, was ihm Spaß macht. Die riechen, wenn einer ausbrechen will.«

»Tun sie das?« Kor schluckte. Oh nein. Er hatte gedacht … Hatte er sich noch mehr zum Opfer gemacht? Es hatte sich tatsächlich ein wenig wie ein Ausbruch angefühlt, heute Abend loszugehen …

»Ja, aber wie gesagt, das hört auf«, sagte Charles. Immer noch war er so nah, dass Kor seinen Duft riechen konnte. »Also mach ihm keine Angst, Dane.«

Dane zuckte mit den Schultern.

»Ich sag nur die Wahrheit. Menschen hassen Veränderung.«

»Aber sie gewöhnen sich daran«, sagte Charles. »Und man kann lernen, sich zu wehren. Kor, soll ich dir was beibringen?«

»Ja!« Kor strahlte. »Was denn?«

»American Kenpo. Ich habe das mal gemacht.« Charles grinste. »Irgendwann war ich zu faul, um weiter zum Training zu gehen, aber ich kann dir ein paar Griffe beibringen.«

»Ja, gerne.«

Irgendwie … war er schon fast über den Überfall hinweg. Komisch. Aber zu hören, dass es anderen Leuten auch so gegangen war, und dann noch Charles' Angebot, das bedeutete, dass er Zeit mit ihm verbringen wollte (Mit ihm! Kor!) wirkten wie ein Heiltrank.

Charles blieb an seiner Seite, als sie in das Smokes gingen. Er stellte ihm die anderen vor und die waren so nett, dass Kor sich richtig wohlfühlte. Selbst hier, in dem verrauchten, lauten Club mit der aus alten Bierkästen zusammengenagelten Bühne, der ihn früher bestimmt total eingeschüchtert hätte.

Ohrenbetäubende Musik drang ihnen entgegen, sobald sie die Bar betraten.

»Sind das Orkus Orbus?«, rief Kor in Charles' Ohr. Der schüttelte den Kopf und eine weiche Strähne glitt über Kors Wange.

»Ne, das ist die Vorband. Sind auch nicht schlecht.«

»Ach so.«

Der Sänger nutzte die winzige Bühne voll aus, sprang, schrie und brüllte. Seine dunklen Haare fielen ihm ins Gesicht, während er Geräusche machte, die kaum noch menschlich klangen. Es war düster, bis auf die grellbunten Scheinwerfer, die die Band anstrahlten. Der Boden unter Kors Füßen vibrierte, immer, wenn der Sänger und die Leute in der ersten Reihe hüpften.

Irgendwer drückte ihm ein Bier in die Hand … Oh, plötzlich hatten sie alle Bier und stießen lautstark an. Kor nippte vorsichtig an der eiskalten Flüssigkeit. Äh, na ja. Bitter. Egal. Denn schon stand Charles wieder neben ihm und redete auf ihn ein. Die Vorband war so laut, dass er mit dem Mund fast Kors Ohr berührte.

»Hörst du den Gitarristen?«, rief er nach einem längeren Exkurs über die Vorgeschichte der Band. »Merkst du, wie ihr Zusammenspiel funktioniert?«

Kor lauschte. Der herumspringende Sänger verwirrte ihn, also schloss er die Augen und konzentrierte sich.

Oh. Ja, er hörte den Gitarristen heraus. Und noch viel mehr. Es war fast zu viel auf einmal. Gesang, Gitarre, Bass, Drums … Aber er begann, etwas zu verstehen. Wie sie zusammengehörten und sich ergänzten. Wie sie zu viert etwas schufen, das viel mächtiger war als die Summe ihrer Teile.

»Ich habe nie mit jemandem zusammengespielt«, sagte er. Trotz der Lautstärke schien Charles ihn zu verstehen. »Ich … Das ist anders, oder? Ist das schwer?«

»Am Anfang schon, wenn man immer nur allein vor sich hergeschrammelt hat«, rief der. Kor spürte seinen Atem am Hals und ein Schauer rann durch seinen ganzen Körper. »Aber man gewöhnt sich daran. Ich kann's dir beibringen, wenn du magst.«

»Echt?« Oh Mann. Charles' graue Augen waren so nah. So nah, dass er seine von der Dunkelheit geweiteten Pupillen sehen konnte. Er registrierte das Gedränge um sie herum, doch er nahm es wie durch einen dichten Schleier wahr.

»Klar.«

Ein wölfisches Grinsen. Kor konnte kaum noch atmen. Er wünschte sich so sehr, dass Charles gerade mit ihm flirtete. Es fühlte sich an wie flirten, nur … konnte es das nicht sein. Das hatte er gestern deutlich gemacht. Also fragte Kor ihn weiter aus. Und er sprach sogar mit anderen Leuten. Mina würde begeistert sein.

Der Riese, der Marcel hieß, erklärte ihm, was der Drummer machte. Der schlecht gelaunte Dane erklärte ihm, was der Drummer falsch machte. Kor sog ihre Worte auf wie ein Schwamm.

Er sog alles auf: die Musik, die angenehme Dunkelheit, die spannungsgeladene Atmosphäre, die springenden Menschen weiter vorn und das Gedränge um ihn herum. Den roten Nebel, der rechts von ihm entstand, weil eine Gruppe Raucher unter einem bunten Scheinwerfer stand. Das war so absolut fantastisch.

Und nachdem er das halbe Bier geleert hatte (sehr langsam, denn er hatte Angst, betrunken zu werden), fühlte er sich, als würde er hierher gehören. Da waren sogar Leute, die blasser waren als er! Mina hatte immer behauptet, das wäre unmöglich.

Dann betraten Orkus Orbus die Bühne und die waren noch viel, viel besser. Die Stimmung veränderte sich. Es wurde nicht lauter, aber … intensiver. Plötzlich tanzte der ganze Raum. Kor auch, obwohl er keine Ahnung hatte, was er tat. Aber zu springen schien ausreichend zu sein. Er spürte den Schweiß seinen Rücken herunterlaufen. Er stieß gegen die nackten Arme von dem türkishaarigen Mädchen, Sheron, von Nathan und die in einem durchgeschwitzten Langarmshirt steckenden von Charles. Charles' Arme mochte er am liebsten. Und dann …

… beendete der Sänger seinen Song, schüttelte sich Wasser aus den langen Haaren und grinste.

»Charles!«, brüllte er. »Rauf auf die Bühne mit dir!«

Was? Staunend betrachtete Kor, wie Charles sich durch die Menge drängte, begleitet von lautem Jubel. Er sprang auf die Bretter wie eine Raubkatze. Ein entspanntes Winken, und der Jubel wurde lauter.

»Angeber«, murmelte Nathan in Kors Ohr.

Aber der wollte ihn nur ärgern. Charles war kein Angeber, er war der Größte. Der absolut Größte! Der Gitarrist überreichte ihm sein Instrument. Charles streifte die schwarze Gitarre über, so lässig, als hätte er nie etwas anderes gemacht und … plötzlich waren die Schallwellen voll Magie.

Seine Technik war anders als die der beiden anderen Gitarristen, das konnte Kor hören. Das klang fast ein wenig … wie er selbst spielte. Aber das konnte doch nicht sein. Also entweder imitierte Charles ihn oder sie hatten einen ähnlichen Stil. Beide Möglichkeiten gefielen ihm. Sehr.

Mit offenem Mund stand er still, während der Saal um ihn herum tobte. Das war sein neues Lieblingslied, beschloss er. Sein neues Lieblingslied hieß Doomsday Destruction und war einfach traumhaft.

Dann erst passierte das Magischste, was den gesamten Abend über geschehen war. Charles hob den Blick von der Gitarre, schüttelte die Haare aus der Stirn, sah durch die Menge, genau auf Kor …

Und zwinkerte ihm zu.

Kors ganzer Körper gefror, nur, um sich Sekunden später in flüssige Lava zu verwandeln. Trotz des Lärms hörte er seinen Pulsschlag in den Ohren hämmern.

Oh. Mein. Gott!, dachte er, lustigerweise in Minas Stimme, wenn sie von ihrem tollen Professor sprach. Als Charles die Gitarre zurückgab und sich rückwärts in die Menge warf, fühlte Kor sich, als hätte ihn eine Flutwelle mitgerissen und gegen eine massive Felswand geschleudert.

Mit wummerndem Herzen sah er zu, wie Charles auf Händen getragen wurde und knapp vor ihm zu Boden sprang. Marcel, der Riese, klopfte Charles auf die Schulter. Eine wunderschöne Schwarzhaarige hielt ihm ein Bier hin und er prostete in die Runde.

»Sag ich doch: Angeber«, sagte Nathan. Aber es lag kaum Bosheit in seinem Gesicht.

»Warum haben sie ihn auf die Bühne geholt?«, fragte Kor. »Kennen die sich?«

»Charles kennt alle«, sagte Nathan. »Und wir waren mal in einer Band mit dem Sänger und dem Drummer. Ging auseinander, aber sie sind immer noch Freunde. Auf mich sind die komischerweise nicht so gut zu sprechen.«

Er hob sein Bierglas und prostete dem Drummer zu. Dessen Miene verfinsterte sich. Die Stöcke sausten nun viel brutaler auf die Felle nieder. Kor erinnerte sich an die Geschichte, die Charles erzählt hatte. Nathan und der Drummer … War es der hier?

Er könnte Nathan danach fragen. Ein plötzlich aufblitzender Gedanke ließ ihn erstarren. Er … könnte ihn fragen, wie es war, mit einem anderen Mann …

Aber er traute sich nicht. Allein die Vorstellung sorgte für Herzrasen. Und wenn er sowas fragen würde, würde Charles bestimmt etwas davon mitbekommen. Schließlich war Nathan sein bester Freund, und was, wenn Charles dann kapierte, dass er … äh.

»Kor!«, brüllte jemand in sein Ohr und gleich darauf legte sich ein wunderbar verschwitzter, schwarzbekleideter Arm um seine Schultern. Charles' Atem roch nach Bier und trotzdem köstlich und Haare streichelten seine Wange und …

»Das war super!« Kor lächelte. Wahrscheinlich sah er aus wie ein übereifriges Hündchen, aber das war ihm gerade egal. »Wie du … Das … Ich habe dich ja noch nie live spielen gehört. Das war super!«

Charles sah richtig glücklich aus. Erhitzt und aufgedreht. Feuchte Strähnen klebten in seiner Stirn und ließen ihn noch verwegener aussehen.

»Komm mit«, flüsterte er in Kors Ohr und der konnte sich nichts vorstellen, was er lieber getan hätte. Freudestrahlend folgte er ihm durch die Menge, rannte dem breiten Rücken hinterher. Er wäre ihm überallhin gefolgt.

Kurz vor dem Ausgang stand eine Theke und dahinter hockte der Typ, der Kors Hand gestempelt hatte. Charles nickte ihm zu. Dann marschierte er an ihm vorbei und verschwand hinter einem schwarzen Samtvorhang. Kor grüßte den Mann schüchtern, der unbeeindruckt ins Leere starrte, und schob den schweren Stoff zur Seite.

Ein chaotischer kleiner Raum erwartete ihn, notdürftig erhellt von einer nackten Glühbirne. Da standen ein Tisch und eine Holzbank, an der eine Gitarre lehnte, daneben ein Kasten Bier und … nicht viel mehr. Die Geräusche des Konzerts drangen gedämpft durch Wände und Vorhang. Die Luft roch nach Staub. Sie waren ganz alleine.

»Wo sind wir?«, flüsterte Kor.

»Backstage.« Charles lachte und breitete die Arme aus. »Magisch, was?«

Kor kicherte. »Und was machen wir hier?«

»Wir trinken feinsten Whisky.« Charles wühlte hinter dem Vorhang herum. »Pete hat mir gerade verraten, wo er das gute Zeug versteckt hat.«

Eine Flasche erschien vor Kors Nase. Eine durchsichtige Flasche mit einem weißen Büttenpapieretikett.

»Glenladdich?«, las er ab. »Der ist gut?«

»Fünfzig Euro die Pulle. Pete hat sie beim letzten Gig als Bezahlung bekommen.«

Charles schraubte den Deckel ab. Er schnüffelte am Flaschenhals und nickte.

»Ja, riecht korrekt. Hier.«

Kor nahm die Flasche entgegen. Er warf Charles einen zögernden Blick zu. Aber dann straffte er sich und setzte die Öffnung an die Lippen. Er trank.

Das Zeug verbrannte seine Speiseröhre und verätzte seine Nasenlöcher. Die eine Hälfte schluckte er herunter, die andere hustete er aus. Whisky sprühte auf Charles' Shirt. Oh, Mist.

»Ich …«

Ein weiterer Hustenanfall verhinderte, dass er weitersprechen konnte. Schließlich wischte er sich mit dem nackten Arm den Mund ab und sah aus tränenden Augen zu Charles hoch. Der schaute besorgt.

»Oh. War das dein erster Whisky?«, fragte er.

Kor schaffte es, zu nicken. Haarsträhnen hatten sich aus seinem Zopf gelöst und versperrten ihm die Sicht.

»Ich trinke sonst nie«, gestand er. »Gar nichts.«

Komisch, vor Charles war er so ehrlich. Meistens.

»Oh. Sorry.« Ein schiefes Grinsen. »Und dann verabreiche ich dir gleich das ganz harte Zeug.«

»Nicht schlimm …«

Charles nahm ihm die Flasche ab und Kor hustete noch ein wenig. Als es endlich vorbei war, wischte er sich über den Mund und merkte, wie nah sie sich waren. Charles stand so eng bei ihm, dass seine Wärme bis zu ihm strahlte. Sehr nah. Sollte er zurückweichen? Aber er wollte nicht.

»Hey, habe ich nicht noch eine Frage frei?« Charles legte den Kopf schief. »Von gestern?«

Kor zuckte zusammen.

»Oh. Ja. Was … willst du denn wissen?«

Er konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen. Bitte nicht: Bist du noch Jungfrau?, dachte er. Oder: Bist du in mich verliebt, oder …

»Warum spielst du?«

Der Blick, mit dem Charles ihn betrachtete, war ernst. Kein Spott, kein Lächeln. Kor starrte ihn mit offenem Mund an.

»Äh …« Ach, egal. Er sagte das Erste, was ihm einfiel. »Weil es … das Einzige ist, was Sinn macht. Ich … ich weiß, ich seh nicht so aus, als … Aber wenn ich spiele ist alles einen Moment lang … ruhig. Und geordnet … nein, nicht geordnet, aber so, dass ich es verstehe, weißt du?«

»Ja.«

Charles nickte. Immer noch hatte er diesen intensiven Blick, der Kor fast verbrannte. Aber er wollte nicht wegschauen. Konnte es nicht. Das Dröhnen der weit entfernten Musik vermischte sich mit dem Hämmern seines Herzens.

»Du … wir …« Kor räusperte sich. »Wir haben einen ähnlichen Stil, oder? Oder hast du mich … nachgemacht?«

Wie unverschämt, dachte er. Hoffentlich ist er nicht sauer.

Aber Charles kam noch ein wenig näher. Oh.

»Beides.« Ein schwaches Lächeln kräuselte seine Mundwinkel. »Ich mag, wie du spielst.«

»Da-danke.« Kor konnte die Worte kaum herausbringen. Er spürte Charles' Wärme, roch dessen köstlich salzigen Geruch, hörte seinen eigenen Puls im Ohr, überdeutlich. »Willst du wirklich mit mir zusammenspielen? Ich meine … willst du mir das beibringen?«

Ein Nicken. Stumm. Warum sagte Charles nichts? Warum sah er ihn so an, so, als ob er … irgendwie total interessant wäre?

Kor wollte gerade etwas sagen, weil er es nicht mehr aushielt, als Charles eine kräftige Hand hob und ihm die Haarsträhnen aus dem Gesicht strich. Raue Fingerkuppen zogen eine kribblige Spur von Kors Wange zum Ohr, und er vergaß, zu atmen. Graue Augen blickten ihn an, als wollten sie ihn hypnotisieren. Charles öffnete den Mund und erst dachte Kor, er wollte etwas sagen, aber dann … kam er immer näher …

Was?

Wollte Charles ihn …

Unwillkürlich zuckte Kor zusammen. Ein Ruck ging durch seinen ganzen Körper und Charles schreckte zurück.

 

Charles

 

Scheiße! Scheiße! Er hatte … Was tat er hier? Warum näherte er sich Kor? Diesen dunklen Augen, die ihn zu sich hinzogen wie einen Magneten, und dessen feuchte Lippen so küssenswert aussahen, dass er sich vorbeugen musste, nur noch ein paar Zentimeter, Millimeter, dann …

Kor zuckte zusammen. Riss panisch die Augen auf und Charles schreckte zurück.

Verdammt!

Er hatte … verdammt. Er hatte sich verraten. Und Kor wirkte total entsetzt. Nein! Charles wich zurück, stieß gegen die Bank, die polternd umkippte.

»Ich …« Cool bleiben. Er wusste, wie man cool blieb, oder? Das hatte er sein halbes Leben lang trainiert, also …

»Ich geh eine rauchen«, murmelte er und flüchtete aus dem Backstage-Bereich.

Super.

Scheiße.

Wusste Kor nun Bescheid? Charles rannte durch den verrauchten Gang, stieß die Glastüren auf und stand in der Kälte. Wind strich über seine verschwitzten Klamotten wie eisige Tentakel. Er … Nein. Das durfte er nicht. Nicht wieder. Er brauchte Hilfe.

Mit bebenden Fingern schrieb er Nathan, dass der zur Brücke kommen sollte. Dann marschierte er durch das Baustellengewirr, bis er weit weg vom Smokes war. Weit weg von Kor, der Dinge in ihm auslöste, die weiter schlafen mussten. Die er nicht ans Licht kommen lassen durfte weil … Wenn das endete wie damals …

Er schluckte.

Elias.

Sein bester Freund. Sein anderer bester Freund, so ganz anders als Nathan damals schon gewesen war.

Nathan hatte er hier kennengelernt, als Charles sich mit fünfzehn ins Smokes eingeschlichen hatte. Nathan, zwei Jahre älter und ebenfalls illegal dort, hatte es lustig gefunden, ihn solange abzufüllen, bis er gekotzt hatte. Hier, auf der Brücke, hatte er sich am Geländer festgeklammert und gewürgt … Eine Woche später hatte er sich revanchiert, indem er den Türstehern gesteckt hatte, wie alt Nathan war.

Dann war ein offener Krieg ausgebrochen, bis sie ein paar Monate später versehentlich in der gleichen Band gelandet waren, und erkannt hatten, wie ähnlich sie sich waren. Und das, obwohl sie so verschiedene Backgrounds hatten.

Klosterschulboy hatte Nathan ihn genannt, sobald er mehr über Charles erfahren hatte. Verzogenes Muttersöhnchen.

Hm. Warum war er nochmal mit ihm befreundet? Egal.

Elias war aus der anderen Welt gekommen. Der Privatschule, von der Nathan stets behauptete, sie wäre von Mönchen geleitet worden, auch wenn das überhaupt nicht stimmte. Er hatte sich totgelacht, als er Charles einmal in seiner Schuluniform erwischt hatte. Seiner grauen Schuluniform, unterwegs auf einem verbotenen Ausflug in die Stadt.

Elias war dabei gewesen. Elias, wegen dessen dunklen Augen Charles nächtelang wachgelegen hatte. Der dafür gesorgt hatte, dass sein Herz mit der fünffachen Geschwindigkeit schlug. Und dafür, dass er sich wie ein Idiot aufführte, wann immer sie zusammen unterwegs waren. Um Elias zu beeindrucken, war er auf Laternenmasten geklettert, hatte sich mit viel Älteren angelegt, hatte … Hm. Das war fast, wie er sich jetzt benahm.

Er hatte eben gespielt, als hinge sein Leben davon ab, weil … weil Kor zuhörte. Zusah. Und er wusste, was der draufhatte, auch wenn Kor das selbst nicht zu wissen schien, also hatte er sich so reingehängt und … sich da schon beinahe verraten, aber man konnte doch einem anderen Mann zuzwinkern, ohne …

»Heulst du?«, fragte Nathan neben ihm und Charles fuhr herum.

Sein bester Freund stand auf der dunklen Brücke wie ein gelangweilter Cowboy, die Hände in den Jackentaschen vergraben. Er neigte den Kopf.

»Oh gut, du heulst nicht. Immerhin. Was ist passiert?«

»Nichts.« Warum hatte er vorgehabt, ausgerechnet Nathan sein Herz auszuschütten? Der verstand so viel von Gefühlen wie ein Nashorn vom Fahrradfahren.

»Geht's um den Kleinen?« Oh richtig, dafür kannte Nathan ihn. »Was hat er dir Furchtbares angetan?«

»Nichts.« Charles sank auf den kalten Boden. Echt kalt. Er fror in seinem verschwitzten Shirt. »Sorry, da war nichts.« Er grinste schwach. »Tut mir leid, wenn du dir Sorgen gemacht hast.«

Zwischen Nathans Augenbrauen entstand eine tiefe Falte. Er kniete sich vor Charles nieder. Blitzschnell packte Nathan sein Handgelenk.

»Alter, was machst du?«, fragte Charles. »Wird das ein Antrag?«

»Das wird eine Kontrolle«, brummte Nathan.

Er schob den dunklen Ärmel hoch. Unwillkürlich entriss Charles ihm den Arm. Nathans Augen funkelten ihn an.

»Da ist nichts«, motzte Charles. »Für wie blöd hältst du mich? Ich fang nicht wieder damit an.«

»Zeig mir deine Arme, Charles«, sagte Nathan und klang wie seine Mutter. Trotzdem streckte Charles die Arme aus und krempelte die Ärmel hoch. Zeigte Nathan die vernarbte Haut.

»Hier, zufrieden? Nichts Neues seit Jahren.«

Nathan nickte. Er war ungewöhnlich ernst.

»Mach dir keine Sorgen um mich«, sagte Charles. »Ich komme klar.«

»Tust du nicht. Damals hast du auch gesagt, dass du klarkommst und was ist passiert?«

Charles schwieg. Eine ganze Menge war passiert.

Von dem Moment an, in dem er Elias seine Gefühle gestanden hatte. Elias mit den dunklen, schüchternen Augen, dem zaghaften Lächeln … Moment mal, hatte er etwa einen Typ Mann, auf den er stand? Egal, jedenfalls hatte Elias vollkommen entsetzt reagiert. Er war sogar wütend geworden, was Charles nie erwartet hätte. Er hatte mit einer Abfuhr gerechnet und trotzdem gehofft, so sehr gehofft, dass es Elias ebenso ginge wie ihm, aber …

Womit er nicht gerechnet hatte, war, dass Elias ihn hassen würde. Dass er glauben würde, Charles hätte sich nur an ihn herangemacht, weil alle glaubten, Elias wäre schwul. Dabei hatte er nicht mal gewusst, dass es das Gerücht gab. Aber es schien Elias sehr verletzt zu haben, so, wie der ihn angebrüllt hatte.

Ich bin nicht so, du dumme Schwuchtel! Jedes Wort ein Schnitt. Und dann …

Charles hatte plötzlich keine Freunde mehr gehabt. Vollkommen fertig von Elias' Reaktion hatte er sich zuhause verkrochen. Als er nach einer Woche zurück in die Privatschule gekommen war, hatten alle gewusst, was er war. Erst hatte er nur böse Nachrichten bekommen. Sein Tisch war immer vollgekritzelt gewesen mit Beleidigungen. Aber am schlimmsten war gewesen, dass Elias nicht mehr mit ihm geredet hatte. Dieses Schweigen wog schwerer als all die anderen Dinge.

Dann hatten sie ihn in der Umkleide erwischt, als der Sportlehrer herausgerufen worden war. Und Charles war keiner, der sich einfach verprügeln ließ, also hatte er zurückgeschlagen, bis …

»Junge!« Nathan wedelte mit der Hand vor Charles' Gesicht herum. »Was ist passiert?«

»Ich glaub, er weiß es.« Frostige Kälte drückte ihm die Luft ab. Er sah, dass seine Fingerknöchel blass waren. Dass er sie zu Fäusten geballt hatte, seit … Keine Ahnung, seit wann. »Ich habe … Ich hätte ihn fast geküsst.«

»Ah.« Nathan blinzelte. »Nicht schlecht. Und dann?«

»Er hat sich erschreckt«, flüsterte Charles. »Genau wie Elias. Ich … Meinst du, er glaubt mir, wenn ich so tue, als wäre ich … Als hätte ich nicht … Als wäre das nur Spaß gewesen?«

»Na, vertrauensselig genug wirkt der«, sagte Nathan. Er fuhr sich durch die Haare, als wüsste er nicht, was er sagen sollte. »Hm. Ich dachte, Elias wäre eine Ausnahme gewesen, aber anscheinend stehst du auf Hänflinge mit Welpenaugen.«

»Anscheinend.« Charles' Kehle war trocken. Mehr Bier. Er brauchte mehr Bier. »Ich … werd's ihm beweisen.«

»Dass du in ihn verliebt bist?«

»Nein. Das Gegenteil, du Idiot.«

»Aber du bist in ihn verliebt. Warum …« Nathan seufzte. »Ich weiß. Ich versteh das. Nur … Was soll passieren, wenn du es ihm sagst? Außer, dass du deprimiert rumhängst und ich dich wieder trösten muss?«

»Dein tolles Trösten hat daraus bestanden, mich abzufüllen.«

»Hat doch geholfen.«

»Einen Scheiß hat das.«

Charles erhob sich. Er wusste, was zu tun war. Er musste das geradebiegen. Er musste dafür sorgen, dass Kor nie von seinen Gefühlen erfuhr. Dass ihre aufkeimende Freundschaft nicht gleich erstickt wurde.

Vielleicht konnte er kälter zu ihm sein? Das war schwer, Kor war einfach zu verdammt niedlich, aber … es musste wohl sein. Es durfte nicht …

Es durfte nie wieder werden wie damals.

 

Kor

 

War das sowas wie ein Beinahe-Fast-Kuss gewesen? War es das? Oder bildete Kor sich das nur ein? Unschlüssig stand er im Backstage-Bereich und sah auf den Vorhang, hinter dem Charles verschwunden war. Raus gegangen, nahezu gelaufen. Eine rauchen. Seit wann rauchte Charles? Kor hatte ihn nie mit einer Kippe gesehen, okay, er kannte ihn kaum, aber …

Aber Charles hätte ihn eventuell fast geküsst.

Falls das stimmte, hatte Kor es versaut. Wie immer. Irgendwie war er zusammengezuckt, obwohl er sich verdammt nichts sehnlicher wünschte, als dass Charles ihn küssen würde. Er zitterte vor Aufregung, vor Anspannung, vor … Nervosität. Was bedeutete das? Er …

Er sollte aus diesem Backstage-Bereich verschwinden, bevor die Band zurückkam. Die kannten Charles, nicht ihn, und sie würden bestimmt denken, dass er ein mieser Einbrecher wäre, der ihren Whisky klaute … Richtig, die Flasche hatte er immer noch in der Hand.

Er verstaute sie ungefähr da, wo Charles sie herausgekramt hatte und wanderte, halb in Trance, nach hinten zum Konzert. Charles befand sich nicht in der Menge, soweit er sah. Draußen fand er ihn auch nicht. Außerdem war es da kalt, also ging er zurück. Mist.

Mit einem Mal wurde ihm klar, dass er niemanden außer Charles richtig kannte. Was, wenn die ohne Charles nichts mit ihm zu tun haben wollten?

An der Bar standen Dane und Sheron. Die Band lärmte noch und in der Mitte der Tanzenden sah er den Rest der Gruppe. Vorsichtig schob Kor sich durch die Menge, immer wieder »Entschuldigung« murmelnd, obwohl ihn eh keiner verstehen konnte.

»Hey«, flüsterte er, als er es bis zur Bar geschafft hatte. Dane nickte ihm missmutig zu. Sheron strahlte ihn an.

»Kor! Wo warst du denn?«

»Ich … Charles hat mir Whisky besorgt.«

»Und, hat's geschmeckt?«

»Äh, ich … hab die Hälfte ausgehustet.» Er kratzte sich an der Nase. Sie lachte laut auf.

»Ich kann das Zeug auch nicht leiden. Und, wo ist Charles jetzt?«

»Ich weiß nicht. Draußen, glaub ich.«

»Ach so. Na, du hast ja noch uns.« Sie legte ihren Arm um ihn. »Wir passen schon auf dich auf.«

»Auf mich muss man nicht aufpassen«, murmelte er.

Aber in seiner Brust wurde es warm, sobald er ihre Worte hörte. Selbst Dane schenkte ihm erneut sowas wie ein Nicken. Anscheinend hatten sie ihn adoptiert.

»Gefällt's dir?«, fragte Dane. Er deutete mit seiner Bierflasche auf die Band, deren Sänger sich gerade auf dem Boden wälzte, und dann, ohne die Hände zur Hilfe zu nehmen, einen Meter hoch in die Luft sprang und weitersang.

»Ja.« Kor nickte ernsthaft. »Ich … will noch mehr solche Musik hören, glaub ich.«

Ein Licht ging in Danes Augen auf.

»Echt? Dann musst du dir unbedingt Radioactive Raider reinziehen! Die sind die Götter des Medieval Thrash Metal mit Akustikeinflüssen!«

»Aha«, sagte Kor.

»Und hör dir Domspast an. Aber nur die ersten drei Alben, danach sind die total Mainstream geworden …«

»Attack on Köln-Porz ist wohl ein geniales Ding«, mischte Sheron sich ein. »Viel besser als ihr alter Scheiß.«

Dane verdrehte die Augen.

»Das sagst du nur, weil du nicht von Anfang an dabei warst. Früher …«

Ab diesem Zeitpunkt war Kor nur noch an der Diskussion beteiligt, wenn sie ihm rieten, unbedingt (oder auf gar keinen Fall) ein bestimmtes Album zu hören.

Aber das war okay. Er hörte aufmerksam zu, wenn er sich nicht gerade den Hals verrenkte, um Charles zu entdecken. Leider konnte er nicht viel erkennen, klein, wie er war. Er wollte ihn sehen. Ihn fragen, ob das fast ein Kuss gewesen war. Und ihm irgendwie klarmachen, dass er es wirklich gut finden würde, wenn das fast ein Kuss gewesen wäre und dass er ihn gerne echt küssen würde und …

Allein der Gedanke, irgendetwas davon auszusprechen, schnürte ihm den Hals zu. Das konnte er nicht. Nie. Er konnte … Er hatte sich nicht mal getraut, in der Schule aufzuzeigen. Da konnte er doch nicht dem tollsten Mann, der je gelebt hatte, erklären, dass er … dass er …

Aber Kor wollte mutig sein. Wenn Charles vor einem ganzen Raum voll Menschen spielte, sich sogar traute, in die Menge zu springen, dann konnte Kor doch … Immerhin war er heute überfallen und fast verprügelt worden und selbst das hatte er überlebt. Irgendwie fühlte er sich seit gestern stärker.

Er atmete tief ein und beschloss, Charles zu fragen, sobald er ihn sah. Egal, ob er jetzt schon Schweißausbrüche hatte, wenn er sich das nur vorstellte. Alles egal. Oder? Wenn auch nur die geringste Chance bestand, dann … war es das wert, nicht wahr? Bestimmt. Natürlich.

Keine Angst, dachte er, ballte die Fäuste und … machte sich fast in die Hose, als Charles' blonder Schopf plötzlich aus der Menge ragte. Ein verführerisches Lächeln blitzte zwischen den hüpfenden Köpfen auf. Oh Gott.

Ich schaff das nicht, dachte er. Auf keinen Fall. Aber … ich muss.

Er straffte sich. Charles kam auf sie zu, soweit er das erkennen konnte. Gut. Schlecht. Keine Ahnung. Kors Herz hämmerte im Takt der Musik, überholte sie … Charles war nur noch wenige Meter entfernt, gleich würde er ihn sehen, gleich würde Kor ihm gegenüberstehen.

Ich muss dich was fragen, übte er im Kopf. Kommst du kurz mit raus? Bitte. Ich …

Was war das?

Charles war nicht allein. Sein Arm lag auf den Schultern der schwarzhaarigen Schönheit, die nach dem Auftritt bei ihm gestanden hatte. Er senkte den Kopf und flüsterte etwas in ihr Ohr. Sie lächelte geheimnisvoll. Ihre dunkel geschminkten Lippen glänzten.

Oh.

Nein. Nein, aber … Das war bestimmt eine gute Freundin. So konnte man ja wohl mit einer Freundin umgehen, die man sehr mochte, und …

Als Charles und ihn nur noch drei Meter trennten, zog der die Dunkelhaarige näher an sich heran und …

… küsste sie. Auf den Mund.

Ein gleißendes Schwert bohrte sich in Kors Brust. Seine Knie drohten nachzugeben. Nein!

Nein. Natürlich hatte Charles … Hatte jemand, der so war wie Charles, kein Interesse an ihm. Natürlich wollte der ein wunderhübsches Mädchen …

Kor schaffte es nicht, ein unbewegtes Gesicht zu machen, als Charles und die Schönheit sich zu ihnen durchgekämpft hatten. Er konnte es nicht.

»Mariella kommt aus Dortmund«, hörte er Charles sagen. Charles, der ihn keines Blickes würdigte. Er stand so weit von Kor entfernt, dass er ihn kaum verstand. »Ich zieh mit ihr weiter, zeig ihr ein wenig die Stadt.«

Die anderen beiden prosteten ihm zum Abschied zu. Kor hatte weder ein Bier noch die Kraft, um sich zu bewegen. Aus Augen, die drohten, überzulaufen, beobachtete er, wie Charles' breiter Rücken und Mariellas schmaler von der Menge verschluckt wurden.

Vollidiot, dachte er. Du Vollidiot. Natürlich hat er kein Interesse an dir.

Er war schon wieder zu aufgewühlt, um loszuheulen. Zum Glück. Wie eine Statue stand er in der tobenden Menge. Sah zu dem Ausgang, durch den Charles und Mariella verschwunden waren. Er fühlte gar nichts. Nur ein Loch, da, wo viel zu viel Hoffnung gewesen war. Da, wo … Er schluckte.

Er hatte es doch gewusst. Bella hatte von irgendwelchen Frauengeschichten gesprochen.

»Der alte Weiberheld«, knurrte Dane. »Dabei wollten wir nachher zusammen zu Marcel gehen.«

»Tja, die Süße war ihm wohl wichtiger«, sagte Sheron. »Du kennst ihn ja.«

»Ist er oft …« Kor wollte eigentlich schweigen, aber er musste es wissen. »Hat er viele, äh, Freundinnen?«

»Der treibt sich schon rum«, sagte Sheron. »Nicht so schlimm wie Nathan, aber genug.«

»Hattest du nicht auch mal das Vergnügen?«, fragte Dane sie und wirkte ein wenig … so, wie Kor sich gerade fühlte. Der hatte das Gefühl, man hätte sein Herz herausgerissen und über eine raue Ziegelwand geschmiert. Die Türkishaarige zuckte mit den Achseln.

»Lange her«, sagte sie und nahm einen Schluck Bier. »Sehr lange her. Damals war ich noch naiver.«

Kor schluckte.

»Naiver?«, fragte er.

Sie sah ihn gleichmütig an.

»Hab geglaubt, er mag mich. Tut er auch, aber ich dachte, er mag mich so richtig. Das denkt man ab und zu, wenn er sich plötzlich um einen kümmert. Dann ist er so intensiv, als gäb's nichts anderes außer dir. Dabei ist er zu jedem so. Der Junge ist begeisterungsfähig, aber ein Windhund.«

Sie trank weiter. Kors Herz stürzte ab.

»Ach so«, murmelte er.

Er wollte gehen. Er musste hier raus, sonst würde er anfangen zu heulen. So schnell wie möglich heim, sich unter der Decke verkriechen, alles vergessen und wieder Korbinian sein, der sich nichts traute. Der nie an einem Ort wie diesem hätte sein dürfen. Er gehörte nicht hierher. Er musste den Bus bekommen.

Oh nein. Mit Schrecken sah er auf sein Handy. Ein Uhr morgens. Er hatte den letzten Bus verpasst! Wie war die Zeit so rasch vergangen? Er musste … irgendetwas tun. Konnte er einfach hierbleiben?

In diesem Moment ging die Band schweißverklebt von der Bühne.

Zugabe, dachte er panisch. Zugabe!

Aber es gab keine. Mist. Die ersten Gäste strömten bereits dem Ausgang zu. Dane und Sheron unterhielten sich noch, aber … Wie lange würden die bleiben? Er sah sich schon an der Bushaltestelle stehen, zitternd, stundenlang. Was, wenn diese drei Typen zurückkamen? Was, wenn ihn diesmal niemand rettete? Wenn …

»Hauen wir ab?« Nathan stand plötzlich neben ihm und schaute in die Runde.

Nein! Kor verfluchte ihn. Noch mehr, als die anderen beiden nickten. Nathan drehte sich um und sah Kor fragend an.

»Kommst du mit?«

Er hatte sich geirrt. Nathan war in Ordnung.

»Ja«, sagte Kor.

 

Kor

 

Eine Stunde später saß er in einem halbdunklen Raum, lehnte den Rücken an die Wand und hörte Nathan und Marcel beim Spielen zu.

Die Bierflasche in seinen Händen war schon warm. Sein zweites Bier. Mehr traute er sich nicht zu. Er fühlte sich seltsam. Zerbrochen. Blöd und dumm. Er wünschte, Mina wäre hier und würde ihm erklären, was er tun sollte. Er musste sie morgen anrufen. Vielleicht wusste sie, was gegen dieses Gefühl half. Aber Minas Herz war nie gebrochen worden, oder?

Trotz allem fühlte er sich stärker. Dankbar. Er hatte einen Ort, an dem er die Nacht überstehen konnte. Eine überhitzte Zweizimmerwohnung, in der Leute herumstanden und soviel rauchten, dass die Decke aussah, als wäre dort eine Schäfchenwolke festgeklebt.

Aber er mochte es hier. Sehr. Da waren Musik und andere Leute, mit denen er über Musik reden konnte, beziehungsweise solche, die ihm etwas über Musik erzählen konnten.

Von der Decke tröpfelte es. Ab und zu erwischte ein Tropfen Kondenswasser seinen Nacken und rollte unter sein Shirt. Marcels Wohnung hatte bekritzelte Wände und eine Toilette, in die er sich nie wieder trauen würde. Nein, er sollte wirklich bei einem Bier bleiben.

Dane und Sheron dachten anders darüber. Die waren Bier holen gegangen und hatten sich in der Küche verquatscht, soweit er das sehen konnte, aber das war ihm auch recht. So konnte er hier sitzen und in Selbstmitleid baden. Und Nathan und Marcel zuhören. Soweit er das beurteilen konnte, waren sie gut.

Es war faszinierend, wie Nathans Bass und Marcels Gitarre zusammen klangen. Wild und rau und doch melodiös. Nathan gab den Takt vor und Marcel spielte darum herum. Er erinnerte sich, dass Charles ihm angeboten hatte, ihm das beizubringen und sein Kopf sank auf seine Knie. Hatte Charles schon das Interesse an ihm verloren? Er hatte ihm eben nicht mal zugenickt.

Halb wünschte er sich, Charles würde plötzlich zur Tür hereinkommen. Wieder wie vorher sein, ihn umarmen und ihm irgendetwas ins Ohr flüstern, erklären, was die beiden da spielten und worauf er achten sollte, um es besser zu verstehen und … Er schluckte den Kloß hinunter, der sich in seinem Hals gebildet hatte.

Die Musik hörte abrupt auf.

»Ich geh pissen. Bis gleich.« Marcel stand auf und legte seine Gitarre vorsichtig auf die Holzdielen.

»Brauchst du Hilfe?« Nathan grinste und Marcel lachte laut auf.

»Keine Chance, Kleiner. Wenn ich auf Männer stehen würde, dann nur auf welche mit fetten Eutern.«

»Ich kann zunehmen«, schlug Nathan vor.

Marcel lachte nur noch lauter und verließ das Zimmer. Nathans Blick streifte durch den Raum und blieb an Kor hängen. Der zuckte unwillkürlich zusammen, als die hellen Augen ihn fixierten.

»Kor.« Nathan lächelte träge und er hatte das Gefühl, dass er besser einen Keuschheitsgürtel mitgenommen hätte. Charles hatte ihn vor Nathan gewarnt, oder? Er wollte nicht … Also Nathan war attraktiv, aber er wollte nur mit Charles … Äh, hatte der gerade was gesagt?

»Äh, was?«, fragte Kor.

»Komm her«, wiederholte Nathan und deutete mit dem Kinn auf Marcels Gitarre. »Spiel was.«

»Ich?!« Kor schlang die Arme um seine Knie. »Nein! Nein, das … Ich spiel nie vor Leuten. Ich kann das nicht. Echt nicht. Nie.«

Nathan legte den Kopf schief und musterte ihn.

»Charles hat dich spielen gehört. Er meinte, du wärst gut. War völlig hin und weg von dir.«

Trotz allem, was passiert war, breitete sich ein warmes Gefühl in Kors Magen aus.

»Hat er das?« Er lächelte wässrig.

Nathan wirkte wie eine Katze, die überlegt, ob ihre Beute eine Maus oder ein Vogel ist. Als könnte er sich nicht entscheiden, was er von Kor halten sollte.

Schließlich streifte er den Bass ab, stand auf und setzte sich neben Kor. Er kramte eine Zigarette aus seiner Hosentasche und zündete sie an. Kor beobachtete ihn misstrauisch. Eben war Charles noch da gewesen, um ihn zu schützen, aber nun … Er würde auf sich selbst aufpassen müssen. Entschlossen straffte er sich.

»Charles meint, ihr hättet euch auf seiner Arbeit kennengelernt«, sagte Nathan. »Stimmt das?«

»Ich habe Cher… meine Gitarre zur Reparatur gebracht.«

»Aha. Und dann habt ihr euch total gut verstanden und er hat dich ins Smokes mitgeschleppt?«

»Ja, so in etwa.« Kor nickte. Was sollte er sonst sagen?

Nathan schien zu überlegen.

»Magst du ihn?«, fragte er schließlich. Kors Fingernägel gruben sich in die Handflächen.

Ruhig bleiben, dachte er. Ganz ruhig.

»Ja, ich meine … Er ist in Ordnung.« Fast glaubte er, dass es klappte. Seine Stimme war gelassen und frei von jeglichem Zittern. »Es war nett, dass er mich mitgenommen hat. Auch wenn er jetzt weg ist.«

»Ja, der Idiot.« Irgendwie wirkte Nathan verstimmt.

Er nahm einen tiefen Zug und stieß einen Rauchring aus. Einen großen, der durch die Luft waberte wie ein betrunkener Hula-Hoop-Reifen. Dann schoss er einen kleinen hindurch.

»Das war super!« Kor war begeistert, trotz allem. »Wie machst du das? Schaffst du auch drei?«

Nathan warf ihm einen Blick zu, der selbst für Kor unmissverständlich war. Oh nein. Das war eindeutig ein Schlafzimmerblick.

»Wenn ich's schaffe«, schnurrte er, »darf ich dir dann zeigen, was ich mit meinem Mund noch alles anstellen kann?«

Was?

»Nein!« Kor rückte von ihm ab. »Nein, ich … Nein danke. Das ist sehr freundlich von dir, aber … Bitte nicht.«

»Schade.« Nathan schüttelte bedauernd den Kopf.

Aber er bedrängte Kor nicht, sondern stand auf und schlenderte in die Küche. Als Kor ihn das nächste Mal sah, lehnte er engumschlungen mit einer fülligen Blonden an der Flurwand und küsste sie. Kurz darauf waren sie verschwunden.

Kor blieb. Irgendwann fand er, dass er sich genug bemitleidet hatte und ging in die Küche. Marcel und Sheron erzählten ihm von einem legendären Konzert, bei dem sie sich versehentlich gegenseitig die Nasen gebrochen hatten.

Dann leerte es sich auch hier. Sie setzten sich an den Tisch und Sheron schlief an seine Schulter gelehnt ein. Kor traute sich nicht, sich zu bewegen, bis sie eine Stunde später wieder aufwachte.

Und schließlich war der Morgen da und mit ihm der erste Bus und er konnte endlich nach Hause fahren.

 

Kor

 

Gähnend schloss er die Haustür auf. Der vertraute Geruch der Wohnung schlug ihm entgegen. Eine Mischung aus Parkettpolitur und Frühlingstraum-Weichspüler. Die Luft hier war stickig, aber angenehm warm.

Endlich ausruhen, dachte er. Endlich verkriechen und sich ausheulen, weil er so blöd gewesen war, zu denken, dass …

»Korbinian!« Seine Mutter stand im Flur. »Wo warst … Was hast du da an?«

»Äh.« Schreckstarr sah er sie an. Was machte sie hier? Sie hatten doch bis nachmittags wegbleiben wollen. »Papas Jacke?«

»Das sehe ich.« Ihre perfekt gezupften Augenbrauen hoben sich. »Und der Rest?«

»Gekauft«, murmelte er. Trotzig. »Ich …«

»Schatz, es ist alles gut!«, rief sie ins Wohnzimmer hinein. »Er ist zurück!«

Sein Vater streckte den Kopf in den Flur.

»Das will ich ihm auch geraten haben … Ist das meine Jacke? Ich hatte ganz vergessen, wie gut die aussieht … Äh, was fällt dir ein, die einfach mitzunehmen?«

»Tut mir leid«, sagte Kor. »Echt, aber …«

»Junge.« Sein Vater verschränkte die Arme und seine Mutter tat es ihm gleich. »Weißt du, wie viele Sorgen wir uns gemacht haben? Wir sind eben angekommen und du warst nicht da. Wo hast du dich rumgetrieben?«

»Ich …«

Er wollte sich wieder entschuldigen, aber … Er war in der letzten Nacht überfallen worden, hatte sein erstes Konzert erlebt, hundert neue Eindrücke ins Gesicht geklatscht bekommen und Charles hatte ihm das Herz gebrochen. Eigensinn wallte in ihm auf. Er konnte nicht mehr.

»Ich bin neunzehn«, knurrte er. »Ich kann nachts wegbleiben, wenn ich will.«

Energisch feuerte er die Jacke an die Garderobe und marschierte an den beiden vorbei. Die starrten ihn mit hängenden Unterkiefern an.

Als er die Treppe hochstapfte, hörte er sie jubeln.

»Endlich!«, quietschte seine Mutter. »Ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben, dass er sich mal normal verhält. Natürlich dürfen wir ihm das nicht durchgehen lassen, aber …«

Er knallte die Zimmertür hinter sich zu und schloss ab. Sein Raum kam ihm mit einem Mal kleiner vor. Bedrückender.

»Hallo Cherry«, sagte er.

Cherry stand an der Wand und bewegte sich nicht.

»Ich war … Ich habe … Charles mag mich doch nicht. Aber ich hatte einen schönen Abend, irgendwie. Teilweise. Ich …«

Er schluchzte leise. Dann nahm er sie und drückte sie an sich. Als er sich ausgeweint hatte, begann er, zu spielen. Lange.

Er versuchte, in Tönen auszudrücken, was er nicht erklären konnte. Wie er Charles auf ein Podest gestellt hatte und der einfach heruntergehüpft war, um sich mit einem wunderhübschen Mädel aus Dortmund zu vergnügen. Wie anders er sich fühlte, wie … Er wollte etwas erschaffen, das so ähnlich klang wie die Lieder gestern. Wie Doomsday Destruction. Es klappte nicht, aber irgendwie mochte er die schräge Melodie, die dabei herauskam. Er nannte sie »Smokes«, weil ihm nichts Besseres einfiel.

Nach ein paar Stunden, als seine Finger wehtaten, lud er jedes Album von Domspast herunter, das er finden konnte. Mitten im zweiten Album (»Ehrlos in Ehrenfeld«) schlief er ein.

 

Charles

 

Als Charles morgens aus seinem Zimmer torkelte, saß Nathan schon am Küchentisch und schüttete Kaffee in sich hinein. Komplett angezogen. Sein enger Pulli schaffte es nicht, die frischen Knutschflecke an seinem Hals zu verbergen.

Charles hörte leises Schnarchen hinter Nathans Zimmertür. Weibliches Schnarchen, wenn er sich nicht täuschte.

»Heute mal ein Mädel?«, fragte er und schleppte sich zur Kaffeemaschine.

Der gestrige Abend saß ihm noch in den Knochen. Und im Kopf. Der gesamte gestrige Abend. Kor, der Auftritt, das Bier, Kor, Mariella, Kor … vor allem Kor. Dessen dunkle Augen hatten ihn bis in seine Träume verfolgt.

Am liebsten wäre er gar nicht aufgestanden. Aber Bella würde ihn sofort feuern, wenn er nicht zur Arbeit erschien. Was gerade der einzige Grund war, aufzustehen. Und die Arbeit würde ihm guttun. Arbeit war Ablenkung.

Er stützte sich schwer auf die Anrichte. Sie war kühl unter seinen Handflächen. Die ganze Bude war zu kalt. Und er trug nichts als Boxershorts. Immerhin schlängelte sich köstlicher Kaffeeduft in seine Nasenlöcher. Er ignorierte den Stapel schmutzigen Geschirrs neben seinem Kopf und durchwühlte den Schrank.

»Hm«, brummte Nathan. »Ja, ein Mädel. Und bei dir?«

»Mariella. Ist schon wieder weg.«

Je weniger er darüber sprach, desto besser. Er fühlte sich dreckig. Und feige. Und absolut erbärmlich.

Charles goss Kaffee in seine »Radioactive Raider«-Tasse und setzte sich neben Nathan. Rieb sich durchs Gesicht. Sein bester Freund betrachtete ihn mit einem verdammt seltsamen Ausdruck.

»Hat's funktioniert?«, fragte er. »Hast du den Kleinen vergessen?«

»Deshalb habe ich nicht …« Als ob er Kor vergessen könnte. Nie. Er wünschte, er könnte es. »Machst du mir etwa Vorwürfe, weil ich jemanden abgeschleppt habe? Du?«

»Aber nein.« Nathan schlürfte seinen Kaffee. »Das würde ich nie tun. Übrigens habe ich gestern mit deinem Süßen geredet.«

»Ah.« Charles gab sich Mühe, nicht zusammenzuzucken. »Und?«

»Hm.« Nathan wiegte den Kopf hin und her. »Hab ihm angeboten, ihn in die Liebe einzuführen.«

»Was hast du?« Charles knallte die Tasse auf den Tisch. »Du …«

Er biss die Zähne aufeinander. Von diesem Wichser würde er sich nicht verarschen lassen.

»Haha, lustig«, sagte er. »Und? Hat er zugestimmt?«

»Klar.« Nathan lächelte freundlich. »Was meinst du, wer da in meinem Zimmer schnarcht?«

Charles sprang auf. Der Stuhl klapperte hinter ihm zu Boden und er raste auf Nathans Tür zu. Riss sie auf. Und erblickte das hübsche, wohlgerundete Mädel, das in Nathans schwarzer Bettwäsche schlummerte.

»Sehr komisch«, zischte er und schloss die Tür wieder. Leise.

»Total.« Nathan schüttelte den Kopf. »Dass du darauf reinfällst.«

»Na und?«

Schlecht gelaunt trottete er zurück an den Tisch. Er sollte wirklich lernen, Nathan zu ignorieren.

»Ich hab's ihm tatsächlich angeboten«, sagte Nathan. Als er Charles' Blick sah, fügte er hastig hinzu: »Nur, um was auszutesten. Denkst du, ich mach mich an ihn ran, wenn ich dir versprochen habe, dass ich brav bin?«

»Was wolltest du denn austesten?«, knurrte Charles. »Ob er auf Vollhorste steht?«

»Nein, ob er auf Kerle steht. Und«, Nathan neigte bedauernd den Kopf, »dein Instinkt hat dich nicht getäuscht. Er mag keine Männer.«

»Du meinst, er mag dich nicht.«

»Wer mich nicht mag, steht nicht auf Kerle.«

Charles schnaubte verächtlich. Kor … Würde er ihn überhaupt je wiedersehen?

»Ist er gut nach Hause gekommen?«, fragte er.

»Ach, das interessiert dich plötzlich?«

»Ich habe Sheron gefragt, ob sie ein Auge auf ihn haben kann. Die fand ihn eh niedlich.«

»Super.«

Nathan kippte den Rest seines Kaffees hinunter.

»Ich glaube, die findet ihn sogar ziemlich niedlich. Vielleicht werden sie ja ein Paar, dank deiner Hilfe.«

Der Gedanke schnürte Charles' Brust zusammen. Nein. Bitte nicht. Nicht jetzt schon.

»Was beschwerst du dich?« Nathan stand auf. »Du hast doch gestern auch wen heimgebracht. Dann heul nicht, wenn der Kleine dasselbe macht.«

»Ich habe …« Charles wusste, dass es besser wäre, die Klappe zu halten. Aber irgendwie drängten die Worte hinaus, als ob er nicht Nathan vor sich hätte, sondern einen strengen Beichtvater, dem er erklären musste, dass er nicht so verdorben war, wie es schien. »Ich habe nicht mit ihr geschlafen. Ich konnte nicht.«

Nathan schaute ihn ungläubig an. Blinzelte. Und brach in ohrenbetäubendes Lachen aus.

»Du hast«, brachte er zwischen zwei hastigen Atemzügen heraus. »Du bist … du bist impotent aus … Liebe?«

Der Idiot haute sich tatsächlich auf den Schenkel. Es reichte. Charles sprang auf, packte ihn und nahm ihn in den Schwitzkasten, was den Lachanfall nicht im Geringsten unterbrach.

»So war das nicht!«, rief Charles. »Also, es war auch so, aber … ich wollte auch nicht. Ich hab … Ich …«

Alle Kraft verließ ihn. Er gab Nathan frei. Egal. Ihm war mit einem Mal verflucht egal, was der Trottel tat. Er kippte seinen Kaffee hinunter und wandte sich um, um sich anzuziehen, zur Arbeit zu gehen und alles zu vergessen.

»He.« Nathan räusperte sich. »Warte doch mal, ich … hab das nicht so gemeint.«

Überrascht drehte Charles sich um. Verdammt, der Kerl war ernst. Nathans Gesicht strahlte nahezu vor Aufrichtigkeit.

»Ich …« Nathans Finger trommelten auf die Tischplatte. Die Worte schienen ihm schwerzufallen. »Ich mach mir Sorgen um dich. Wegen der Sache damals. Wegen Elias. Wenn das wieder so läuft …«

Charles sah zu Boden.

»Äh, danke.« Er rieb seinen Arm. Nathan kratzte sich am Hals. Sie schafften es nicht, sich anzusehen. »Aber das wird schon. Ich werd ihn einfach nicht wiedersehen und abwarten, bis das alles vorbei ist.«

»Oh. Gut.« Nathan nickte. Dann erhob er sich. »Gut, auf zur Arbeit.«

Dass Nathan absolut pünktlich war, gehörte zu seinen erstaunlichsten Eigenschaften.

Charles hörte die Haustür zuklappen, als er sich anzog. Sein Handy checkte. Keine Nachricht von Kor. Na ja, was sollte der ihm auch schreiben? Obwohl, er hatte doch … Charles hatte ihm alles Mögliche versprochen, in seinem Glückstaumel. Dass er ihm beibringen würde, sich zu verteidigen. Dass sie jammen würden. Und Kor hatte gewirkt, als würde er sich darüber freuen. Also warum meldete er sich nicht?

Du willst doch gar nicht, dass er sich meldet, sagte eine ruhige, vernünftige Stimme in seinem Hinterkopf. Du willst ihn nie wiedersehen, weil es dir nicht guttut, verliebt zu sein. Aber …

Ob er sich nicht meldete, weil er beschäftigt war? War er … vielleicht gerade bei Sheron? Heiße Eifersucht durchstieß seinen Magen, obwohl er nicht mal das Recht hatte, eifersüchtig zu sein.

Oder wartete Kor darauf, dass er sich meldete? Dass Charles ihm zu verstehen gab, dass er ihn wirklich sehen wollte? Unsicher genug hatte er gewirkt.

Nun, da konnte er lange warten. Charles würde ihm bestimmt nicht schreiben.

 

Kor

 

Am Abend kam Mina zu Besuch. Kor hörte ihr helles Lachen aus der Küche und trottete die Treppe hinunter. Immer noch trug er die Klamotten von gestern. Alter Rauch und Schweiß umhüllten ihn wie ein grässlicher Schutzschild.

Seine Familie sah auf, als er hereinkam. Drei Augenpaare, deren Starren ihn unbeeindruckt ließ.

»Hallo«, murmelte er und sah seine Eltern abwartend an. Aber die schienen nicht mehr sauer zu sein. Ganz im Gegenteil. Mina dagegen schaute misstrauisch.

»Was ist passiert?«, fragte sie. Sie sah irgendwie alarmiert aus.

»Nichts«, sagte Kor, setzte sich und versuchte, ausdruckslos zu schauen. Sie kannte ihn wohl einfach zu gut.

»Nian …« Ihr Gesicht verzog sich zu einer tadelnden Grimasse. »Lüg mich nicht an.«

»Ich lüge nicht«, brummte er.

»Natürlich lügst du, Nian! Was ist los?«

»Ich lüge nicht!«, schnappte er. Schweigen.

»Kinder, jetzt hört mal auf, zu zanken«, sagte seine Mutter. Sie strahlte.

»Mama, das kann doch nicht wahr sein! Schau dir an, wie er aussieht. Und gestern war er mit einem Kerl unterwegs, der … der sah total fragwürdig aus.«

»Tut er nicht!!« Kors Hände ballten sich zu Fäusten. Vermutlich hatte sie sogar recht, aber … er wollte nicht, dass sie so über Charles sprach.

»Natürlich tut er das. Der sah aus wie ein Dealer.«

»Sah er nicht!«

»Hach, ist das schön, wenn ihr euch streitet.« Seine Mutter lächelte gütig. »Wie richtige Geschwister.«

»Was?«, fragten sie im Gleichklang.

»Na, sonst lässt er sich immer von dir unterbuttern, Mina.« Seine Mutter nickte Kor zu. »Schön, dass du dich mal wehrst, Kleiner.«

»Bin nicht klein«, grummelte er.

»Natürlich bist du …« Minas Kopf schwang herum und sie sah ihre Mutter böse an. »Ich habe ihn nicht untergebuttert. Ich habe auf ihn aufgepasst.«

»Selbstverständlich hast du das.« Ihre Mutter hüstelte. »Du warst nur manchmal ein wenig forsch, wenn du …«

»War ich gar nicht!« Ups, Minas wütender Blick richtete sich auf ihn. Kor versuchte, in seinem Stuhl zu versinken. »Und wir reden. Nachher.«

»Jaistgut«, murmelte er. Und hoffte, dass das Essen ewig dauern würde.

 

Tat es nicht. Bereits um neun marschierte Mina die Treppe hoch, in sein Zimmer, und er trottete hinterher. Schweigend schloss er die Tür hinter ihnen und setzte sich neben sie auf das Bett.

»Also. Was ist da los?«, fragte sie.

»Ich …«

Er sah sie an. Und seufzte. Wenn sie ihren strengen Große-Schwester-Blick aufsetzte, war Gegenwehr unmöglich.

Also erzählte er ihr alles. Absolut alles. Dass er sich verliebt hatte, genau in den Falschen. Dass Charles ihm eine neue Welt gezeigt hatte, aber dass er seine Gefühle leider nicht im Geringsten erwiderte und dass er sich blöde Hoffnungen gemacht hatte und dass Charles absolut unwiderstehlich war, und …

Er schaffte es tatsächlich, Mina zu schockieren, was er nur äußerst selten hinbekam. Wie immer fing sie sich schnell.

»Okay.« Sie nickte. »Okay. Ich hab ja nichts dagegen, wenn du auf Kerle stehst, aber dieser Charles? Der geht gar nicht. Du musst dir unbedingt einen besseren Geschmack zulegen.«

Will ich nicht, dachte Kor. Aber er sagte nichts, murmelte nur etwas Vages.

»Der tut dir nicht gut. Schau doch mal, wie traurig du guckst. Wie fühlst du dich?«

»Müde«, sagte er wahrheitsgemäß. »Aber irgendwie auch lebendig. Mehr als sonst. Ich will … Ich würde ihn gern wiedersehen, glaub ich.«

»Warum das denn? Der Typ hat dir nur wehgetan.«

»Nicht nur. Nur … einmal. Und er kann ja nichts dafür, dass ich mich in ihn …«

»Das muss der doch gemerkt haben! Du lügst so schlecht! Du hast es noch nie geschafft, deine Gefühle zu verbergen.«

»Ja … aber … ich glaub nicht, dass er …«

»Nian, das kann nichts werden. Kümmer dich lieber mal darum, einen Studienplatz zu finden, anstatt solchen Windhunden hinterherzurennen.«

Windhund. So hatte Sheron ihn auch genannt. Und wahrscheinlich hatten sie recht. Nur …

»Aber es … ist doch mein Leben. Meins«, sagte er vorsichtig. Er hatte das Gefühl, mit jeder Minute zu schrumpfen.

Minas Fingernägel trommelten tonlos auf die Bettdecke ein.

»Ja, ist es. Und du hast nur eins, also mach nicht so einen Blödsinn damit. Dieser Typ wird dir nur wieder das Herz brechen, wenn du ihm hinterherläufst.«

»Aber es ist mein Herz.« Er schluckte. Ballte die Fäuste. »Und ich kann damit machen, was ich will. Und ich kann …«

»Nichts kannst du«, stöhnte sie. »Du kannst ja nicht mal auf dich aufpassen. Du … Was hättest du gemacht, wenn dieser komische Typ dich nicht vor den Schlägern gerettet hätte? Dann wärst du jetzt im Krankenhaus.«

»Charles hat gesagt, er bringt mir American Kenpo bei. Was immer das ist.«

»Du meinst echt, er macht das noch?« Sie sah ihn ungläubig an. »Der hat doch längst das Interesse verloren.«

»Ja, da … hast du wohl recht …«

Tränen stiegen in seine Augen. Er versuchte, sie wegzublinzeln, aber es kamen immer mehr. Stumm starrte er auf den Teppichboden, während sie seine Wangen herunterpurzelten. Er war so schwach. So erbärmlich. Neunzehn Jahre alt und er heulte wie ein Kleinkind.

»Ich wollte nur …«, schluchzte er und dann fiel ihm nicht mehr ein, was er wollte. Mina legte den Arm um ihn.

»Na siehst du«, sagte sie. Ihre Stimme war warm. »Du bist viel zu sensibel. Ich will gar nicht wissen, was so ein Typ mit dir machen würde, wenn er dich in die Finger kriegt.«

Kor hätte gar nichts dagegen gehabt, wenn Charles ihn in die Finger gekriegt und … irgendetwas mit ihm gemacht hätte. Gar nichts. Er hatte es so sehr gewollt und …

Sein Handy brummte und unterbrach den Gedankenstrom. Wer war das? Er wischte sich mit dem Ärmel durch das Gesicht und sah auf das Display. Mina löste sich von ihm, um ihm über die Schulter zu sehen.

Hast du Sonntag Zeit? Ich bring dir was bei.

Eine Nachricht von Charles.

Sein Atem stockte.

»Er hat mich gar nicht vergessen«, flüsterte er. »Er hat sich erinnert, dass er mir was zeigen wollte und …«

»Super, er hat sich erinnert, dass es dich gibt.« Mina schmollte. »Ganz toll. Ist dir das genug? Reicht dir das? Dass er sich ab und zu an dich erinnert?«

»Nein, aber … es ist schön, oder?« Er sah sie verschämt an. Sie verdrehte die Augen.

»Nein, ist es nicht. Hast du gar keinen Stolz?«

»Doch, schon …«

»Du wirst dem nicht schreiben, ist das klar?« Minas Gesicht näherte sich, bis er jede einzelne ihrer Wimpern erkennen konnte. »Ist das klar? Der Typ ist nicht gut für dich.«

»Ich …« Er biss auf seine Unterlippe. Sein Arm juckte. Und als er daran kratzte, juckte sein Hals. Wie so oft, wenn er nervös war. »Na gut. Okay. Du hast recht.«

Er ließ den Kopf hängen und hörte ihr erleichtertes Ausatmen.

»Gut. Gut, Nian. Ich mach mir doch nur Sorgen um dich.« Sie klang so sanft.

»Ich weiß.« Er lächelte. »Danke.«

»Bitte.« Sie lächelte zurück. Dann umarmte sie ihn, fest. So fest, als wollte sie ihn nie wieder loslassen. »Ich geh mal wieder runter. Papa will mir noch den neuen Katalog zeigen.«

»Okay. Ich komm gleich nach. Muss nur noch …« Er befühlte sein Gesicht. »Ich warte noch, bis ich nicht mehr verheult aussehe.«

Sie sprang schwungvoll auf, fast wie der Sänger von Orkus Orbus gestern. Ihre glänzenden Haare wehten hinter ihr her. Kaum hatte sie die Tür zugeschlagen, griff Kor nach seinem Handy. Sah Charles' Nachricht an. Und lächelte.

Gerne, schrieb er. Um acht?

 

Kor

 

Am Sonntag um acht würde er Charles wiedersehen. Sonntag. Um. Acht. Die Worte summten durch Kors Bewusstsein wie ein freundlicher Schmetterlingsschwarm. Er erfand sogar eine Melodie, die »Sonntags um acht« hieß. Sie war zu gleichen Teilen freudig und schmerzhaft sehnsüchtig.

Er versuchte, sie ein wenig wie Doomsday Destruction klingen zu lassen, aber das harmonierte mal wieder nicht. Dafür fand er auf dem dritten Album von Domspast (»Für die Nippel von Nippes«) einen Song mit einer erstaunlich unbekümmerten Melodie, die ihn nicht mehr losließ.

Er schrieb Dane, bat ihn um frische Musiktipps und bekam eine kilometerlange Liste zurück. Überhaupt schrieb er mit vielen Leuten. Unter anderem mit Sheron, die seine Meinung zum Cover ihres ersten Albums haben wollte. Anscheinend war fast jeder seiner neuen Bekannten in einer Band. Ob … Nein. Allein der Gedanke, auf die Bühne zu gehen, von so vielen Menschen angesehen zu werden, Menschen, die nur darauf warteten, dass er einen Fehler machte … Allein der Gedanke brachte ihn dazu, sich zu verspielen. Sorgte dafür, dass seine Finger schweißnass waren und abrutschten.

Nein. Das war wohl nichts für ihn. Leider. Er fragte sich, wie es wäre, mit anderen zusammenzuspielen. Okay, er fragte sich vor allem, wie es wäre, mit Charles zusammenzuspielen. Traumhaft, oder? Jedes Mal, wenn er daran dachte, seufzte er leise.

Seine Eltern waren glücklicher, als er sie je zuvor erlebt hatte. Als er ihnen sagte, dass er morgen früh nach Stuttgart fahren würde, um jemanden zu treffen, schenkte sein Vater ihm die alte Motorradjacke. Sie schienen Minas Sorgen nicht zu teilen. Na ja, sie hatten Charles auch nie getroffen. Was würden sie von ihm halten? Kor hatte keine Ahnung.

 

Mit klopfendem Herzen stieg er in den Bus, in dem letztes Mal alles so schiefgelaufen war. Total schiefgelaufen war. Aber so früh waren keine finsteren Gestalten unterwegs. Dafür so viele Rentner, dass er stehen musste. Auf seinem Rücken baumelte Cherry, gut verpackt in ihrem schwarzen Koffer. Zum dritten Mal, seit er sie gekauft hatte, nahm er sie mit nach draußen. Er konnte nur hoffen, dass ihr nichts passieren würde. Beten. Seine Finger krallten sich um die glatte Haltestange, so nervös, dass sie ganz kalt wurden.

Aber er brauchte Cherry. Er wollte doch mit Charles spielen. Charles' Gitarre hieß Lesley, erinnerte er sich, und ein kribblig warmes Gefühl kitzelte über alle Nervenbahnen. Das hatte er ihm verraten. Na ja, vielleicht war das gar kein Geheimnis. Vielleicht wusste das jeder. Vielleicht hatte Charles so wenig Geheimnisse, wie er Hemmungen hatte. Das Bild davon, wie er Mariella geküsst hatte, blitzte in seinem Kopf auf. Es schmerzte. Sehr. Aber …

Er konnte sich nicht fernhalten.

 

Pünktlich um acht Uhr morgens stand er vor Charles' Haustür. Helle Farbe blätterte davon ab. Überhaupt war das Haus in der düsteren Straße mit den hohen Gebäuden ziemlich schäbig. Cool. Sah aus, wie … wie er sich Berlin oder so vorstellte. Vielleicht sogar New York. Es passte zu Charles …

Nein.

In den Tagen, die vergangen waren, hatte er sich befohlen, Charles nicht mehr auf ein Podest zu stellen. Ihn zu sehen, wie er wirklich war. Ein begabter Gitarrist mit einem hohen Frauenverschleiß, der keine festen Bindungen einging und bestimmt zu viel Bier trank. Der in einem Mietshaus wohnte, das nicht cool, sondern schäbig war.

Objektiv bleiben, sagte Kor sich und drückte auf die Klingel. Sofort flatterte sein Herz. Gleich, dachte er. Gleich seh ich ihn …

Der Summer dröhnte. Fünfter Stock, das hatte Charles ihm gesagt. Nervös stieg er die alten Holzstufen hoch. Kein Aufzug. Sein Atem ging schwer, als er oben ankam, auf dem abgetretenen Treppenabsatz, und da stand …

Nathan. In einem eng anliegenden schwarzen Pullover und einer noch enger anliegenden Lederhose, mit feuchten Haaren und einem verwunderten Gesichtsausdruck.

»Was machst du denn hier?«, fragte er, nicht sehr freundlich. Oh nein. Hatte er etwas falsch gemacht?

»Äh … Charles hat mich eingeladen«, sagte er. »Ich wusste gar nicht, dass du auch hier wohnst.«

»So, so.« Nathan schien verstimmt. »Das hat er dir verheimlicht, was?«

Was hatte er? Kor machte sich so klein, wie er konnte. Warum …

»Charles!«, brüllte Nathan in die Wohnung hinein. »Besuch für dich!«

Stille. Dann ein genervtes Knurren.

»Sag ihm, er soll weggehen«, brüllte Charles zurück, gedämpft durch mindestens eine Tür.

Kors Herz sank. Nein. Oh, nein. Charles hatte … Der hatte doch nicht vergessen, dass er vorbeikam, oder?

Doch. Natürlich hatte er das. Er … Kor war nicht so interessant, dass man sich sowas merkte. Charles war … Der war wohl doch ein Windhund …

»Du willst nicht, dass er weggeht«, rief Nathan. »Es ist der Kleine!«

Der … was?

Kor hörte einen dumpfen Laut. Als wäre ein schwerer Körper aus einem Bett gefallen. Eine Tür quietschte. Schritte. Und dann erschien Charles neben Nathan.

Nackt.

Na ja, fast. Er trug Boxershorts (natürlich schwarz). Aber ansonsten …

Kors Blick glitt über kräftige Schultern, eine bunt tätowierte Brust (irgendwelche Bandlogos), einen flachen Bauch mit einer deutlichen Rille in der Mitte und dem Ansatz eines Sixpacks. Er war nicht vollkommen sicher, ob das eine Falte im Stoff der Boxershorts war, oder …

Schnell weiter!

Charles' Beine waren stark, vielleicht vom Rumspringen auf der Bühne, seine Arme … Oh.

Helle, schmale Narben zogen sich von den Handgelenken bis zu den Schultern. Viele Narben. Sie mussten von Klingen stammen, und … Oh nein. Charles hatte seinen Blick bemerkt. Schmerz glitt über sein Gesicht. Seine Hand zuckte, als wollte sie hochschnellen und die Arme bedecken, verharrte aber nach wenigen Zentimetern.

Dann versteinerte seine Miene. Zum ersten Mal fragte Kor sich, wie viel von seiner Gelassenheit echt war. Außerdem fragte er sich, wie lange er Charles schon anstarrte. Und ob der darauf wartete, dass er etwas sagte.

»Äh«, sagte Kor. »Ich … du hast doch gesagt, acht wäre okay, aber … Sorry. Du hast das wohl … Hast du mich vergessen?«

»Was?« Es kam wieder Leben in Charles' Gesicht. Seine Augen weiteten sich. »Oh. Du hast acht Uhr morgens gemeint?«

»Äh. Ja.« Kor war gar nicht der Gedanke gekommen, dass es sich um den Abend handeln könnte. »Ich dachte, dass du morgen bestimmt arbeiten musst und dann sicher früh ins Bett gehst.«

Charles blinzelte. Dann zeigte sich das strahlende Lächeln, das Kor so sehr mochte.

»Ich hab dich vermisst«, sagte Charles und schüttelte den Kopf. Kors Herzschlag verdoppelte sich. »Natürlich habe ich abends gemeint. Ich …«

Er kratzte seinen Kopf.

»Oh. Na, dann komm ich abends wieder«, stotterte Kor und sah erstaunt, dass Charles' Augen sich weiteten.

»Nein!«, sagte er, fast wie damals in Bellas Laden. »Komm rein. Jetzt bin ich eh wach.«

Nathan schnaubte leise und Kor verstand nicht, warum. Immerhin ließ der ihn an sich vorbei durch die Tür gehen.

Der Flur war so schmal, dass man nicht nebeneinander laufen konnte. So hatte er die ganze Zeit Charles' breiten Rücken vor der Nase. Glatte, samtige Haut. Und ein weiteres Tattoo. Einen Hirsch mit geröteten Augen, der mit weit aufgerissenem Maul Bier und Pillen in sich hineinkippte. Er erstreckte sich über Charles' halben Rücken. Seltsam. Ob es etwas bedeutete? Wenn das Spiel der verschlungenen Muskeln Kor nicht so abgelenkt hätte, hätte er ihn vielleicht gefragt.

Nach dem engen Flur erschien der folgende Raum riesig. Eine Wohnküche, spärlich eingerichtet, mit wild gemixten Möbeln, einer überquellenden Spüle und einem Kühlschrank, dessen Brummen die Luft erfüllte. Auf allen ebenen Flächen klebten Plakate und Sticker. Sah ein wenig aus wie Bellas Laden. Der Duft von Kaffee, Zigaretten und Putzmittel war überall.

»Schuhe ausziehen«, brummte Nathan. Kor zuckte zusammen.

»Ja, natürlich. Sorry.« Cherrys Kasten fiel fast zu Boden, als er sich hastig bückte, um die Schuhe aufzuschnüren.

»Er meint das nicht böse«, sagte Charles. Wie Kor seine Stimme vermisst hatte. So rau und melodisch. »Sieht nicht so aus, aber er hat den reinsten Putzfimmel.«

»Wär schön, wenn du auch einen hättest«, knurrte Nathan.

Kor besah das Zimmer genauer, als er auf grauen Socken hereintapste. Tatsächlich. Die alten Bodendielen waren staubfrei und die hohen Fenster blitzblank. Nur die Spüle …

»Wenn ich zurückkomme, ist das sauber«, sagte Nathan prompt und deutete auf den Geschirrberg.

Dann öffnete er eins der Fenster und stieg hinaus. Oh, dahinter befand sich ein Blechdach, das in einer Ziegelwand endete. Kor sah eine längliche Flamme aufblitzen, als Nathan sich eine Zigarette anzündete.

»Ordentlich, reinlich und pünktlich. So ist er.« Charles grinste schief. »Ich konnt's auch kaum glauben, als wir zusammengezogen sind.«

Irgendwie wirkte er … verunsichert. Er rieb über seinen vernarbten Arm. Sah auf Kor, dann wieder weg.

»Äh, ich habe echt noch nicht mit dir gerechnet. Ich zieh mir mal eben was an.«

»Nein!«, rief Kor und bereute es sogleich.

Was redete er da? Nur, weil er … Charles weiter ansehen wollte? Der blickte ihn gerade an, mit einem äußerst verwunderten Gesichtsausdruck.

»Äh, ich meine, mach dir keine Umstände, weil ich hier bin. Ich … Beachte mich einfach gar nicht«, stammelte er. Charles' Mundwinkel zuckte.

»Das kann ich nicht«, sagte er, so sanft, dass Kor Gänsehaut bekam. Charles' Geruch drang zu ihm herüber. Ein würziger Geruch, in den man seine Zähne schlagen wollte. Vermischt mit einem Hauch Schweiß und altem Leder. Lecker. Aufregend.

»Ah. Ach so. Warst du gestern weg?«, fragte Kor.

»Ne, ich … Kaffee?«, fragte Charles. Kor nickte und Charles ging zum Küchenboard. »Ich hatte Probe. Mit der neuen Band. Ist ein wenig spät geworden.«

»Oh. Das hat geklappt?«, fragte Kor. »Das ist ja super.«

»Ja, läuft ganz gut.« Charles runzelte die Stirn. Er sah zu Nathan hinaus, der draußen stand und an seiner Zigarette zog. »Ist komisch, weißt du? Ich bin in Bands, seit ich sechzehn war. Und immer mit dem Trottel da. Und nun …«

»Er fehlt dir?«, fragte Kor. Charles verzog das Gesicht.

»Sag ihm das bloß nicht. Ne, ist 'ne feine Band. Kaum Drama, gute Leute. Die meinen es ernst.«

»Das ist schön.« Kor nahm den Kaffee entgegen. Kaffee aus einer Radioactive Raider-Tasse. »D-die habe ich jetzt gehört. Radioactive Raider. Dane meinte, ich soll das unbedingt machen und er hatte total recht. Unholy Unicorn ist mein Lieblingsalbum.«

»Meins ist Rainbow of Ruin. Ein Klassiker.« Charles deutete auf die Tasse in Kors Händen. »Die habe ich von ihrem ersten Konzert in Deutschland. Ist meine Lieblingstasse.«

»Und da gibst du sie mir?«, fragte Kor verwundert. Charles öffnete den Mund. Stockte.

»Äh. Du bist doch mein Gast«, sagte er hastig.

Natürlich. Wie nett von ihm. Kor lächelte ihm zu. Charles wirkte anders als sonst, ein wenig zumindest. Unsicherer. Menschlicher. Erstaunt stellte Kor fest, dass ihm dieser Charles viel besser gefiel als der Bühnengott, den er am Dienstagabend gesehen hatte.

Im hellen Morgenlicht, das durch das Balkonfenster drang, sah er die Narben auf Charles' Armen noch deutlicher. Sie ließen ihn anders wirken. Wie jemanden, den man verletzen konnte. Seltsam. Trug er deshalb immer Langarmshirts?

Charles wirkte nicht wie jemand, der sich für irgendetwas schämte, aber … na ja, Kor hatte auch kein besonders realistisches Bild von ihm gehabt. Bisher zumindest. Er würde herausfinden, wie Charles wirklich war, beschloss er. Er würde Mina beweisen, dass er nüchtern und objektiv sein konnte …

»Kein schöner Anblick, was?«, sagte Charles. Hm? Oh nein. Er hatte die ganze Zeit auf seine Arme gestarrt. Kor öffnete den Mund, ohne zu überlegen.

»Du siehst aus wie ein Tiger«, platzte er heraus.

Kacke. Konnte er nicht einmal was Normales sagen? Charles legte den Kopf schief.

»Wie ein Tiger, hm?« Sein Gesicht wurde so weich, so …

»Ich geh dann mal.« Nathans tiefe Stimme peitschte durch den Raum und Kor zuckte mal wieder zusammen. Der Dunkelhaarige schien verstimmt. Deutlich. Hoffentlich lag das nicht an ihm. War das, weil Nathan ihn letztes Mal angemacht hatte und er abgelehnt hatte? Aber da hatte er gar nicht gewirkt, als hätte es ihm was ausgemacht …

»Mach's gut.« Charles klang, als könnte er es kaum erwarten, dass sein bester Freund verschwand.

»Hm.« Nathan steckte die Hände in die Hosentaschen und sah Charles zweifelnd an. »Du dachtest also, der Kleine kommt um acht Uhr abends. Wenn ich nicht da bin.«

»Das hat nichts damit zu tun«, sagte Charles. Es hörte sich fast an wie eine Drohung.

»Wenn du das sagst.« Nathan seufzte. »Pass auf dich auf, ja?«

»Hau endlich ab.«

»Ist gut, Klosterschulboy.« Nathan wandte sich ab. »Ich versuche nur, dir zu helfen.«

»Ich brauche keine Hilfe.«

Nathan verdrehte die Augen und verschwand im Flur. Kurz darauf hörten sie die Wohnungstür zufallen.

Oh nein. Kor hatte sich gar nicht verabschiedet. Er war milde überfordert mit allem. Mit Nathans plötzlicher Feindseligkeit, mit Charles' fast nacktem Körper, direkt neben ihm, mit …

Sie waren ganz allein. Er und Charles. Oder?

»Wohnt hier noch jemand außer euch?«, fragte er. Charles schüttelte den Kopf.

»Nur wir beide. Nathan da und ich da.« Er deutete auf zwei Türen in der hohen Wand.

»Oh. Die Wohnung ist ziemlich groß für euch beide.«

Mina beschwerte sich immer wieder darüber, wie teuer Wohnraum in Stuttgart war. Die Bude war alt und abgenutzt, aber geräumig und sie hatte eine Dachterrasse. Er wusste, dass Charles eine Ausbildung bei Bella machte und Nathan Verkäufer im Mephistos war. Konnte man sich mit den Gehältern eine Wohnung leisten? Oder …

»Verdient ihr mit eurer Musik so viel?«

Charles prustete leise. Er goss sich Kaffee nach.

»Mit Musik? Kaum. Wir haben einfach Glück gehabt. Okay, ich bin wach, würde ich sagen. Komm mit.«

Kor folgte ihm in sein Zimmer, und einen Moment lang stellte er sich vor, Charles würde ihn dort hinbringen, um ihn … in die Liebe einzuführen. So hieß das in den Romanen, die seine Mutter las. Leider handelten die nie von zwei Männern, sonst hätte er besser gewusst, wie er Charles dazu überreden konnte … Die Hitze stieg ihm in die Wangen.

Nein. Warum dachte er sowas? Vielleicht, weil Charles' Hintern sich vor ihm bewegte. Trotz der weiten Boxershorts konnte er die beiden festen Halbkugeln deutlich erkennen. Kor versuchte, zu schlucken, und merkte, dass sein Hals staubtrocken war. Nur Cherrys Gewicht auf seinem Rücken beruhigte ihn ein wenig.

Er betete, dass Charles ihm nicht ansehen würde, was er dachte. Und dass er nicht zu aufmerksam auf seinen Schritt sehen würde (warum sollte er das auch tun?), denn dort wurde es immer enger, je länger dieser halbnackte Körper sich vor ihm bewegte. Er … Kor sah an sich herab. Mist. Das war ein deutliches Zelt. Charles öffnete die Zimmertür …

Dreh dich nicht um, dachte Kor. Nicht umdrehen.

»Das ist mein Reich«, sagte Charles und drehte sich um. Sah irritiert auf Cherrys Kasten, den Kor vor sich hielt wie einen Schutzschild. Aber er sagte nichts. Puh.

Charles' Zimmer war klein im Vergleich zu der Wohnküche. Den größten Raum nahm ein Objekt ein, das oben ein Bett und unten ein Regal war. Es war an drei Seiten von Wand umschlossen und man kam nur über eine niedrige Leiter hinauf. Auch hier hingen die Poster so dicht, dass Kor die Wandfarbe kaum erahnen konnte. Einige der Bandnamen sagten ihm inzwischen sogar etwas.

Mit Bedauern beobachtete er, wie Charles in eine dunkle Jeans stieg. Als er sich ein Langarmshirt aus dem kleinen Schrank holte, konnte Kor mal wieder nicht ruhig sein.

»Du musst das nicht machen«, sagte er. Leise, aber Charles hörte ihn.

»Was machen?«, fragte der. Aber er wirkte, als wüsste er genau, was Kor meinte.

»Deine Arme. Du musst die nicht verstecken«, sagte er. »Nicht vor mir. Ich habe auch Narben.«

»Was?« Charles verharrte. Unschlüssig hielt er das schwarze Shirt in der Hand. »Auch solche?«

»Nein, welche … die man nicht sieht.« Kor kam sich wie ein Vollidiot vor. »Das klingt blöd, ich weiß. Aber …« Oh Gott, sein Kopf war so heiß, dass er gleich schmelzen würde. Er redete Blödsinn, so viel Blödsinn … »Mir hat auch jemand wehgetan. Viele. Oft. Man sieht es nur nicht mehr. Aber ich denke, es ist dasselbe, oder?«

Charles schaute ihn an, als würde er sogar verstehen, was Kor mit seinem Gestammele ausdrücken wollte. Langsam legte er das Shirt zurück in den Schrank.

»Vielleicht«, sagte er. Seine Stimme war rau. »Leider sieht man es bei mir. Deutlich.«

»Aber … das ist doch ehrlicher, meinst du nicht?«, sagte Kor. Warum traute er sich vor Charles, sowas zu sagen? Bei jedem anderen hätte er viel zu viel Angst gehabt. »Jeder wird verletzt. Das wissen alle, also hat es keinen Sinn, das zu verstecken, nur, weil man es kann … äh.«

Schweigen. Charles sah zu Boden und Kor hatte das Gefühl, sein Herz würde gleich zerspringen. Zum Glück erschien sein Lieblingslächeln, Sekunden später.

»Dann bleib ich wohl so.« Jetzt grinste Charles. »Du wirst damit klarkommen müssen, wie sexy ich bin.«

Tu ich nicht, dachte Kor. Aber er verschränkte die Arme auf Cherrys Kasten.

»So sexy bist du auch nicht«, sagte er trotzig.

Charles lachte laut auf.

Und dann war es vollkommen entspannt zwischen ihnen. Charles zeigte ihm Lesley, deren schwarzer Leib wunderbar glänzte, und sie setzten sich auf das Bett, um zu spielen. Zum Glück hatte Charles einen zweiten Verstärker.

Er konnte gut erklären. Schon nach kurzer Zeit hatte Kor kapiert, worauf es ankam. Und dann spielten sie.

Zusammen.

Selbst am Anfang, als sie sich aufeinander einstellen mussten, als es noch schräg und ungelenk klang, wusste Kor, dass das etwas Besonderes war. Dasselbe Gefühl wie sonst stellte sich ein, sobald er Cherry in den Händen hielt. Nur wuchs es, als Charles und Lesley mit einstimmten. Es breitete sich aus, schwoll an, vermischte sich zu etwas Neuem.

Das Herz klopfte Kor bis zum Hals, die ganze Zeit. Er wollte nicht aufhören. Nie aufhören, mit diesem seltsamen akustischen Tanz, den sie aufführten. Es war ein wenig wie Kämpfen und ein wenig wie Flirten, sogar sehr wie Flirten, zumindest fühlte es sich so an. Und Charles schien es genauso zu gehen. Also hörten sie nicht auf.

 

Charles

 

Seine Finger taten weh. Sie fühlten sich verkrampft und wund an und sein Rücken schmerzte von der immergleichen Haltung, und so langsam musste er pissen, dringend, aber er wollte nicht aufhören. Nie. Er wollte für immer hier sitzen, mit Kors Füßen neben seinen Knien, so nah, dass er seine Wärme spürte, so nah, dass ab und zu Kors Geruch nach Waschmittel und Zuckerwatte zu ihm herüberwehte … Verdammt. Er wollte für immer diese Melodien hören, diese Melodien erzeugen, spielen, nur noch spielen …

Mit Kor.

Verstohlen blickte Charles auf und sein Herz schwoll an, als wollte es seinen Brustkorb sprengen. Kors Haargummi war heruntergerutscht und die lange Mähne hing halb in seinem Gesicht. Aber nicht so sehr, dass Charles den kleinen Schmollmund nicht sehen konnte, den konzentrierten Gesichtsausdruck in den feinen Zügen. Er schluckte.

Wieder wegschauen, dachte er. Konzentrier dich.

Aber er konnte nicht. Nicht, seitdem Kor … Der hatte ihm genau das gesagt, was er gebraucht hatte, eben. Seltsam. Er glaubte ihm. Sonst fühlte er sich unwohl mit nackten Armen, aber hier ging es. Hier ging alles. Außer …

Verdammt.

Nathan hatte recht gehabt, sich um ihn zu sorgen. Er war erledigt. In ihm war nichts mehr außer dem Bedürfnis, Kor für immer hier zu behalten, für immer mit ihm zu spielen und … ihn zu küssen. Jedes Mal, wenn Kors hübsche Zähne sich in seine Unterlippe gruben, jaulte etwas in Charles auf. Etwas da unten. Mit Mühe schaffte er es, seinen Schwanz unten zu halten. Er wollte Kor berühren. Ihn fragen, ob … Aber er konnte es nicht. Er traute sich nicht.

Charles stöhnte frustriert.

Auf diesem Bett hatte er wilden Sex mit wilden Frauen gehabt (an einem denkwürdigen Abend sogar mit zweien), hatte sie zum Schreien gebracht, dazu, ihn anzuflehen …

Und nun saß er hier und traute sich gar nichts mehr. Weil dieser schüchterne Typ mit den zartbitteren Augen ihn bewegungsunfähig machte. Weil …

Ups. Kor schaute auf. Die Musik stoppte und Charles wurde bewusst, dass er zuerst aufgehört hatte. Fast wäre er rot geworden. Zum Glück hatte er gelernt, sich zu beherrschen, sonst hätte er Kor längst um einen Kuss gebeten, nein, angebettelt …

»Wie spät ist es?«, fragte er stattdessen.

»Oh!« Mit anbetungswürdigem Eifer kramte Kor nach seinem Handy. »Oh, schon fast Mittag. Ich habe gar nicht gemerkt …« Ein lautes Knurren entkam seinem Magen und er errötete. Er konnte sich nicht beherrschen, was ihn nur noch unwiderstehlicher machte.

»Sollen wir was kochen?«, fragte Charles. Kor nickte zögernd.

»Ja, gern. wenn's dir nichts ausmacht, äh …« Seine Wangen wurden noch dunkler. »Wo ist die Toilette?«

Charles zeigte sie ihm. Ließ ihm sogar den Vortritt, obwohl seine Blase kurz vorm Bersten stand.

Dann spülten sie, was Nathan verdammt freuen würde, und kochten Nudeln mit Tomatensauce. Das Einzige, was sie beide beherrschten. Sie redeten über alles, was ihnen einfiel. Kors Familie, Charles' alte Bands.

Charles hätte ihn ewig hierbehalten können. Er fürchtete sich jetzt schon vor dem Moment, in dem Kor gehen würde. In dem er nicht mehr sein scheues Lächeln sehen konnte, die helle Haut im Licht der trüben Wintersonne, die durch die Fenster drang.

Das einzig Störende war das Bedürfnis, über den Tisch zu reichen und Kor anzufassen. Seine Hand zu nehmen, ihn zu sich herzuziehen …

Es wurde immer stärker und Charles wusste nicht, was er dagegen machen sollte. War das bei Elias genauso gewesen? Er konnte sich nicht erinnern. War es jemals so stark gewesen? Verwundert merkte er, dass er sich nicht mehr richtig an Elias' Gesicht erinnern konnte. Hatte der auch nach Waldhonig gerochen? Er wusste es nicht.

Nach dem Essen setzten sie sich wieder auf sein Bett. Kor hob die Gitarre und verzog das Gesicht. Unsicher sah er auf seine Finger.

»Mir tun sie auch weh«, sagte Charles.

»Schade, oder?« Kor sah echt traurig aus.

»Machen wir halt 'ne Pause.«

Das Bedürfnis, jede einzelne von Kors Fingerkuppen zu küssen, wurde langsam übermächtig. Und ganz allmählich verlor er den Kampf gegen seinen Unterleib. Kor steckte sich einen Finger in den Mund, lutschte daran und in Charles' Hose schwoll etwas zu doppelter Größe an. Mist. Na ja, Lesley war wie stets für ihn da und verdeckte seinen Zustand.

»Kann ich dich was fragen?« Charles hörte die Unsicherheit in seiner Stimme und ärgerte sich. Aber Kor nickte vorsichtig. »Du hast … äh. Du hast gesagt, man hätte dich verletzt. Wer war das?«

Sekundenlang hörte er nur die leisen Straßengeräusche, die durch das Fenster drangen.

»Viele.« Kors Augen wurden dunkler. »Ganz viele. In … in der Schule haben sie mich nicht richtig gemobbt, aber … irgendwie war es immer, als wäre ich gar nicht da. Wenn ich geredet habe, dann hat mich keiner gehört. Und … na, manchmal hat mich einer Schwächling genannt oder so. Oder …« Seine Wangen röteten sich. »Oder Jungfrau. Oder Schwuchtel.«

War eins von beidem die Wahrheit? Charles wollte fragen, doch Kor redete schon weiter, so hastig, dass er ihn kaum verstand.

»Das Schlimmste war, als sie mir die Affinity geklaut haben, also nicht die Jungs aus der Schule. Andere. Die kannte ich nicht. Ich war gerade auf dem Weg zum Gitarrenunterricht und …«

»Die Affinity? Eine Fender Affinity?«

Kor nickte.

»Ja, das war meine erste Gitarre. Die vor Cherry. Die, die mich gerettet hat. Ich weiß nicht vor was, aber …«

Charles sah die Narben auf seinem linken Arm. Er wusste ganz genau, vor was.

»Es war schon dunkel«, sagte Kor. »Ich habe sie erst gesehen, als sie schon da waren und … Am Anfang haben sie mich nur geärgert, aber dann … hat einer mir die Kapuze über den Kopf gezogen und der andere hat mir die Affinity aus der Hand gerissen. Ich bin ihnen hinterhergelaufen, lange, aber die waren zu zweit und älter und die Polizei hat sie nicht erwischt. Meine Eltern haben sie angezeigt, obwohl die eigentlich ganz froh waren, dass ich nicht mehr spielen konnte …«

»Was? Warum?« Und wo konnte er diese beiden Kerle finden und verprügeln?

»Es macht ihnen Angst, wie viel ich spiele. Viel zu viel.« Kor sah todunglücklich aus. »Ich finde nie das richtige Maß.«

»Ja, das Problem kenne ich.« Die Verbitterung in seiner Stimme war so deutlich, dass Kor ihn irritiert ansah.

»Was, du auch?«

»Ja, ich …« Er räusperte sich. »Ich war auch nie ganz der Sohn, den meine Eltern gern gehabt hätten. Zu wild und laut und … unpassend. Niemand, der das Familienerbe fortführen kann.«

»Das Familienerbe?« Kor blinzelte. Charles rieb seinen Nacken. Eigentlich erzählte er nicht gern davon, nur … gerade wollte er es.

»Hast du gehört, wie Nathan mich genannt hat? Klosterschulboy?«

»Ja, ich dachte, das wäre ein Witz.« Kor legte den Kopf schief. »War's das nicht?«

»Schon, aber nicht, wie du denkst. Meine Familie ist alt. Und reich. Mit Familiensitz und Familienwappen und allem Drum und Dran.«

»Ah.« Kor starrte ihn an. »Das hätte ich nicht gedacht.«

»Danke.« Charles grinste unwillkürlich. »Das Wappen habe ich auf dem Rücken.«

»Den besoffenen Hirsch?«

»Der Rothirsch ist das Wappentier der Familie von Menzingen. Ich habe dem Tätowierer gesagt, er soll das Abgefuckteste daraus machen, was er kann.«

»Ich glaub, das hat er geschafft«, sagte Kor. Charles nickte grimmig.

»Gut.«

Er wollte noch etwas sagen, doch für einen Moment sah er wieder das kalte Gesicht seines Vaters. Die ausdruckslose Puppenvisage seiner Mutter, als sie damals erfahren hatten, was er war. Was sie sich herangezüchtet hatten …

»Siehst du sie oft?«, flüsterte Kor.

»Nie«, sagte Charles. Hart. »Seit Jahren nicht mehr.«

»Was ist passiert?« So eine leise Stimme. Aber Charles hätte ihm alles erzählt, was er wissen wollte. Nur die eine Sache nicht.

»Es gab eine Schlägerei. In der Umkleide. Drei Kerle haben mich angegriffen, ich habe mich gewehrt und … schließlich ist ein Lehrer dazwischengegangen. Scheiße, ich war so wütend, dass ich fast gewonnen hätte. Ganz alleine. Dann haben sie meine Eltern gerufen.«

»Warum haben sie dich angegriffen?«, fragte Kor. Er schien vollkommen entsetzt.

Weil ich mich in Elias verliebt habe, wollte er sagen. Aber er schaffte es nicht. Die Worte lagen hinten in seinem Rachen, doch sie trauten sich nicht hervor. Elias' zornige Miene stand ihm zu deutlich vor Augen. Also zuckte er mit den Achseln.

»Nicht so wichtig. Irgendein Scheiß halt. Aber so haben meine Eltern …«, erfahren, dass sie einen schwulen Sohn haben, »erfahren, dass ich mich geprügelt habe und … noch ein paar andere Dinge und ich …« Sein Hals schmerzte. Vor unterdrückten Tränen und unterdrückten Gefühlen.

»Ich hätte sie wirklich gebraucht«, brachte er hervor. »Wirklich. Aber … sie haben kapiert, dass ich nicht in ihre Pläne passe, und wollten mich nur noch loswerden. Sie haben mich in ein Internat gesteckt und da vergessen.«

»Oh. Wie war es da?«

Es war die Hölle gewesen. Nicht, weil das Internat so furchtbar gewesen war. Sondern, weil er endlich kapiert hatte, wie allein er war. Seine Eltern, Elias, all seine Freunde … die konnten nichts mehr mit ihm anfangen. Seine Eltern hatten sich nicht gemeldet. Aus Trotz hatte er Weihnachten im Internat verbracht statt bei ihnen. Hatte mit dem Hausmeister und dem Koch zu Abend gegessen, die wirklich nett waren, aber ihm nicht helfen konnten und war anschließend zurück in sein Zimmer gegangen. Um sich zu ritzen. Um diese Gefühle loszuwerden, dieses Zuviel, das drohte, ihn zu verschlingen.

»War nicht so gut. Ich habe da mit dem hier angefangen.« Er deutete auf seine vernarbten Arme. Kor nickte. Als würde er wirklich verstehen, was nicht einmal Charles richtig verstand. »Ich glaube, ich hätte ewig so weitergemacht, wenn ich nicht begonnen hätte, zu spielen. Ich habe diese Gitarre gefunden. Im Musikraum.«

»Lesley?«

»Nein, eine andere.« Er lächelte müde. »Ich hatte auch eine erste Liebe. Hab so viel gespielt und so wenig für die Schule getan, dass sie mich schließlich aus dem Internat geworfen haben. Dann bin ich hierher gezogen. Die Wohnung hat mein Opa mir vererbt.«

»Ach, dann gehört die dir? Und Nathan ist mitgekommen?«

»Ja, den kannte ich schon früher. Er war der Einzige, der … Also Sorgen gemacht haben sich alle. Sheron und Dane und … Aber Nathan war der Einzige, der mir gesagt hat, dass ich ein Problem habe. Deutlich. Der hat mich richtig rundgemacht, weil er so eine Angst um mich hatte. Ausgerechnet der. Da habe ich erst kapiert, dass …«

»Dass er dein bester Freund ist?«

»Ja.« Charles sah auf die verblassten Schnitte. »Komisch, was? Am Anfang konnte ich ihn nicht leiden.«

»Das …« Kor knabberte an seiner Unterlippe und Charles erinnerte sich, dass das Leben sehr schöne Dinge bereithielt. »Das ist manchmal so, oder? Am Anfang hatte ich Angst vor dir.«

»Was, vor mir?«

War das ein Witz? Aber Kor wirkte vollkommen ernst.

»Ich habe eigentlich Angst vor allem. Und jedem. Aber am meisten vor so … coolen Leuten. So welchen, die nichts umhauen kann.«

»Ich wünschte, ich wäre so.« Charles grinste schwächlich. »Aber solche gibt's leider nicht.«

»Nein, das glaube ich langsam auch.« Kor sah ihn an und … Ach, Scheiße. Es reichte. Er war so süß und verständnisvoll und … ernsthaft, dass Charles ihn einfach küssen musste. Sofort. Obwohl sein Gehirn ihm zurief, das zu lassen, richtete er sich auf. Er atmete tief ein.

Und stoppte. Mist. Kor sah ihn so fragend an, so … unschuldig.

»Sag mal …« Charles zwang sich, sitzen zu bleiben, auch wenn er nichts lieber getan hätte, als sich auf Kor zu stürzen. Seine Finger zuckten vor Lust, durch dessen Mähne zu fahren. »Hatten sie recht? Die Typen, die dich eine Jungfrau genannt haben?«

Von einem Moment auf den anderen war Kor knallrot. Und stocksteif. Sein Blick heftete sich auf die Bettdecke zwischen ihnen.

»Du musst das nicht sagen, wenn du nicht …«

»Ja«, brachte Kor heraus. Kaum hatte er es ausgesprochen, presste er die Lippen wieder fest aufeinander. Mist. Irgendwie hatte Charles einen wunden Punkt erwischt.

»Das ist doch nichts Schlimmes«, sagte er, so sanft er konnte. »Wenn du das nicht willst, dann …«

»Ich will das ja«, sagte Kor. Schnell. Seine Wangen röteten sich weiter. Er sah Charles an, mit einem so intensiven Blick, dass sein Herz einen Schlag aussetzte. »Ich … will das echt gern, nur … Ich trau mich nicht. Wie immer. Mir würd's ja schon reichen, wenn ich wüsste, wie man … küsst.«

Selbst Charles konnte nicht verhindern, dass seine Ohren heiß wurden. Dass der Puls sich beschleunigte.

»Das ist nicht so schwer.« Seine Stimme war heiser vor Aufregung. »Soll ich es dir beibringen?«

 

Kor

 

Hatte er das gerade wirklich gesagt? Hatte Charles ihm vorgeschlagen, ihn zu … ihm beizubringen, wie man küsste? Äh …

»Meinst du … so … echt?«, brachte Kor hervor.

Oh Mann. Sein Herz hämmerte so stark, dass er es bis in die Kehle hinab spürte.

Charles nickte. Fast glaubte Kor, dass seine Wangen ein wenig mehr Farbe hatten als sonst. Aber er wirkte so entspannt wie ein Tiger kurz vorm Sprung.

Kor wollte gerade nichts mehr, als dass dieser Tiger ihn anfiel. Sofort. Er musste dreimal ansetzen, bis er es herausbrachte.

»Okay«, flüsterte er, beinahe unhörbar.

Sein ganzer Körper zitterte, als er sich zurücklehnte, hinlegte, die Hände zu nassen Fäusten geballt und die Beine angewinkelt, damit Charles nicht sehen konnte, was sich in seiner Hose abspielte. Die Zimmerdecke, an die er starrte, hatte ein paar Flecken. Sein Atem ging schnell, viel zu schnell. Charles durfte nicht merken, wie er auf ihn reagierte, aber … aber er musste ihn küssen. Wenn das diesmal nicht klappte, würde er sterben. Die Matratze unter ihm bewegte sich. Charles' rauchfarbene Augen erschienen über ihm. Sie glänzten fiebrig. Gefährlich. Kors Atem stockte.

»Soll ich anfangen?«, hauchte Charles. Ein heißer Luftzug streichelte Kors Wange.

Ja! Ja, verdammt!, wollte er schreien. Doch er brachte kein Wort heraus. Alles, was er hinkriegte, war ein schwaches Nicken.

Charles beugte sich über ihn. Kor spürte seine Wärme in der Taille, da, wo Charles' Hüfte ihn berührte. Mist. Charles war … Sein Oberkörper war immer noch frei. Die Arme, die er rechts und links von Kors Kopf abstützte, waren nackt und seine Haut roch so köstlich, dass Kor sie am liebsten abgeschleckt hätte. Wenn er sich hätte bewegen können. Wenn er … Charles' Augen kamen näher und Kor platzte fast vor Anspannung. Vor Erwartung.

Bitte, dachte er. Bitte lass das geschehen. Ich will nie wieder etwas anderes, wenn ich das hier haben kann. Nur einmal …

»Fang so an«, schnurrte Charles. Seine Stimme war rau. Die Augen sengten Löcher in Kors Seele und sein Mund näherte sich. Er hielt inne, kurz, bevor er Kors Lippen erreichte.

Ein sanftes Pusten, das seine Haut in Brand setzte.

Mehr, wollte er schreien. Tu es!

Doch Charles verharrte. Er neigte den Kopf. Die Lippen streiften Kors Kinn und ein Stromstoß zuckte durch seinen ganzen Körper. Dann spürte er ein sachtes Kitzeln auf der Wange. Nicht mal ein Kuss. Aber er fürchtete, dass er hier und jetzt an einem Herzinfarkt sterben würde. Oder, noch schlimmer: So laut stöhnen, dass Charles merkte, dass er …

»Langsam«, flüsterte Charles. Was? »Warte, bis sie dir entgegenkommt.«

Wer?

»Ja«, hauchte Kor. »U-und dann?«

»Dann … machst du das hier.«

Heiße Lippen auf seinen. Weich. Ein sanfter Druck, der seinen gesamten Körper jubeln ließ. Der … verschwand. Kor unterdrückte ein Wimmern, als Charles sich entfernte.

»Noch mal«, stotterte er. »Ich … hab's noch nicht ganz verstanden. Äh.«

Das siegessichere Lächeln eines Jägers spielte um Charles' Mundwinkel.

»Meinst du?«, schnurrte er. »Versuch's doch auch mal.«

Er lehnte sich zurück, so lässig, als hätte er Kor nicht an den Rand einer Herzattacke gebracht. Mist. Ein kleiner Stich schnitt in Kors Herz.

Das … das hier schien Charles nicht viel zu bedeuten. Machte er sich vielleicht sogar lustig über ihn? Er war so … Es wirkte, als wäre das hier ein Spiel für ihn, oder?

Kor schluckte. Aber er konnte nicht aufhören. Keine Chance. Wie ferngesteuert bewegte sein Körper sich. Krabbelte über Charles, immer darauf bedacht, dass sein Unterleib keinen Kontakt mit ihm hatte. Er legte die Unterarme, die sich wie Gummi anfühlten, um Charles' Kopf. Rauchgraue Augen schauten zu ihm auf. Dieser Mistkerl. Selbst wenn er unten lag, erschien er noch wie der Herr der Lage.

Anders als du, dachte Kor. Ganz anders als du. Du … kannst das doch gar nicht.

Aber er wollte. Vorsichtig beugte er sich tiefer. Hauchte auf Charles' Wangen. Glaubte sogar, eine Gänsehaut zu sehen, da, wo sein Atem auf die helle Haut stieß. Er hörte nichts als seinen Herzschlag, dieses wilde Pochen. Ein betörender Duft stieg zu ihm auf. Und dann hielt er es nicht mehr aus.

Seine Lippen berührten Charles' Stirn. Er schmeckte Salz und spürte, wie die Nähe langsam, aber sicher seinen Verstand vernebelte. Er fühlte sich, als wäre er kurz vorm Bersten. War er auch. Entweder würde sein Herz gleich platzen oder sein …

Mit einiger Beunruhigung spürte er, wie seine Härte gegen das Gefängnis seiner Jeans presste. Mist. Er fühlte leichte Feuchtigkeit an der Spitze. Wenn er nicht aufhörte …

Es ging nicht. Er musste weitermachen. Zarte Küsse auf Charles' Gesicht hauchen. Zusehen, wie dessen Miene ihre Selbstsicherheit verlor. Sie machte etwas anderem Platz, das Kor nicht verstand. Fast wirkte Charles so überwältigt wie er selbst. Aber das konnte nicht …

Er verlor den Faden. Wie ferngesteuert näherte er sich Charles' Mund. Vorsichtig strichen seine Lippen darüber.

So zart. Anders als die kratzigen Wangen und die harten Muskeln. Charles' Lippen fühlten sich an wie Seide. Warme Seide. Kor drängte dagegen, auf einmal unfähig, sich zu beherrschen. Er wollte mit ihm verschmelzen, wollte eine chemische Reaktion auslösen, die seinen Mund für immer mit Charles' vereinigte, seinen Körper mit …

Er wurde herumgewirbelt. Auf den Rücken geschleudert. Nein! Hatte er etwas falsch gemacht? Charles pinnte ihn auf der Matratze fest, mit der Brust, mit den Händen, die Kors Schultern packten. Seine fiebrigen Augen näherten sich, schnell, und … dann presste er die Lippen auf Kors. Er zwängte sie auseinander und drang mit der Zunge in ihn ein.

Lichtblitze zuckten durch Kors Körper. Ein fremder, viel zu guter Geschmack breitete sich aus, zusammen mit der nassen Zunge, die nach seiner suchte und Kor kam ihr entgegen, schlang die Arme um Charles' Kopf, stöhnte in seinen Mund … Ein weiterer Blitz schlug ein. Noch einer. Ein verzweifeltes Ziehen ergriff seinen ganzen Leib, er konnte nicht mehr aufhören, nur noch weiterküssen, weiter die Zunge in Charles' Mund stoßen, ihn so fest umklammern, als wären sie eins, und …

Kor bäumte sich auf. Sein ganzer Körper erbebte, eine Druckwelle erfasste seinen Unterleib und für einen Moment war die Welt strahlend hell.

Endlich, seufzte sein wild hämmerndes Herz. Endlich.

Dann spürte er die Nässe im Schritt. Nein! Nein, was hatte er …

Hastig versuchte er, sich aufzurichten. Aber da war Charles, auf ihm, und Kor stieß ihn zur Seite. Einfach so, als wäre der nicht mindestens doppelt so stark wie er. Mit weit aufgerissenen Augen sah Charles ihn an. Hatte er kapiert … Nein! Er musste hier raus. Musste verschwinden, bevor Charles merkte, was geschehen war. Bevor der sehen konnte, was …

»Ich muss los«, keuchte Kor.

Er packte Cherrys Hals und kletterte vom Bett, so, dass Charles nicht sehen konnte, dass sich in seinem Schritt ein feuchter Fleck ausbreitete. Mit zitternden Fingern legte er Cherry zurück in ihren Kasten. Im Rücken spürte er Charles' Anwesenheit. Das Bett knarrte. Charles musste sich aufgerichtet haben …

»Das … war doch nur Spaß«, sagte Charles. In Kors vernebeltem Zustand klang er fast ein wenig verzweifelt. »Das hat nichts zu bedeuten. Echt. Ich wollte dir nur helfen, falls du … Damit du weißt, was zu tun ist, wenn … du eine Freundin hast.«

Jedes Wort war ein Stoß in Kors Herz.

Natürlich hat das nichts zu bedeuten, dachte er. Idiot. Du Vollidiot. Du hast doch gewusst, was Charles für einer ist, du … Trottel. Du verliebter Trottel.

Es ging nicht mehr. Das war ihm mit einem Mal klar. Das hielt er nicht aus. So stark war er einfach nicht.

Er stürzte aus der Tür, Cherry in den Händen, schnappte sich seine Schuhe und die Jacke aus dem Flur und rannte auf Socken die alten Treppenstufen hinunter. Fast hätte er sich hingelegt, so schnell war er.

Erst, als er die Haustür aufriss und den matschigen Schnee vor sich sah, schaffte er es, die Schuhe anzuziehen. Mit zittrigen Fingern, immer auf ein Geräusch aus dem Treppenhaus lauschend. Auf Charles, der herunterkam, um ihm ins Gesicht zu lachen. Aber der kam nicht. Wahrscheinlich lag er immer noch auf dem Bett und fragte sich, was mit Kor los war.

Er war verliebt, das war los. Viel zu verliebt, um Charles je wiederzusehen.

Auf wackeligen Beinen schleppte er sich die Straße hinunter, Cherry auf dem Rücken, die Jacke vor dem Schritt, der sich eklig und klebrig anfühlte, die Wangen knallheiß vor Scham, ein brutaler Kontrast zu seinem Magen, der vor Enttäuschung tiefgefroren war.

 

Charles

 

»Hast du vor, da wieder rauszukommen?«, fragte Nathan und steckte den Kopf unter die Theke.

»Nein.« Charles stützte das Kinn auf die Knie. Es war recht gemütlich hier, trotz der Enge und des zarten Geruchs nach Käsefüßen. »Gib mir 'ne Minute.«

»Du bist seit einer halben Stunde da unten.« Nathans Augenbraue hob sich. »Wenn dich jemand entdeckt, wird er falsche Schlüsse über uns ziehen.«

Charles weigerte sich, zu antworten. Vor sich hinstarren war eh besser. Viel besser. Scheiß-Verkaufsoffener Sonntag. Das blöde Mephistos war viel zu voll. Er musste mit Nathan reden, aber der musste kassieren. Es dauerte ewig, bis der Laden sich so sehr geleert hatte, dass sie ungestört sprechen konnten.

»Die Luft ist rein«, sagte Nathan schließlich. Er rollte mit dem Stuhl so weit zurück, dass er Charles unter der Theke anschauen konnte. Unglaube stand in seinem Gesicht. »Also, was hat der Kleine mit dir angestellt, dass du dich unter einem verdammten Tisch verkriechen musst?«

»Er hat …« Charles atmete tief ein. Schmerz brannte sich in seiner Lunge. »Ich habe ihn geküsst. Und er ist abgehauen. War total … total entsetzt. Es war genau wie bei Elias. Nur, dass er nicht wütend geworden ist, sondern … entsetzt halt.«

»Klosterschulboy, du klingst gar nicht gut.« Besorgnis stand Nathan ins Gesicht geschrieben. »Als hättest du einen Schusswechsel hinter dir. Warum hast du ihn geküsst? Einfach so? Ohne, dass er das wollte?«

Charles schwieg.

»Kein Wunder, dass er da abhaut«, sagte Nathan und Charles schüttelte den Kopf.

»Nein, so war das nicht. Er … Ich hab ihm … Ich habe gesagt, ich bringe ihm bei, wie man küsst, und …«

»Und das hat er dir abgenommen?« Nathan blinzelte. »Wie naiv ist der Kleine?«

»Nur … am Anfang«, sagte Charles. »Da hat er mir wohl noch geglaubt. Aber irgendwann habe ich … die Beherrschung verloren und …«

»Was hast du getan?« Nathan wirkte tatsächlich beunruhigt.

»Ich habe ihn … anders geküsst.«

»Anders? Hast du ihm einen geblasen?«

»Nein! Ich habe ihn nur … so geküsst, dass«, Charles schluckte, »dass er gemerkt hat, dass ich … das ernst meine, und dann ist er abgehauen.«

»Oh, Scheiße.« Nathan sackte im Stuhl zusammen. Seine schlanken Finger fuhren durch die Haare. »Ich … Scheiße.«

»Danke.« Scheiße traf es ziemlich gut.

»Und, äh, wie fühlst du dich?« Der dunkel gelockte Kopf legte sich schräg.

»Wie wohl?« Er konnte das nicht mal beschreiben. Als wäre er eine Wüste. Eine flimmernde, unwirkliche Wüste, die es unmöglich machte, sich zu orientieren. Oder anders gesagt … »Scheiße. Richtig scheiße.«

»Kann ich mir vorstellen.« Nathan rieb seine Nasenwurzel. »Ich kann die Bandprobe ausfallen lassen. Sollen die alleine klarkommen. Wir gehen was trinken.«

»Nein«, sagte Charles. »Nein, passt. Geh da ruhig hin. Ich will nicht, dass du wieder fliegst.«

»Ich bin kurz davor, die alle zu feuern«, brummte Nathan. »Ich bin der Einzige, der pünktlich ist.«

Charles lächelte schwach. »Bist du schon wieder an dem Punkt?«

»Welchem Punkt?«

»Dem, an dem du mit dem Zweiten, der auftaucht, was anfängst. Nur aus Langeweile.«

»Ne. Ich reiß mich zusammen«, sagte Nathan. »Noch. Ich bin noch keine Woche da, zur Hölle. Aber wenn die so weitermachen …« Er kratzte sich am Hals. »Wie läuft's mit den Sonic Sons

»Oh, gut. Die können was.« Charles hatte gerade nicht die Energie, über seine neue Band nachzudenken. »Ist echt harmonisch.«

Nathan nickte bedächtig.

»Ja, bei uns auch. Wenn die Spacken endlich ankommen.«

Ein weiteres Nicken. Charles seufzte leise.

»Langweilig, oder?«, fragte er.

Nathan grinste.

»Ja, doch. Ziemlich.«

Die Türglocke ging. Er hörte es selbst durch den Lärm aus den Boxen. Und Nathan stand auf, um irgendeinem Mädel zu erklären, wie sie ihre gefärbten Kontaktlinsen pflegen musste. Charles blieb sitzen. Suhlte sich in Selbstmitleid.

Warum hatte er das getan? Warum zur Hölle hatte er sich nicht zusammengerissen? Aber Kor war so … Sein ganzer Körper kribbelte, wenn er daran dachte, wie der ihn geküsst hatte. Wie … Na ja, auf keinen Fall wie ein Anfänger. Er war so verdammt verführerisch gewesen, dass Charles aufgehört hatte, zu denken. Dass er ihn einfach an sich gerissen hatte …

Natürlich war Kor abgehauen. Er musste sich entschuldigen, nur … traute er sich nicht mal, anzurufen. Nathan hatte wohl recht. Er war ein Gefühlskrüppel.

Aber wenn Kor sich je wieder melden sollte … Wenn der ihm nur das geringste Zeichen gab, dass er ihm verzieh …

Was dann? Dann würde Charles bei der nächsten Gelegenheit, beim nächsten Treffen bestimmt wieder irgendetwas versuchen. Es war besser, wenn er sich fernhielt. Endgültig.

Für Kor und für ihn.

 

Kor

 

Kor verließ sein Zimmer nur noch, um ins Bad zu gehen und zu essen. Ansonsten spielte er, bis die Schmerzen in den Fingern unerträglich waren und dann hörte er Musik. Mit Kopfhörern, unter der Decke.

Seine Eltern machten sich wieder Sorgen. Ständig fragten sie ihn, ob er nicht rausgehen wollte, aber er konnte das nicht. Er wollte nie wieder den schützenden Raum verlassen, nie wieder Cherrys beruhigendes Gewicht verlieren.

Draußen. Da waren Leute, die ihm wehtaten. Leute wie diese Typen, die ihn überfallen hatten. Und Leute wie Charles, die noch viel schlimmer waren. Die sein Herz dazu brachten, sich anzufühlen, als ob … man es herausgerissen, angefressen und zurück in den Brustkorb gestopft hätte. Leute, die Wunden schlugen, die nicht heilten, egal, wie viel Zeit verging.

Charles meldete sich nicht. Gar nicht. Kein Lebenszeichen, seit …

Er musste etwas gemerkt haben. Musste kapiert haben, dass Kor in ihn verliebt war und …

Oder hatte er das nicht? Vergnügte er sich schon mit der nächsten Mariella aus Dortmund? Steffi aus Erfurt vielleicht. Oder Betty aus Böblingen. Was wusste er denn? Charles war ein Windhund. Einer, dem ein Kuss nichts bedeutete. Das hatte er selbst gesagt.

Das war doch nur Spaß, gellte es in Kors Ohren, egal, wie sehr er versuchte, es zu vergessen. Das war doch nur Spaß.

Für ihn nicht. Was er fühlte, war alles andere als spaßig. Selbst jetzt, zwei Wochen später, hatte er das Gefühl, dass Charles ihm einen Speer im Herzen herumdrehte.

Lustigerweise meldeten die anderen sich ab und zu. Dane fragte, wie ihm das neue Borg Game-Album gefallen hatte. Kor fand es etwas schwächer als ihr Debüt, aber grundsätzlich spannend.

Sheron erkundigte sich, ob er mit zum nächsten Sonic Sons-Gig kommen würde. Ausgerechnet. Auf keinen Fall wollte er Charles sehen. Und auf die Party danach wollte er auch nicht. Wenn der Windhund bis dahin kein Mädel abgeschleppt hatte, würde er da sein, und … Kor konnte ihm nie wieder in die Augen sehen. Konnte ihn überhaupt nicht mehr sehen.

Charles hatte sich nicht gemeldet. Er war ihm egal.

Ein leises Klopfen an seiner Zimmertür.

»Nian? Kann ich reinkommen?« Komisch, sonst marschierte Mina einfach herein.

»Ja«, krächzte er. Seine Stimme war rau und ungeübt. Er hatte seit dem Frühstück mit niemandem gesprochen.

Mina steckte ihren blonden Schopf ins Zimmer. Charles war auch blond, und … Kor schüttelte den Kopf.

»Setz dich«, murmelte er und deutete auf den Boden neben sich. Wie lange hielt er schon die Arme um Cherry geschlungen? Sah das so erbärmlich aus, wie es sich anfühlte? Keine Ahnung.

»Magst du was hören?«, fragte er, da sie eh meistens Nein sagte. Aber Mina nickte. Also spielte er, mit schmerzenden Fingern.

Er hatte ein neues Lied komponiert. »Nur Spaß«, hatte er es genannt. Er war kaum halb durch, als Mina die Hand hob.

»Hör auf«, sagte sie. »Bitte.«

Erstaunt sah er, dass ihre Wimpern nass waren.

»Tut mir leid«, murmelte er. »Was … habe ich getan?«

»Nichts.« Sie wischte über ihre Augen. »Es ist nur so traurig. Hat mich an was erinnert.«

»An was?«

»Ach.« Sie schlang die Arme um die Knie. Sah zu Boden. »An …«

Die Stille war erdrückend. Vorortsstille. Kein Laut drang von draußen herein. Nicht mal ein Auto rauschte vorbei.

»Geht's dir gut?«, fragte er vorsichtig.

Noch nie hatte er seine Schwester so erlebt. So verzagt. Ihr Gesicht drückte eine Hilflosigkeit aus, die er nicht kannte. Er überlegte, wie er sie trösten könnte. Fast nie hatte er sie trösten müssen und schon gar nicht, seit sie klein gewesen waren.

Im Schneckentempo streckte er die Arme nach ihr aus. Und sie fiel hinein. Klammerte sich an ihn und schluchzte mit einem Mal auf.

»Was ist passiert?«, stammelte er. Seine Hand patschte auf ihren Kopf, in einem ungeschickten Versuch, sie irgendwie zu beruhigen.

»Ich bin ein Idiot«, heulte sie. »Das ist passiert. Ich dachte, ich … ich weiß … worauf ich mich einlasse, aber …«

»Ja«, flüsterte er.

Aus tränennassen Augen sah sie ihn an.

»Was?«

»Ach, nichts.« Er schaute auf den Teppichboden. »Gar nichts. Was ist passiert?«

Sie schwieg. Ziemlich lange. Als ihre Stimme wieder erklang, war sie mutlos.

»Ich hab doch gewusst, wie sowas läuft. Echt. Aber … irgendwie auch nicht.«

Auch das kannte er, selbst, wenn er keine Ahnung hatte, wovon sie redete. Ihr Kopf lehnte schwer auf seiner Schulter.

»Er hat …« Sie hustete. »Erst war er so lieb und dann … hat er mich einfach ignoriert. Danach. Als er mit mir fertig war.«

»Wer?«

»Mein Professor.«

Kor zuckte zusammen und sie löste sich von ihm. Fassungslos starrte er sie an.

»Du hattest eine Affäre mit deinem Professor?«

Ihre Augen wurden schmal.

»Und du bist hinter einem Drogendealer her. Schau nicht so entsetzt.«

»Er ist kein Dealer.« Nur ein Windhund.

»Ich dachte … Ich weiß auch nicht.« Sie fixierte den Boden, genau wie er. »Mir war eigentlich klar, dass das Blödsinn ist. Er ist … Bruno ist verheiratet. Wir haben auch nur zweimal … und jedes Mal war er betrunken …«

»Oh.« Mehr fiel Kor nicht ein. Mina schüttelte den Kopf.

»Ja. Ich bin so blöd. Ich …« Sie atmete tief ein. »Es tut mir leid, was ich letztes Mal gesagt habe.«

»Was?«

»Na, alles, was ich über Charles und dich gesagt habe. Ich glaube, ich meinte gar nicht dich. Ich meinte mich selbst.«

»Du hattest trotzdem recht«, sagte er. »Ich bedeute ihm nichts. Er hat sich nicht mal mehr gemeldet.«

»Oh.« Sie sah ihn an. »Das tut mir leid.«

»Danke.« Er lächelte schief. »Tut mir leid, dass dein Professor ein Hallodri ist.«

»Ein Hallodri?« Etwas wie ein Grinsen erschien. »Ja, das ist er wohl. Und ein Arsch. Seine Frau tut mir leid. Stell dir vor, wie er abends zu ihr nach Hause kommt, nachdem er mich … So ein Kackstiefel. Hat Charles eine Freundin?«

»Ich glaub nicht. Der hat viele …« Der Schmerz schnürte seine Kehle zusammen. »Egal. Ich seh ihn nicht wieder.«

»Oh.« Sie knabberte an ihrem Daumennagel. »Aber … was ist mit dem anderen?«

»Welchem anderen?« Er legte den Kopf schief.

»Ich meine, dem anderen Zeug, das dir so gefallen hat. Mama und Papa haben davon erzählt. Von der Musik, die du jetzt hörst und deinen neuen Freunden …«

»Das sind Freunde von Charles. Ich habe die nur einen Abend lang gesehen.«

»Und? Warum triffst du die nicht nochmal?«

»Was?« Er wusste nicht, was sie ihm sagen wollte. Überhaupt nicht. Hatte sie ihm nicht geraten, sich fernzuhalten?

»Na, du hast doch endlich andere wie dich gefunden, oder?«, sagte sie. »Leute, die auch … Gitarren und den ganzen Kram mögen. Warum triffst du die nicht? Charles kannst du ja außen vor lassen.«

»Ich weiß nicht. Der ist bestimmt auch immer da.«

Aber vielleicht hatte sie recht. Er wollte so gern mit Dane über das letzte Domspast-Album reden. War der auch so enttäuscht wie er? Zu schreiben war nicht dasselbe und es hatte ihm im Smokes gefallen. Und in Marcels kleiner, voller Zweizimmerwohnung.

»Ich … würd die eigentlich gern wiedersehen. Und noch viel mehr Bands spielen hören …«

»Dann geh einfach hin«, sagte Mina. »Lass dich nicht aufhalten, wenn's dir Spaß macht. Das ist doch schön, wenn man so für eine Sache brennt, oder?«

»Ja, schon.« Er musste lächeln. »Doch, es ist schön.«

Er atmete tief ein. Ballte die Fäuste.

»Weißt du was?«, sagte er. »Du hast recht. Ich werd da … Ich meine, Sheron hat eh gefragt, ob ich aufs nächste Konzert mitkomme. Oder auf die Party danach. Da ist Charles bestimmt schon nicht mehr dabei, weil er irgendeine Kathi aus Köln kennengelernt hat. Da kann ich gefahrlos hin.«

»Oh, gut.« Sie sprang auf und hielt ihm die Hand hin. »Sehr gut! Mach weiter so, ja?«

»Ich versuch's.« Er lächelte. Dann nahm er ihre Hand und ließ sich hochziehen.

 

Kor

 

Er nahm sogar Cherry mit. Egal, wie viel Angst er um sie hatte. Egal, dass er doch kein Kenpo gelernt hatte. Wenn irgendwer versuchte, sie ihm wegzunehmen, würde er dem den Koffer um die Ohren hauen.

Aber niemand versuchte irgendetwas. Nicht im Bus und nicht auf der düsteren Straße, die er entlanggehen musste, um zur Party zu kommen. Marcel hatte recht gehabt. Er war in die schwarzen Klamotten hineingewachsen. Und in das Radioactive Raider-Shirt, das er in deren Onlineshop bestellt hatte.

Er traute sich sogar, die Haare offen zu tragen. So, wie er das bei dem Sänger von Orkus Orbus gesehen hatte. Wenn er … wenn er über Charles hinweg war, in zehn Jahren oder so, würde er wieder Konzerte anschauen. Miterleben. Die Stimmung genießen, die er das letzte Mal gespürt hatte. Sein lädiertes Herz gab leise Freudenlaute von sich. Es hatte immer noch etwas, für das es sich lohnte, weiterzuschlagen. Egal, was dieser Windhund mit ihm veranstaltete.

Er würde mit jemandem spielen. Vielleicht sogar mit Nathan, falls der ihn nicht hasste. Oder selbst dann. Er wollte mit anderen spielen. Und wenn Charles nicht gut für ihn war, dann … war es vielleicht jemand anders. Aber nur zum Spielen. Für alles andere … Nein, da wollte er wohl nur Charles. Er fragte sich, wie lange noch.

Hoffentlich nicht ewig. Rauchgraue Augen erschienen in seinem Kopf und ein Ameisenschwarm raste durch seine Adern. Mist. Egal. Weitermachen. Weiterleben, bis es ihm besser ging. Das war das Ziel. Und Charles aus dem Weg gehen.

 

»Kor!« Sheron fiel ihm um den Hals. Hinter ihr drangen Rauch und lautes Lachen aus der Wohnung. Es sah drinnen genauso aus wie beim letzten Mal.

»Kor, ich muss dir jemanden vorstellen.« Sie grinste und zog ihn hinein in den stickigen Flur, den Schweißgeruch und die dröhnende Musik. Live. Irgendwer spielte im Nebenraum.

»Wen denn?«

»Meinen Freund.« Sie holte tief Luft und brüllte los. »Schatz! Hierher!«

Dane erschien, aber Kor hätte ihn fast nicht erkannt, denn er lächelte. Noch breiter, als Sheron die Arme um ihn schlang und ihre Wange an seinen Hals schmiegte.

»Was?«, fragte Kor. »Ihr beiden? Äh … Glückwunsch!«

»Danke« Dane grinste noch breiter. »Sie hat sich endlich an mich rangewagt, als … au!«

Sheron hatte ihn in die Seite gekniffen.

»Der Vollidiot hat sich nicht getraut, sich an mich ranzumachen, also musste ich alles erledigen.« Sie zog geräuschvoll die Nase hoch. »Ich! Dabei bin ich eine Dame!«

Dane lachte. Und dann waren die beiden nicht mehr ansprechbar. In einer innigen Umarmung standen sie im Flur und küssten sich, egal, wer versuchte, sich an ihnen vorbei zur Toilette durchzuschlängeln. Kor seufzte. So schön. Sie sahen so glücklich aus …

Er schüttelte den Kopf, packte Cherry fester und marschierte an der Küche vorbei. Nicht darüber nachdenken, was nie sein würde. Lieber der Musik ins andere Zimmer folgen.

Er hatte Nathans Bass gleich erkannt. Und eine fremde Gitarre. Doch die verklang gerade, als er den Raum betrat. Musste wohl Schicksal sein. Der glatzköpfige Spargel, der ihr etwas schräge Töne entlockt hatte, stand auf.

»Ich geh mir ein Bier holen«, brummte der Typ und ging.

Nathan schaute überrascht auf, als Kor vor ihn trat. Er sah aus wie immer. Schlank, dunkel, sündig. Aber Kor hatte das Gefühl, seit diesem blöden Sonntag vor zwei Wochen sei eine Ewigkeit vergangen. Er hob das Kinn.

»Nathan. Ich will mit dir spielen.« Es war ihm egal, dass er wie ein Kindergartenkind klang. Das hier musste sein. Er würde dem Kerl zeigen, dass er keine Angst vor ihm hatte, selbst, wenn der ihn nicht mochte.

»Okay …« Nathan runzelte die Stirn.

Dann kehrte die alte Lässigkeit zurück in seine Züge. Er deutete mit dem Kopf neben sich, auf den Platz am Boden, der frei geworden war. Kor setzte sich auf die blankgetretenen Holzdielen. Er holte Cherry heraus und stöpselte sie ein.

Nathan wirkte leicht amüsiert.

»Hast du überhaupt schon mal mit 'nem Bass zusammen gespielt?«

»Nein.« Kor schüttelte den Kopf. »Aber ich will das lernen.«

Nathan blinzelte. Dann hob er sein Instrument und fing an.

Erst klappte es gar nicht. Klang grausam, schräg und ziemlich furchtbar.

Doch Nathan war gut. Stetig und beruhigend. Es dauerte nicht lange, bis Kor kapiert hatte, wie er spielen musste. Und dann … funktionierte es. Er schaffte es, so wie Marcel damals, um den gleichmäßigen Rhythmus herumzuspielen. Sich immer wieder von ihm auffangen zu lassen. Es klang ganz gut. Doch, tatsächlich …

Fast wie mit Charles. Ohne das aufgeregte Herzrasen. Aber das Gefühl, mit jemandem verbunden zu sein, war gleich.

Nach einer Ewigkeit verstummte der Bass. Kor ließ die letzte Melodie ausklingen und sah auf. Nathans Blick war … so, als hätte sich etwas bestätigt, was er bereits geahnt hatte. Seine hellen Augen schienen Kor zu durchbohren.

»Hast du gelernt, vor Leuten zu spielen?«, fragte er. »Glückwunsch.«

Vor Leuten? Kor blickte sich um. Und erstarrte. Er wurde … Sie wurden angeschaut. Von mindestens … sechs (!) Menschen, die hereingekommen waren und auf sie herunterstarrten. Sogar Dane und Sheron hatten sich voneinander losgerissen und sahen durch die Flurtür herein.

»Gar nicht schlecht«, sagte Dane großzügig. »Erinnert ein bisschen an Mortal Mörtel

»Von wegen« Sheron verdrehte die Augen. »Das war super.«

Zustimmendes Gemurmel erklang.

Kalter Schweiß durchtränkte Kors Rücken, von einer Sekunde auf die andere. Sein Blick flitzte über die Gesichter. Er konnte nicht mal wahrnehmen, wer das alles war, er …

Raus!, brüllte eine Stimme in seinem Kopf.

»GehkurzfrischeLuftschnappen«, murmelte er und riss Cherrys Kabel aus dem Verstärker. Ein Geräusch wie ein zusammenbrechender Eisberg hallte durch den Raum. Er packte sie und den Koffer und flüchtete. Verdammt.

Sie hatten ihm zugesehen. Er … Einen Moment lang hatte er wieder diesen Gedanken gehabt. Wie schön es wäre, in einer Band zu spielen. So, wie mit Nathan und Charles, ständig. Eigene Songs zu haben, und … Aber vor Publikum … irgendetwas machen? Nein, das ging nicht. Nicht, wenn ihn dabei jemand anschaute.

Das Treppenhaus war dunkel. Das zerkratzte Geländer zwirbelte sich nach unten, aber er wollte noch nicht gehen. Zurück wollte er auch nicht. Noch nicht. Er brauchte einen Moment Ruhe. Hatte Sheron nicht erzählt, dass man auf das Dach hinaus könnte?

Immer noch ganz wackelig stieg er nach oben. Die durchgetretenen Stufen hinauf, bis er an einer kleinen Tür stand, die sich tatsächlich öffnen ließ.

Es war eiskalt draußen. Er versenkte das Kinn in seiner Jacke und sah sich um. Bekritzelter Betonboden, ein meterdicker Schornstein und eine Brüstung, auf der Maschendraht angebracht worden war. Wollten sie verhindern, dass jemand hier hinuntersprang?

Der Wind wehte ihm die Haare ins Gesicht. Er schloss die Tür hinter sich und lauschte. Niemand da. Zur Sicherheit ging er um den Schornstein herum und schaute nach. Nein. Niemand. Er war allein. Erschöpft ließ er sich zu Boden sinken und lehnte den Rücken gegen die Ziegel. Sah nach oben, in die sternenlose Nacht. Zuviel Smog. Selbst die Luft roch wie Abgase.

Was wollte er nochmal hier? Er hatte seine Freunde sehen wollen, aber … waren das seine Freunde? Und würden Dane und Sheron überhaupt noch ansprechbar sein, jetzt, wo sie ein Paar waren?

Er hatte mit jemandem spielen wollen, und das hatte er und es war super gewesen, doch sofort war ein neues Problem aufgetaucht. Dass Leute zuschauten.

Kor schüttelte den Kopf. Stellte Cherrys Kasten zwischen die Beine und lehnte die Stirn dagegen. Angenehm kühl.

Sei kein Trottel, dachte er. Sheron und Dane haben dir zugehört, obwohl sie frisch verliebt sind. Die sind total nett.

Und dass Leute zusahen … Eventuell konnte man sich daran gewöhnen.

Du hast nur miese Laune, weil du Charles vermisst, dachte er. Kein Grund, alles schlechtzumachen.

Es stimmte. Er vermisste ihn. Hier, wo der Großteil der Menschen schwarz gekleidet und tätowiert war, umso mehr. So sehr, dass es wehtat, aber … er würde darüber hinwegkommen, oder? Bestimmt. Ganz bestimmt.

Er schloss die Augen und seufzte. Es war saukalt, aber er würde noch ein wenig bleiben. Ausruhen.

 

Charles

 

Bis um elf war alles ganz gut gelaufen. Die Sonic Sons hatten einen halbwegs vernünftigen Auftritt in Matzes Metalsalon hingelegt. Nicht so sehr wegen ihm, er spielte irgendwie auf Autopilot. Ohne Gefühl oder Leidenschaft. Aber wenn man kein Profi war, merkte man davon wohl nichts. Die Menge hatte gebrüllt. Ziemlich begeistert. Fetzen und Bierflaschen waren geflogen. Er hatte einfach nur dagestanden und gespielt.

Egal, alles egal. Oder eher: mittelmäßig.

Er hatte sich an seinen Vorsatz gehalten, Kor nicht anzurufen. Sich nicht bei ihm zu melden, ihn zu ignorieren. Vergessen war unmöglich, doch daran arbeitete er. Bella beschwerte sich, dass er zu langsam war, aber sonst merkte sie nichts. Nur Nathan beobachtete ihn mit diesem sorgenvollen Blick. Einmal hatte der sogar eine abfällige Bemerkung über Kor gemacht. Aber da war Charles ihm beinahe an den Hals gesprungen. Dabei hatte Nathan gar kein Problem mit Kor. Er machte sich nur Sorgen um Charles.

Und nun stand er in der Küche, bei Alfred, Marcel und Marie, trank Bier und unterhielt sich. Es war überfüllt und unruhig. Ein Mädel, das extra aus Karlsruhe hergekommen war, um sie spielen zu hören, wich nicht von seiner Seite. Sie warf ihm verführerische Blicke zu, unter ihrem dichten Pony hinweg. Blaue Augen. Hübsch. Nicht Kor.

Er vermisste ihn. So sehr. Um sich davon abzulenken, lachte er nur noch lauter und erzählte mehr Witze als alle anderen. Er hörte Nathans Bass aus dem Wohnzimmer. Heute war sein erster Auftritt ohne ihn gewesen. Nächste Woche würde Nathans erster Gig mit seiner neuen Band stattfinden.

Das Bier in seiner Hand wurde langsam warm. Das Etikett löste sich und legte schmieriges Glas frei. Rauch waberte um die Deckenlampe und vergiftete die Atemwege. Nicht gut, als Sänger. Aber er sang gerade eh nicht. Die Sonic Sons brauchten nur einen Gitarristen, und …

»Kor!«, rief Sheron im Flur und er hätte fast das Bier fallengelassen.

Kor? Den hatte er seit dem verdammten Kuss nicht mehr gesehen … Aber er war es. Seine leise, süße Stimme drang an Charles' Ohr und seine ganze Haut begann zu kribbeln.

Dann ging Kor an der Küchentür vorbei, ohne hineinzusehen. Ohne ihn zu entdecken. Einen Moment lang erblickte Charles sein Profil. Die gerade Nase, die geschwungenen Lippen. Cherry baumelte von Kors Rücken. Er hatte sie mitgebracht? Was hatte er mit ihr vor?

Charles drehte sich wieder um. Versuchte, sich zu sammeln. Sollte er rausgehen und Kor begrüßen? Er wollte nichts mehr, aber …

Er zögerte. Kor war … Nachdem er sich das letzte Mal so daneben benommen hatte, wollte der Charles garantiert nicht sehen, oder? Doch es war ziemlich unvermeidlich, dass sie sich sehen würden. Was würde er dann machen?

Er würde freundlich nicken und … unbeteiligt tun. Kor fragen, wie es ihm ginge. Und dann würde er ihn küssen … Nein, dann würde er sich umdrehen und mit jemand anderem reden. Verdammt kindisch, aber es war bestimmt besser.

Nathans Bass erklang aus dem Nebenraum. Und, kurz darauf … Cherry. Charles erkannte ihren Sound, als wäre es seine eigene Gitarre. Wilde Eifersucht drängte in ihm hoch. Nathan und Kor …

Egal. Sollten die zusammen spielen. Klang eh furchtbar.

Kurzzeitig. Dann verstummten die ersten Gespräche in der Küche. Auch das Mädel aus Karlsruhe, Lira, klappte den Mund zu und lauschte.

Die beiden hatten sich wohl eingespielt. Das hörte sich verdammt gut an. Aufregend. Er erkannte Kors Verletzlichkeit in der Melodie, dessen Naivität und sein Einfühlungsvermögen. Was er spielte, passte erstaunlich gut zu dem unterkühlten, präzisen Sound, den Nathans Bass erzeugte.

»Wer ist das?«, fragte Marcel und reckte den Kopf durch die offene Tür.

»Kor«, sagte Charles. Er presste die Finger gegen seine Lider, um wieder klar denken zu können. Der Schmerz half ihm.

Genau: Ablenkung. Er brauchte eine Ablenkung. Wo war …

»Ich fand dich besser«, schnurrte Lira und gab ihm die Antwort auf seine Frage.

»Tatsächlich?« Er schenkte ihr ein Lächeln. Betrachtete sie durch die Haarsträhnen, die ihm in die Stirn gefallen waren, und sah, wie ihre Miene sich erhellte.

»Viel besser«, sagte sie. »Du klingst wilder, weißt du?«

»Gefährlicher?«, flüsterte er in ihr Ohr und sah die Gänsehaut, die sich in ihrem Nacken bildete.

»Ja«, hauchte sie.

Sie standen ein wenig abseits, weil gerade alle auf die Töne aus dem Wohnzimmer lauschten. Lira leckte sich über die Lippen. Sah ihn fragend an. Und er kannte die Antwort. Das hier war leicht. Sie hatte Lust, er hatte Lust … Keine verwirrten Gefühle, kein Chaos, keine Schüchternheit, keine Angst.

Langsam beugte er sich vor. Er stützte den Arm auf den Kühlschrank, so, dass sie zwischen dem und seinem Körper gefangen war. Es störte sie nicht. Erwartungsvoll sah sie zu ihm auf. Ihre Lippen öffneten sich wie Rosenblüten und er presste den Mund darauf, um zu vergessen. Um die schräg-schönen Melodien auszublenden, die ihn bis auf die Knochen erschütterten.

Kor, dachte er, als er sich an sie drängte, und versuchte, in dem Kuss zu verschwinden. Es half ein wenig. Er küsste sie so lange, bis diese Melodie aufhörte, ihn heimzusuchen. Erst dachte er, er hätte sie erfolgreich verdrängt, aber sie hatte einfach aufgehört. Und so sehr er das herbeigesehnt hatte, so sehr vermisste er sie nun.

»Hey«, flüsterte Lira in sein Ohr. »Gehen wir nach oben?«

»Aufs Dach?« Er zwang sich, zu lächeln. »Was hast du vor?«

»Ich will«, sie biss sich auf die Lippen, »dass du mich fickst, und ich dabei die Sterne anschauen kann.«

Heute Nacht gab es keine Sterne und außerdem war es viel zu kalt. Doch das sagte er ihr nicht. Er zog sie hinter sich her, durch den Flur. Irgendwer pfiff leise durch die Zähne. Sie würden darüber reden, dass Lira und er … Kor würde das hören. Aber Kor war es egal, was er tat. Oder?

Er fühlte sich scheußlich, als er die Treppen hochtrottete. Als würde er jemanden betrügen, der ihn nicht mal liebte. Liras schwere Stiefel hallten durch das Treppenhaus. Er sah ihre hellen Schenkel blitzen. Und spürte nichts.

Eisiger Wind schlug ihnen entgegen, als sie hinaustraten. Keine Sterne, aber das schien Lira nicht zu stören. Niemand außer ihnen war da. Schade. Fast hatte er gehofft, dass jemand ihn aufhalten würde.

Er wollte das nicht. Sein ganzer Körper sträubte sich. Er schaffte es, ihn dazu zu bringen, Lira gegen die Wand zu drängen. Aber der Rest funktionierte nicht. Er konnte sie küssen, doch jede Berührung fühlte sich falsch an, und in seinem Unterleib rührte sich auch nichts. Sie grinste ihn an. Griff unter ihren Rock und schob den Slip herunter.

Teilnahmslos sah er, wie das Spitzenteil bis zu ihren Knöcheln herunterrutschte.

»Komm her«, sagte sie und zog an seinem Gürtel. »Mach schon.«

Oh. Sie hatte nicht mal bemerkt, in welchem Zustand er … nicht war.

»Ich …« Er seufzte. Wenigstens einer von ihnen konnte Spaß haben, oder? Also trat er an sie heran und strich über ihren Schenkel. Hörte sie keuchen. Lauter, als seine Finger zwischen ihre Beine glitten.

Er brauchte drei Minuten, um sie so weit zu bringen. Drei Minuten, in denen er nichts fühlte und sie stöhnte, spitze Schreie ausstieß und sich wand. Als sie kam, krallte sie die Fingernägel in sein Langarmshirt. Und seine Haut. Schmerzhaft.

»Danke«, brachte sie hervor, schwer atmend. »Das … war gut. Soll ich auch …«

Er stoppte ihre Finger, kurz bevor sie seinen Schritt erreichten.

»Nicht nötig«, sagte er.

»Sicher?« Sie wirkte verwundert. Wahrscheinlich normal. Wer verzichtete schon auf …

Er konnte nicht mehr.

»Ich … brauch 'nen Moment Ruhe«, sagte er. »Stört's dich, wenn …«

»Ne.« Kleine Zähnchen erschienen, als sie grinste. »Ich wollte eh eine rauchen. Bis später.«

Mit diesen Worten verschwand sie. Er hörte das Echo im Treppenhaus, als die Tür zuknallte. Er wischte seine nasse Hand an der Hose ab und sah sich um. Immer noch keine Sterne.

Ihm war kalt. Er rieb sich über die Arme und schnüffelte misstrauisch. Wie hatte sie seinen Geruch ausgehalten? Er stank. Bei Auftritten schwitzte man höllisch, unter den verdammten Scheinwerfern, und heute war keine Ausnahme gewesen.

Seufzend trat er an die Brüstung. Er hakte die Finger in den Maschendraht und sah auf die dreckige Straße hinunter. Wann zur Hölle hörte dieser Schmerz auf? Langsam langweilte ihn sein eigenes Selbstmitleid …

»War's gut?«, fragte eine Stimme hinter ihm.

Er fuhr herum.

 

Kor

 

Er hörte die Tür klappen. Dann zwei Paar Füße über den Beton schlurfen.

Kurz überlegte Kor, sie auf sich aufmerksam zu machen. Hier, hinter dem Schornstein, konnten sie ihn nicht sehen und was, wenn sie gekommen waren, um etwas Privates zu besprechen? Aber er konnte sich nicht aufraffen und Sekunden später wäre es zu peinlich geworden. Da vernahm er leises Stöhnen. Schmatzen. Küsse. Hoffentlich waren das nicht Dane und Sheron. Hoffentlich würden sie ihn nicht bemerken. Wirkte er wie ein Spanner, weil er geschwiegen hatte? Kor zog die Beine an und machte sich so klein wie möglich. Verkroch sich noch tiefer in den Schatten.

Er stierte auf die Wand vor ihm, die von Rissen durchzogen war und ungefähr so trostlos aussah, wie er sich fühlte.

»Komm her«, hörte er eine Frauenstimme sagen, die er nicht kannte.

»Ich …«, sagte Charles und Kor gefror zu Eis. Nein. Nein! Das … Doch, das waren Charles und ein Mädchen. Und den Geräuschen zufolge …

Stumm starrte er auf die Risse vor sich, während das Mädchen stöhnte und schrie. Bilder tauchten in seinem Kopf auf, die er nicht sehen wollte. Er wollte das ja nicht mal hören. Wollte nicht wissen, dass Charles ein paar Meter entfernt Sex mit jemand anderem hatte … Er hob die Hände, um seine Ohren zu bedecken. Seine Augen tränten schon vor Schmerz, aber … Er hielt inne.

Nein, sagte er sich. Nein. Hör hin. Merk dir genau, was Charles für ein Typ ist. Einer, der fremde Mädels auf Hausdächern vögelt. Das ist es, was er will, sonst würde er es ja nicht machen. Wovon immer du träumst … Das ist nichts für ihn. Das …

Mit jedem Stöhnen, mit jedem Quietschen, das das Mädel von sich gab, wuchs etwas in Kor.

Wut. Sinnlose, unbegründete Wut, auf die er kein Recht hatte, weil Charles ihm nie etwas versprochen hatte, aber trotzdem hasste er ihn so sehr, gerade. So sehr.

Was denkst du dir dabei?, dachte er. Wie kannst du es wagen, sowas neben mir abzuziehen? Wie kannst du so auf meinen Gefühlen herumtrampeln?

Er weiß nicht mal, dass du hier bist, flüsterte die Stimme der Vernunft schüchtern, doch eine Welle aus heißem Zorn spülte sie fort.

Dieser Mistkerl. Dieses Arschloch. Dem war scheißegal, dass Kor keine Sekunde leben konnte, ohne an ihn zu denken. Ihm war scheißegal, dass er Kor bis in seine Träume verfolgte, und das seit Wochen. Alles scheißegal. Hauptsache, er konnte hübsche Mädels auf kalten Dächern pimpern …

Ein lauter Schrei.

Gut gemacht, Charles, dachte Kor. Ganz super. Du hast es echt drauf. Kannst stolz auf dich sein. Er wartete auf weitere Geräusche, darauf, dass Charles auch brüllte. Aber dafür war der wohl zu eitel. Schade. Nein, nicht schade. Er wollte dessen blöde … Lustschreie gar nicht hören. Nie.

Kor musste sich auf den Daumen beißen, um nicht vor Wut zu brüllen. Die Zähne gruben sich tief in das Fleisch.

Die Tür knallte. Gut. Er musste schreien, er konnte nicht …

Schritte. Oh.

Charles erschien, nur einen Meter entfernt. Sein raubtierhafter Gang war so selbstsicher, die Art, wie er die Hände in den Maschendraht krallte, so cool, so … Wut und Trauer drängten Kors Hals herauf, als er ihn so sah, den breiten Rücken, die Haare zerzaust vom Wind, angestrahlt von den Laternen unten, in dieser Dramapose, als wäre er ein verdammtes Model oder so …

»Und, war's gut?«, murrte Kor, bevor er sich beherrschen konnte.

Charles fuhr herum. Seine Augen weiteten sich, als er Kor erkannte. Panik verzerrte sein Gesicht. Einen Moment lang. Dann hatte er wohl kapiert, dass er nur den langweiligen Kor vor sich hatte, denn seine Miene wurde zu einer unbewegten Maske.

»Ja, schon«, sagte er. Eiskalt. »Was machst du hier? Nachdenken?«

»Ja«, knurrte Kor. »Über dich.«

»Über mich?« Eine Augenbraue hob sich, so arrogant, dass Kor ihm am liebsten eine gescheuert hätte. Wo kam diese Wut auf einmal her? Langsam erhob er sich.

»Vergiss es«, sagte er und wandte sich zum Gehen.

Charles machte keine Anstalten, ihn aufzuhalten. Aus dem Augenwinkel bildete er sich ein, dass der kurz verzweifelt schaute. Aber er war ja auch ein verblendeter Idiot. Er würde alles in das Gesicht dieses Windhunds interpretieren, was er sich wünschte.

Mit geballten Fäusten marschierte er auf die Tür zu. Drückte die Klinke herunter.

»Kor.« Immer noch hatte die Stimme dieses Mistkerls die Macht, ihn zu stoppen. Kor verharrte in der Bewegung. Wie eine verdammte Marionette.

»Was?«, zischte er.

Seine Sicht verschwamm. Oh nein. Er wollte jetzt nicht heulen. Einmal im Leben wollte er stark sein.

»Wegen … dem Kuss. Es tut mir leid. Wirklich. Ich wollte nicht, dass …«

»Dass ich mir Hoffnungen mache?«, schnappte Kor. Er fuhr herum. »Zu spät, du Idiot! Da war ich doch schon längst in dich verliebt!«

Ups.

Scheiße.

Verdammte Scheiße.

Charles' Unterkiefer klappte herunter. Er starrte Kor an, als hätte der ihm soeben eröffnet, dass er eine Waffe hätte.

So eine Scheiße. Kor riss die Tür auf, zwängte sich hinaus und rannte die Treppe hinunter. Bloß weg von hier. Bloß schnell weg, bevor Charles noch versuchte, ihn zu trösten, oder ihm freundlich und verständnisvoll einen Korb zu geben, oder …

Auf dem letzten Absatz stolperte er und fiel der Länge nach hin. Die Handflächen brannten. Zum Glück landete er nicht auf Cherry. Die schlug auf seinem Rücken auf und knallte gegen seinen Kopf. Super. Tränen stiegen in seine Augen.

»Kor!« Laute Schritte von oben. Hastige Schritte. Nein!

Charles durfte ihn nicht einholen. Nicht erwischen. Kor hastete voran, riss die Haustür auf, kugelte sich fast den Arm aus, weil die so schwer war und taumelte auf die Straße hinaus.

Dunkel. Kalt. Wohin? Links ging es auf eine vielbefahrene Straße zu. Rechts lag ein düsteres Industriegebiet. Kaum Straßenlaternen. Kaum Licht. Gut.

Er wandte sich nach rechts, hetzte über das Pflaster. Stolperte erneut, fing sich wieder. Seine Schritte hallten so laut, sein Atem ging so schnell und sein Herzschlag dröhnte so ohrenbetäubend, dass er nicht mehr mitbekam, ob ihm jemand folgte. Dunkle Gebäudekolosse zogen vorbei. Wind peitschte sein Gesicht.

Du Idiot, warum rennst du so?, rief es in seinem Gehirn. Als ob Charles dir so weit folgen würde. Warum sollte er? Der …

Eine kräftige Hand packte seinen Ärmel. Er wurde herumgeschleudert. Prallte gegen etwas, einen warmen Leib in einem dunklen Langarmshirt, und … dann sah er nichts mehr. Konnte sich nicht mehr bewegen.

Hä?

Charles umklammerte ihn so fest, dass er nur mit Mühe Luft bekam. Seine Nase wurde von einem harten Schlüsselbein gequetscht. Eiserne Arme hielten ihn gefangen. Wärme drang zu ihm durch. Dieser Geruch nach Himmel und frischem Schweiß und …

Es ging nicht mehr. Er schluchzte auf. Was passierte hier? Was war los und warum? Warum hielt Charles ihn so fest, als ob … Er hörte ein weiteres trockenes Schluchzen und … erstaunlicherweise kam es nicht von ihm. Heißer Atem strich über seine Kopfhaut. Noch ein Laut, so verzweifelt, als ob …

»Alles … gut?«, murmelte er zwischen all den Armen und Brustmuskeln hervor.

»Ja … Nein … Ja …« Doch, das war Charles' Stimme. Aber anders, ganz anders als sonst. So rau, zittrig und ratlos.

»Charles?«, flüsterte er. Verdammt, er konnte nichts sehen. Zu dunkel. »Äh … loslassen?«

»Kann nicht«, brachte Charles heraus.

Oh. Na dann … Ein Gefühl erwachte in Kors Brust, obwohl er es hatte begraben wollen, es unten halten, es bloß nicht wieder … Aber da war sie: die Hoffnung. Leise gähnte sie, entfaltete ihre Flügel und sah sich um.

Na sowas, sagte sie. Hält Charles dich etwa in den Armen und benimmt sich mindestens so bescheuert wie du? Das könnte bedeuten, dass …

»… liebe dich«, murmelte Charles auf seinen Scheitel. »Lieb dich doch, du … du …«

Oh Gott. Oh, Fuck. Oh …

Kors ganzer Körper legte eine Kernschmelze hin. Sein Inneres flammte auf, verflüssigte sich zu Lava, und …

»Loslassen!«, brüllte er. Er spürte den Leib um sich herum zusammenzucken und die Arme lösten sich. Charles sah ihn aus der Dunkelheit verdattert an.

»Hab ich dir weh…«

Weiter kam er nicht, weil Kors Mund sich auf seinen presste. Überhaupt nicht so, wie er es gelernt hatte. Wild und brutal und ungeschickt. Er schmeckte Metall, nein, Blut. Seine Unterlippe war gegen Charles' Zähne gestoßen. Egal. Denn warme Finger griffen in seine Haare, hoben den Kopf und eine nasse Zunge stieß in seinen Mund.

Oh ja.

Sein Körper reagierte automatisch. Von einer Sekunde zur nächsten verwandelte er sich in pures, verzweifeltes Glück. Seine Brust drängte sich an Charles'. Und, nach einem Moment des Zögerns, presste er den Schritt gegen ihn. Charles stöhnte, dass Kors Lippen kribbelten. Und … oh. Da war etwas, das auf Kors Unterleib drückte, etwas, was genauso hart war wie er. Oh, Fuck. Lichtblitze zuckten. Elektrischer Strom kitzelte über seine Haut. Er krallte die Fingernägel in Charles' Rücken, versuchte, ihm noch näher zu kommen, noch …

Er war kurz davor, sich wieder in seine Boxershorts zu ergießen, als Charles sich von ihm löste. Augen brannten auf ihn nieder, so grau in der Dunkelheit, wie sie im Licht waren.

»Du …«, krächzte Charles. »Das war dein Ernst oder? Dass du … mich …«

»Dass ich dich liebe?« Kor blinzelte. Sein Kopf war vollkommen vernebelt. »Ja. Ja, das ist … wahr. Und, äh, du?«

Charles' Gesicht sagte alles. Stumm starrte er Kor an, als wäre der das größte Wunder, das er je gesehen hatte. Verdammt, seit wann hatte der diesen weichen Blick drauf? So sanft und zärtlich. So …

Charles setzte an, etwas zu sagen, brachte aber kein Wort heraus. Seine Hände an Kors Wangen bebten. Schließlich nickte er einfach.

Tränen ließen Kors Sicht verschwimmen. Er schniefte. Mist, er benahm sich total dämlich, aber … Aber seine Knie waren so schwach vor Glück, dass Charles ihn aufrecht halten musste. Und der wirkte, als wäre er selbst ganz schön wackelig auf den Beinen.

Frostiger Wind strich über seinen Nacken, aber ihm war nicht kalt. Ihm würde nie wieder kalt sein. Charles dagegen … Der trug nur ein dünnes Shirt und …

»Frierst du?«, fragte Kor. »Willst du wieder rein?«

Charles schüttelte den Kopf.

»Scheiße, nein. Bloß nicht. Ich will bei dir sein.« Seine Stimme war wie Whisky und Honig … wenn Kor Whisky gemocht hätte. »Nur bei dir. Allein.«

Heißes Glück schoss in Kors Venen. Und Nervosität und Aufregung und Kribbeln und Panik und Lust und … Er konnte kaum laufen, so viele Gefühle wirbelten in seinem Körper durcheinander.

Atemlos folgte er Charles, der ihn durch finstere Gassen und hell erleuchtete Straßen führte. Seine Finger hatten sich um Kors geschlossen, als würden sie ihn nie wieder loslassen.

 

Kor

 

Charles schloss die Wohnungstür auf und ein nervöser Stromstoß zuckte durch Kors Herz. Sie waren hier. Sie würden … oh Mann. Sie würden … Was würden sie hier tun? Etwa … das?

Er schaffte es kaum, die Schuhe aufzuschnüren, so klamm waren seine Finger. Sie hatten nichts gesagt, den ganzen Weg über. Irgendwie ging es gerade nicht um Worte. Er wollte nur noch handeln. Küssen, berühren, anfassen, sich versichern, dass es wirklich stimmte.

Charles liebte ihn.

Er betrachtete dessen kantiges Gesicht, das sofort weicher wurde, als er Kors Blick bemerkte. Die blonden Haare vor den zärtlich blickenden Augen …

»Komm her«, flüsterte Charles und Kor richtete sich auf und tapste zu ihm rüber. Starke Arme legten sich um ihn und drängten ihn gegen den Kleiderständer. Ein Wollmantel kratzte über seine Wange und dann küsste Charles ihn und alle anderen Eindrücke verschwammen.

Als sie sich losließen, atmeten beide schneller. Kor spürte ein fast schmerzhaftes Pochen im Unterleib. Er wollte endlich … Er wusste nicht genau, was er wollte. Vielleicht hätte er sich besser informieren sollen und eh war er viel zu unerfahren, aber …

»Kann ich hier übernachten?«, fragte er, schwer atmend. Charles legte den Kopf schief.

»Äh. Ja. Natürlich.« Ein winziges Lächeln zuckte um seine Mundwinkel. »Was hast du denn gedacht? Dass ich dich rausschmeiße, wenn wir fertig sind?«

»Äh.« Kor räusperte sich. Hitze stieg in seine Wangen. »Womit genau sind wir denn dann fertig?«

Diesmal war er sicher: Charles wurde ein ganz klein wenig rot.

»Mit … was immer du tun willst. Du, äh … du sagst mir, wenn ich zu viel auf einmal will, ja?«

Kor nickte erleichtert.

»Mach ich. Und jetzt?«

»Jetzt springe ich unter die Dusche, weil ich stinke wie eine alte Mülltonne, und dann«, Charles zeigte sein Wolfsgrinsen, »dann machen wir, worauf immer du Lust hast.«

»Ich habe Lust, mit dir zu duschen«, sagte Kor. Was? Wo kam das jetzt her? Aber Charles wirkte erfreut.

»Echt? Du …« Er lachte leise. »Du gehst ganz schön ran. Muss ich Angst um meine anale Unschuld haben?«

Kor verschluckte sich.

»Deine … Nein!«, brachte er heraus. »Ich hab doch gar nicht …«

Charles haute ihm auf den Rücken, was den Anfall auch nicht viel besser machte. Aber selbst wenn Charles ihm mit voller Wucht auf die Wirbelsäule schlug, war er irgendwie unwiderstehlich.

»Sorry«, sagte Charles. »Ich wollte nicht … Ich bin ein bisschen nervös.«

»He.« Kor wischte sich über den Mund. »Und ich erst. Ich habe noch nie … Na, du weißt ja und erst recht nicht mit … mit einem, den ich liebe.«

»Ich auch nicht«, flüsterte Charles. »Also mit Liebe.«

Er schien genauso überwältigt zu sein wie Kor. Das war fast … süß. Ein Wort, das Kor nie mit diesem Riesenkerl in Verbindung gebracht hatte.

»Warum willst du überhaupt duschen?«, fragte er. »Du riechst toll.«

»Na, ich habe doch eben …« Charles kratzte sich am Hals und Kors Stimmung erhielt einen winzigen Dämpfer.

»Oh, ja. Mit diesem … diesem Mädchen geschlafen.«

»Ich habe nicht mit ihr geschlafen!«, rief Charles. Kor machte einen Satz zurück.

»Was? Aber … Mann, Charles, ich habe euch gehört. Sie … sie hat so Geräusche gemacht und …«

»Ich habe nur …«

Charles verzog den Mund. Seine Hände machten eine Geste, die Kor erst nicht kapierte. Und als er sie kapierte, wurden seine Ohren heiß.

»Ich war ein Idiot«, sagte Charles missmutig. »Das war so blöd, ich bin nur nicht klargekommen, weil ich gehört habe, wie du mit Nathan spielst und ich war so eifersüchtig, dass ich mich irgendwie ablenken musste. Aber ich habe nicht mit ihr geschlafen.«

»Oh.« Oh! »Und mit Mariella aus Dortmund?«

»Auch nicht.« Charles massierte seine Nasenwurzel. Er schaffte es nicht, Kor anzusehen. »Ich hab's versucht, aber seit ich dich kenne, äh … geht das nicht mehr.«

Kor hätte fast losgeheult vor Glück.

»Ich war so traurig«, sagte er. »Ich dachte, du … du wärst voll der Windhund und …«

»War ich auch«, sagte Charles niedergeschlagen. »Eine Zeit lang. Aber ich will das nicht mehr.«

»Oh, dann, äh …« Kor strahlte ihn an. »Dann gehen wir duschen, oder?«

Charles lächelte.

»Ein ausgezeichneter Vorschlag.«

Charles packte ihn und zog ihn mit sich. Kor schaffte es gerade eben, Cherry an die Wand zu lehnen, dann tapsten seine Füße über den Holzboden und durch die Wohnküche. Hin zum Bad.

Wie alles in der Wohnung war es ein wenig angeschlagen, aber sauber. Zitrusgeruch hing in der Luft. Die Deckenlampe, die aus einem Plastik-Totenschädel bestand, spendete warmes, angenehmes Licht.

Das Bad war geräumig. Unter der Dachschräge stand sogar eine Badewanne, aber Charles steuerte auf die Duschkabine in der Ecke zu. Er ließ Kor los und zog mit einem Ruck das Shirt über den Kopf. Kräftige Rückenmuskeln erschienen. Und der besoffene Hirsch. Die Tigernarben. Dann … Kor explodierte innerlich … griff Charles an seine Gürtelschnalle, vermutlich, er konnte das nicht sehen, dabei wollte er …

Charles drehte sich um. Er lächelte Kor zu, so verwegen und schön.

»Du bist dran«, schnurrte Charles. »Dein Shirt.«

Oh. Hitze kroch Kors Hals hoch. Er trug sogar noch seine Jacke … Mit zittrigen Fingern zog er den Reißverschluss herunter. Ließ sie hinter sich zu Boden gleiten. Und das Shirt …

Ach, verdammt. Er sah auf Charles' breite Brust und kam sich vor wie ein Schwächling. Aber … Charles sah ihn an, so gespannt, so fasziniert, wie Kor von ihm war, also atmete er tief ein und zog es mit einem Ruck über den Kopf.

Charles blinzelte. Wieder erschien ein Hauch Rot auf seinen Wangen.

»Du … du bist dran«, sagte Kor herausfordernd. Charles schüttelte ungläubig den Kopf.

»Ich mag's, wenn du frech bist.«

»Ich bin nicht frech«. Kor verschränkte die Arme. »Das ist nur gerecht.«

Er wusste auch nicht, wo dieser Mut herkam. Aber mit Charles hatte er sich immer wohl gefühlt. Sich mehr getraut als sonst. Mehr …

All seine Gedanken kamen kreischend zum Stehen, als Charles' Hände zur Gürtelschnalle glitten. Langsam, als wollte er Kor … Doch, die grauen Augen blitzten herausfordernd. Er wollte ihn ärgern. Wenn Kor noch in der Lage gewesen wäre, zu reden, hätte er sich beschwert. Aber so konnte er nur mit Mühe verhindern, dass ihm ein Spuckefaden aus dem Mundwinkel lief, als Charles quälend langsam seinen Gürtel öffnete, dann den obersten Knopf … Helle, kurze Haare kamen zum Vorschein.

»Ich hatte keine frische Unterwäsche mehr«, sagte Charles achselzuckend. Und streifte die Hose ab. Darunter trug er nichts. Kor hatte ungestörten Ausblick auf kräftige Oberschenkel, hervorstehende Hüftknochen und … äh. Oh. Das Ding war groß. Prall. Und es zeigte auf Kor. Er schaffte es nicht mal, zu blinzeln.

Du solltest aufhören, da hinzustarren, dachte er. Aber … das geht nicht.

Mit hungrigen Augen nahm er jede Einzelheit in sich auf. Er hatte … irgendwie hatte er, wenn er daran gedacht hatte … und er hatte oft daran gedacht, wenn er ehrlich war … immer befürchtet, dass es irgendwie seltsam sein würde. Dass er sich fürchten würde. Aber Charles war wunderschön. Auch da. Stark und lebendig.

»Du bist dran.« Er hörte den leisen Spott in Charles' Stimme. Oh nein, konnte er … Aber er straffte sich. Charles liebte ihn. Der würde ihn mögen, wie er war.

Bestimmt.

Ungeschickt fummelte er seinen Gürtel auf, den Knopf, den Reißverschluss. Zögerte. Er kam sich so mager vor, neben diesem Muskelgott. Aber dann riss er Hose und Unterhose herunter und trat heraus. Auf Charles zu. Mit erhobenem Kinn.

Charles starrte ihn an, als wäre er das Köstlichste, was er je gesehen hatte und kein blasser Hänfling. Aller Spott war aus seinem Gesicht gewichen. Die Hände, die sich an Kors Wangen legten, schienen sogar ein wenig zu zittern. Aber sein Kuss … Der war noch besser als alle davor. Leidenschaftlich und sicher. Kor lehnte sich hinein und verschwand irgendwie. Bis er ihn spürte. Da unten. Sie berührten sich. Ganz sacht strich Charles' samtige Härte über seine.

Ein Lichtblitz. Er musste nicht mal hinsehen, um zu wissen, dass ein heller Tropfen an seiner Spitze erschienen war.

Nicht mehr lange, dachte er. Ich …

»Charles?«

»Hm?« Wenn er Charles' vernebelten Blick richtig interpretierte, war der auch nicht mehr so ganz da.

»Es kann sein, dass ich … zu früh komme, wenn du … mich weiter so küsst.« Seine Ohren waren knallheiß, aber irgendwie musste das raus. »Also … gleich.«

Charles' Zähne blitzten und seine Augen blitzten noch mehr.

»Es gibt kein zu früh.«

Er küsste Kor noch einmal, dann drängte er ihn in die enge Duschkabine. Undeutlich spürte Kor, dass die Plastikwand kühl an seinem nackten Rücken war. An seinem bloßen Hintern. Aber er schaffte es nicht, sich auf etwas anderes zu konzentrieren als auf Charles' Leib, der sich an seinen schmiegte.

»Wann immer du kommst, ist es genau richtig, okay?« Das Flüstern strich über sein Ohr wie eine Liebkosung.

»O-kay.«

Das hatte er aber anders gelernt, nur … wusste er grad nicht mehr wo. Oder wann oder … Alles, was er noch verstand, war, dass Charles' Zähne über seine Halsbeuge knabberten. Kor schrie auf. Ups. Schnell presste er die Lippen zusammen.

»Mmh«, schnurrte Charles gegen seinen Nacken. »Das war geil. Mach das nochmal.«

Seine Zähne berührten die gleiche Stelle und wieder schrie Kor auf. Er konnte es nicht zurückhalten. Er sah nach unten. Da löste sich ein Tropfen von seiner Spitze und zerplatzte auf dem Boden der Dusche. Nur … Charles schien es nicht anders zu gehen. Auf dessen Eichel war eine helle Perle erschienen. Dann … war das wohl okay. Etwas zog sich in Kor zusammen, langsam, als würde man eine Schleuder spannen. Gleich …

Charles löste sich von ihm. Blinzelte. Biss sich auf die Lippen und die sahen so prall aus, dass ein weiterer Tropfen fiel.

»Warte«, sagte Charles. Seine Stimme war rau. »Ich mach's noch besser, ja?«

Noch besser? Wie? Bebend sah Kor zu, wie Charles die Dusche anstellte, wartete, bis die Temperatur richtig war und den Duschkopf oben einhakte. Warmes Wasser prasselte auf ihre Körper nieder. Es klebte seine Haare an den Rücken. Streichelte die pochende Härte. Ja. Ja, das war tatsächlich noch besser.

Kor sah kleine Bäche über Charles' breite Brust rinnen. Über die eckigen Muskeln. Über das Gesicht mit den frech funkelnden Augen. Er konnte sich nicht mehr bewegen. Zum Glück wusste Charles noch, wie das ging.

Er nahm Kor in die Arme. Wieder wanderten Lippen über Kors Halsbeuge, fanden den empfindlichen Punkt und bissen zu. Kor schlug die Finger in Charles' Rücken und schrie. Kurz davor. Gleich … Sanftes Knabbern, das Schauer durch seinen ganzen Körper sandte. Das Ziehen verstärkte sich, das Band in ihm war kurz davor, zu zerreißen. Charles schmiegte sich an ihn und wieder berührten sie sich. Da unten.

Er fühlte das Wasser, das über seine Schultern lief, zwischen sie, Charles' Erektion, die gegen seine drängte, dessen harten Bauch an seinem, bis da kein Wasser mehr hinpasste, weil sie so nah waren … Noch ein Knabbern. Noch ein Lichtblitz. Er krallte die Fingernägel in Charles' Rückenmuskeln, spürte die Erhebungen unter den Handflächen, spürte die Zunge, die in seinen Mund eindrang, sich zurückzog, wiederkam …

Erlösung zuckte durch seinen Körper. Er senkte den Kopf, schrie in Charles' nackte, nasse Schulter, zitterte und bebte. Lichtblitze. So helle, so viele, dass er für einen Moment vollkommen weg war.

Als er zurückkehrte, hing er in Charles Armen und stöhnte. Zwischen ihren Bäuchen war es klebrig, aber das warme Wasser begann schon, den Samen wegzuspülen. Er öffnete die Augen und blickte in Charles' Gesicht, das gleichzeitig unendlich zärtlich und lustverzerrt war.

»Sag ich doch«, murmelte der und lächelte. »Das war genau richtig.«

Unten spürte Kor immer noch seinen Ständer. Charles war nochmal härter geworden. Er fragte sich, was passieren würde, wenn … Vorsichtig löste er die Finger von Charles' Rücken. Glitt tiefer.

Und traute sich doch nicht.

»Mach langsam«, flüsterte Charles. Kor nickte.

»Soll ich … dich vielleicht waschen?«, fragte er.

»Ja«, krächzte Charles.

Er lehnte sich gegen die Wand der Kabine, als wären seine Beine zu schwach, um ihn zu tragen. Dabei waren die doch so kräftig. Muskelbepackt. Kor schnappte sich das einzige Duschgel aus der schiefen Metallhalterung. Er verrieb eine Portion in den Händen und sog den frischen Duft nach Pfefferminz ein.

Dann legte er die Hände auf Charles' Brust. Er hatte ihn da berühren wollen, seit … immer. Die Haut war angenehm warm und fast glatt. Ein paar helle Haare breiteten sich über den Tätowierungen aus.

Charles' Augen beobachteten ihn, als er langsam über den ganzen Körper fuhr. Die Narben an Charles' Armen fühlten sich rau an. Die Härchen auf den Beinen zart. Und die Beinmuskeln … einfach köstlich. Fest und elastisch zugleich. Kor kniete vor Charles nieder und arbeitete sich aufwärts. Äh. Er schaffte es wieder nicht, den Blick abzuwenden. Das Wasser floss immer noch. Es prasselte auf den Pfahl, der knapp vor seiner Stirn aufragte.

»Darf ich?«, fragte er.

»Ja«, flüsterte Charles. »Ja, verdammt.«

»Oh, gut.« Kor biss sich auf die Lippen und griff danach.

Seine seifigen Finger berührten die zuckende Härte. Glatt. Prall. Seine Ohren vernahmen ein Stöhnen. Verwirrt blickte er auf. Charles lehnte an der Kabinenwand, die Augen geschlossen, die Hände gegen die Kunststoffscheibe gepresst. Wasser floss über seinen wunderbaren Körper. Vorsichtig bewegte Kor die Finger. Noch ein Stöhnen, so … hilflos und ergeben. Das war nicht der Charles, den er kannte. Das war … viel besser. Viel, viel besser. Das war Charles, sein Freund. Wildes Glück durchströmte seine Brust und ließ ihn alle Hemmungen ablegen. Er formte die Hände zu einer Röhre und begann, an dem nassen Glied auf und ab zu fahren.

»Gut«, keuchte Charles. Seine Hand strich durch Kors Haare, ganz sanft. Der wusste nicht, wo er hinschauen sollte: auf die glänzende Eichel, die immer wieder zwischen seinen Fingern auftauchte und jedes Mal praller war. Oder in Charles' Gesicht, das so lusterfüllt war, dass er vor Stolz fast platzte.

Ich mache das, dachte er. Wegen mir schaut er so. So, als ob … er auch gleich …

Zwischen seinen Fingern wurde es enger. Charles wuchs noch einmal. Die Finger in Kors Haaren packten plötzlich fester zu, das Stöhnen wurde drängender, der ganze Körper versteifte sich. Dann spürte Kor das Zucken.

Ein unterdrückter Schrei. Charles warf den Kopf zurück, keuchte und weißer Saft landete auf Kors Brust. Ein Schub, zwei, drei, zehn, als könnte er gar nicht mehr aufhören. Bebend sank er zu Boden. Kor sah die letzten Ausläufer des Orgasmus auf seinen aufgeworfenen Lippen. In den fiebrig glänzenden Augen.

»War das richtig so?«, fragte er, obwohl er sich zum ersten Mal in seinem Leben sicher war, dass er etwas gut gemacht hatte. Vielleicht sogar … echt gut. Statt einer Antwort griff die Hand, die immer noch in Kors Haaren ruhte, zu, und er wurde in einen leidenschaftlichen Kuss gezogen. Er beschwerte sich nicht. Und sein Glied noch viel weniger. Er sah ein anerkennendes Grinsen um Charles' Mundwinkel spielen, als er darauf schaute.

»Was, schon wieder?« Er legte den Kopf schief. »Wie wär's, wenn wir uns abtrocknen und ins Bett gehen und dann … schaue ich, ob ich einen halbwegs passablen Blowjob hinkriege.«

»Du schaffst das«, sagte Kor ernsthaft.

Charles grinste.

»Sicher?«

»Ganz bestimmt.«

Charles' Lachen war das Schönste, was er je gehört hatte. Schöner als jeder Ton, den er auf Cherry erzeugen konnte. Sogar schöner als Doomsday Destruction.

 

Charles

 

Als er erwachte, war alles perfekt. Fantastisch. Kor lag in seinen Armen, nackt und schlafwarm. Vermutlich immer noch erschöpft von der langen Nacht.

Charles hatte einen Blowjob hinbekommen. So gut, dass Kor danach minutenlang nicht mehr ansprechbar gewesen war. Er fürchtete ein wenig, ihn zu überfordern, aber … solange er sich nicht beschwerte, wollte er jeden Millimeter von Kors wunderbarem Körper auskosten. Eigentlich wollte er nie wieder etwas anderes tun.

Verträumt beobachtete er, wie das Sonnenlicht auf Kors dunkle Haare schien. Auf die hellen Schultern, die wundgeküssten Lippen. Er murmelte leise im Schlaf. Seine Stirn drückte gegen Charles' Brust. Weiter unten drängte etwas gegen Charles' Oberschenkel.

Hm. Vorsichtig rutschte er tiefer. Kroch unter die Decke.

Fünf Minuten später war Kor wach und knallrot. Charles wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab.

»Du schmeckst immer noch so gut wie gestern«, sagte er leichthin. »Nach Marzipan.«

Kor starrte ihn an. Seine dunklen Augen huschten über Charles' nackten Körper, das zerwühlte Bett und das befleckte Laken.

»Das … ist echt passiert, nicht wahr?«, murmelte er. »Wir sind … wir sind zusammen, oder?«

Charles bejahte grinsend. Er beugte sich vor, um Kor einen Kuss zu geben und wurde durch ein lautes Magenknurren abgelenkt.

»Hast du auch Hunger?«, fragte er.

Kor nickte. Noch immer schien er bei Tageslicht nicht richtig glauben zu können, was nachts passiert war.

»Ja. Frühstück wäre gut«, flüsterte er. Er leuchtete förmlich von innen. Dann sah er Charles direkt in die Augen und strahlte ihn an. »Sehr gut.«

Ein Blitz schlug in Charles' Brust ein. Wenn das Wochenende vorbei wäre, würde er furchtbare Grippe bekommen, beschloss er. Auf keinen Fall konnte er Montag zur Arbeit gehen. Nicht, wenn er stattdessen Kor immer und immer wieder vernaschen konnte.

»Ich hol Brötchen«, sagte er und sprang aus dem Bett.

Er stieg in die nächstbeste Hose und knöpfte sie zu. Fand irgendeinen Pullover, der noch nicht vollkommen widerlich war, und öffnete die Tür.

Nathan stand an der Spüle und ließ sich ein Glas Wasser ein. An seinen zerknitterten Klamotten und dem abgestandenen Geruch erkannte Charles, dass er eben erst heimgekommen war.

»Guten Morgen!«, rief er fröhlich und Nathan zuckte zusammen. Er drehte sich um, die Augen schmal über den dunklen Augenringen.

»Was ist denn mit dir los?«, brummte er. Seine Stimme war heiser, als hätte er die ganze Nacht geraucht. Vermutlich hatte er das.

»Nichts.«

Charles strahlte ihn an. Schwungvoll trat er neben ihn und füllte ebenfalls ein Glas mit Wasser. Er trank mit gierigen Schlucken. Wunderbar kühl. Er hatte nicht mal gemerkt, wie durstig er gewesen war …

Nathan starrte auf etwas hinter ihm. Oh, Kor war aus dem Zimmer getreten. Anbetungswürdig verschlafen tapste er über die Holzdielen.

»Morgen!« Er lächelte Nathan verlegen zu, dann verschwand er im Bad. Charles spürte Nathans Blick in seinem Nacken.

»Klosterschulboy? Habt ihr …«

»Ja.« Charles lehnte sich gegen die Theke. Genoss die warmen Sonnenstrahlen, die durch die hohen Fenster der Dachterrasse drangen. »Haben wir. Wir sind ein Paar.«

»Seit wann?« Hinter Nathans Augen ratterte etwas. Als würde er versuchen, Puzzlestücke zusammenzustecken, ohne zu wissen, ob er alle Teile hatte.

»Seit gestern Nacht.« Er reckte sich. Wann hatte er sich zuletzt so gut gefühlt? Und als Bonus sogar noch Nathan aus der Fassung gebracht?

»Ah.« Dann kroch ein Grinsen in Nathans müdes Gesicht. »Nicht schlecht. Ich … Mann, das hätte ich nicht gedacht. Also, dass er doch auf Männer steht und …« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin stolz auf dich, Klosterschulboy. Du hattest also endlich die Eier in der Hose, es ihm zu sagen.«

Charles machte ein unbestimmtes, abwiegelndes Geräusch und sofort war Nathans Gesicht wieder misstrauisch.

»Du hast es ihm gesagt, oder?«

»Ja. Ja, klar.« Charles kratzte seinen Unterarm. »Also …«

»Also was?«

»Also … also eigentlich erst, nachdem er …« Er verstummte. Nathans Augen wurden schmal.

»Du hast dich nicht getraut.« Er schaute Charles an, als wäre er der größte Klappspaten der Welt. »Das macht mehr Sinn. Du alter Gefühlskrüppel. Hast du es echt diesem armen Kleinen, der Angst vor seinem eigenen Schatten hat, überlassen, den ersten Schritt zu machen?«

»Aber ich habe …« Charles sah zu Boden. Mist. Das schlechte Gewissen krabbelte seinen Nacken hoch. »Ich habe halt …«

»Du hast dich nicht getraut. Du erbärmlicher Feigling.« Nathan schien irgendwie verstimmt. »Ich dachte, das wäre endlich mal ein Fortschritt, aber nein …«

»Aber er hat den ersten Schritt gemacht«, erklang eine zaghafte Stimme. Kor nickte ernsthaft. Ups. Das wuchs sich zu einem ziemlich peinlichen Morgen aus. »Er hat mich … eingeladen und … und mir Mut gemacht und mir gezeigt, was alles möglich ist und nur wegen ihm war ich auf dem Konzert und habe Dane und Sheron und Marcel kennengelernt und all die neuen Bands und bin viel stärker geworden.«

Er nickte erneut, dass ihm die langen Haare in die Stirn fielen. Entschlossen streifte er sie zurück. Seine Mitternachtsaugen sahen auf Charles, nur auf ihn. Dankbarkeit schwamm darin, die Charles' schlechtes Gewissen nur verstärkte. Kor kam auf ihn zu und gab ihm einen winzigen Kuss auf die Nasenspitze. Von Nahem war sein Lächeln noch atemberaubender.

»Du hast mich so stark gemacht, dass ich es dir sagen konnte.«

Charles schmolz dahin. Nathans Würgelaute überhörend griff er in Kors Haare und zog ihn an sich. Kors Lippen waren so weich und vertraut, jetzt schon, dass er sich einfach in den Kuss hineinfallen ließ. Dass er das leise Beben in Kors Brust spürte, und dessen zaghaften Widerstand, den er schnell aufgab.

»Ich liebe dich«, flüsterte Charles.

»Und … ich dich.« Das Zittern in Kors Stimme machte sie nur noch atemberaubender.

Als sie sich voneinander lösten, entschuldigte Kor sich tausendmal bei Nathan, der sie angewidert anstarrte.

»Mach dir keinen Kopf«, brummte Charles und legte einen Arm um Kor. »Ich habe ihn Schlimmeres tun sehen. Einmal bin ich reingekommen, als er es mit zwei Leuten gleichzeitig vor dem Kühlschrank getrieben hat.«

»Ach ja, die gute alte Zeit«, sagte Nathan verträumt. »Als ich noch jung und biegsam war.«

»Das war vor drei Monaten.«

»Sag ich doch.« Nathan gähnte. »Also, viel Spaß mit eurem Liebesglück. Ich hau mich hin. Muss eine furchtbare Trennung verkraften.«

»Oh.« In Kors Augen schwamm Mitleid. »Ich wusste nicht, dass du einen Freund … eine Freundin hattest?«

»Meine Band hat sich von mir getrennt.« Nathan seufzte. »Na ja, hat nicht sein sollen.«

»Du wirst schon was Neues finden«, sagte Charles und klopfte Nathan auf die Schulter. »Wer war es diesmal? Der Drummer sah aus wie dein Typ.«

»Die Sängerin«, knurrte Nathan. »Caro. Konnte ich ja nicht wissen, dass Dean scharf auf die war. Ich glaube fast, sie hat das mit Absicht gemacht, um aus der Nummer rauszukommen. Die hatte schon lange keine Lust mehr auf die Truppe …«

Er seufzte. Einen Moment lang sah er richtig verloren aus.

»Spielst du mal wieder mit mir?«, fragte Kor leise. »Ich meine, bis du was Neues hast, könnten wir doch eine Band sein. Charles, du und ich.«

Nathans Augenbrauen hoben sich. Fragend sah er Charles an. Dem gefiel der Vorschlag ausnehmend gut. Ja, bei dem Gedanken, endlich wieder Nathan als Bassisten zu haben, war er richtig glücklich.

»Warum nicht? Ich habe nichts dagegen.«

»Er hat dich vermisst«, sagte Kor zu Nathan und der grinste.

»Natürlich hat er das.« Er prostete Charles mit seinem Wasserglas zu. »Keine Sorge, Klosterschulboy. Ich bin immer für dich da.«

»Das weiß ich doch, du Flittchen.« Und er wusste, dass Nathan ihn genauso vermisst hatte. Der sah plötzlich viel lebendiger aus.

»Wir brauchen einen Drummer«, sagte Nathan. »Einen guten.«

»Was?« Kor schien verwirrt. »Aber wir sind doch nur zu dritt.«

»Wir suchen wen.« Charles nickte. »Kein Problem, Nathan und ich wissen, wie das geht. Wir finden schon wen. Und wenn Nathan seine Nudel in der Hose behalten kann, bleibt der vielleicht sogar.«

»Ich verspreche nichts.« Nathan grinste stolz.

»Doch, tust du.« Charles sah ihn böse an. »Ich meine das ernst. Du hast Kor spielen gehört. Du hast mit ihm gespielt. Das könnte wirklich was werden, also versau's nicht.«

»Aber ich dachte, wir machen das nur zum Spaß …«, murmelte Kor.

»Musst du gleich so viele Regeln aufstellen?« Nathan legte den Kopf schief. »Für eine Band, die es noch gar nicht gibt?«

»Wir spielen nur zum Spaß«, beruhigte Charles Kor. Er fuhr mit einer Hand über seine Wange. »Aber mit Drummer ist es besser, glaub mir. Das könnte richtig gut werden.«

Nathan ignorierte er. Der seufzte tief.

»Okay«, sagte er, zur allgemeinen Verwunderung. »Wenn's dir so wichtig ist, lasse ich die Hände von unserem nichtexistenten Drummer. Versprochen. Hoch und heilig.«

»Gut.« Charles nickte. Etwas kribbelte durch seinen ganzen Körper. Etwas, das er bei den Sonic Sons nie verspürt hatte, so gut die auch waren. Etwas wie eine gute Vorahnung, eine verdammt aufregende. In einer Band mit Kor. Er könnte wieder singen. Er …

»Das könnte Spaß machen«, sagte er gedankenverloren.

»Ja, ich glaub auch.« Kor nickte ernsthaft. »Und das ist ja keine richtige Band, also müssen wir nie auftreten, richtig?«

Nathan und Charles sahen sich an.

»Nein …«, sagten sie gleichzeitig. Kor stieß einen erleichterten Seufzer aus.

»Oh, gut. Ich hatte schon Angst … Ich trau mich doch nicht auf eine Bühne.«

»Ach, das kann man lernen«, sagte Charles. Sobald er Kors panischen Blick sah, beeilte er sich, hinzuzufügen: »Aber du musst nicht.«

»Hm-hm.« Nathan gähnte lautstark. »Jut, dann habe ich also eine neue Band. Und ich muss nicht mal auftreten. Ich hau mich aufs Ohr. Schönen Tag noch, ihr Turteltäubchen.«

»Schlaf gut«, sagte Kor.

»Und denk dran, die Hände von unserem Drummer zu lassen«, sagte Charles.

Nathan spazierte aus dem Zimmer und zeigte ihm beide Mittelfinger. Endlich allein.

Charles neigte den Kopf, um Kors Wange zu küssen. Seine Nase. Und seinen Mund. Die Wärme zu genießen und den Geschmack nach Salzkaramell. Irgendwann schaffte er es, sich loszureißen.

»Gut«, brummte Charles. »Dann hol ich Brötchen. Ich kann meinen Freund nicht gleich am ersten Tag verhungern lassen.«

»Danke.« Kor … grinste. Doch, er sah richtig frech aus. »Aber nach dem Frühstück gehen wir zurück ins Bett, oder?«

»He. Auf jeden Fall.« Nach einer ganz kurzen Umarmung zwang Charles sich, in den Flur zu marschieren und seine Schuhe anzuziehen. Hinter sich hörte er Geschirr klappern. Kor deckte den Tisch.

Das fängt doch gut an, dachte Charles, als er die Treppe hinunterlief. Neue Band, neuer Freund … Allein das Wort sorgte dafür, dass in seiner Brust ein Bienenschwarm aufstob.

Ja, das war ein sehr guter Anfang, beschloss er und trat hinaus ins Sonnenlicht.

Teil 2: J & N

 

Jan

 

Blut lief aus Jans Nase, als die Türsteher ihn zum Ausgang zerrten. Ein beständiges Tröpfeln, das seinen Weg durch die Menge markierte wie rote Brotkrumen.

Leute wichen zur Seite. Der bis zum Brechen gefüllte Club schien mit einem Mal halb leer zu sein. Jan ballte die Fäuste. Blitzschnell wollte er sich losreißen, aber die beiden Kerle, die ihn festhielten, waren Profis, ihre Griffe eisenhart. Er warf einen Blick zurück auf den Hurensohn, mit dem er sich geprügelt hatte. Der lag auf dem Boden und rührte sich nicht. Moment … Doch, er stöhnte und rollte sich langsam auf den Rücken … und verschwand aus Jans Blickfeld, weil die beiden Muskelberge ihn durch die Luft schleuderten.

Ich fliege, dachte er freudlos.

Dann krachte er auf den Asphalt. Schmerz schrammte in seine Schulter. Egal. Sein Knie war aufgeschürft, die Jeans dort zerfetzt und er fühlte Blut auf den Lippen. Der Eisengeschmack vermischte sich mit dem Gestank nach alten Autoreifen, der vom Boden ausging.

Trotzdem hätte er noch ewig weitermachen können. Sich noch ewig mit diesem Arschloch da drin prügeln können. Mit diesen zwei Arschlöchern eigentlich, aber der Erste war recht schnell abgehauen und hatte seinen Kumpel seinem Schicksal überlassen. Jan spuckte roten Schleim auf den nachtdunklen Boden.

So ein Feigling!, brüllte das Biest in seinem Kopf. Weichei! Abbrecher!

Jan ballte die Fäuste und sprang auf. Er musterte die beiden Türsteher, die ihn entschlossen ansahen. Wie eine fleischgewordene Mauer standen sie vor dem Eingang. Jan knurrte leise.

»Macht Platz, ihr Mädchen«, raunzte er, aber sie wichen keinen Schritt zur Seite.

Rote Wut brodelte in seinem Bauch. Sie ließ ihn vorwärtsstürmen, auf die beiden zu, mit erhobenen Fäusten.

 

Er landete noch dreimal auf dem Asphalt. Erst, als die schweinsgesichtigen Glatzköpfe damit drohten, die Polizei zu holen, gab er auf.

Es reichte nicht. Die Wut in ihm war zu mächtig. Immer noch floss sie durch seine Adern wie Starkstrom. Verdammt.

Er ließ den beschissenen Club hinter sich zurück und marschierte das Kopfsteinpflaster entlang. Jeder, der ihm entgegen kam, sprang aus dem Weg. Schade. Er brauchte eine Schlägerei, wie andere Kerle einen guten Fick brauchten. Na, und anders als diese Kerle wurde Jan immer fündig. Früher oder später. Das Arschloch von eben war nur der Anfang gewesen. Auf zum Flussufer, dachte er.

Seine Turnschuhe machten hallende Geräusche in der engen Gasse, durch die er sich zwängte. Sein Knie pochte und blutete die Jeans voll. Kalte Luft strich über seine bloßen Arme. Scheiße. Seine Jacke war noch im Club. Na, Wulle würde sie ihm morgen mitbringen. Wie immer. Der hatte sich sogar angewöhnt, beide Märkchen an sich zu nehmen, damit er Jans Jacke auslösen konnte.

Übermorgen würde er sie ihm mit einem Kopfschütteln überreichen.

Mensch Jan, was ist denn los mit dir?, würde er sagen. Du musst dich mal am Riemen reißen.

Aber das wollte er nicht. Konnte er nicht. Er hatte nicht jahrelang trainiert, hatte seinen Körper nicht gestählt und gequält, um nichts damit anzufangen.

Die Kälte am dunklen Flussufer war ihm egal. Die Wunden waren egal und der stechende Schmerz in seinem Knöchel, wo ihn das Arschloch getreten hatte, auch. Alles, was zählte, war der Hass. Die heiße Wut, die in ihm tobte. Nicht weit vom Fluss war ein Park, und da lungerten immer ein paar Jungs herum, die Drogen vertickten. Kräftige Jungs, die man nicht lange provozieren musste. Er würde zu seiner Prügelei kommen. Bald.

Aber erstmal musste er pissen. Die zwei Bier, die er getrunken hatte, drängten schon wieder raus. Jan wollte sich erst an den nächstbesten kümmerlichen Baum stellen, doch dann hatte er eine bessere Idee. Ein seltenes Grinsen verzerrte seine Mundwinkel. Obwohl seine Blase drückte, machte er sich auf den langen Weg zum Friedhof.

 

Einige Zeit später stand er vor der dunklen Mauer. Der Wind war noch kälter als am Flussufer und er hörte die Kirchturmuhr. Dumpfes Dröhnen. Mitternacht. Ihre Schläge brandeten heran wie schwarze Wellen.

Als er kleiner gewesen war, hatte er von dem Geräusch Gänsehaut bekommen. Schiss hätte er hier gehabt, vor allem alleine. Alleine an einem gruseligen Ort wie dem Altstadtfriedhof, der aussah, als wäre er einem Horrorfilm entsprungen. Aber Jan verspürte seit Jahren keine Angst mehr. Nur noch Wut. Nur noch Hass.

Entschlossen packte er mit der linken Pranke zwischen die unregelmäßigen Steine der Friedhofsmauer. Sie war nicht hoch, höchstens dreieinhalb Meter. Mit wenigen Zügen war er hochgeklettert. Runtergesprungen. Federnd kam er auf. Seine Muskeln machten so einen Sprung mit, kein Problem. Nur seine Blase platzte fast.

Es wunderte ihn jedes Mal, wie ruhig es auf dem Friedhof war. Draußen, vor der Mauer hatte es noch Hintergrundgeräusche gegeben. Das Rauschen der weit entfernten Autobahn, Hunde, die bellten, das Sirren der Strommasten. Aber hier war nichts als das leise Flüstern der Bäume.

Er war mitten in einem Grab gelandet, zwischen Efeu und roten, flackernden Lichtern. Der Geruch nach feuchter Erde drang in seine Nase. Vor ihm lag ein Kiesweg, den er wegen des Lichtmangels nur schlecht erkennen konnte. Den kannte er. Doch, es war nicht weit. Hundert Meter von ihm entfernt lag dieser Dreckskerl und schlummerte in unverdientem Frieden.

Jan setzte sich in Bewegung und stolperte prompt über einen Stein.

»Scheißdunkel«, zischte er.

Seine Augen gewöhnten sich nur schwerfällig an die Finsternis abseits der Straßenlaternen. Der Himmel war wolkenverhangen heute, da gab es nicht mal Mondlicht. Und keine Laternen. Egal. Er ging den Weg hinunter. Der Kies knirschte unter seinen Sohlen. Noch einmal abbiegen, dann musste es vor ihm liegen, oder?

Ja, da lag die Sau.

Als Letzter in einer Reihe glänzend-hässlicher Marmorsteine. Im Sommer wurde das Grab überschattet von der riesigen Blutbuche, deren Äste sich in den Himmel reckten wie blättrige Leichenhände.

Verdammt, hier konnte er noch viel weniger erkennen. Als er auf die Stelle zuschritt, versuchte er, die Inschrift zu lesen. Klappte nicht. Es war, wie durch graue Suppe zu spähen. Aber er wusste ja, welche Lügen da standen.

Liebender Vater und Ehemann.

Von wegen.

Ein letztes Knirschen unter seinen Turnschuhen, dann sanken sie stumm in weiche Erde ein. Breitbeinig stellte er sich auf das Grab.

»Hallo Papa«, flüsterte er. »Schau mal, ich hab dir was mitgebracht.«

Genüsslich öffnete er den Hosenstall und holte sein Rohr heraus. Obwohl alles in ihm darauf drängte, loszustrullern, atmete er tief ein und betrachtete die Blumen zu seinen Füßen. Frische Blumen. Sie kam immer noch jede Woche her, und … egal. Alles egal. Er pisste los. Ein fetter Strahl traf auf die Blütenblätter und brachte sie zum Zittern. Er lenkte ihn auf den Grabstein, spülte die verlogenen Worte durch, ergötzte sich am Anblick der Bäche, die in der Erde versickerten.

»Schmeckt's, du Arschloch?«, murmelte er. »Ich hoffe, du …«

»Wer liegt da?«, fragte eine dunkle Stimme.

Jan fuhr herum. Sein Strahl machte einen Bogen und benetzte den Kiesweg.

Der Typ lag im Dunkel, so tief verborgen in den Schatten, dass Jan nur seine schweren Stiefel und einen Teil der schlanken Beine erkennen konnte. Was er ausmachen konnte, schien vollkommen entspannt zu sein. Jan blinzelte.

»Mein Alter«, sagte er, wahrheitsgemäß.

Was tat der Kerl hier? Wer brach denn nachts auf den Friedhof ein? Nur Wahnsinnige. Wahnsinnige wie er.

Der Typ pfiff träge und anerkennend. Jan sah eine Bewegung im Dunkel und erahnte, wo die Augen des Kerls waren. Da, wo es leicht schimmerte. Jan merkte, dass er immer noch auf den Kiesweg pisste. Langsam versiegte der Strahl. Aber er dachte nicht daran, seinen Schwanz sofort wieder zu verpacken. Der Typ sollte nicht denken, dass er Angst vor ihm hatte.

Plötzlich leuchtete etwas auf. Ein orangeroter Punkt in der Dunkelheit. Das Glimmen einer Zigarette, an der gezogen wurde. Helle Augen glühten. Löwenaugen. Raubtieraugen. Ein kühles Kribbeln kroch über Jans Nacken. Er war ganz alleine auf einem dunklen Friedhof mit … irgendeinem seltsamen Kerl … Egal. Alles egal. Wenn der ihm was tun wollte, würde Jan ihm jeden Zahn einzeln aus der Fresse treten.

»Und was machst du hier?«, fragte er herausfordernd. »Auch da, um Gräber zu schänden?«

»Schon.«

Eine Bewegung in den Schatten, ein katzenhaftes Räkeln. Mehr und mehr Details wurden sichtbar, je länger Jan in die Finsternis starrte. Ein helles Gesicht. Ein Mann. Ein junger Mann, vielleicht so alt wie Jan selbst.

»Aber anders als du.« Er hörte ein dreckiges Grinsen in der Stimme des Kerls.

»Was hast du vor?«, fragte Jan.

Er gab sich Mühe, gelangweilt zu klingen. Angst hatte er nicht, aber … er hatte keine Ahnung, wie er die Situation einschätzen sollte. Und das machte ihn wütend. Wie eigentlich alles ihn wütend machte.

»Na ja.«

Noch ein Glimmen. Diesmal erkannte Jan dunkle Locken über den Raubtieraugen. Ein Panther, kein Löwe. Seltsamer Gedanke. Der Typ schnipste die Zigarette weg und gähnte ausgiebig.

»Heute fiel mir auf, dass ich peinlicherweise noch nie Sex auf einem Friedhof hatte. Also habe ich mich aufgemacht, das zu ändern. Hatte sogar eine Begleitung dabei. Nadine hieß sie. Nennt sich aber Na-Demon. Ein Künstlername.«

Künstler. Auch das noch. Jan schnaubte.

»Und? Seid ihr schon fertig, du und Na-Demon?«

»Wir haben nicht mal angefangen.« Der Typ seufzte. »Wir waren hier und es sah alles ganz gut aus. Wir haben uns geküsst, angefasst, mit einem nicht unerheblichen Maß an Begeisterung und dann … hat die verdammte Turmuhr geschlagen.«

»Und?«

»Und Na-Demon ist zusammengefahren, hat geschrien und war plötzlich nervös. Hat behauptet, dass etwas Böses im Anmarsch sei. Etwas altes Böses. Bist du das zufällig?«

Der Typ klang nicht ängstlich, sondern interessiert. Jan zuckte mit den Schultern. Er hörte ein leises Lachen.

»Wenn ich was altes Böses wäre, würde ich es auch nicht zugeben. Na, jedenfalls war nichts mehr mit Erotik. Die hammerharte Nadine hat sich umgedreht und ist abgehauen. Nun liege ich ganz alleine auf diesem Grab und hatte immer noch keinen Sex auf dem Friedhof.«

»Oh nein.« Jan legte so viel Sarkasmus in seine Stimme, wie er konnte. »Und was machst du jetzt?«

Der Typ lachte leise.

»Na, ich werde mich mit dem Zweitbesten begnügen. Man nimmt, was man kriegen kann.«

Was … Jan vernahm das Geräusch eines Reißverschlusses, der heruntergezogen wurde. Seine Augen stellten sich noch einmal schärfer und er erkannte endlich die Umrisse des Kerls. Eine schlanke Gestalt, schwarz gekleidet, auf einem steinernen Grab. Ein hellerer Fleck da, wo das Gesicht sich befinden musste. Der linke Arm leuchtete fast weiß, der rechte seltsamerweise nicht und … hm, das war wohl der Schwanz des Typen, der sich da aus der Dunkelheit schälte. Seine Hände, die darüber glitten. Jan hörte leises Stöhnen.

Was … Holte dieser Kerl sich gerade einen runter? Vor ihm? War das nicht … ein Grund, ihm aufs Maul zu hauen? Aber zum ersten Mal seit fünf Jahren hatte Jan keine Lust, jemandem eine zu zimmern. Kühle Nachtluft zog über sein eigenes Rohr, das er immer noch in den Händen hielt. Ein weiteres leises Stöhnen aus der Dunkelheit. Was war das für ein Freak? Was … Mit Entsetzen merkte Jan, dass er hart wurde. Doch, zwischen seinen Fingern schwoll eindeutig etwas an. Konnte der Typ das sehen? Jan stand mehr im Licht als er und …

»Das gefällt dir, was?«

Wieder hörte er das Grinsen in der dunklen Stimme. Wer war der Kerl? Irgendein verführerischer Dämon, der hier auf dem Friedhof auf neue Opfer lauerte?

Jan zuckte mit den Schultern, weil ihm nichts Besserers einfiel. Hose zu und abhauen, dachte er. Das wird sogar mir zu seltsam. Aber da sprach der Dämon wieder.

»Komm her«, sagte er. Jan schrak zusammen und verfluchte sich gleich dafür.

»Was?«

»Du kannst mir helfen.«

»Was? Wie?«

Wieder ein leises Stöhnen. Tief. Die Hand im Dunkel fuhr weiter auf und ab.

»Es ist besser, wenn ich was drin habe. Fühlt sich anders an.« Die Stimmlage veränderte sich. Wurde rauer, unfokussierter. Jan starrte den Schemen auf dem Grab an.

»Ich soll …« Er brach ab, weil das gar nicht sein konnte.

»Mich ficken.« Ein Achselzucken in den Schatten. »Nur, wenn du willst, natürlich.«

Natürlich nicht, hätte Jan sagen sollen. Aber in seiner rechten Hand, die seinen Schwanz umschloss, zuckte es. Wuchs es. Verdammt. Dieses Ziehen und Kribbeln in seinem Unterleib war dafür, aber das war eindeutig ein Kerl und …

Ach, egal.

»Okay«, brummte er und setzte sich in Bewegung. Trat vor das Grab und erkannte wieder ein wenig mehr.

Das Gesicht des Kerls und sogar den sarkastischen Ausdruck darauf.

»Okay? Hui, so begeistert war ja noch nie einer.«

Jan wusste nicht, was er sagen sollte. Er stand da wie versteinert, sein harter Schwanz ragte aus der Hose, aber die Hände baumelten nutzlos hinab. Der Dämon legte den Kopf schief.

»Hast du das schon mal gemacht?«, fragte er.

»Klar«, behauptete Jan. Stimmte ja auch.

»Wie oft?«

»Zweimal.« Mist, warum sagte er die Wahrheit?

»Und, wie war's?«, fragte der Typ.

Keine Ahnung, ich war zu betrunken, dachte Jan. Aber laut sagte er: »Gut.«

»Na dann …« Mehr helle Stellen. Der Kerl streifte die Hose ab. Jan schluckte. Hart. Das Ziehen in seinen Lenden verstärkte sich, bis es fast unerträglich wurde. Schon spürte er den ersten Tropfen von der Eichel perlen. Und der Kerl sah es wohl auch.

»Du kannst in mich rein, aber beweg dich nicht, klar? Nicht, bis ich gekommen bin.«

»Aber …«

»Junge, du würdest sofort abspritzen, das seh ich doch.« Der Typ schnaubte leise. »Du bist ja jetzt schon kurz davor.«

Jan wollte protestieren. Aber der Typ hatte recht und außerdem … hatte Jan keine Ahnung, was er tat. Was diese seltsame Aktion sollte, warum der Kerl wollte, dass er ihn vögelte … er wusste ja nicht mal wirklich, wie der aussah.

Immerhin erkannte er nun, warum er dessen rechten Arm nicht gesehen hatte: Der war fast schwarz. Ein Tattoo. Was für eins? Keine Ahnung. Es verschwand in dem dunklen Shirt, das der Kerl trug.

Ein Knistern. Der Dämon richtete sich auf und drückte Jan etwas in die Hand. Ein kleines Quadrat mit gezackten Rändern. Oh.

»Überziehen«, befahl der Kerl.

Jan zögerte einen Moment lang. Wind kühlte seinen nackten Prügel und er fragte er sich, was er hier eigentlich tat. Aber dann riss er die Packung auf und zog das glitschige Kondom heraus. Mit einiger Mühe streifte er es über, immer wissend, dass die Raubtieraugen ihn dabei beobachteten.

Er fühlte sich beinahe … verletzlich. Nein. Tat er nicht. Wenn er je etwas fühlte, dann war das Wut. Als er das Kondom endlich auf sein Rohr gerollt hatte, war seine Hose heruntergerutscht und der kalte Hauch ließ seine Arschbacken frösteln.

»Bereit?«, knurrte er und sah, so bedrohlich er konnte, auf diesen komischen Sex-Dämon hinunter. Zähne blitzten im Dunkel auf. Ein Lächeln?

»Du kannst es kaum erwarten, was?«

»Klappe.«

Ein spöttisches Schnauben. Mehr helle Haut kam zum Vorschein. Der Kerl hatte die Hose ganz abgestreift, über die dunklen Stiefel hinweg. Wieder knisterte etwas, dann fuhr der andere mit der Hand zwischen seine Beine, eine Bewegung, die Jan nicht deuten konnte.

Er schluckte. Nicht, dass daran Zweifel bestanden hätten, aber das war eindeutig ein Mann, der da mit gespreizten Beinen und hartem Schwanz vor ihm lag. Aber … er war doch nicht schwul, oder? Nur hatte er irgendwie Lust auf diesen seltsamen Schattenmann.

»Komm her und mach dich an die Arbeit«, kommandierte der Dämon und Jan gehorchte auch noch. Er unterdrückte ein Ächzen, als sein lädiertes Knie in die weiche Graberde sank. Genau zwischen die Schenkel des …

Oh Gott. Die Hand des Kerls war hervorgeschossen und hatte Jans Schwanz gepackt. Erstaunlich warme Finger, die einen Glühwürmchenschwarm durch seinen Schritt sandten. Er wollte das Stöhnen unterdrücken, aber es drang unaufhaltsam zwischen den Lippen hervor. Ein weiteres folgte, als der Dämon ihn zu sich heranzog, Jans Rohr zwischen die hellen Backen dirigierte.

Jans Hände landeten links und rechts von dem schwarzen Stoff des Shirts. Oh Mann. Er konnte sich kaum an seine besoffenen One-Night-Stands erinnern, aber … so hatte er sich nicht dabei gefühlt, da war er sicher. So nervös und kribblig.

»Denk dran«, sagte die dunkle Stimme. »Erst komme ich, dann du. Verstanden?«

Jan wollte etwas Kluges erwidern, war aber zu sehr damit beschäftigt, das lustvolle Ziehen in den Eiern zu unterdrücken.

»V-verstanden«, ächzte er.

»Gut. Dann mal hereinspaziert.«

Sehr witzig … Oh Mann. Oh, verdammt. Seine Eichel stieß gegen etwas. Etwas Warmes. Das war … Jan atmete tief ein. An den Hüften spürte er nackte Schenkel. Auf seinem Schlüsselbein den Atem des Dämons. Aber alles in ihm konzentrierte sich auf diesen winzigen Punkt, an dem seine Spitze zwischen den Backen des anderen steckte.

Er stieß die Luft aus, befahl sich selbst, nicht zu kommen und schob die Hüfte vor. Drang ein.

»Oh, Fuck«, murmelte er. »Fuck, Fuck, Fuck …«

»Was?«, fragte der Kerl. »Bist du …«

»So eng.« So verdammt eng.

Jan hatte das Gefühl, dass er von der Hitze da unten zerquetscht würde, und es fühlte sich einfach nur geil an. Der Orgasmus drängelte, schrie ihm zu, endlich loszulegen, zu stoßen, bis er nicht mehr konnte. Aber er beherrschte sich. Millimeter um Millimeter schob er sich in die enge Spalte. Bis es nicht mehr weiterging. Sein Atem war krampfhaft ruhig.

Einen Moment lang spürte er nichts als den Kanal, der seinen Schwanz fast zerdrückte. Die Hitzewelle, die in ihm aufstieg. Dann nahm er wieder mehr wahr. Das trockene Rauschen der Bäume. Den kalten Hauch, der über seinen nackten Hintern strich. Den Schmerz im Knie, die modrige Erde unter den Händen. Die Schenkel, die der Dämon um ihn geschlungen hatte. Den harten Pfahl, der gegen seinen Bauch drückte und das T-Shirt hochschob. Und er sah den Kerl unter sich, besser als zuvor. Ein Engelsgesicht blickte ihm entgegen, mit spöttisch verzogenen, geschwungenen Lippen.

»Nicht schlecht«, sagte der himmlische Dämon und Jan roch den Zigarettenrauch auf seiner Zunge. Seltsam … gut. »Bleib einfach so.«

Die Finger des Kerls glitten abwärts, fast bis dahin, wo das sehnsuchtsvolle Ziehen Jan beinahe verbrannte. Der Dämon packte sein Teil, lehnte sich entspannt zurück und begann, die Hand zu bewegen. Jan spürte, wie sie seinen Bauch streifte. Kitzelte. Auf und ab.

Beeil dich, dachte er. Seine Eier zogen sich zusammen und alles in ihm flehte ihn an, endlich loszuspritzen. Scheiße, so hart war das nie gewesen. Nie war etwas so stark gewesen wie die Wut, und …

»Mmmh ..« Ein genießerisches Stöhnen. Der Dämon legte den Kopf in den Nacken.

Schneller, wollte Jan schreien, aber er riss sich zusammen. Rührte sich nicht. Schlimm genug, dass jede kleine Bewegung des Kerls Stromstöße durch seinen eingezwängten Pfahl sandte.

Durchhalten, dachte Jan. Durchhalten. Vor dem Mistkerl machst du dich nicht zum Arsch. Du … Der Gedanke durchzuckte ihn wie ein frostiger Blitz. Du hast gerade Sex mit einem Mann! Ist das nicht irgendwie … schwul? Jan schluckte. Bestimmt nicht, dachte er. Das … sieht ja keiner.

Immerhin verringerte es die Erregung ein wenig, wenn er sich vorstellte, was seine Kollegen dazu sagen würden, dass er einen Kerl vögelte. Auf dem Friedhof.

Er blickte hinab auf den Typen, der sich unter ihm wand. Dessen immer lauter werdendes Stöhnen die Luft aufwirbelte und Jans Wangen kitzelte. Dessen genüsslich langsame Handbewegungen seinen Bauch streichelten …

Durchhalten. Einatmen. Ausatmen. Einatmen …

»Aah …«

Weiße Zähne blitzten. Kein Lächeln. Der Typ bog den Rücken durch, sein Mund öffnete sich, als wollte er etwas darin aufnehmen, Jan hoffte schon, dass er … Aber die Bewegungen des Dämons gingen weiter. Als die Zähne das nächste Mal funkelten, grinste er zu Jan hoch.

»Na, hältst du durch?«, stieß er zwischen zwei schweren Atemzügen hervor.

»Na klar«, zischte Jan. Dann stieg der Geruch zu ihm auf. Frischer, köstlicher Schweiß vermischte sich mit dem schweren Geruch nach Erde. Er biss die Zähne aufeinander. Sah den Kerl, der immer noch hochblickte, wütend an.

»Brauchst du immer so lange?«, fragte er.

»Hey, ich bin ein Genießer.«

Ein spöttisches Lächeln. Die Handbewegungen beschleunigten. Der überlegene Ausdruck verschwand. Lider mit dunklen Wimpern senkten sich und Jan achtete auf nichts anderes mehr als die Lust, die die Miene des Dämons weicher machte. Die Zähne, die sich in die Unterlippe gruben.

Seine linke Hand schoss plötzlich hoch und krallte sich in Jans Shirt. Schmerzhaft kratzten seine Nägel über die Brust, aber Jan konnte was vertragen. Fasziniert beobachtete er, wie der Kopf des Typen hin und her rollte, die Erde unter sich aufwühlte. Er spürte die Anspannung in den Schenkeln, um die Hüfte, in den Muskeln, die sich verhärteten. Das Stöhnen wurde drängender, ging in hektisches Atmen über. Zitternde Lippen, flatternde Augenlider. Der Kerl warf den Kopf in den Nacken, drückte den Rücken durch, erbebte … Weiße Flecken erschienen. Auf dem dunklen Stoff. Und auf Jans Shirt. Ein warmer Tropfen traf sein Kinn.

»Hey, was soll …«

Er schaffte es nicht, wütend zu werden. Dann hätte er verpasst, wie der Dämon zurück in sein Bett aus feuchter Erde sank, ein letztes Mal erschauerte, beide Hände sinken ließ … und die Augen öffnete.

Sein Atem ging schwer.

»Gut …«, murmelte er. Blinzelte. »Richtig gut. Scheiße, ich fühl mich, als ob … man mich zum Mond und zurück geschleudert hätte.«

Schön für dich, dachte eine Stimme, ganz hinten in Jans Kopf. Das hätte ich jetzt auch gern.

Aber etwas anderes war in den Vordergrund gerückt. Die Lust, den Kopf zu senken und einen unheimlichen schwulen Sex-Dämon zu küssen.

Der Typ zuckte zusammen, als Jans Lippen seine berührten. Etwas, das fast wie … Unsicherheit wirkte, lag mit einem Mal in seinen Zügen. Er blinzelte erneut. Jan wartete, ob er sich beschweren würde, aber nichts kam. Also machte er weiter. Stupste noch einmal gegen die weiche Wärme, knabberte an der Unterlippe. Weiter unten schrie sein Schwanz ihm zu, dass er losrammeln sollte. Der Kerl war gekommen, also durfte Jan ja jetzt auch … Aber er wollte nicht. Okay, er wollte, unbedingt, aber … noch nicht.

Erstmal musste er den Mund auf den des anderen Kerls pressen. Er schloss die Augen, um nur noch zu fühlen. Die Hitze, das leicht salzige Innere, in das er mit der Zunge stieß, den rauchigen Geschmack. Die Glätte. Und die schlanke Zunge, die sich überraschend um seine wand. Sie umspielte sie, so schnell und geschickt, dass ihm schwindlig wurde.

Er senkte seinen schweren Körper auf den schmalen hinab. Schmal, aber stark. Er spürte harte Muskeln am Bauch, und … den immer noch halbsteifen Schwanz, dessen Nässe durch sein Shirt suppte. Geil.

Verdammt, der Kerl, dieser seltsame Dämon mit den Raubtieraugen, konnte küssen. Jan jagte nach seiner Zunge. Jedes Mal, wenn sie seine berührte, erbebte er. Zu dem lustvollen Ziehen im Unterleib gesellte sich das Hämmern seines Herzens, das wunderbare Gefühl des warmen Leibs unter seinem, das der geschickten Finger, die durch seine kurzen Haare strichen. Erst, als er glaubte, zu ersticken, löste er die Lippen von denen des anderen. Atemluft kitzelte seine Zunge.

»Willst du nicht kommen?« Die dunkle Stimme war überraschend unstet. Rau und lüstern, aber so wackelig, als hätte Jan ihn mit seinem Kuss total aus dem Konzept gebracht. Er grinste. Kitzlige Vorfreude tobte durch seinen Körper.

Dir zeig ich's, dachte er.

»Gleich.« Er griff mit der Linken in die verschwitzten Locken des Dämons. »Noch ein bisschen.«

»O-okay.«

Ein Zucken. Unten. Erst glaubte Jan, das wäre er gewesen, aber … oh. Der Prügel des Kerls füllte sich wieder mit Blut. Prall drückte er gegen sein Shirt.

»Gefällt dir das?«, schnurrte Jan und der Kerl lachte heiser auf.

»Wenn du das nicht merkst, bist du noch jungfräulicher, als ich dachte.«

»Ich bin nicht jungfräulich.« Er spürte, wie die Hitze in seine Wangen kroch.

»Hast du schon mal einen anderen Kerl bestiegen?«, fragte der Dämon.

Jan schwieg. Hörte ein Schnauben, das ihn ganz schön nervte und dann redete der Blödmann weiter.

»Na also. Fühl dich offiziell entjungfert. Du kannst dich später bedank…«

Jan presste seine Lippen auf die des Dämons. Packte ihn am Hinterkopf, um ihm noch näher zu sein. Kräftige Arme schlangen sich um seinen Nacken. Oh. Ja. Der Typ kippte das Becken, drängte sich noch enger an ihn und ein heißer Rausch fuhr durch Jans Unterleib. Es ging nicht mehr. Wenn er sich jetzt nicht rührte, würde er explodieren. So langsam er konnte, hob er den Hintern und stieß zu.

»Ah!« Er wusste nicht, wer von ihnen geschrien hatte. Aber es war der Dämon, der den Kuss unterbrach, die Stirn gegen Jans Schläfe drückte und in sein Ohr keuchte.

»Mach!«, stöhnte er. »Leg los.«

Jans Hüften bewegten sich wie von selbst. Während seine Arme sich durch die Erde gruben und fest um den Rücken des anderen Kerls schlangen, pumpte er in die Enge hinein, spürte den Orgasmus aufsteigen, verzögert und stückweise. Wie ein Glühwürmchen, das hochflog. Ein weiteres folgte.

Beherrsch dich, schrie es in seinem Kopf. Langsam, du …

Aber der Mistkerl unter ihm bewegte sich mit. Sein Unterleib bockte vor und zurück, im selben Rhythmus wie Jans, sein harter Prügel rieb zwischen ihnen hin und her und die Enge ließ Jan den Verstand verlieren. Ein hilfloses Wimmern, für das er sich später verdammt schämen würde, entkam seinen Lippen, aber … der Dämon wimmerte noch lauter.

»Ja«, flüsterte er. »Jetzt …«

Es ging nicht mehr. Blitze zuckten durch Jan. Er stieß zu, rammelte los wie ein Wilder, spürte den Leib unter sich beben … und kam. Die Erlösung flutete seinen Körper. Er glaubte, zu fühlen, wie er das Kondom füllte, irgendwo da unten in diesem engen Paradies. Erst als das Geräusch verklungen war, fühlte er, wie laut er gebrüllt hatte.

»Oh …«, schnurrte der Dämon. »Das … war noch besser.«

Er klang, als sei er in einen Orkan geraten. Längst nicht so selbstsicher wie vorhin, aber viel zufriedener. Er war zum zweiten Mal gekommen. Jans Shirt war vollkommen durchtränkt, aber mittlerweile war es ihm egal. Er wollte hier bleiben, für immer in dem Kerl stecken, nie wieder gehen …

Plötzlich war das Gesicht des Dämons hell erleuchtet. Kalt und künstlich erleuchtet, aber das tat der Wirkung keinen Abbruch.

Heilige Scheiße, ist der schön, dachte Jan, ein Gedanke, für den er sich später noch viel mehr schämen würde als für sein Gewimmere. Ein Engelsgesicht. Klare, dicht bewimperte Augen, die trotzdem maskulin wirkten, kantige, elegante Formen, wunderbar wirre Locken und dieser Mund … Wie eine Rosenblüte. Jans Herz verpuffte.

»Hey!« Eine schrille Stimme. Männlich. Nah. »Was tun Sie da?«

»Fuck.« Sein Schwanz wurde aus dem Paradies vertrieben, als sie aufsprangen.

Jan lief los und stolperte fast über die Hose, die ihm in den Kniekehlen hing. Mit einer Hand zog er sie hoch. Hinter ihm erstrahlte ein Licht. Eine Taschenlampe. Friedhofswärter. Da war das Licht hergekommen.

»Da lang!«, rief der Dämon und deutete auf den Kiesweg. Jan wandte sich um und sprintete los. Seine Hand hielt den Hosenbund. Erst, als er schon fast an der Mauer war, merkte er, dass der Dämon ihm nicht folgte. Er sah den Schein der Taschenlampe auf sich zukommen. Weit hinten, zwischen den Buchen, sah er ein schwächeres Leuchten. Nackte Beine und ein, soweit er das beurteilen konnte, perfekter Hintern verschwanden zwischen den Büschen. Der Dämon lief in die andere Richtung davon. Schlau.

Bevor der Wärter zu nah kam, griff Jan in die Mauer und zog sich hoch. Blitzschnell hatte er das Hindernis überwunden, war auf der anderen Seite gelandet und rannte über die verlassene Straße. Fort, nach Hause. Seine Schritte hallten von den düsteren Häuserwänden wieder.

Scheiße, was ist da gerade passiert?, dachte er, als er endlich Zeit hatte, zu denken. Er kauerte sich in einen Hauseingang und schnappte nach Luft. Etwas schien seinen Schwanz herunterzukrabbeln und er merkte, dass das Kondom die ganze Zeit gehalten hatte. Bis jetzt. Mit einem leisen Fluch erwischte er es, bevor es vollkommen heruntergleiten und die Hose vollsauen konnte. Obwohl, viel schlimmer konnte es eh nicht werden, wenn er sein Shirt so betrachtete. Das sah aus, als ob ein Topf Sahne darauf explodiert …

Etwas fehlte.

Jan lauschte in die Dunkelheit. Lauschte in sich hinein. Versuchte, die Leere zu finden, sich zu erinnern, was an ihrer Stelle gewesen war.

Oh.

Die Wut war weg. Die Wut, die seit fünf Jahren sein ständiger Begleiter war. Die ihn vor sich hertrieb, ihn nie verharren ließ, jeden seiner Tage bestimmte. Sie war verschwunden. Zusammen mit dem Dämon.

Nathan

 

Als Nathan die Küche betrat, wehte ihm ein ungewöhnlicher Geruch entgegen. Essensduft. Was?

Kor und Charles saßen engumschlungen am Küchentisch vor den Resten von etwas, das eindeutig eine Mahlzeit gewesen war. Kochten sie jetzt auch noch? Auweia. Kor hing auf Charles' Schoß und versuchte, sobald Nathan hereinkam, sich hastig von ihm zu lösen. Aber Charles ließ das nicht zu.

»Nathan.« Kors Stimme war eine Oktave höher als sonst. Und seine Wangen mindestens eine Schattierung dunkler. »Wie … Wo kommst du denn her?«

»Ja, und warum jetzt?« Charles' Augenbraue wanderte ein Stück nach oben. Immer noch hielt er den zappelnden Kor fest.

»Wieso, wolltet ihr gerade auf dem Küchentisch Unzucht treiben?« Nathan grinste breit. »Tut euch keinen Zwang an. Aber ich kenne seit eben was Besseres.«

»Was?«, fragte Charles, aber Kor unterbrach ihn.

»Was ist passiert? Hast du dich geprügelt?« Seine Welpenaugen wurden noch größer.

»Hä?« Nathan sah an sich herunter.

Oh. Er war voll Erde. Friedhofserde. Sie klebte an seiner Hose, dem schwarzen Shirt und, jetzt, wo er sie bemerkte, juckte sie auf seiner Kopfhaut. Seltsamerweise machte es ihm nichts aus, dass sie den Boden vollbröselte. Das Grinsen auf seinen Lippen wurde nur noch breiter.

»Ne, ich hatte Sex. Auf dem Friedhof. Das war das Geilste, was ich je erlebt habe!«

»Auf dem …« Kor sah ihn mit einer Mischung aus Entsetzen und Neugier an. Hauptsächlich mit Entsetzen.

»Es war der Hammer!« Lachend schwang Nathan sich auf den freien Küchenstuhl. »Ich werd nie wieder woanders vögeln. Dabei war der Kerl eine halbe Jungfrau, na, fast 'ne ganze, aber ich bin noch nie so gestoßen worden. Immer genau auf den Punkt.«

Er machte Handbewegungen, um seine Geschichte zu verdeutlichen, die Kor die Röte in die Wangen trieben.

»Das, äh, ist schön …«, sagte er, und bemühte sich offensichtlich, Verständnis aufzubringen. Charles tat das nicht.

»Glückwunsch. Und jetzt hör auf, alles mit Erde vollzukrümeln, vor allem meinen Lieblingsstuhl, und geh duschen.«

Nathan schnaubte.

»Du bist so ein Spießer, seit du einen Freund hast. Seit wann hast du einen Lieblingsstuhl?«

»Seit wir es darauf getrieben haben.« Charles grinste breit. »Vorhin.«

Kor lief dunkelrot an. Nathan lachte.

»Immerhin. Schon gut, ich geh duschen.« Er gähnte. Putzen konnte er später. »Und dann hau ich mich hin. Aber morgen bequatschen wir, wie wir einen Drummer finden, klar? Wir zögern das schon ewig hinaus, weil ihr immer mit Rumbusseln beschäftigt seid.«

»Ja, ja.« Charles grinste. »Immer, wenn wir das besprechen wollen, bist du verschwunden. Auf den Friedhof zum Beispiel.«

»Das muss ich unbedingt wiederholen.« Nathan lächelte verzückt. »Aber ich glaube, ich habe genug für die nächsten … zwei Tage. Kümmern wir uns morgen um die Band.«

»Super.« Kors Lächeln war so strahlend, dass selbst Nathans Herz ein wenig gewärmt wurde.

Der Kleine war so ehrlich. Ganz anders als zwei abgewrackte Gefühlskrüppel wie Charles und er. Na ja, Charles schien sich langsam selbst zu reparieren. Der Blick, mit dem er Kor betrachtete, sprach Bände.

Nathan machte, dass er aus der Küche kam. Noch immer brannte sein Arsch und noch immer spürte er die Nachwirkungen des zweiten Orgasmus. Weiche Knie und ein Herz, das beschleunigte, sobald der Geruch, den der Kerl auf ihm hinterlassen hatte, in seine Nase stieg. Fast bedauerte er, dass er ihn nie wiedersehen würde. Aber das hätte eh nichts gebracht.

Jeder nur einmal, dachte Nathan. Man braucht feste Prinzipien, wenn man ein aufrechtes Leben führen will.

 

Jan

 

»Und wenn ihr … wenn ihr Probleme habt oder einfach nur reden wollt, dann … dann kommt zu mir. Meine Tür ist immer offen.« Die magere Frau drehte ihre Serviette in den schweißnassen Händen. »Also, außer, wenn sie zu ist, dann rede ich gerade mit jemand anderem, aber das seht ihr ja dann an dem Schild.«

Sie verschluckte sich, hustete, wurde rot und setzte sich. Und sprang wieder auf.

»Danke«, murmelte sie, so leise, dass Jan es kaum hören konnte. Erbärmlich. Sie setzte sich wieder und der monatliche Vortrag war vorbei. Erleichtertes Gemurmel überall. Die ganze Kantine schien aufzuatmen.

»Mann, Mann.« Wulle schüttelte den Kopf. »Dass dafür Geld ausgegeben wird. Eine eigene Psychotante. Die sollten mal lieber unsere Gehälter erhöhen.«

»Genau.« Jan stieß die Gabel in sein Steak, dass der Teller klirrte. »Bis Monatsende wird's knapp bei mir. Und ich hab den Wagen immer noch nicht abbezahlt.«

»Was, die Schrottkarre?« Wulle lachte. »Hast du etwa mehr als 'nen Zwanni dafür abgedrückt?«

Jans Blick ließ ihn augenblicklich verstummen und unruhig auf seinem Platz hin- und herrutschen. Jan knurrte leise.

»Das Miststück ist schon wieder liegengeblieben«, gab er zu. »Wenn das so weitergeht, habe ich mehr für die Reparatur gezahlt als für die Karre selbst.«

»Versteh eh nicht, warum du dir den Hobel zugelegt hast«, sagte Wulle und kratzte den letzten Rest Kartoffelbrei vom Teller. »Weiber beeindruckt man damit nicht … Ist ja deine Sache«, fügte er hastig hinzu.

»Hm.« Jan hoffte, dass die Mistkarre es wenigstens noch ein Jahr lang machen würde. Aber die war zurzeit nicht sein größtes Problem.

Seit Freitagabend war ein Verdacht in ihm aufgekeimt, über den er nicht nachdenken wollte. Ein ganz leiser Zweifel bezüglich seiner … Orientierung. Er ließ den Blick über die Reihen schweifen. Kräftige, gebeugte Kerle, die labbrigen Fraß in sich hineinschaufelten. Der Geruch nach ranzigem Fett hing in der Luft. Fast nur Kerle. Na ja, so war das Leben als Metallbaulehrling.

Ob er mit einem von denen … Vorstellen konnte er sich das schon. Es kam ihm nicht abwegiger vor, mit einem Mann zu schlafen als mit einer Frau, egal, wie, na ja, schwul das wäre. Er hatte vorher nie darüber nachgedacht. Es war ihm gar nicht in den Sinn gekommen, dass …

Mädchen hatten ihm schon gefallen, und wenn er die Muskeln von einem anderen Kerl bewundert hatte, war das doch ganz normal gewesen, oder? Natürlich. Na klar. Er war ja nicht … Nein. Auf gar keinen Fall.

Nicht nachdenken, befahl er sich.

Und da war noch die andere Sache. Die ihm, wenn er ehrlich war, viel mehr Kopfzerbrechen bereitete.

Während er mit diesem arroganten Dämonenhonk zugange gewesen war, war er nicht wütend gewesen. Zum ersten Mal, seit er denken konnte. Seit damals, als …

Er schluckte. Was bedeutete das? Und vor allem: Wie konnte er das zurückkriegen?

Es war so schön gewesen. So friedlich. Also nicht das Gerammel auf dem Friedhof, aber das Gefühl dabei und danach. Das Fehlen des Hasses hatte ihn all das spüren lassen, was die Wut sonst überlagerte. Als wäre die ein mieser Schulhofschläger, in dessen Abwesenheit sich alle anderen Gefühle endlich wieder trauten, die Köpfe zu heben.

Er war heimgegangen und hatte ein Lied gepfiffen. Er! Ein Lied! Um Mitternacht hatte er noch die Küche geputzt. Und … Überhaupt, wann war er das letzte Mal um Mitternacht daheim gewesen? Nach zwölf fanden schließlich die besten Schlägereien statt.

Aber er hatte sich nicht danach gefühlt, jemandem eine reinzuhauen. Und das war angenehm gewesen. Lag das an diesem Dämon? Seit wann verbreiteten die Typen Glück und Frieden? So hatte der gar nicht gewirkt, nur …

Na ja, hatte nicht gehalten. Als Jan am Samstag erwacht war, war der Hass wieder dagewesen. Als wäre er nie verschwunden. Gut, dass heute Abend Boxtraining war, da konnte er ihn wenigstens lindern.

»Meint ihr, ich soll mal zu der Psychotante reingehen?«, fragte Nick. Jan seufzte. Das Thema wieder. »In ihre«, Nick bewegte die Hüften vor und zurück, »offene Tür?«

Der ganze Tisch lachte.

»Die hat eh nichts Besseres zu tun«, sagte Wulle missmutig. »Da geht doch keiner hin. Oder habt ihr schon mal jemanden da gesehen?«

Alle schüttelten den Kopf.

»Totale Geldverschwendung«, murrte Jan und stieß die Gabel in das letzte Stück Fleisch auf seinem Teller. Viel zu wenig, wie immer.

 

Später, als er an der Bohr-Fräsmaschine stand, musste er wieder an die Nacht auf dem Friedhof denken. Erneut stiegen der modrige Geruch von Erde und der geile Geruch von Schweiß in seine Nase, obwohl es hier in der Halle nach Metall und Verbrennung roch.

»Scheiße«, murmelte er. »Was war das für ein Typ?«

Und wie kann ich ihn wiedersehen?

Äh, nein, nicht wiedersehen. Er war ja nicht … Das war alles nur passiert, weil er zuviel getrunken hatte. Bestimmt. Außerdem hatte er nicht mal den Namen von dem Kerl, geschweige denn eine Nummer. Nicht, dass er die wollte …

Sebi marschierte an seinem Arbeitsplatz vorbei. Ein Lehrling wie er, ein Jahr unter ihm. Schwarz gekleidet, kräftig und tätowiert. Hm.

»Sebi!«, rief Jan und der drehte den Kopf. Leises Misstrauen flackerte in seinem Blick, aber als echter Kerl ließ er sich natürlich nichts anmerken.

»Was los?« Sebi grinste.

»Wo gehen Typen wie du eigentlich hin?«, fragte Jan.

»Typen wie ich?« Zwischen Sebis fleischigen Stirnwulsten entstand eine Falte. »Wie meinst'n das?«

»Na, so Tätowierte mit schwarzen Klamotten«, sagte Jan und war schon wieder total genervt, weil das so lange dauerte.

»Äh.« Sebi überlegte. »Also meistens bin ich in der Rockforge, wenn du das meinst. Freitags gibt's da Bier zum halben Preis.«

»Hm. Klingt gut.« Jan zögerte einen Moment. »Nimm mich mal mit.«

»Was?« Sebi riss die Augen auf. »Auf gar keinen Fall! Wenn du da Ärger machst, krieg ich Hausverbot! Die Türsteher sind da so dermaßen knallhart …«

»Dann mach ich halt keinen Ärger«, knurrte Jan. »Kein Problem.«

»Wohl!« Ein feiner Schweißfilm erschien auf Sebis Stirn. »Machst du immer. Ich hab das doch gehört. Du hast dich sogar auf der Weihnachtsfeier geprügelt und sie hätten dich fast rausgeworfen.«

»Sebi.« Jan legte seine Hand auf Sebis Schulter und der erstarrte. Aus kugelrunden Augen sah er zu Jan auf. »Wer hat dir geholfen, als du die ganzen Bleche nicht alleine tragen konntest? Und wer hat dich nicht verpfiffen, als du Nicks Wurstbrot aus dem Kühlschrank geklaut hast?«

»Du, ja schon, aber weißt du …« Sebi schluckte. »Die Rockforge, die … ist mir wichtig. Die Musik und die Leute. Das sind meine echten Freunde, und wenn sie mich da rauswerfen, weiß ich nicht, was ich machen soll.«

Jan knurrte leise. Am liebsten hätte er Sebi geschüttelt, diesen Trottel, aber … Er erinnerte sich daran, dass Musik ihm auch mal etwas bedeutet hatte. Damals, bevor der Alte abgekratzt war. Lang her.

»Mann, das versteh ich doch.« Er versuchte ein beruhigendes Nicken. »Ein Vorschlag: Du bringst mich da hin und ich lass dich in Ruhe. Wenn ich Ärger anfange, bist du weit weg, okay? Musst mir nicht mal helfen.«

Sebi presste die Lippen aufeinander. Doch nach ein paar endlosen Sekunden nickte er.

»Okay«, murmelte er. »Aber sobald du drinnen bist, bist du auf dich allein gestellt.«

»Kein Ding«, sagte Jan. »Ich zieh mir sogar was Schwarzes an.«

 

Es war nicht schwarz genug. Jan hatte gedacht, ein schwarzes Shirt und dunkle Jeans würden reichen, aber … Er passte nicht hier rein. Zwischen all den stachelbesetzten Tätowierten sah er in seinen Turnschuhen aus wie ein Dorfproll. Egal. Wenn die ihm blöd kommen würden, konnte er ihnen ja eine reinhauen. Wie immer.

Er klappte den verbeulten Spind zu, in den er seine Jacke gestopft hatte (praktisch!) und drängte sich durch die Menge.

Langgezogenes Gitarrenjaulen erfüllte die Luft und erinnerte ihn an damals. Verdammt lang her. Wäre er einer von diesen Kerlen hier geworden, wenn sie weitergemacht hätten? Einer wie der Muskelberg da hinten, der seiner Freundin gerade ein Bier brachte? Oder einer von den kräftigen Typen, die in einer Dreiergruppe herumstanden und allen, die vorbeigingen, böse Blicke zuwarfen? Oder wie der Typ da, der mit einem Mädel im Arm unter der Treppe stand …

Ne, der war zwar stark, aber ein Schönling. Die blonden Haare hingen ihm in die Stirn und der lächelte wie … ups. Das war gar kein Mädel, zu dem der Kerl sich herunterbeugte. Das er küsste. Das war auch ein Kerl. Eigentlich offensichtlich, wenn man darauf achtete. Jan konnte sein Gesicht nicht sehen, aber der Rücken, über den eine lange, dunkle Mähne floss, war eindeutig männlich.

Die Erinnerung an den Friedhof ließ eine Gänsehaut entstehen. Dieser Dämonenkerl … Ob der wirklich hier war?

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739392929
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (August)
Schlagworte
love romance schwule deutsch boys yaoi romantik gay Romance Fantasy

Autor

  • Regina Mars (Autor:in)

In einer magischen Vollmondnacht paarten sich ein Einhorn und ein Regenbogen und zeugten Regina Mars. Geboren, um Kaffee zu trinken, lebt sie im Süden Deutschlands und erfreut die Welt mit ihren poetischen Romanen, in denen die Liebe stets gewinnt und Witze so dumm, albern und fragwürdig sein dürfen, wie sie wollen. Ihre Website, auf der sie täglich über ihr erbärmliches Schreibtempo jammert, äh, »ein Schreibtagebuch führt«: reginamars.de