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Regina Mars Collection 2

Sonnengeküsst, Ehebrecher, Sexy Versager - 3x Gay Romance

von Regina Mars (Autor:in)
619 Seiten

Zusammenfassung

Die Regina Mars Collection 2 enthält diese drei Gay Romance-eBooks: SONNENGEKÜSST Eine goldige Frohnatur wie Sunny hat keine Feinde. Eigentlich. Na ja, vielleicht gibt es jemanden, den er ein ganz klein wenig blöd findet: Luca, den Kapitän der Fußballmannschaft, dessen einziges Hobby Brüllen zu sein scheint. Dass Luca Sunny für einen erbärmlichen Waschlappen hält, macht die Sache nicht besser. Sie sind viel zu verschieden, um je Freunde zu werden. Leider werden sie Stiefbrüder. Und Sunny findet heraus, dass sie mehr gemeinsam haben, als er dachte. Sehr viel mehr. Ist ihre Patchworkfamilie vielleicht doch ein Glücksfall? Ist sein nerviger Stiefbruder netter als es scheint? Mag sein, aber Sunny wird sich ganz bestimmt nicht in ihn verlieben. Nie. Auf gar keinen Fall. EHEBRECHER Liebe passt nicht in seine Pläne. Seit seine Adoptivmutter starb, ist es Gabriels einziger Lebensinhalt, ihr Vermögen zusammenzuhalten. Bis Vin in sein Leben tritt. Der ist der Bruder der Betrügerin, die Gabriels Bruder heiraten will: tätowiert, muskulös, gefährlich ... und unglaublich heiß. Außerdem haben sie ein gemeinsames Ziel, also steht einer Zusammenarbeit nichts im Wege, oder? Vin muss verhindern, dass seine Schwester nur des Geldes wegen einen windigen Volksmusik-Moderator heiratet. Selbst, wenn dessen Bruder aussieht wie ein Superschurke und Vin schon immer eine Schwäche für Superschurken hatte. Aber vielleicht kann Gabriel ihm helfen, die Ehe zu verhindern? Und vielleicht können sie eine harmlose, kleine Affäre miteinander haben? Doch wenn Gabriel und Vin beteiligt sind, bleibt nichts harmlos oder klein. Und schon bald sind sie gefangen in einem Wirbelsturm aus Intrigen, Mordanschlägen und der größten Gefahr von allen: der Liebe. SEXY VERSAGER Ben, mürrisch, hochintelligent, Jahrgangsbester seines Chemiestudiums, ist ein Versager. Marek, sein gutaussehender Konkurrent, auch. Außerdem können sie sich nicht leiden, was weniger an ihnen selbst liegt als an ihrer schwierigen Vergangenheit. Allerdings haben sie, abgesehen von ihrem Callcenter-Job, noch ein gemeinsames Problem: Sie sind schlecht im Bett. Können sie sich gegenseitig helfen? Kann aus Abneigung Liebe werden? Oder ist alles, was Ben und Marek anfassen, zum Scheitern verurteilt? Alle Storys enthalten M/M-Erotikszenen und alberne Witze. Das ist keine Warnung, sondern ein Versprechen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1. *** SONNENGEKÜSST ***

 

1.1 Begegnung im Schnee

 

Ja, das war er.

Luca Wolf. Kapitän der Fußballmannschaft. Ein Meter achtzig pure Wut und jemand, der nie sprach, sondern stets aus vollem Halse brüllte. Gerade lag er allerdings bäuchlings im Schnee, alle viere von sich gestreckt.

Sunny beobachtete ihn unschlüssig. Lebte der Kerl noch? Ja, seine Nasenflügel weiteten sich und weiße Flocken stoben in einer Dampfwolke auf. Immerhin. Der Rest von Lucas muskelbepacktem Körper war leider vollkommen regungslos.

Eisiger Wind zerrte an Sunnys Locken, während er überlegte, was er tun sollte. Fröstelnd blickte er sich um. Niemand war zu sehen, nicht auf dem zertrampelten Weg und nicht im Rest des kleinen Parks mit den schlanken Fichten. Weit und breit nur Schnee.

Der merkt doch gar nicht, dass du weitergehst, flüsterte eine leise Stimme in Sunnys Ohr. Sofort hatte er ein schlechtes Gewissen. Klar, er hatte Angst vor dem Kapitän, aber er konnte ihn nicht einfach hier liegenlassen.

Vorhin, in der Grillhütte, hatte das Fußballteam drei Fässer Bier und fünf Flaschen Wodka geleert. Und Luca war mittendrin gewesen, stets mit mindestens einem Pappbecher in der Hand. Selbst wenn er lachte, brüllte er. Er brüllte, sobald er den Mund aufmachte.

Irgendwie war er immer wütend. Was auch der Grund war, warum Sunny sich nicht traute, ihn zu wecken. Er rechnete damit, einen Hieb auf die Nase zu bekommen, sobald er sich zu Luca herunterbeugte.

Konnte er sich überhaupt noch bewegen? Der Kerl musste kurz vor einer Alkoholvergiftung stehen. Zumindest roch er so. Der klare Geruch des Winters mischte sich mit dem Gestank nach abgestandenem Bier und der ging eindeutig von Luca aus.

Sunny ballte die Hände zu Fäusten und stupste dem anderen Jungen mit dem Fuß gegen den Oberarm. Der rührte sich nicht.

»Hey«, sagte Sunny. »Kannst du mich hören?«

Ein unwilliges Brummen. Lucas schmale Lippen verzogen sich. Er sieht echt aus wie ein Wolf, dachte Sunny. Nein, wie ein Dobermann. Als würde er einem gleich an die Kehle springen. Kräftig genug war er auf jeden Fall. Er hatte die breitesten Schultern der ganzen Stufe.

»Du musst aufstehen«, versuchte Sunny es erneut und bemühte sich, freundlich und vertrauenswürdig zu klingen. »Es ist kalt. Wenn du hier liegen bleibst, erfrierst du.«

Luca murmelte irgendetwas in den Schnee.

»Was?« Sunny beugte sich nun doch zu ihm herunter.

»Hau ab«, nuschelte Luca.

Sunny seufzte.

»Ich kann nicht.«

»Wso?« Lucas Stimme schwankte zwischen Brabbeln und Lallen.

»Wenn ich dich allein lasse, stirbst du vielleicht.«

»Na und?« Luca öffnete ein Auge. Das linke, graue. Dass er verschiedenfarbige Augen hatte, ließ ihn nur noch gruseliger aussehen.

Er blieb liegen. Schloss das Auge wieder. Und Sunny hatte zu viel Angst, um ihn wachzurütteln. Stattdessen zog er sein Handy aus der Manteltasche und rief Alex an.

»Ja?« Wummernde Musik untermalte Alex' Stimme. Alex' wunderschöne Stimme. Sunny schluckte. Er war also noch in der Grillhütte, in der Chantal ihren Geburtstag feierte. Und wahrscheinlich hatte er Alex gerade beim Knutschen mit Chantal unterbrochen.

»Hey! Ich brauch die Nummer von Lucas Eltern«, sagte Sunny fröhlich. »Hast du die?«

»Die Nummer von … Was willst du denn damit?«

»Ich … hab ihn gefunden. Auf dem Heimweg.«

»Was? Gefunden?« Alex zögerte. »Ist er tot?«

»Ne, sturzbesoffen. Ich habe eben nicht mal mitbekommen, dass er gegangen ist. Dachte, er ist immer noch bei den Fußballern und säuft. Und jetzt liegt er hier und will nicht aufstehen.«

»Lass ihn doch liegen.« Alex schnaubte. »Er ist ein Arschloch.«

»Ich kann ihn doch nicht einfach erfrieren lassen.« Meinte Alex das ernst?

»Warum nicht? Er hat dich einen Lappen genannt.«

»Ja, aber …«

»Und ein Weichei«, sagte Alex. »Und eine Lusche und einen Versager und ein Mädchen und …«

»Ja, aber ich kann ihn doch nicht sterben lassen!«, rief Sunny. Alex' Worte pieksten in sein Herz wie winzige Nadelstiche. Er sah auf Luca herunter, der zu seinen Füßen lag und sich nicht rührte. Ja, das hatte er alles gesagt. Der Dummbeutel.

Alex seufzte.

»Wie du meinst. Ich frag mal rum.«

Die wummernde Musik wurde lauter. Sunny erkannte im Stimmengewirr Anna und Fred. Anscheinend war die Party noch im vollen Gange. Er wäre auch geblieben. Anna hatte ihn angefleht, zu bleiben, weil er der einzige Junge war, der tanzte. Aber Alex und Chantal rumknutschen zu sehen, Alex' strahlendes Lachen, wenn er mit ihr sprach … Das hatte Sunny nicht ausgehalten. Also war er aufgebrochen. Und hatte Luca gefunden, Kilometer von der Grillhütte entfernt …

Eine Bewegung zu seinen Füßen. Sunny schreckte zurück und sah, dass Luca sich aufrappelte. Seine gesamte Vorderseite war weiß, mit bröckeligem Schnee bedeckt. Schwankend kam er zum Stehen. Wischte sich über das Dobermann-Gesicht, blinzelte und ließ seinen trüben Blick umherwandern.

Ja! Sunny hätte fast geheult vor Erleichterung. Dieser Dummbeutel würde es alleine nach Hause schaffen! Er würde heimgehen und …

Luca wandte sich um, torkelte ein paar Schritte bis zum nächsten Baum und öffnete die Knöpfe seiner Jeans. Sunny sah nur seinen breiten Rücken, aber ihm war klar, was der Typ machte. Mit dem rechten Ohr hörte er Partygeräusche, mit dem linken ein leises Plätschern. Aber das war es nicht, was ihm die Hitze in die Wangen steigen ließ. Lucas Hose war ein Stück heruntergerutscht und Sunny konnte ganz klar erkennen, dass … nun, dass sein Hintern schöner war als sein Charakter. Viel schöner.

Wütend auf sich selbst drehte er sich um. Was sollte das jetzt? Luca war ein Dummbeutel, den hatte er nicht schön zu finden. Er war in Alex verliebt und …

»Hab sie!«, rief Alex in sein Ohr und Sunny machte einen Satz rückwärts. »Die Nummer von seinem Vater. Ich schick sie dir. War sonst noch was? Ich bin hier ein bisschen beschäftigt, falls du verstehst, was ich meine.« Er lachte und Sunny schloss die Augen.

»Ja, danke.« Er zwang sich, zu lächeln. »Bis … bis Montag dann.«

»Ja, bis Montag.« Klick. Alex hatte aufgelegt. Ein leises Summen kündigte an, dass Sunny die Nummer von Lucas Eltern erhalten hatte. Aber das würde nicht nötig sein. Der Dummbeutel hatte es immerhin geschafft, aufzustehen, also würde er auch nach Hause finden …

Zack.

Plötzlich lag der massige Körper des Kapitäns wieder vor Sunnys Füßen. Genau wie eben. Nur andersherum, so dass er den schmelzenden Schnee auf Lucas Brust bewundern konnte. Immerhin hatte er seinen Hosenstall geschlossen.

»Hey.« Sunny trat ihm, so sanft er konnte, in die Rippen. »Hey, du musst aufstehen. Du musst nach Hause gehen.«

Zu seiner Verwunderung hörte er ein leises Lachen.

»Binnoch nich lebensmüde«, lallte der Kapitän. »Wenn ich so heimkomme, krieg … krieg ich hundert Jahre Hausarrest. Minnestens.«

»Aber …«

»Ich warte hier, bis mein Vater schlafen geht. So um … eins.« Luca schloss die Augen. Sunny sah auf sein Handy. Es war noch nicht mal halb zwölf.

Er rieb sich über die Nasenwurzel und rief Lucas Vater an. So langsam wurde es ungemütlich. Eisige Kälte kroch durch den Stoff seiner Jeans und griff nach seinen Knochen. Bibbernd betrachtete er die Dampfwölkchen, die seinen Mund verließen. Er wollte nach Hause. Unter die warme Decke, schlafen, Alex vergessen, Chantal vergessen … und Luca erst recht.

Aber niemand ging ans Telefon. Sunny ließ sein Handy sinken und seufzte tief. Todtraurig schrieb er eine Nachricht an Lucas Eltern. Er wusste, was zu tun war. Er hasste es.

»Aufstehen!« Er rüttelte an Lucas Schulter. »Du kannst bei mir pennen. Aber steh auf, ich kann dich nicht heben.«

»Du Lappen«, murmelte Luca. Dieser Dummbeutel. Aber er drehte sich zur Seite und wuchtete seine Masse aus dem Schnee.

Irgendwie schaffte Sunny es, ihn den Rest des Weges mitzuschleifen. Ständig kam Luca von der Straße ab und Sunny, der ihn stützte, war nicht stark genug, um sich dagegen zu stemmen. Sie waren fast gleich groß, aber Sunny war halt viel schmächtiger. Ein Lappen.

Ihre Fußabdrücke im frischen Weiß waren trampelige Schlangenlinien. Luca war schwer. Und stank nach Alkohol. Und … na ja, seine Wärme war ganz nett, jetzt, wo der Großteil des Schnees von ihm abgefallen war. Immer wieder berührten sich ihre Wangen. Die Umstände waren nicht ideal, aber endlich hielt Sunny einen anderen Jungen im Arm.

Trotzdem war er noch nie so erleichtert gewesen, sein Zuhause zu sehen. Die kleine Mietswohnung in dem weißen Mehrfamilienhaus, in der er mit seiner Mutter wohnte. Sie schlief schon, daher bugsierte er Luca, so leise er konnte, über die dunklen Holzdielen im Flur.

Der vertraute Räucherstäbchengeruch drang in seine Nase, als er am Yogazimmer vorbeiging. Dem, in dem seine Mutter Privatstunden gab. Heute hatte sie die mit Sandelholzduft abgebrannt.

Als sie endlich sein Zimmer erreicht hatten, ließ er Luca einfach auf den Teppich fallen. Es reichte. Er breitete eine Schafwolldecke über Lucas Körper aus, versicherte sich, dass er frei atmen konnte und krabbelte ins Bett. Das war eh nicht groß genug für zwei und er wollte es bestimmt nicht mit diesem Säufer teilen. Warum trank ein Sportler so viel? Das konnte doch nicht gut für seine Kondition sein.

Sunny wälzte sich herum und betrachtete Lucas Gesicht. Im trüben Mondlicht, das durch seine Vorhänge drang, sah es ein wenig weicher aus als sonst. Kunststück. Härter ging auch kaum. Alles an Luca war kantig, seine Wangenknochen, sein Kinn, seine gerade Nase …

Sunny wusste genau, dass sie gleich alt waren. Aber Luca sah aus wie ein Mann und er selbst … wie ein süßer kleiner Junge. »Niedlich« und »knuffig« waren Komplimente, die er oft bekam. Komplimente für seine hellbraunen Locken, seine Grübchen, sein fröhliches Gemüt. Sunny. Der Sonnenschein der Klasse. Alex' Sidekick. Eine Lusche, laut dem Kerl, der auf seinem Boden ausgebreitet lag.

Ein ohrenbetäubendes Schnarchen erklang. Super. Lucas Lippen vibrierten mit jedem Sägegeräusch. Sunny schluckte. Im Dunkeln sahen diese Lippen gar nicht mehr so schmal aus. Der Mund nicht so hart. Ein saublöder Gedanke poppte in seinem Kopf auf.

Du wolltest doch wissen, wie es sich anfühlt, flüsterte eine Stimme. Wie es ist, einen anderen Jungen zu küssen. Dieser Dummbeutel ist viel zu besoffen, um etwas mitzukriegen. Und morgen erinnert der sich eh an nichts mehr.

Aber das war falsch. Das ging nicht. Sunny biss sich auf die Unterlippe. Sah auf Lucas kräftigen Schädel mit den kurzgeschorenen Haaren.

Nein, beschloss er und drehte sich um. Nicht so. Und schon gar nicht mit dem.

 

1.2 Zusammenarbeit mit Hindernissen

 

Luca hatte von Anfang an nichts als Ärger bedeutet.

Als Sunny vierzehn gewesen war, waren sie hergezogen. Leider hatte die örtliche Waldorfschule keinen Platz mehr frei gehabt, also war Sunny auf das Erich-Kästner-Gymnasium gewechselt. Lucas Schule. Kurz nach dem Umzug hatten sie zusammen Aufräumdienst gehabt.

Der Aufräumdienst war eine Strafe. Sunny war bestraft worden, weil er ständig zu spät kam. Und der Kapitän … keine Ahnung. Irgendetwas stellte der immer an. Meistens brüllte er Leute nieder, stritt sich mit Lehrern und geriet in Schlägereien. Oft mit mehreren Jungs gleichzeitig. Ein Wunder, dass er überhaupt noch Kapitän des Fußballvereins war, bei all dem Ärger, den er sich einbrockte. Alex wäre eine viel bessere Wahl gewesen, fand Sunny.

Aber das hatte er damals noch nicht gewusst. Damals war es seine Aufgabe gewesen, in der Pause die Leiter zu halten, damit Luca hochsteigen und die Regenrinne säubern konnte. Die im zweiten Stock. Und er hatte echt nur ganz kurz geträumt, eine Sekunde lang nicht aufgepasst, weil er zugeschaut hatte, wie eine Amsel in die Linde flog, die mitten auf dem Schulhof stand. Ob sie dort ihr Nest hat?, hatte er überlegt. Ob …

Plötzlich hatte er ein Scheppern hinter sich gehört. Die Leiter. Und Luca. Beide waren auf dem Boden gelandet.

»Oh nein, das tut mir leid …«, hatte Sunny gesagt und versucht, Luca aufzuhelfen. Aber der war aufgesprungen wie ein … Tiger oder so. Und hatte losgebrüllt.

»BIST DU VÖLLIG VERBLÖDET DU LAPPEN??? ICH HÄTTE MIR DEN HALS BRECHEN KÖNNEN! DU VOLLPFOSTEN, DU VERSAGER, DU BIST JA ZU BLÖD ZUM LEBEN …«

Und so weiter. Luca brüllte immer in Großbuchstaben.

Und Sunny … der war an diesen Tonfall nicht gewohnt gewesen. An seiner alten Schule hatte ein ganz anderer Umgangston geherrscht: ruhig und respektvoll. Zuhause, bei seiner Mutter, erst recht. Er hatte nicht gewusst, wie er mit diesem rasenden Wüterich umgehen sollte, der ihm eine Beleidigung nach der nächsten an den Kopf warf.

Seit Sunny fünf gewesen war, hatte ihn niemand mehr angebrüllt. Also hatte sein Körper automatisch so reagiert, wie er es damals getan hatte: mit Weinen. Sunnys Augen waren übergequollen und er hatte begonnen zu schniefen. Auf dem Pausenhof.

Und alle hatten zugesehen.

Immerhin hatte Luca irgendwann aufgehört, zu brüllen, ihn kopfschüttelnd angeschaut und war davongehumpelt. Alle anderen hatten gelacht. Hundert kreischende Gesichter, Finger, die auf Sunny zeigten, halb verborgen von einem Tränenschleier. Ihm wurde immer noch kalt, wenn er daran dachte.

An seiner alten Schule hatten sie sich gegenseitig getröstet. Da durften Jungen weinen. Aber hier nicht. Das hatte er auf die harte Tour gelernt. Unter anderem von Luca, der ihn seitdem, immer wenn sie sich auf dem Flur begegneten, beleidigte. Lusche. Weichei. Heulsuse.

Es hatte lange gedauert, bis Sunny sich an der neuen Schule zurechtgefunden hatte. Und alles wegen dem Dummbeutel.

 

1.3 Gast ohne Manieren

 

Er erwachte von einem Schnarchen. Sunny setzte sich auf und rieb sich die Augen. Ja, Luca war noch da. Sonnenstrahlen fielen auf seinen Körper, der sich die ganze Nacht über nicht bewegt zu haben schien.

Vorsichtig stieg Sunny über ihn und schlich in den Flur. Er brauchte einen Tee. Vielleicht sogar einen schwarzen, auch wenn seine Mutter meinte, Aufputschmittel wären eine schlechte Idee.

Da kamen Stimmen aus der Küche. Die helle, zwitschernde seiner Mutter … Okay, das war eindeutig seine Mutter. Aber sie klang anders als sonst. Irgendwie … schnurrender? Fast wie Friedbert, ihr Kater. Die andere Stimme hatte er noch nie gehört, trotzdem kam sie ihm irgendwie bekannt vor. Sie war eindeutig männlich. Dröhnend. Klang fast wie …

Sunny lugte durch die Küchentür. Ja, eindeutig. Der Mann mit dem grauen Bürstenhaarschnitt und dem breiten Kreuz, der am Küchentisch saß? Lucas Vater. Garantiert. Er sah aus wie jeder Held in jedem Kriegsspiel, das er je mit Alex gespielt hatte. Narben, Muskeln, harter Mund, kantiges Kinn. Fehlte nur noch eine Augenklappe.

»Ja, es ist nicht leicht«, zwitscherte Marianne, Sunnys Mutter, »Aber Sunny hilft mir im Haushalt, wenn er da ist, und die Wohnung ist ja recht klein … Sunny!«

Sie sprang fast von ihrem Stuhl auf, als Sunny hereinschlurfte. Immer noch in den Klamotten von gestern, mit verwuschelten Haaren. Hatte er die beiden bei irgendetwas unterbrochen? Unschlüssig sah er Marianne an. Sie wirkte so zart neben diesem Muskelklotz.

»Sie … sind Lucas Vater, richtig?«, fragte Sunny. Der Klotz nickte.

»Aaron Wolf«, bellte der, als wären sie beim Militär. »Hast du mir gestern geschrieben?«

Sunny zuckte zusammen, als er die laute Stimme hörte. Ja, ganz eindeutig war der mit Luca verwandt. Nur, dass er noch irgendeinen Akzent hatte, ganz schwach, aber hörbar.

»Ja. Luca schläft noch …«

»Das wird sich gleich ändern.«

Mit einem Knurren marschierte der Kerl an Sunny vorbei. Verwundert bemerkte Sunny, dass er Stiefel trug. Schwere, schwarze Stiefel. Sonst bestand Marianne doch darauf, dass alle Gäste ihre Schuhe auszogen und die selbstgefilzten Pantoffeln anprobierten.

Marianne sah dem Kerl nach.

»Er ist Amerikaner, weißt du?«, sagte sie. Die Fältchen um ihre Augen kräuselten sich. »Ist mit einundzwanzig hergekommen, war hier jahrelang stationiert und hat jetzt …«

»AUFSTEHEN, ZACK, ZACK!«, brüllte jemand, so laut, dass man es bis in die Küche hören konnte. Lucas Vater. Sunny hörte Gemurmel. Luca.

»NATÜRLICH HAST DU GESOFFEN! DU STINKST BIS HIER! WENN DU NACHHAUSE KOMMST, PUTZT DU DAS GANZE HAUS UND PARTYS GIBT'S AUCH NICHT MEHR …«

Sunny zuckte zusammen. Zum ersten Mal empfand er Mitleid mit Luca. Kein Wunder, dass der so ein Brüllaffe geworden war …

»EINEN SCHEISS MACH ICH!«, brüllte Luca zurück.

»WIE WAR DAS?«

»ICH HAB GESAGT …«

Die beiden schrien hin und her, bis Sunny und Marianne halb taub waren. Dann erklangen Schritte. Laute Schritte. Herr Wolf scheuchte Luca vor sich her aus dem Flur.

»Bitte entschuldigen Sie die Umstände.« Er nickte Marianne zu. Die schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.

Luca warf Sunny einen hasserfüllten Blick zu.

»Warum hast du meinen Alten angerufen, du Lusche … Au!«

Sein Vater packte ihn am Ohr und zerrte ihn weiter. Die Haustür schmetterte ohrenbetäubend ins Schloss.

Stille.

Dieser … dumme Dummbeutel! Sunny atmete tief ein und aus, um die Wut zu besiegen. Um nicht zuzulassen, dass sie Besitz von ihm ergriff, genauso, wie Marianne es ihm beigebracht hatte,

Er hatte Luca vor dem Kältetod bewahrt und das war der Dank? Erst dreiundzwanzig Atemzüge später hatte er sich beruhigt.

»Was für eine … interessante Familie«, sagte Marianne. Sunny nickte zögernd.

»So kann man das ausdrücken.«

Zum Glück waren sie weg. Er würde sein Zimmer lüften, duschen und heute Abend mit Mandy und Alina-Lara Karaoke singen gehen. Und er würde diesen Dummbeutel nicht mal mehr anschauen, bis er das Abi geschafft hatte. Genau. Ein perfekter Plan.

Leider funktionierte er nicht.

 

1.4 Frühling der Liebe

 

Eine Woche später schlurfte Sunny wieder in die Küche. Schwache Wintersonnenstrahlen schienen auf die Fliesen, die sich unter seinen Füßen eiskalt anfühlten.

Wieder saß Aaron Wolf bei Marianne am Küchentisch.

»Morgen«, murmelte Sunny und gähnte.

Die beiden sahen ihn an, als hätte er sie bei etwas Verbotenem ertappt. Hä? Oh richtig: Aaron trug diesmal die Batik-Filzschlappen, die Marianne allen Gästen aufdrängte, und … Mariannes Bademantel, den er mit seiner Masse fast sprengte. Es schien ein fairer Tausch gewesen zu sein: Marianne trug nämlich Aarons Hemd. Es musste Aarons sein, da es so lang war, dass es ihr bis zur Mitte der nackten Oberschenkel ging.

Sunny kratzte sich am Kopf. Waren sie beiden … Hatten sie … Ab und zu brachte Marianne Männer nach Hause, er hätte nicht gedacht, dass Aaron ihr Typ wäre.

»Guten Morgen, mein Schatz«, zwitscherte Marianne. Sie sprang auf und drückte Sunny einen Kuss auf den Kopf. »Du fragst dich sicher, was Aaron hier macht …«

»Ich glaub, das weiß ich.« Er erwiderte die Umarmung. Marianne roch gut, nach Sandelholz und nach Mutter. Und nach Aarons Hemd, Waschmittel und Rasierschaum. Das war neu.

»Morgen, Junge. Sandro.« Aaron Wolf nickte ihm zu. Er wirkte riesig, wie ein Bär, der in einer Puppenküche hockte. Kein süßer Teddy. Ein gefährlicher Grizzly, der einen jeden Moment anfallen konnte.

»Guten Morgen, Herr Wolf«, sagte Sunny und gähnte erneut. »Sie können mich auch Sunny nennen.«

Er löste sich von Marianne, schlappte zur Anrichte und sammelte sein Frühstück zusammen. Amaranthmüsli, getrocknete Früchte, Milch aus dem Kühlschrank. Die ganze Zeit über beobachteten die beiden ihn. Als wäre er der Erwachsene und sie würden darauf warten, dass er ihnen Hausarrest erteilte.

»Ich ess in meinem Zimmer, wenn es euch nichts ausmacht«, murmelte Sunny. Er hatte keine Lust, beim Romantik-Frühstück seiner Mutter dabei zu sein.

»Ist gut.« Marianne wirkte nervös.

Sie setzte sich wieder an den kleinen Küchentisch und nahm Aarons Hand. Die beiden aßen nicht mal: Die Holztischplatte zwischen ihnen war vollkommen leer, bis auf die schiefe Blumenvase, die Sunny in der Grundschule getöpfert hatte. Anscheinend waren sie vollauf damit beschäftigt gewesen, sich tief in die Augen zu schauen. Ein ungutes Gefühl kroch Sunnys Nacken hinauf, aber er schob es beiseite.

Nie, dachte er.

 

Eine Weile darauf klopfte es an seiner Zimmertür. Marianne schob ihren graubraunen Lockenkopf hinein und lächelte Sunny zu, der auf seinem Bett lag und Alex schrieb.

»Sunny, Schatz, hast du einen Moment Zeit?«

»Ja, klar.« Sunny legte sein Handy beiseite und setzte sich auf. Marianne nahm vor ihm auf der Matratze Platz. Sie trug wieder eines ihrer üblichen langen Kleider. Ein blaues mit weiten Ärmeln. Sah sehr gemütlich aus.

»Das mit Aaron und mir … Das ist nichts Ernstes«, sagte sie. Sunny fühlte sich unerwartet erleichtert, als er das hörte. »Wir sind nur … Wir haben festgestellt, dass wir viel gemeinsam haben und da haben wir uns gestern getroffen, einfach, um zu reden und, na ja …«

»Was habt ihr denn gemeinsam?«, fragte Sunny. Er konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen.

»Ach, du weißt schon.« Sie lächelte, ein wenig traurig, ein wenig verträumt. »Wir ziehen beide ganz allein ein Kind auf, das heißt, er zieht vier auf, da hat man schon gemeinsame Themen. Es ist ein Wunder, dass er überhaupt Zeit für ein Treffen hatte, bei der Arbeit, die er zuhause hat.«

»Ja, Luca ist bestimmt nicht einfach«, sagte Sunny. Richtig, er hatte davon gehört, dass der Kapitän keine Mutter hatte. »Und er hat noch drei Geschwister? Alex hat von seinem Bruder erzählt, aber gleich drei?«

»Hat er, alles Jungs. Aaron kümmert sich alleine um sie, seit seine Frau gestorben ist.« Marianne senkte den Kopf und faltete die Hände übereinander, als würde sie beten.

»Gestorben?«, fragte Sunny. »Aber … Oh nein. Der Arme. Die Armen.«

»Das war wohl sehr hart für sie. Die Jungs waren ja noch klein, der Älteste erst zehn, glaube ich.«

»Oh.«

Sunny knabberte an seinem Daumennagel. Lucas Mutter war tot. Er hatte keine Ahnung gehabt. Gar keine. Irgendwie war er davon ausgegangen, dass sie abgehauen war, so wie sein eigener Vater …

Mit einem Mal schämte er sich. Kein Wunder, dass Luca so ein Brüllaffe war. Wenn Marianne so früh gestorben wäre, dann … dann wäre Sunny auch wütend gewesen. Verdammt wütend. Er nahm sich vor, netter zu Luca zu sein, egal, wie oft der ihn noch als Lappen bezeichnete. Oder als Lusche.

»Auf jeden Fall tun wir uns gegenseitig gut«, sagte Marianne mit glänzenden Augen. »Ich denke, wir werden uns noch einmal treffen, vielleicht sogar zweimal. Aber dann werden wir getrennte Wege gehen, jeder auf seinem Pfad, und gestärkt weiterziehen.«

»Das ist schön«, sagte Sunny vorsichtig. Wann hatte sie zuletzt so glücklich ausgesehen? Vor sechs Jahren vielleicht, als sie ihren letzten Freund kennengelernt hatte. »Warum trefft ihr euch nicht öfter?«

»Unsere Lebensentwürfe passen einfach nicht zusammen.« Marianne schaute aus dem Fenster, hinter dem schon wieder weiße Flocken fielen. »Sonst … Aber nein. Eine kleine Affäre, ein bisschen wilder Sex, und das war’s.«

»Gut, gut.« Sunny räusperte sich. Er und Marianne konnten sich wirklich alles erzählen, aber wenn es um ihre Männergeschichten ging, wurde es ihm unangenehm. »Nur eine Affäre. Gut.«

 

Der Schnee schmolz, die Linde auf dem Schulhof strotzte vor Blüten und der Park, in dem er Luca gefunden hatte, war nicht mehr weiß, sondern grün. In der Luft schwebte der Geruch von Frühling und Neubeginn.

Aaron saß immer noch jeden Sonntagmorgen in der Küche, pünktlich wie ein Uhrwerk. Jedes Mal, wenn Sunny müde hereinschlurfte, lieferten Herr Wolf und Marianne sich ein romantisches Blickduell, wobei Aaron eher aussah, als wollte er einen Messerkampf anfangen. Er hatte einfach so ein Gesicht. Sunny hatte sich an den Anblick gewöhnt. Umso erstaunter war er, als er Anfang Mai in die Küche kam und Aaron mit Abwesenheit glänzte.

»Wo ist er?«, fragte Sunny. Er vermisste ihn nicht direkt, schließlich hatten sie kaum mehr als Begrüßungen und Verabschiedungen ausgetauscht. Aber wenn die Affäre beendet war, war Marianne bestimmt traurig …

Nur, dass sie strahlte vor Glück. Sie tanzte durch die Küche wie eine Elfe im Yoga-Outfit, Sterne in den Augen und Grübchen in den Wangen.

»Aaron ist bei seinen Söhnen«, zwitscherte sie. »Er musste früher gehen, um es ihnen zu sagen.«

»Ihnen was zu sagen?«

»Dass wir zusammenziehen.«

»Was?!«

 

1.5 Abendessen zu fünft

 

Luca schäumte vor Wut. Das tat er meistens.

»Aber ich will nicht in diesem verdammten Hexenhaus wohnen«, brummte er. Mehr war nicht drin, seine Stimme war schon ganz wund vom Brüllen. Gestern und vorgestern hatte er nichts anderes gemacht. Vergeblich. Seine Brüder waren auch nicht begeistert, aber wie immer hatte ihr Vater sich durchgesetzt.

»Wir ziehen da ein. Ende der Diskussion.« Aaron sah ihn an und Luca schrumpfte ein Stück. Diesen Effekt hatte Dads strenger Blick leider auf ihn, seit er klein war.

Luca verschränkte die Arme, lehnte sich in seinem Metallstuhl zurück und knurrte. Hatte ja eh keinen Sinn. Dad machte, was er wollte. Und alle mussten mit: Luca und seine drei älteren Brüder. Er schaute in die Runde und sah dieselbe Resignation in deren Gesichtern, die er selbst spürte.

Sonnenstrahlen fielen durch das Küchenfenster auf die weiße Plastiktischdecke. Leicht abwaschbar. Leider schwitzte man wie ein Schwein, sobald man die Arme darauf ablegte. Es war eindeutig Sommer.

Sechs Monate, seit diese Lusche ihn im Schnee aufgelesen hatte. Sechs Monate, seit sein Vater diese verdammte Marianne kennengelernt hatte. Warum hatte dieses Weichei ihn nicht einfach liegengelassen? Luca hatte schon ganz andere Sachen überlebt, und …

Er hat sich halt Sorgen gemacht, flüsterte eine leise Stimme in seinem Hinterkopf. Er ignorierte sie, wie immer. Warum hatte dieser Idiot sich Sorgen um ihn gemacht? Sie waren doch keine Freunde oder so. Ganz im Gegenteil. Und jetzt war sein Vater dieser Hexe Marianne verfallen und hatte beschlossen, dass sie alle zusammenziehen würden. Super.

Gestern hatten sie das neue Haus besichtigt. Eine verdammte Bruchbude war das. Ein verdrecktes Ziegelgebäude mit dreimal so vielen Erkern und Giebeln, wie nötig waren. Schmalen, uralten Fenstern, von denen der Lack abblätterte. Einem Dach mit mehr Lücken, als es das Gebiss eines Hundertjährigen hatte. Und einer ähnlichen Farbe, falls der Hundertjährige sein Leben lang Kautabak gefuttert hatte. Selbstverständlich war der Garten ein vollkommen verwilderter Dschungel.

Marianne hatte es ausgesucht. Standen Frauen auf solche Bruchbuden? Sie hatte es wildromantisch genannt. Eine Bruchbude war das, verdammt. Und Sunny, der Lappen, hatte natürlich neben seiner Mutter gestanden und begeistert genickt. Wie aus einem Schauerroman, hatte er mit glänzenden Augen getrötet. Vermutlich hatte er Recht.

Luca wusste jetzt schon, dass er den Rest des Sommers mit Renovieren und Rasenmähen verbringen würde. Ohne die Hilfe der Lusche oder von Marianne. Die würde sich ganz auf die Einrichtung ihrer Yoga-Praxis konzentrieren. Und der Lappen konnte nichts.

Das hatte er ja damals schon bewiesen, als er zu blöd gewesen war, eine Leiter zu halten. Eine Leiter! Und dann hatte er geheult, wie ein verdammtes Mädchen, nur, dass selbst Mädchen in dem Alter nicht mehr gleich losplärrten, wenn man ihnen ein wenig die Meinung geigte … Na ja, doch. Taten sie. Luca brachte ständig Leute zum Weinen, wenn er sie anbrüllte. Selbst erwachsene Männer. Selbst Lehrer.

Luschen.

Luca hatte gelernt, nicht mal mit der Wimper zu zucken, wenn sein Bruder Leif ihn im Schwitzkasten hatte und dessen Zwilling Lars ihm ins Gesicht furzte. Was eine Zeitlang täglich vorgekommen war. Man musste sich halt abhärten. Aber das hatten sie bei der Lusche wohl vergessen.

Leif knallte das Essen auf den Tisch: Schnitzel und Salat. Wie immer. Lothar, der Älteste, war der Einzige, der sich ab und zu an was Ausgefallenem versuchte, was auch nicht immer gut war.

»Essen«, brummte Leif, als könnten sie das nicht sehen. Dad nahm sich als Erster, während die anderen ihm misstrauisch zusahen. Ein Schnitzel landete auf seinem Teller. Zwei. Drei. Mist. Das ließ für seine vier Söhne … genau fünf Schnitzel. Machte er das absichtlich? Sofort begannen die Zwillinge, sich darum zu streiten.

»Ich hab gekocht!«, brüllte Leif. »GIB HER!«

»Hol's dir doch!« Lars drehte sich um und stopfte sich so viel in den Mund, wie er konnte. Leif packte seine Achseln und versuchte, ihn zu Boden zu ringen. Dad schüttelte resigniert den Kopf. Von den drei Schnitzeln hatte er bereits eins vernichtet. Luca sah seine Kiefermuskeln arbeiten. Dieses verdammte Schweinefleisch war zäh wie Gummi.

»Ich hoffe, Marianne kann kochen«, sagte Lothar neben ihm. Er klang hoffnungsvoll. »Dann hätte der Umzug wenigstens etwas Gutes.«

Luca schnaubte verächtlich.

»Als ob die was anderes kochen würde als Tofu und … vegane Paste.«

Lothar seufzte. Alle Hoffnung verschwand aus seinem breiten Gesicht.

»Wahrscheinlich, Zwerg. Du meinst, wie das Zeug, das sie das letzte Mal gemacht hat? Dieses Getreidedings?«

»Das sollte ein Hackbraten sein.« Luca konnte es immer noch nicht fassen. »Ein fleischloser Hackbraten. Ich meine … warum?«

»Marianne kocht, was sie will.« Dads Stimme war schneidend. »Und ihr drückt euch nicht vor euren Aufgaben, ist das klar?«

Luca und Lothar nickten widerwillig, während die Zwillinge sich immer noch kloppten. Dad packte sein Bier und nahm einen tiefen Zug. Sie hatten alle so eine Blechdose vor sich stehen, bis auf Luca. Was er vollkommen unfair fand. Er war fast achtzehn, zur Hölle, da hätte sein Vater ruhig eine Ausnahme machen können!

»Marianne und ich haben darüber geredet.« Dad wischte sich den Schaum vom Mund, »Jeden Tag wird ein anderer kochen. Sechs Leute für sechs Tage. Und sonntags gehen wir essen.«

Super. Luca fragte sich, was die Lusche kochen würde. Vermutlich vegetarisches Steak aus Dinkelsamen. Nicht, dass er ihn zuhause »Lusche« nennen durfte. Das hatte Dad ihm verboten. Der Waschlappen stand unter dem Schutz seiner Mutter. Und die Mutter hatte seinen Dad in der Hand, so einfach war das. Deshalb würde Sunny auch als Einziger ein eigenes Zimmer bekommen, während Luca weiter Lothars Schnarchen ertragen musste.

Sunny. Was für ein blöder Name. Wie konnte man sich selbst so auf eine einzige Sache reduzieren? Der Typ war einfach eine Pfeife.

 

1.6 Rauf oder runter

 

Sunny liebte das neue Haus. Die verschnörkelten Fensterrahmen, das Efeu, das sich an den Wänden entlangschlängelte, den wilden Garten …

Es gibt wirklich nur einen Nachteil, dachte er, als er den achten Bücherkarton die Treppe zur Haustür hochschleppte. Luca drängelte an ihm vorbei, genauso verschwitzt wie Sunny, einen Armeerucksack auf den Schultern, und warf ihm einen verächtlichen Blick zu. Klar, der hätte drei Bücherkartons auf einmal tragen können.

»Geht das nicht schneller?«, motzte er im Vorbeidrängeln.

»Nein.« Sunny sah stur geradeaus. Er hatte beschlossen, Luca einfach zu ignorieren. So, wie er es damals hätte machen sollen, als er ihn im Schnee gefunden hätte. Dann müsste er jetzt nicht mit ihm zusammenziehen.

»Du bist so eine Schnecke«, stellte Luca fest.

»Hilf mir halt, dann geht's schneller«, sagte Sunny.

»Mit deinen tausend Büchern? Selbst schuld, wenn du die sammelst.«

Und schon war er weg. Die Treppe hoch, bevor Sunny es nur durch die Haustür geschafft hatte. Dabei hatte Sunny es viel weiter. Sein Zimmer lag ganz oben im Turm. Er lächelte. Im Turm. Das Haus hatte einen Turm.

Es war so viel spannender als die langweilige Mietswohnung, in der sie zuletzt gelebt hatten. Und es gab keine Nachbarn, die den Geruch von Räucherstäbchen mit dem von Gras verwechselten und ständig die Polizei riefen. Er konnte er kaum erwarten, Alex sein Zimmer zu zeigen …

Luca kam ihm wieder entgegen gepoltert, nun ohne Rucksack. Sunny wich ihm mit Mühe aus. Die Treppe war eigentlich viel zu schmal für zwei Leute, vor allem, wenn einer von ihnen ein Schrank war. Wobei … Sunny sah sich um. Aaron Wolf stieg gerade aus dem Umzugswagen. Die Zwillinge wuchteten den Küchentisch herein. Schweiß glänzte auf ihren Stiernacken.

»Weißt du«, sagte er verwundert. Luca blieb stehen und sah sich zu ihm um, »ich dachte immer, du wärst voll das Tier. Aber in deiner Familie bist du noch der Zierlichste.«

Lucas Gesicht verfinsterte sich. Schallendes Lachen ertönte.

»Da hat er allerdings recht, Zwerg.« Lothar war oben am Treppenabsatz erschienen.

Sunny zuckte zusammen. So hatte er das doch gar nicht gemeint. Aber bevor er das erklären konnte, war Luca schon die Treppe heruntergestürmt. Sunny wollte sich umdrehen, um ihn aufzuhalten, schwankte unter dem Gewicht des Kartons, tastete nach der nächsten Stufe … und trat ins Leere.

Mit einem Schrei stürzte er die Treppe hinunter. Genau auf Luca. Der war nett genug, den Sturz mit seinem Rücken aufzufangen, obwohl er das gar nicht wollte. Schmerz explodierte in Sunnys Seite, als er gegen ihn prallte. Der Karton krachte auf die Stufen und die Bücher flogen durch die Luft. Die beiden Jungen gingen zu Boden. Band vier der Krabbentaucher-Chroniken erwischte Luca an der Schläfe.

»Oh, das tut mir …«

»BIST DU VÖLLIG BESCHEUERT?« Lucas Brüllen ließ die Wände erzittern. Kein Wunder, die waren echt alt.

»Tut mir wirklich leid, das war ein Versehen …«

Aber Luca ließ sich nicht besänftigen. Er lärmte weiter, bis Sunnys Ohren klingelten. Immerhin brüllte er nur. Er würde ja wohl kaum zuschlagen, hier, wo sein Vater und Marianne zuschauten …

Ein wunderschönes Gesicht tauchte hinter Lucas zornesrotem auf.

»Alex!«, rief Sunny und ließ Luca einfach stehen. Er hüpfte die Stufen zum Eingang hinunter, bis er vor ihm stand.

»Hi!« Alex sah toll aus. Wie immer. Seine blonden Haare glänzten im Sonnenlicht, seine warmen, braunen Augen strahlten und seine teuren Klamotten saßen wie angegossen an seinem perfekten Körper. Heute trug er ein weißes T-Shirt und dunkelblaue Jeans. Er sah so fantastisch aus, dass Sunnys Mund ganz trocken wurde.

»Wie läuft's?«, fragte Alex. Sunny grinste seinen besten Freund an.

»Super. Ich muss nur noch die Bücherkisten hochbringen. Alina-Lara und Mandy packen schon aus.«

Alex nickte Luca zu, der aufgehört hatte, zu schreien.

»Hi.«

»Hallo.« Luca nickte, dann stieg er ebenfalls die Stufen herunter und gab Alex die Hand.

Irgendwie wirkten Luca und Alex wie entfernte Bekannte, die sich nichts zu sagen hatten. Dabei waren sie doch in einer Mannschaft und trainierten täglich gemeinsam. Ein wenig beneidete Sunny Luca. Er hätte gern mit Alex zusammen gespielt.

Die beiden redeten ungefähr zehn Sekunden über das morgige Training, dann marschierte Luca weiter zum Transporter. Alex half Sunny, die Bücher zusammenzusammeln.

»Mandy und Alina-Lara, ja?« Alex' Mundwinkel verzog sich zu einem spöttischen Lächeln. »Sind die beiden immer noch hinter dir her?«

»Sind sie nicht«, sagte Sunny. »Sie sind meine Freunde. Echt.«

»Sicher.« Alex schenkte ihm einen zweifelnden Blick. »Ist doch völlig offensichtlich, dass sie scharf auf dich sind. Der Moppel muss dich dauernd anfassen.«

»Sie klopft mir vielleicht mal auf die Schulter oder umarmt mich. Das ist normal unter Freunden.« Sunny hatte nie verstanden, was Alex gegen die beiden hatte. Zum Glück benahm er sich, wenn sie alle im gleichen Raum waren. »Sie fasst mir ja nicht an den Arsch oder so.«

»Ich wette, das würde sie gern. Schon gut«, fügte Alex hinzu, als er Sunnys warnenden Blick sah. »Ich reiß mich zusammen. Bin voll der Gentleman, das weißt du doch. Auch wenn ich's lustig finde, dass die beiden den falschen Baum anbellen.«

»Ich …« Sunny sah sich um, aber die anderen waren zu weit weg, um ihn zu hören. »Ich sollte es ihnen endlich sagen. Wenn sie irgendwann mitkriegen, dass ich sie schon die ganze Zeit anlüge … Ich meine, Mandy will mich unbedingt mit Evelyn verkuppeln, und ….«

»Das ist eine beschissene Idee«, sagte Alex und blickte Sunny ernst an. »Das weißt du selbst.«

»Ja. Ja, vielleicht.« Wusste er das? Sunny räusperte sich. »Wie war dein Date?«

»Nichts Besonderes.« Alex zuckte mit den Schultern. »Die war ein bisschen langweilig, hat immer nur gekichert. Hab das Gefühl, dass sie nicht sehr helle war.«

»Ach so.« Sunny verbarg seine Erleichterung. Irgendwann würde Alex eine Freundin haben. Dann würde Sunny ins Abseits gedrängt werden, weil Alex keine Zeit mehr für ihn haben würde. Aber noch war es nicht so weit. Noch war Alex der Casanova der Klasse und hatte jede Woche ein anderes Mädel. Noch konnte Sunny davon träumen, dass er irgendwann …

Er seufzte.

»Danke, dass du mir hilfst. Gehen wir hoch?«

Alex nickte. Seine seidenweichen Haare fielen verwegen in seine Stirn und Sunnys Herzschlag verdoppelte sich. Wenn …

»Aus dem Weg.« Luca drängte sich an ihnen vorbei.

 

1.7 Sieger nach Punkten

 

Mandy und Alina-Lara sahen Alex an, wie sie ihn immer ansahen: mit einer Mischung aus Beunruhigung und Verlangen. Klar, er war der hübscheste Kerl der ganzen Schule. Oder des ganzen Universums, wenn es nach Sunny ging.

»Hey, Ladies.« Wie versprochen war Alex der perfekte Gentleman. Sogar ein wenig zu charmant. Die beiden Mädels wurden rot. Alina-Lara verschlug es sogar komplett die Sprache. Sunny konnte sie verstehen.

»Hallo.« Mandy grinste Alex an, der sich bereits abwandte.

»Ich muss gleich wieder los, zur Fahrstunde«, sagte er. »Wollte mir nur kurz dein neues Zimmer anschauen. Und die ganze Bude.«

»Oh, klar.« Sunny verbarg seine Enttäuschung. Wie schön, dass Alex trotzdem hergekommen war. »Und, was denkst du?«

»Heruntergekommen, aber spannend.« Alex winkte knapp, lächelte nochmal in die Runde und ging.

Mandy seufzte vernehmlich, als er weg war.

»Eindeutig die Nummer eins«, sagte sie und korrigierte den Sitz ihrer Glitzerhaarspange.

»Nummer eins der Dreaminess-Skala?«, fragte Sunny.

»Der Dreaminess-Skala minus Sunny, weil keiner mit dir mithalten kann«, verbesserte Mandy.

»Natürlich.« Sunny grinste. »Whoah, ihr habt ja schon total viel geschafft!«

An der rechten Wand seines neuen Zimmers, die fast nur aus wild zusammengewürfelten Regalen bestand, prangten Hunderte Buchrücken. Vor allem Fantasy, Sunnys absolutes Lieblings-Genre.

»Ich hab schon total viel geschafft«, murmelte Alina-Lara. »Mandy hat gelesen.«

»Hey, ich hab das Brett hier eingeräumt«, protestierte Mandy und deutete auf ein halbvolles Regalbrett.

»Habt ihr die nach Farben sortiert?«, fragte Sunny.

»Ja, super, oder?« Mandy stemmte die Hände in die Hüften. Die Augen hinter ihren runden Brillengläsern blitzten. »Hat viel mehr Stil, als die einfach so zusammengewürfelt zu lassen.«

»Macht sie aber auch schwerer zu finden«, nuschelte Alina-Lara.

»Ja, aber es sieht besser aus.«

Damit war die Diskussion beendet. Alina-Lara packte den neuen Bücherkarton und wuchtete ihn aufs Bett. Sie war stark. Ungefähr so groß und breit wie Luca. Nur viel, viel weicher. Wie ein Pudding im Vergleich zu Lucas steinharten Muskeln. Die Schulter, mit der Sunny eben gegen ihn geprallt war, schmerzte immer noch. Vermutlich hätte es keinen Unterschied gemacht, wenn er auf dem Boden gelandet wäre.

»Wo steht Luca eigentlich auf der Dreaminess-Skala?«, fragte Sunny, ohne nachzudenken.

»Luca?« Mandy schaute auf ihr Smartphone. »Platz 37 von 62, wieso?«

»Ich dachte nur …« Sunny zuckte mit den Achseln. »Er ist echt muskulös. Das ist gut, oder?«

»Ja, aber die Dreaminess-Skala berücksichtigt Schönheit UND Charakter.« Mandy hob den Zeigefinger wie eine strenge Lehrerin. »Und er hat genau null Charakterpunkte.«

»Immer noch?« Sunny war erstaunt. »Wegen damals? Das ist doch schon so lange her.«

»Er hat dich zum Weinen gebracht.« Mandys Augenbrauen zogen sich zusammen wie eine Gewitterfront. »Wenn ich nicht so viel Angst vor ihm hätte, würde ich ihm in die Eier treten.«

»Ach, aber das hat sich am Ende doch als Glücksfall herausgestellt«, sagte Sunny, obwohl die Erinnerung an diesen peinlichen Tag ihm immer noch Gänsehaut machte. Seltsam, inzwischen war es ihm gar nicht mehr so wichtig, was die Leute von ihm dachten. »Wenn du mich damals nicht getröstet hättest, wären wir vielleicht keine Freunde geworden.«

»Wären wir wohl«, sagte Alina-Lara, so leise, dass sie es kaum hörten. Sie stoppte das Bücher-Einräumen, drehte sich um und sah Sunny aus ihren Knopfaugen fest an. »U-und wenn dieser Blödi dir was tut, sag Bescheid. Da-dann hau ich ihm eine. Echt.«

Sunny lächelte gerührt.

»Mach ich«, sagte er. »Aber das wird ganz bestimmt nicht so schlimm. Vielleicht … vielleicht werden wir ja auch Freunde. Ich glaube, ich gebe ihm noch eine Chance. «

Er ignorierte die zweifelnden Blicke seiner Freundinnen und rannte nach unten, um die nächste Kiste zu holen.

 

1.8 Prinzessin im Turm

 

»Was machen sie da?«, fragte Sunny.

Es war Wochenende und er war gerade erst von Alex zurückgekommen. Marianne stand am Küchenfenster, vor der holzverkleideten Spüle, und sah aus dem Fenster. Ihr weites rotes Kleid fiel fast bis zu ihren nackten Füßen. Unter dem Küchentisch verschlang Friedbert eine Portion Katzenfutter. Sie schüttelte den Kopf.

»Sie bauen ein Gerüst«, sagte sie.

Sunny trat neben sie. Draußen waren Aaron und seine vier Söhne damit beschäftigt, Löcher in den Rasen zu buddeln. In den raspelkurz geschnittenen Rasen. Er sah ziemlich hässlich aus. Vermoost und braun, weil die Gräser so hoch gestanden hatten, dass kaum Licht bis auf den Boden gedrungen war. Aber das würde besser werden, hatte Aaron versichert. Und Sunny zweifelte nicht daran. Dieser Rasen würde sich genauso wenig trauen, sich Aaron zu widersetzen wie alle anderen.

Der Garten war sein Hoheitsgebiet. Dafür hatte Marianne die Herrschaft über das Haus. Beziehungsweise dessen Einrichtung, wie man an den lila gestrichenen Küchenwänden und den pfefferminzgrünen Vorhängen erkennen konnte. Und dem riesigen Mandala-Kalender neben der Spüle.

»Warum bauen sie ein Gerüst?« Sunny war einen Moment lang davon abgelenkt gewesen, dass seine neuen Stiefbrüder alle ohne Shirt arbeiteten. Die Zwillinge brüllten sich gerade wieder an. Wegen irgendetwas. Sunny war schon nach einer Woche erstaunlich gut darin, das stetige Geschrei zu ignorieren.

»Für ihr Morgentraining.« Marianne schüttelte den Kopf. »Durch Reifen rennen und Liegestütze machen reicht anscheinend nicht.«

»Echt? Was fehlt denn noch?«

»Ein Gerüst. Aaron meint, sie müssten lernen, an einem Seil Wände hochzuklettern, zu hangeln und … Ach, keine Ahnung. Irgendetwas mit Muskel- oder Charakterbildung.«

»Scheint für sie eh dasselbe zu sein.« Sunny schrak zusammen. »Ich meine … so war das nicht gemeint. Sie sind eigentlich sehr nett. Glaube ich.«

Bis auf das gelegentliche böse Wort von Luca ließen seine Stiefbrüder ihn in Ruhe. Vermutlich wussten sie nicht viel mit ihm anzufangen. Er hatte gedacht, dass sie sich beim gemeinsamen Abendessen besser kennenlernen würden, aber das bestand meistens darin, dass die Vier sich Brüllgefechte lieferten, während sie innerhalb weniger Minuten ihr Essen herunterschlangen.

Na ja, kein Wunder, dass die immer Hunger hatten. Jeden Morgen um sechs scheuchte Aaron seine Söhne über den Hindernisparcours, den sie aufgebaut hatten, und ließ sie gegeneinander kämpfen. Sunny war fast aus dem Bett gefallen, als er ihn das erste Mal im Morgengrauen brüllen gehört hatte.

»Ich weiß, Schatz.« Marianne strich ihm über die Locken. »Ich … Ehrlich gesagt, bin ich ganz froh, dass du nicht viel mit ihnen zu tun hast. Sie sind so …«

»Brutal?«, fragte Sunny. »Ich glaube, die sind harmloser, als sie wirken.«

»Hm.« Marianne schien nicht überzeugt. Ein seltsamer Ausdruck erschien in ihrem sonst so sanften Gesicht. Fast ein wenig kalt. »Halt dich trotzdem von ihnen fern, ja, Schatz?«

»Aber …« Sunny musterte sie. »Wenn … Also wenn du denkst, dass sie ein schlechter Einfluss sind, warum sind wir dann alle zusammengezogen?«

»Ich wollte halt bei Aaron sein. Er hatte so viel um die Ohren, mit seinem Job und den Jungs, dass wir uns viel zu selten sehen konnten. So ist es besser.«

Ihre Augen leuchteten, wie immer, wenn sie von ihm sprach. Oder ihn ansah, so wie jetzt. Seine Muskeln schienen kurz vorm Explodieren, als er den Spaten ansetzte, den Fuß darauf stellte und einen Klotz Erde aus dem Boden wuchtete.

Nicht zum ersten Mal fragte Sunny sich, ob ihre Liebe zu Aaron Wolf wirklich nur mit seiner schönen Seele zusammenhing. Seine Seele sei rein und pur, behauptete sie. Aber sein Bizeps ist halt auch nicht zu verachten, dachte Sunny. Misstrauisch blickte er Marianne an. Die nippte an ihrem Brennnesseltee und sah gedankenverloren aus dem Fenster.

»Mir geht’s auch gut hier. Richtig gut.« Sunny lächelte. »Und ich hab eh nicht so viel mit den Vieren gemeinsam, dass wir dauernd zusammenhängen werden.«

Marianne nickte zögernd. Überzeugt wirkte sie nicht.

 

Sunny stieg die Treppen zu seinem Zimmer hoch. Es war das einzige im dritten Stock. »Die Prinzessin im Turm« nannten die anderen ihn. Natürlich nicht, wenn er dabei war. Er hatte es von seinem geheimen Platz aus gehört. Er hatte jetzt einen geheimen Platz. Dieses Haus war einfach fantastisch. Ein Märchenschloss.

Sunny schloss die Tür hinter sich. Am liebsten hätte er den Schlüssel umgedreht, aber das ging nicht. Er hatte nämlich keinen. Wie sich herausgestellt hatte, gab es für keins der Zimmer im Märchenschloss welche. Sie hätten die Schlösser austauschen lassen können, wenn das Geld dafür gereicht hätte. Aber das tat es nicht. Aarons Sicherheitsdienst und Mariannes Yogapraxis warfen gerade genug für die nötigsten Reparaturen ab.

Sunny hatte trotzdem einen Weg gefunden, ein wenig Privatsphäre zu haben. Kaum war er in seinem neuen Zimmer angekommen, kletterte er auf den Schreibtisch und öffnete das Fenster. Der erste Schritt war der schwerste, aber wenn man sich einmal überwunden hatte, ging es. Sich am Fensterrahmen festhaltend, verborgen von der riesigen Buche, die vor dem Haus wuchs, tastete er sich vor. Seine Finger hielten sich an der Regenrinne fest und seine Füße bewegten sich Schritt für Schritt über den ausladenden Vorsprung, der rund um das Haus lief.

Dann war er angekommen. Auf dem Dach, zwischen der Seitenwand seines Zimmers und dem Giebel des Haupthauses war sein geheimer Ort. Eine Nische, durch Baum, Giebel und Wände verborgen vor den Blicken aller. Ein Winkel unter freiem Himmel, der nur ihm gehörte.

Der schmale Boden war verkleidet mit Metall, länglich, und gerade so breit, dass er darüber laufen konnte. Sunny lehnte sich auf das schräge Dach der einen Seite und blickte nach oben. Langgestreckte Flauschwolken zogen träge vorbei und tauchten ihn mal in Schatten, mal in Licht.

Eines Tages würde er Alex diese Stelle zeigen. Irgendwann. Aber noch wollte er es nicht tun. Noch wollte er davon träumen. Davon träumen, wie er hier mit ihm allein sein würde. Alex würde verstehen, wie magisch dieser Ort war. Er würde sich begeistert umschauen. Und dann …

Sunny stellte sich vor, wie Alex den Blick vom Himmel abwenden würde. Wie er Sunny anschauen würde, mit einem Ausdruck reinen Erstaunens, als würde er ihn zum ersten Mal sehen, und …

»VERGISS ES, DU VOLLIDIOT!«, brüllte Luca von unten. Sunny runzelte die Stirn.

»FRESSE! DU BIST EIN VOLLIDIOT!«, brüllte Lars zurück. »UND JETZT GIB DEN SPATEN HER!«

Sunny seufzte. Dann atmete er tief durch und ließ sich zurück in seine Phantasie sinken.

Alex würde ihn anschauen wie nie zuvor, zärtlich und … verliebt. So verliebt, wie Sunny in ihn war. Alex würde sich ihm zuwenden, seine Hand würde durch Sunnys Locken fahren, er würde näher kommen … Sunny schluckte. Sein Herz hämmerte bis zum Hals, wenn er nur daran dachte. Und zwischen seinen Beinen spürte er ein angenehmes Ziehen.

Alex' Mund würde seinen streifen, erst vorsichtig, dann fordernder. Sein Körper würde sich gegen Sunnys drängen. Er würde die Kontrolle verlieren, ihn immer wilder küssen. Sunny biss sich auf die Lippen. Seine Hand fuhr über seinen Unterleib und das Ziehen wurde stärker.

»HÖR ENDLICH AUF DAMIT, DU SPAST!«, brüllte Luca.

Sunny beachtete ihn nicht.

 

1.9 Freund in Not

 

Alex rief an, als Sunny gerade mit der Theatergruppe den Proberaum betrat. Weder er noch Mandy hatten allzu großes Interesse am Theaterspielen. Aber ohne ihre Unterstützung traute Alina-Lara sich nicht auf die Bühne, deshalb waren sie dabei. Wie so oft war Sunny der einzige Junge und bekam daher alle guten Rollen. Diesmal also Romeo. Na gut. Solange es Alina-Lara half …

»Was ist denn?«, flüsterte er in sein Handy. Frau Michler, die Leiterin der Theatergruppe, sah ihn strafend an.

»Du musst mir helfen.« Sunny zuckte zusammen. Alex klang … panisch?

»Ist ein Notfall. Entschuldigung«, sagte er laut und rannte aus dem Raum.

»Was ist passiert?«, fragte er, als er sicher im Schulflur stand.

»Ich fliege aus der Mannschaft.« Ja, da war Panik in Alex' Stimme. Und Wut. »Wegen diesem verblödeten Arschloch.«

»Wem?«, fragte Sunny, auch wenn er es bereits ahnte.

»Deinem bekackten Stiefbruder«, fauchte Alex. »Der kann mich schon die ganze Zeit nicht ab, weil alle meinen, ich wäre ein besserer Kapitän als er. Und jetzt hat er einen Weg gefunden, mich loszuwerden.«

»Was? Wie?«

»Er meint, ich hätte seinen dämlichen Kumpel absichtlich gefoult. Dabei war das ein total normaler kleiner Rempler. Ist doch nicht meine Schuld, wenn der so blöd fällt, dass er sich gleich die Hand verstaucht. Als Fußballer sollte man das abkönnen.«

»Und deshalb will er dich aus der Mannschaft werfen?«, fragte Sunny. Dieser Dummbeutel! »Das kann er doch gar nicht.«

»Anscheinend schon«, knurrte Alex. »Der Trainer lässt ihn einfach machen, was er will und jetzt hat er halt beschlossen, dass ich fliege.«

»Aber …« Sunny knabberte an seinem Zeigefingerknöchel.

»Du musst mir helfen, Sunny«. Alex klang so flehend, dass Sunnys Herz zu einer kleinen Pfütze zusammenschmolz.

»Ja. Ja, klar. Was soll ich tun?«

»Red mit ihm«, sagte Alex. »Er ist doch jetzt dein Bruder.«

»Äh.« Wie sollte er Alex das erklären? »Ich glaube nicht, dass das was bringt.«

»Warum?«

»Er wird nicht auf mich hören. Noch weniger als auf dich. Wir sind … Er meint, dass ich eine Lusche bin. Das hat sich nicht geändert.«

»Ja, aber ihr lebt im selben Haus, da kennst du ihn bestimmt viel besser als ich.«

»Kein Stück.« Sunny wünschte sich, es wäre anders. War es aber nicht. »Wir treffen uns kaum, nicht mal morgens. Wenn ich frühstücke, veranstalten die ihr Morgentraining und dann nimmt er das Rad und ich laufe. Eigentlich sehen wir uns nur beim Abendessen und da schreit er sich meistens mit seinen Brüdern an.«

»Was?«

»Ja. Die sind irgendwie komisch.« Sunny kratzte sich am Nacken. Er hätte Alex so gern geholfen.

»Kannst du es nicht wenigstens mal probieren?« Alex klang verzweifelt. Ganz anders als sonst. Sonst strotzte er vor Selbstbewusstsein, hatte immer einen lockeren Spruch auf den Lippen und ein freches Grinsen sowieso. Sunnys Herz zog sich zusammen bei dem Gedanken, dass dieser blöde Luca Alex so traurig gemacht hatte. Wut kochte in ihm hoch, soviel, dass er es kaum schaffte, sie wegzuatmen.

»Ich … ich werd's versuchen«, sagte Sunny. »Aber ich kann dir echt nichts versprechen.«

»Danke!«, rief Alex, so voll Dankbarkeit, dass Sunnys Herz einen Hüpfer machte. Oh Mann.

»Ich muss zurück zur Theatergruppe«, sagte Sunny. »Aber danach rede ich mit ihm. Versprochen.«

»Du bist der Größte.« Alex lachte.

Du bist der Größte. Sunny schwebte praktisch in den Proberaum.

 

Die Frage war nur, wie er Luca dazu bringen sollte, Alex wieder ins Team zu lassen. Luca hörte auf niemanden, oder? Na ja, vielleicht auf seinen Vater. Aber wie sollte Sunny den überzeugen? Konnte er Marianne überreden, Aaron zu überreden … Aber das war so hinterlistig.

Es ist wohl das Beste, es erstmal bei Luca selbst zu probieren, dachte er. Nur, wie sollte er den je alleine erwischen? Zuhause würde er bei all dem Gebrüll und Gewusele nie einen ruhigen Moment finden.

 

1.10 Gefährlich bis lebensgefährlich

 

Sunny hatte Glück. Als er nach Hause kam, stiegen Aaron und Lucas Brüder gerade in den Van. Marianne kam aus der Haustür, geschminkt und zurechtgemacht. Stimmte ja, heute gingen sie essen. Pizza. Aaron hatte wegen seines Jobs keine Zeit gehabt, zu kochen.

»Da bist du ja!« Marianne lächelte. »Steig ein, wir fahren gleich los.«

»Wo ist Luca?«, fragte Sunny. Unter den Quadratschädeln im Inneren des Vans fehlte der kleinste.

»Dem geht es nicht gut.« Marianne fuhr sich durch die graubraunen Locken. »Er hat gesagt, er hat Bauchschmerzen und bleibt hier.«

Sunny war wie elektrisiert. Das war die Gelegenheit, alleine mit ihm zu sprechen!

»Ich … Also, ich fühle mich auch ein bisschen krank«, log er und schaute elend. »Vielleicht geht da grad was an der Schule rum. Ich glaube, ich lege mich hin.«

»Oh. Na gut. Ich bring dir einen Kamillentee vorbei, wenn wir zurück sind.«

Marianne wirkte niedergeschlagen. Klar, sie musste jetzt ohne Rückendeckung ein Essen mit den Brüllaffen überstehen. Es tat Sunny echt leid, aber er durfte Alex nicht im Stich lassen.

So winkte er fröhlich und trat dann durch die offene Haustür ins Innere. Als sie hinter ihm zufiel, hörte er den schwarzen Van starten. Das Motorengeräusch entfernte sich und Sunny atmete tief ein. Okay. Er würde mit Luca reden. Und er musste ruhig bleiben. Sich nicht provozieren lassen, wenn der blöd reagierte. Was er ganz bestimmt tun würde.

Sunny verbrachte zur Sicherheit fünf Minuten mit Atemübungen, bevor er die Treppe hochging.

Lieber Luca, dachte er. Würdest du Alex bitte wieder ins Team lassen … Er seufzte. Er hörte Luca praktisch schon Nie im Leben, du Lusche! rufen. Aber er würde nicht aufgeben! Egal, wie laut Luca rumbrüllte. Er würde standhalten. Für Alex.

Ein letztes tiefes Einatmen, dann trat er mit erhobenem Kopf durch die Tür zu Lucas Zimmer, dessen Boden mit dreckigen Klamotten und Hanteln übersät war. Luca war da. Mit dem Rücken zu Sunny lag er auf seinem Bett, so dass er nur das graue Shirt und die dunklen Haare seines geliebten Stiefbruders sehen konnte.

»Luca«, sagte Sunny mit fester Stimme. »Würdest du Alex bitte wieder …«

Er erstarrte. Mit einiger Verspätung erkannte sein Gehirn, was Luca da auf dem Bett machte. Warum seine rechte Hand sich in seiner Hose auf und ab bewegte. Warum er auf den Bildschirm seines Handys starrte. Was sein schweres Atmen bedeutete.

Rückzug!, schrie Sunnys Gehirn. Rückzug!

In Lucas Ohren steckten Kopfhörer. Zum Glück. Er hatte Sunny nicht bemerkt. Noch nicht. Langsam, ganz vorsichtig, sacht und leise schlich Sunny rückwärts. Atmete lautlos ein und aus. Seine Wangen brannten, als er Lucas immer schneller werdende Handbewegungen sah.

Dann fiel sein Blick auf Lucas Handy. Und sein Herz blieb stehen. Es war klar gewesen, dass der einen Porno schaute. Aber nicht, dass … das einer mit zwei Männern sein würde. Zwei nackten, schwitzenden Typen, die unter der Dusche …Oh, Scheiße!

Lebensgefahr, blinkte in Leuchtschrift vor Sunnys Augen auf. LEBENSGEFAHR!!! Raus hier! SOFORT! Luca bringt dich um, wenn er dich erwischt! Erwürgt dich und vergräbt dich in einem von den Löchern, die er im Garten gebuddelt hat und …

Plötzlich war etwas Metallisches unter Sunnys Fuß. Eine Hantel. Er rutschte weg, ruderte mit den Armen.

Und fiel.

Mit einem lauten Krachen stürzte er zu Boden. Lucas Kopf ruckte hoch. Er fuhr herum. Sunny blickte in seine weit aufgerissenen Augen.

Alle Farbe wich aus Lucas Gesicht, als er ihn erkannte, Sunny schob sich rückwärts, krabbelte panisch über die Dielen in Richtung der Tür. Er kam nicht weit. Kurz, bevor seine Hände die Türklinke erreicht hatten, war Luca über ihm.

Seine Hände schlossen sich wie eiserne Klauen um Sunnys Schultern und nagelten ihn auf den Holzdielen fest. Lucas Augen, eins schiefergrau, eins bernsteinfarben, leuchteten in seinem totenblassen Gesicht. Er sah nicht wütend aus, sondern panisch. Seltsamerweise machte der Schrecken in seinen Zügen Sunny mehr Angst als die übliche Wut. Wer so schaute war zu allem fähig.

»Ich … hab nichts gesehen«, piepste Sunny.

Er konnte sich nicht bewegen. Einmal, weil Luca auf ihm hockte und außerdem, weil er starr vor Angst war. Sein Körper fühlte sich an, als wäre er von einem Versteinerungsfluch getroffen worden.

»L-lüg nicht«, krächzte Luca. Das war das Gegenteil eines Brüllens. Gruselig.

Sunny sah sich schon tot, mit einer Hantel erschlagen, in Stücke zerteilt, im Garten vergraben. Tränen stiegen in seine Augen. Ein Schluchzen kletterte seine Kehle hinauf. Aber er schluckte es herunter.

Nein, dachte er. Nicht nochmal. Wenn ich sterbe, dann … dann nicht wie die Heulsuse, für die Luca mich hält.

»La-la-lass mich los«, stotterte er. »Bitte.«

»Was tust du hier?«, zischte Luca.

Sein Griff lockerte sich kein Stück. Sunny musste ihn beruhigen. Aber wie?

»Ich wollte mit dir reden«, sagte er. Luca schien ihn nicht mal zu verstehen.

»Was tust du hier? Warum?« wiederholte er. »Warum musstest du hier reinkommen, verdammt?«

»I-ist doch nicht so schlimm«, flüsterte Sunny, ohne darüber nachzudenken. »Weißt du, ich … ich bin auch schwul«

»ICH BIN NICHT SCHWUL!«, brüllte Luca. Sehr gut. Brüllen war normal. Nicht wie diese bleiche Verzweiflung. Und dann blinzelte er. »Äh … echt?«

Sunny nickte, so gut er konnte.

»Würdest du mich loslassen?«, bat er höflich.

Und erstaunlicherweise lockerte Luca seinen Griff. Die Klauen verließen Sunnys Schultern. Er stieg von ihm herunter und setzte sich auf den Boden. Sunnys Herz hämmerte so heftig, dass es fast aus seiner Kehle gesprungen wäre.

Er war ein wenig stolz auf sich. Er hatte nicht geweint und sich auch nicht – er schaute sicherheitshalber nach – in die Hose gemacht. Keine schlechte Leistung, wenn man bedachte, wen er da vor sich hatte.

Luca starrte ihn an, als würde er ihn zum ersten Mal sehen. Ein helles und ein dunkles Auge durchbohrten Sunny. Das wäre der Moment gewesen, um schnell abzuhauen. Aber er blieb sitzen, gegen die Tür gelehnt.

Wo sollte er auch hin? Die Türen ließen sich nicht abschließen, und wenn Luca ihm etwas tun wollte, war der eh nicht zu stoppen. Aber Luca saß da wie versteinert. Schließlich färbten sich seine Wangen rot und er knöpfte hastig seine Hose zu. Sunny hatte gar nicht gemerkt, dass die noch offen gewesen war.

Zu spät, dachte ein verräterischer Teil seines Gehirns, als Luca alles wieder verstaut hatte. Jetzt hast du gar nichts gesehen.

Ehrlich, Sunny verabscheute diesen Teil von sich. Es war der böse. Der, der auch für Wut und Hass und alles Schlechte zuständig war.

Die Minuten verstrichen. Sunnys Hals war so staubtrocken, dass er kaum sprechen konnte.

»Also … wissen deine Brüder es?«, fragte er schließlich.

Lucas Augen wurden riesig. Ein heiseres Lachen drang aus seiner Kehle.

»Bist du verrückt?«, krächzte er. »Ich … ich weiß nicht, was die machen würden, wenn …«

Mit einem Mal sah er aus, als würde er gleich den Boden vollreihern.

»Du kannst es ihnen nicht sagen«, brachte er hervor. Und dann sagte er das Schockierendste, was Sunny heute gehört hatte: »Bitte.«

Sunny schüttelte den Kopf, erst langsam, dann entschlossener.

»Mach ich nicht, keine Sorge. Auf keinen Fall. Nie.« Er zögerte. »Marianne weiß auch noch von nichts. Wegen mir, meine ich. Wäre lieb, wenn du … Ich meine, ich will es ihr irgendwann sagen. Ich warte nur auf den richtigen Moment.«

Luca gab ein zustimmendes Geräusch von sich. Er wirkte immer noch, als hätte er einen Geist gesehen. Mit einem Mal tat er Sunny leid.

Er erinnerte sich daran, wie Aaron gestern gesagt hatte, dass er keine Mädchen erziehen würde. Daran, wie oft die vier Brüder sich gegenseitig als Schwuchteln beschimpften. Hatte Luca da besonders laut zurückgebrüllt? Die Furcht, die Sunny nun sah, war die die ganze Zeit da gewesen?

»Hast du … Angst davor, was sie sagen wird? Marianne?«, fragte Luca, so leise, dass er ihn kaum verstand.

»Nein, nicht wirklich«, sagte Sunny. »Ich will nur … Ich hab diese Idee. Eine etwas blöde Idee, wenn ich ehrlich bin. Ich wollte es ihr sagen, und ihr dann gleich meinen Freund vorstellen. So, dass es sofort perfekt ist. Nur … nur hab ich keinen Freund.«

»Ah.«

Falls Luca auffiel, wie sinnlos Sunnys Plan war, ließ er es sich nicht anmerken. Er zog die Beine an und kauerte sich zusammen. Dass er so verloren aussah, schnürte Sunnys Brust zu. Am liebsten hätte er Luca in den Arm genommen und getröstet (Getröstet! Luca!), aber das war vermutlich eine noch blödere Idee.

»Ich kann es ihnen nicht sagen«, murmelte Luca. »Nie.«

Es klang so endgültig, dass Sunny fast die Klappe gehalten hätte.

»Warum?«, fragte er stattdessen. Luca schloss die Augen.

»Er hat … Dad hat gesagt …« Luca schaffte es nicht, weiterzusprechen.

Sunny legte den Kopf schief und betrachtete die zusammengesunkene Gestalt vor sich. »Aber deine Brüder, die … würden die zu dir halten?«

Ein Kopfschütteln, so sacht, dass er es beinahe nicht gesehen hätte. Sunny hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Er rechnete damit, dass Marianne sich total freuen würde, dass er einen Freund hatte. Wenn er ihn hatte. Würde sie doch, oder? Auf jeden Fall war die Hürde, die ihn davon abhielt, es ihr zu erzählen, wohl ein kleines Stöckchen im Vergleich zu der Barrikade, vor der Luca stand.

»Hast du … schon jemanden in Aussicht?«, fragte Luca plötzlich. »Den du ihr vorstellen kannst, meine ich.«

»Ja … Nein … Ich bin in jemanden verliebt, aber der … Also, erstmal wird das wohl nichts.«

»Ist es Alex?«

Ups.

»Ist das so offensichtlich?« Sunny lächelte, ein wenig schief. Luca zuckte mit den Achseln. Er schien immer noch unerträglich traurig.

»Schon, wenn man's weiß.« Er seufzte.

Und dann herrschte wieder Stille. Sunny wollte etwas tun. Irgendetwas, um Luca in Ordnung zu bringen. Ihm wäre es inzwischen lieber gewesen, wenn der ihn angebrüllt hätte, anstatt weiter so dazuhocken. Ein Gedanke schoss in sein Hirn.

»Hast … du einen Freund?«, fragte Sunny. »Einen heimlichen oder so?«

Ein bitteres Lachen war die Antwort.

»Ich?« Luca verzog das Gesicht. »Ich hab noch nicht mal jemanden geküsst. Dabei bin ich fast achtzehn.«

Seine Züge waren weicher geworden. Sunnys Herz nahm wieder Fahrt auf. Er konnte nicht … Konnte er nicht, oder?

»Was ist?«, fragte Luca, als er Sunnys Blick bemerkte. Er wollte noch etwas sagen, aber da hatte Sunny sich schon vorgebeugt und seinen Mund auf Lucas gepresst.

Es war ein ungeschickter Kuss und er dauerte nicht mal eine Sekunde. Gerade genug, um Lucas Lippen zu spüren, die erstaunlich nachgiebig waren.

»Jetzt hast du jemanden geküsst. Also sei nicht traurig«, sagte Sunny und lächelte aufmunternd.

Luca starrte ihn an. Und Sunny wurde klar, was er da angestellt hatte.

»Tut mir leid!«, rief er und sprang auf. »Tut mir echt leid. Ich …«

Er wusste nicht, wie er den Satz beenden sollte. Also riss er die Tür auf und rannte aus dem Zimmer. Polterte die Treppe hoch und warf sich auf sein Bett.

Scheiße. Was hatte er getan?

Das fragte er sich, immer und immer wieder, während er mit rasendem Puls auf den Laken lag und an die Decke starrte. Was hatte er getan? Warum? Durfte man das, so einfach … Wie peinlich war das denn bitte? Und was würde Luca dazu sagen?

So nervös, dass er den eigenen Herzschlag in den Ohren pochen hörte, wartete er auf Schritte auf der Treppe. Darauf, dass sein neuer Stiefbruder hereinkommen würde. Aber nichts geschah.

Erst viel später fiel ihm ein, dass er nicht mit ihm über Alex geredet hatte.

 

1.11 Angst und Schrecken

 

Verdammt. Er hatte … Er wusste es. Jemand kannte sein Geheimnis und es war ausgerechnet dieser Lappen.

Luca war schlecht vor Angst. Was, wenn diese Lusche gelogen hatte, als er versprochen hatte, die Klappe zu halten?

Das Wochenende über war nichts passiert. Er war Sunny aus dem Weg gegangen und der ihm. Einmal waren sie sich im Flur begegnet, zusammengezuckt und stumm aneinander vorbeimarschiert.

Dieser blöde Lockenkopf. Und außerdem … hatte er ihn geküsst. Luca konnte den Geist von Sunnys Lippen auf seinen eigenen spüren. Immer. Morgens, wenn Dad hereinkam und brüllte, dass sie aufstehen sollten. Beim Training, wenn er sich an den dicken Seilen entlanghangelte und mit seinen Brüdern um die Wette rannte, über liegende Autoreifen und unter Stacheldraht hindurch. Und auch jetzt, am Sonntagabend, als sie alle gemeinsam im Steakhaus hockten.

Countrymusik dudelte im Hintergrund, Bratgeruch und Stimmengewirr lagen in der Luft. Lars und Lothar stritten sich um das letzte Steak. Marianne schwieg verbissen. Dad legte einen Arm um sie und ihr Gesicht hellte sich auf. Und neben seiner Mutter saß Sunny und war … sonnig. So wie immer halt. Ständig hatte er ein Lächeln auf den Lippen. Den Lippen, mit denen er …

Luca sollte keine so große Sache daraus machen. Was war das schon gewesen? Ein harmloser Schmatzer. Wie er sich benahm, das war einfach nur peinlich. Aber er konnte nicht anders.

Alle fünf Minuten erlaubte er sich, in Sunnys Richtung zu blicken. Und keine Sekunde früher.

Sonnig. Alles an ihm war warm, seine Augen, die viel zu langen Locken, die wie ein Nest um seinen Kopf herum wuchsen. Und seine Haut, die von innen zu leuchten schien …

Ein Gedanke kam Luca und er fühlte sich, als wäre er ins Eis eingebrochen.

Mit wem war die Lusche befreundet? Richtig, mit Alex. Alex, der seinen Posten als Kapitän wollte. Alex, der keine Skrupel kannte. Der sich an Rudis Freundin herangemacht hatte, der Kolja fast den Knöchel gebrochen hatte, nur, weil sie gegen ihn gestimmt hatten. Was würde der mit dem Wissen machen, dass Luca auf Jungs stand?

Was schon. Ihn erpressen. Oder es gleich allen sagen. Die Jungs waren ansonsten in Ordnung, aber wenn sie herausfanden, dass er eine Schwuchtel war, würde er aus dem Team fliegen. Und dann würde Dad es auch gleich erfahren.

»Was ist los, Zwerg?« Lothar boxte ihm in die Seite. »Kein Hunger?«

Luca blickte auf seinen Teller. Da lag ein Steak, und es fehlte nur eine Ecke. Bei dem Gedanken daran, mehr zu essen, drehte sich ihm der Magen um. Wortlos schob er es Lothar hin, der sich freudig darauf stürzte.

Und dann merkte er, dass Sunny ihn ansah. Der wandte den Blick nicht ab, als Luca zurückstarrte. Ihm stumm zu verstehen gab, dass er nicht so auffällig sein sollte. Aber die Lusche hörte nicht. Seine hellbraunen Kulleraugen mit den dunklen Wimpern schauten ihn unverwandt an.

Kein Wunder, er hatte Luca in der Hand. In seiner winzigen, viel zu zarten Hand, mit der er gerade ein Stück Salat aufpickte. Und seinen Blick wieder auf Luca richtete. Und lächelte. Als Luca die Grübchen in Sunnys Wangen sah, fröstelte er. Dann ballte er die Fäuste.

Willst du mich erpressen, Lusche?, dachte er. Ganz dumme Idee. Das beweise ich dir, sobald wir das nächste Mal allein sind.

 

1.12 Wenn und Aber

 

»Und? Hast du mit ihm geredet?«, fragte Alex, als sie sich am nächsten Morgen vor dem Schultor trafen. Seine Augen leuchteten erwartungsvoll und Sunny hasste es, ihn zu enttäuschen.

»Ist leider was dazwischengekommen«, sagte er wahrheitsgemäß.

»Ah.« Alex musterte ihn verblüfft. Klar, sonst erledigte Sunny alles, um das er ihn bat, sofort. »Und wann sprichst du mit ihm?«

»Äh. Muss ich?« Sunny sah Alex flehend an. »Kannst du … kannst du das nicht selbst machen?«

Es war ihm viel zu peinlich, auch nur in Lucas Nähe zu sein. Obwohl … irgendwie hatte es gut getan, mit ihm zu sprechen. Sonst kannte nur Alex sein Geheimnis, und der wollte nie darüber reden, also tat Sunny es nicht. Es Luca zu erzählen, war richtig … befreiend gewesen. Nur dann hatte er …

Er musste sich entschuldigen. Egal, wie. Gestern, beim Abendessen, hatte er versucht, Luca stumm zu signalisieren, dass er nichts verraten würde. Dass Luca ihm vertrauen konnte. Aber war das auch so angekommen?

»Sunny. Mann, du kannst mich doch nicht einfach im Stich lassen. Du musst mit ihm reden.« Alex boxte ihm schmerzhaft auf den Oberarm. »Komm schon. Du musst.«

»Ja.« Sunny schluckte. »Ja, du hast recht.«

»Natürlich habe ich das.«

Sie betraten den Schulhof. Alex schritt über den grauen Asphalt wie ein König. Und Sunny wie … sein Berater? Eher sein Sidekick. Er war gerne Alex' Sidekick. Alex war wie ein Held aus einem Märchen oder so. Selbst das kackbraune Schulgebäude wirkte etwas freundlicher, wenn Alex darin herumspazierte. Und die graugestrichenen Flure schienen richtig gemütlich.

Die Schulglocke schrillte. Gleich würden die Gänge voll mit anderen Schülern sein.

»Ich … hab jemanden geküsst«, murmelte Sunny. Er wusste nicht mal, warum.

»Was?« Alex wirkte nervös. »Ein Mädchen? Wen?«

Sunny schüttelte den Kopf.

»Einen Jungen.«

»Sunny« Alex seufzte. Er sah sich um. »Das ist keine gute Idee. Du weißt nicht, was die mit dir machen, wenn …«

»Wird eh nicht wieder vorkommen«, sagte Sunny. Es war nett, dass Alex sich Sorgen um ihn machte.

Dann füllten sich die Flure und er konnte nicht weitersprechen. Er wusste eh nicht, warum er das gesagt hatte. Alex wollte über solche Sachen nicht sprechen. Aber Sunny platzte fast und der Einzige andere, dem er das erzählen konnte … wusste es bereits. Sunny kapierte auch nicht, warum es ihn so beschäftigte.

Er hatte schon geküsst. Mit Zunge und allem. Wenn er mit Alex unterwegs gewesen war und sie Mädchen kennengelernt hatten. Die waren immer zu zweit, mindestens, und wenn Alex sich ausgiebig mit einer beschäftigen wollte, musste Sunny mit der anderen reden. Leider wollten sie oft mehr als reden.

Er fühlte sich nicht gut dabei. Meistens zog er sich mit der Ausrede, er sei unglücklich in jemanden verliebt, aus der Affäre. Stimmte ja auch. Nur, dass er stets erzählte, er sei noch nicht über seine Exfreundin hinweg. Und nicht über Alex, der zu dem Zeitpunkt oft schon mit dem jeweiligen Mädel verschwunden war.

Aber das mit Luca … Das war anders gewesen. Harmlos, aber es hatte sich richtig angefühlt. Schade, dass es nur eine Sekunde gedauert hatte. Ob er Luca vorschlagen konnte, das zu wiederholen? Der war zwar ein gefährlicher Brüllaffe, aber …

Kein Aber. Das war eine dumme Idee. Außerdem liebte Sunny einen anderen. Allerdings ging Alex mit wirklich jeder ins Bett, die interessiert war, also warum sollte Sunny nicht auch …

»Was denke ich da?«, flüsterte er.

»Keine Ahnung. Du bist komisch, Alter.« Alex sah ihn spöttisch an. Sunny zuckte zusammen.

»Nichts. Nur so 'ne Idee. Eine dumme.«

Eine ganz dumme.

 

1.13 Treffen im Dunkel

 

»Komm mit!«

Alina-Lara und Mandy schraken zusammen, als Luca plötzlich vor ihnen auftauchte, breit wie ein Schrank, mit einer Miene wie ein aufziehendes Unwetter. Nur Sunny blieb, wo er war. Irgendwie hatte er sich an Luca gewöhnt. Er fand ihn nicht mehr so bedrohlich, seit er wusste, dass sie etwas gemeinsam hatten.

»Wohin?«, fragte er. Luca blinzelte, als sei er erstaunt, dass Sunny nicht einfach mitkam. Das blauweiße Mannschaftstrikot schlug Falten über seiner muskulösen Brust. »Und hast du nicht gleich Training?«

»In 'ner Viertelstunde. Und jetzt komm«, knurrte Luca. Sein Gesicht kam näher. Selbst das wirkte weniger unheimlich. Eigentlich waren diese verschiedenfarbigen Augen ganz charmant.

»Okay.« Sunny zuckte mit den Achseln.

»Was?« Mandy blickte zwischen Luca, der mit geballten Fäusten vor ihnen stand, und dem menschenleeren Flur hin und her. »Tu das nicht. Der wird …«

»Was wird der?«, grollte Luca und Mandy verstummte. Sie sah ihn an, als wäre er der große böse Wolf und sie die drei kleinen Schweinchen.

»Keine Angst.« Sunny lächelte ihnen zu. »Dauert ja nur 'ne Viertelstunde. Wartet ihr im Proberaum?«

»Na … na gut.« Mandys Stimme zitterte nur leicht. Aus schmalen Augen sah sie zu Luca hoch. »Und … wenn Sunny nur eine Minute zu spät kommt, ruf ich die Polizei, ist das klar?«

Luca schnaubte.

»Klar.«

Er packte Sunny am Arm und zerrte ihn mit. Der hatte Mühe, nicht zu stolpern. Er wunderte sich über sich selbst. Klar hatte er Angst. Ein wenig. Aber vor allem war diese blöde Idee wieder in seinem Schädel aufgepoppt, sobald er Lucas verbissenes Gesicht gesehen hatte. Er war nicht sicher, ob sein Herz deshalb so laut hämmerte oder weil er sich fürchtete.

Luca schleifte ihn bis in einen kleinen Raum am Ende des Ganges, dann warf er die Tür hinter ihnen zu und drehte den Schlüssel im Schloss. Sunny schluckte. Okay, so langsam gewann die Panik doch wieder an Boden.

»Das … ist das Klassensprecherzimmer, nicht wahr?«, fragte er mit piepsiger Stimme, obwohl er das genau wusste. Er kannte den fensterlosen Raum mit dem Ecktisch und dem alten grünen Sofa. Luca nickte.

»Hab mir den Schlüssel von Kolja geliehen.«

Er sah sich um, als könnte sich jemand in dem winzigen Zimmer versteckt halten. Dann dimmte er die Deckenlampe, bis Sunny im Dämmerlicht kaum die Umrisse der Möbel erkennen konnte. Immer noch bohrten sich Lucas Finger in seinen Oberarm.

»Was wolltest du denn besprechen?« Sunnys Stimme klang so mickrig. Verdammt.

Lucas helldunkler Blick grub sich in Sunnys Augen. Die bernsteinfarbene Iris seines rechten Auges schien im Dunkel zu leuchten.

»Wem hast du davon erzählt?«, fragte er. Seine Stimme war ein tiefes Grollen.

Sunnys Knie begannen, zu zittern. Aber er war nicht absolut sicher, ob das aus Furcht war.

»Wovon?«, fragte er.

Luca blinzelte.

»Na, von … mir. Tu nicht so blöd!«

»Ah.« Sunny war fast ein wenig enttäuscht. »Na, keinem. Hab ich doch gesagt. Ich … Hast du mich nur deshalb hergeschleppt? Um mir Angst zu machen?«

»Warum denn sonst?« Lucas Augenbrauen zogen sich zusammen.

»Um mich zu verführen«, platzte Sunny heraus.

»Was?!« Luca schien ehrlich entsetzt. Er ließ Sunnys Arm los und machte einen Satz rückwärts, als hätte Sunny sich plötzlich in eine Schlange verwandelt.

»Na, ich dachte … als du das Licht gedimmt hast … und die Tür abgeschlossen …«

Sunny kam sich unglaublich blöd vor. Was zur Hölle redete er da? Er musste hier raus. Sofort. Dieser Dummbeutel war schlecht für sein Gehirn und Lucas schockiertes Gesicht regte ihn irgendwie auf. Sunnys Finger tasteten nach dem Schlüssel. Sofort war Luca wieder bei ihm und presste ihn gegen die Wand.

Er roch gut. Nach Gras und Erde und Sommer. Vermutlich von diesem komischen Morgentraining.

»Wo willst du hin?« zischte Luca. Sunny probierte es mit einem Witz.

»Na, wenn du mich nicht verführen willst, kann ich ja auch gehen.« Er schob die Unterlippe vor. Leider hatte Luca nicht den gleichen Humor wie er. Er knurrte leise.

»Hör auf, mich zu verarschen!«, bellte er. »Du wirst niemandem etwas sagen, hast du verstanden? Niemandem!«

»Das hatten wir doch schon …«

»NIEMANDEM!« Er konnte das Weiße in Lucas Augen sehen. Sein Stiefbruder presste ihn mit seinem Körper gegen die Tür. Sein Unterarm quetschte Sunnys Brustbein und sein warmer Atem streifte über Sunnys Lippen. »Nicht deinen Freundinnen, nicht diesem Sackgesicht Alex, nicht …«

»Er ist kein Sackgesicht!« Wut schoss in Sunnys Glieder. »Nenn ihn nicht so.«

»Oh, Entschuldigung«, schnaubte Luca. »Ganz vergessen, dass du scharf auf ihn bist. Meinst du echt, der lässt dich ran? Der rennt doch jeder Muschi hinterher, die er kriegen kann …«

Er taumelte rückwärts. Fast wäre er gestürzt. Sunny blickte erstaunt auf seine eigenen ausgestreckten Arme. Er hatte Luca geschubst? Und das hatte irgendetwas bewirkt?

»Du … bist stärker, als du aussiehst«, sagte Luca, ebenso verblüfft.

»Yoga ist gut für die Tiefenmuskulatur.« Sunny straffte sich. »Also … komm bloß nicht näher.«

Luca lachte schnaubend.

»Ja, klar. Nochmal erwischst du mich nicht unvorbereitet, du Schwächling.«

»Ach ja?« Die Wut tobte in Sunnys Körper und es war ihr egal, wie gleichmäßig er atmete. »Probier's doch aus, du … Dummbeutel!«

Luca probierte es. Einen Moment später hatte er Sunny wieder gegen die Tür gedrückt, mit seinem ganzen Körpergewicht. Sunny zappelte und wand sich, aber er konnte Luca keinen Millimeter bewegen. Seine Schulterblätter schrappten über das Holz der Tür, als er versuchte, sich zu entziehen.

»Netter Versuch, Lusche«, flüsterte Luca und grinste. Fies. Sah aber … irgendwie nicht übel aus, so im Halbdunkel. Nicht so gemein wie sonst.

Sunnys Brust explodierte fast. Er spürte Lucas Atem auf seinem Gesicht. Heiß. Ein wenig feucht.

Oh. Er schluckte. Dieses freudige Ziehen erfasste seinen Unterleib. Und es war komplett unangebracht. Zum Glück berührte Luca ihn dort nicht, also konnte er nichts mitbekommen. Obwohl, wenn er ihn da berührte, würde es sich bestimmt ziemlich gut anfühlen …

Fokus, dachte Sunny. Was jetzt?

»Lass mich los«, brummte er. Seine Wangen fühlten sich an, als würden sie gleich verglühen.

»Vergiss es. Sag mir, dass du mich nicht verrätst oder ich prügel die Scheiße aus dir raus.« Lucas Stimme war zu einem wölfischen Grollen geworden.

Sunny fürchtete sich kein Stück.

»Ich hab dir doch schon gesagt, dass ich die Klappe halte«, sagte er. »Bist du blöd oder … Was ist?«

Lucas Blick flackerte mit einem Mal. Er senkte den Kopf zu Sunny herunter … und an ihm vorbei. Seine Stirn presste sich gegen die Tür. Sunny fühlte seine hektischen Atemzüge auf seiner Schulter. Spürte Lucas kurzgeschorene Haare, die sein Ohr kitzelten.

Stille. Bis auf das Atmen. Und die Schritte von irgendwem, der draußen vorbeilief. Sich entfernte. Sunny fühlte nur noch seinen Herzschlag und Lucas Brust an seiner. Den Kopf neben seinem. Na ja, und die Klaue, die ihn an die Tür pinnte.

»Äh«, sagte er schließlich. »Was machst du da?«

Hektisches Atmen. Ein, aus. Ein, aus. Ein …

»Ich … versuche, dich nicht zu küssen, verdammt«, brachte Luca zwischen zwei Atemzügen hervor. Seine Stimme klang gepresst. Was?

»Äh …«, begann Sunny von neuem. »Verstehe ich das richtig? Du willst mich küssen?«

»Halt die Klappe«, flüsterte Luca. Als wäre seine Selbstbeherrschung kurz davor, zu Staub zu zerbröseln … Sunny schluckte.

»Du hast kein Problem damit, mir Schläge anzudrohen und mich zu verprügeln?«, fragte er ungläubig. »Aber beim Küssen bist du plötzlich zimperlich?«

»Ich hab gesagt, du sollst die Klappe halten.« Luca klang überhaupt nicht mehr bedrohlich. Nur noch panisch.

»Ganz schön erbärmlich, du Lappen«, sagte Sunny.

»HALT DIE KLAPPE HAB ICH GESAGT!«

Hektisches Atmen. Sunnys Ohren klingelten. Aber sein Unterleib kam auf blöde Ideen und gab sie an seinen Mund weiter.

»Wenn … wenn du mich loslässt, darfst du mich küssen.«

»Was?« Lucas Gesicht tauchte wieder auf. Seine Wangen waren so gerötet, wie Sunnys sich anfühlten.

»Du kannst mich küssen«, wiederholte Sunny. »Wenn du endlich loslässt.«

Luca blinzelte. Sein Griff lockerte sich. Seine erhitzte Miene wurde kleiner. Kam wieder näher. Entfernte sich. Sunny knurrte leise. Frustration stieg in ihm auf. Er war so nah dran gewesen, so dicht davor …

»Jetzt mach schon«, flüsterte er. »Du Feigling.«

Lucas Augen blitzten zornig. Er hob die Hand. Einen Moment lang dachte Sunny, er wollte ihn schlagen. Wollte er nicht. Zögernd strich Lucas Daumen über seine Wange und griff in seine Locken.

Luca küsste ihn. So vorsichtig, wie Sunny es ihm nie zugetraut hätte. Seine Lippen berührten Sunnys kaum, kitzelten nur sacht darüber. Trotzdem hatte Sunny das Gefühl, sein Magen wäre ein Aufzug, der gerade abstürzte. Ein Rausch erfasste seinen ganzen Körper. Als würde das Blut mit hundertfacher Geschwindigkeit durch seine Venen rasen. Er konnte sich nicht bewegen. Nur stumm dastehen, mit hängenden Armen und die sanfte Berührung von Lucas Mund fühlen.

Dann war sie verschwunden. Luca drehte sich weg, gab ein gepresstes Geräusch von sich. Und befand sich auf einmal auf der anderen Seite des Raums. Sunny starrte ihn an. Diesen breiten Rücken. Lucas Hände pressten sich um seinen Schädel, als wollte er einen bösen Gedanken zerquetschen.

»Nein«, murmelte er. »Nein. Nein. Nein.«

»Luca?« Sunny erkannte seine eigene Stimme kaum wieder. So rau. So … drängend. »Kannst du das nochmal machen?«

Sein Stiefbruder fuhr herum, starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Furchtsam. Wie ein Fuchs in der Falle.

»Darf nicht …«, murmelte er.

Sunnys Atem ging stoßweise.

»Bitte«, flehte er.

Luca wimmerte leise. Mit drei Schritten war er bei Sunny. Seine Unterarme krachten links und rechts von Sunnys Kopf gegen die Tür. Seine verschiedenfarbigen Augen glühten, in Großaufnahme, im Halbdunkel leuchtend …

Er wandte sich ab und seine Körperwärme verschwand. Er biss sich auf den Daumen. Hastete auf und ab wie ein Leopard im Käfig. Ein Gefühl, als würde er gleich bersten, baute sich in Sunny auf.

»Bitte«, wisperte er. »Bitte. Bitte …«

Heiße Lippen auf seinen. Eine Explosion in seiner Brust. So gut.

Und dann war Luca wieder am anderen Ende des Zimmers und flüsterte mit sich selbst.

Der Kerl war wahnsinnig, eindeutig. Aber Sunny war ja genauso verrückt.

Dreimal schaffte er es, Luca zu sich zu locken. Drei perfekte Sekunden, in denen Lucas Küsse immer dringlicher wurden. Dann verlor Sunny die Kontrolle.

Als Luca sich das nächste Mal von ihm abwenden wollte, klammerte er sich einfach an ihn und presste seine Lippen auf Lucas. Hart, beinahe brutal. Drang mit der Zunge in seinen Mund ein. Und nach einem Moment des Zögerns machte Luca mit.

Seine Hände krallten sich in Sunnys Rücken, zerrissen fast den Stoff seines Shirts. Sunny schmolz. Trank das Glück, das von diesem Kerl ausging, der nach Erde roch und Gras und allem, was gut war, und … und in dessen Trikothose sich eine riesige Beule bildete, wuchs und gegen die Wölbung in Sunnys Jeans drückte … Oh Gott.

Die pure Seligkeit, dachte Sunny. Besser geht's nicht, besser kann es nie …

Mit einem Keuchen riss Luca sich los. Sunny stolperte zurück, bis er gegen die Türklinke prallte. Er sank zu Boden, zu überspannt, um sich auf den Beinen zu halten. Luca tat es ihm gleich. In Sicherheit, am anderen Ende des Raums. Schwer atmend, das Haupt in den Händen vergraben. Fast tat er Sunny ein wenig leid.

»Alles gut?«, flüsterte Sunny, nachdem Luca sich minutenlang nicht bewegt hatte.

Lucas Antwort wurde vom Schrillen der Schulglocke übertönt. Sein Kopf ruckte hoch.

»Scheiße!«, stieß er hervor. »Ich muss zum Training!«

»Oh.« Enttäuschung trübte Sunnys Stimme. »Na gut. Dann geh halt …«

»So?« Luca sprang auf. Er deutete auf seinen Schritt, in dem sich ein riesiges Zelt spannte. »Ich … verdammt!«

Sunny leckte sich die Lippen, die mit einem Mal sehr trocken waren.

»Wart halt ein paar Minuten«, sagte er, so ruhig er konnte. Das Fieber in ihm wollte nicht abklingen.

»EIN PAAR MINUTEN?« Luca gab ein heiseres Krächzen von sich. »Das … das geht die nächsten paar Stunden nicht weg. Scheiße …«

Bei mir auch nicht, wollte Sunny sagen. Aber sein Hals war wie ausgetrocknet. Luca sah sich im Raum um, als hielte der eine Lösung parat. Dann fiel sein Blick auf Sunny.

»Also«, sagte Sunny. Sein Mund bewegte sich wie von selbst. Vielleicht konnte er ja …

»Sieh nicht hin«, befahl Luca. Sein Gesicht war eine einzige Drohgebärde. Und, als er die absolute Abwesenheit von Furcht in Sunnys Zügen sah, fügte er sogar ein »Bitte« hinzu.

»Ja. Ja, klar. Schon gut.« So langsam drang die Erkenntnis in Sunnys Kopf. Darüber, was sie hier taten. Oh Mann. »Ich schau weg.«

Zur Sicherheit wandte Luca sich ab. Sunny sah nur seinen breiten Rücken. So wie vor ein paar Tagen, als er unangemeldet in sein Zimmer gestürmt war. Sunny gab sich die größte Mühe, den Blick abgewandt zu halten. Er erkannte sich nicht wieder. Er benahm sich wie … wie ein ekelhafter Lustmolch. Der arme Luca.

Trotzdem pochte sein ganzer Körper, als er die Geräusche hinter sich hörte. Spucken. Hektisches Reiben. Unterdrücktes Stöhnen. Schnelleres Reiben.

Leises Fluchen?

»Alles okay?«, fragte Sunny.

»Ja … nein …«, motzte Luca. »Ich bin zu nervös.«

Die Glocke läutete ein zweites Mal.

»Scheiße!« Dem dumpfen Ton zufolge hatte Luca gerade gegen die Wand geboxt. Sunny atmete tief ein. Er räusperte sich.

»Ich helfe dir«, sagte er.

»NEIN!«

Er sah Luca nicht, starrte immer noch auf die weiße Tapete. Aber er hörte, dass der herumfuhr.

»Ich schaue auch nicht«, sagte Sunny leise. »Versprochen.«

»Auf gar keinen … Nein.« Luca klang schon weniger überzeugt,

»Versprochen«, wiederholte Sunny, weil ihm nichts Besseres einfiel. Erstaunlicherweise funktionierte es.

»Okay«, murmelte Luca. »Aber … okay.«

Mit weichen Knien ging Sunny zu ihm herüber. Luca wandte ihm wieder den Rücken zu. Den kräftigen Rücken. Seine Muskeln fühlten sich steinhart an, als Sunny sich dagegen lehnte und seine Nase in Lucas Hinterkopf drückte.

Vorsichtig tasteten seine Finger um Lucas Körper herum. Feste Bauchmuskeln. Hervorstehende Hüftknochen unter zarter Haut, kurzgeschorene drahtige Haare. Und dann … samtige Härte. Sunny schluckte trocken, als er die Hitze unter seinen Handflächen spürte. Er hörte ein scharfes Einatmen. Luca wimmerte leise. Unter Sunnys Fingern zuckte es. Langsam schloss er sie zu einer Röhre zusammen und begann, sie auf und ab zu bewegen.

Das Wimmern wurde lauter. Luca legte den Kopf in den Nacken und ließ es zu, dass Sunnys Lippen über seine Halsbeuge strichen. Er wirkte so hilflos … Ein Zittern rann durch Luca und er erstarrte. Seufzte. Leise, soviel leiser als er sonst je war. Sunny spürte ihn noch einmal anschwellen, zucken und beben. Dann ein gewaltsames Aufbäumen und Luca überflutete Sunnys Hand. Sunny spürte die zähe Flüssigkeit zwischen seinen Fingern hervorquellen und auf den Boden tropfen.

Lucas Körper erschlaffte in seinen Armen.

»Besser?«, fragte Sunny im Flüsterton.

Als wäre Luca sein Patient oder so und nicht … was immer er war. Sein … Keine Ahnung. Der Typ, der zusammenfuhr, als er seine Stimme vernahm, sich losriss, seine Hose hochzerrte. Und flüchtete.

Sunny hörte den Schlüssel im Schloss quietschen. Dann knallte die Tür gegen die Wand.

Luca war weg.

Sunny atmete tief ein und aus, aber das brachte gar nichts. Wie ein Zombie wankte er zur Tür und schloss sie wieder ab. Gut, dass Luca den Schlüssel dagelassen hatte …

Was war gerade passiert? Mit Luca, aber vor allem … mit ihm? Was hatte ihn dazu gebracht, Luca zu reizen, anzuflehen, zu provozieren? So war er doch sonst nie. Als wäre er …

»Ich bin ein Tier«, flüsterte Sunny. Ein wildes Tier. Das ging nicht. So konnte er sich nicht benehmen. Er musste … Er würde … Würde er es schaffen, sich zu beherrschen, wenn er Luca das nächste Mal begegnete? Der arme Kerl.

Sunny sank zu Boden. Am Anfang hatte er sich vor Luca gefürchtet, aber … je länger sie hier drin zusammen eingesperrt gewesen waren, desto mehr hatten sich ihre Rollen verkehrt.

Luca hatte Angst vor ihm gehabt. Niemand sonst hatte Angst vor Sunny und dann ausgerechnet dieser hyperaggressive Muskelberg?

Er musste sich entschuldigen. Außerdem musste er Mandy und Alina-Lara schreiben, dass es ihm gut ging, andernfalls würden die echt die Polizei rufen. Oh, und zur Probe musste er gehen. Wie hieß nochmal dieses Stück, das sie seit drei Wochen übten?

»Aber so kann ich da auch nicht hin«, murmelte er. Mit klammen Fingern öffnete er seinen Reißverschluss und erinnerte sich an Lucas Geruch.

 

1.14 Erkenntnis am Morgen

 

Luca hatte gedacht, er wüsste, was Panik sei. Er hatte sich geirrt.

Er hatte nichts mehr unter Kontrolle. Siebzehn Jahre lang, fast achtzehn, hatte er es geschafft, alles in einer kleinen Schachtel tief in sich zu vergraben und dann …

Dann kam Sunny daher und jagte alles in die Luft.

»AUF DIE PLÄTZE! FERTIG! LOS!« Die Stimme seines Vaters hallte über den Rasen. Leif und Lothar sprinteten los. Über die Reifen, bis zur Holzwand. Sie packten die Seile, stemmten die Füße gegen die Wand …

Luca beobachtete sie wie ein Schlafwandler.

»Ich mach dich fertig, Zwerg.« Lars grinste ihn an. Sein breites Gesicht glänzte bereits vor Schweiß. Luca starrte durch ihn hindurch.

»Ja«, sagte er.

»Was?« Lars legte den Kopf schief. »Geht's dir gut, Zwerg?«

»Ja.« wiederholte Luca. Er blinzelte schwerfällig. »Ja.«

»Freak«. Lars schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf seinen Zwilling, der ein paar Millisekunden hinter Lothar lag.

Fast eine Woche war vergangen und Sunny und er hatten es seit Montag vermieden, miteinander zu sprechen. Sich auch nur anzuschauen. Nun war es Samstagmorgen. Die Sonne glitzerte bereits zwischen den Blättern der Buche. Die Buche vor Sunnys Zimmer. Ob er gerade schlief? Ob … Luca schluckte. Egal. Alles egal. Nicht denken. Bloß nicht denken. Vergessen.

Sein Leben lag in Sunnys Händen. Und der konnte damit machen, was er wollte. Konnte Alex alles erzählen. Konnte seinem Vater alles … Luca sah zu seinem Dad hinüber. Der feuerte Leif und Lothar an. So laut, dass die Adern an seinem Hals sich in Seile verwandelten.

Ich lasse nicht zu, dass ihr Schwuchteln werdet, hatte er gesagt. Meine Söhne sind weder feige noch schwach und wer sich daran nicht hält, fliegt raus.

Das war kurz nach Moms Tod gewesen. Luca hörte es in seinem Kopf, als wäre es gestern gewesen. Nun, seitdem hatte Dad die Regeln oft genug wiederholt. Und jetzt …

Wie konnte er Sunny zum Schweigen bringen? Er hatte es versucht. Mit der Methode, mit der er alle Probleme löste. Und die war ihm um die Ohren geflogen.

Hm. Vielleicht sollte er es doch einmal mit Denken versuchen.

Wie hatte … wie hatte sich alles so ins Gegenteil verkehren können? Wieso konnte Sunny sich so … so fröhlich in all dieses Küssen und in … das andere reinstürzen? Als hätte er nur darauf gewartet. Und Luca? Hatte so viel Angst, dass ihm der kalte Schweiß ausbrach, wenn er nur daran dachte. Nicht vor dem Küssen und so. Das war ziemlich verdammt das Großartigste gewesen, was er je gefühlt hatte. So sehr, dass er gerade, im Training mit seinen Brüdern, auf gar keinen Fall daran denken durfte.

Nein. Was ihm vor Panik die Kehle zuschnürte, war, wie seine Familie reagieren würde, wenn sie es herausfanden. Wie das Fußballteam reagieren würde. Ali und Kolja, was würden die sagen? Im Fußball gab es keine Schwuchteln, das war sowas wie eine eiserne Regel und … würden sie sich betrogen fühlen? Würden sie ihn rauswerfen? Rausekeln? Niemand durfte je davon Wind bekommen.

Und genau das war Sunnys Vorteil. Der kannte solche Ängste nicht. Wenn der es seiner Mutter erzählte, würde die ihm auf die Schulter klopfen und ihm einen Tofu-Lolli schenken. Und seine Freundinnen? Und alle anderen? Würden wahrscheinlich sagen, das hätten sie sich eh schon gedacht. Nur bei Alex war Luca sich nicht sicher. Der war …

Luca stockte. Sunny war in Alex verliebt. Konnte er da irgendetwas machen? Einen Weg finden, ihn ruhig zu stellen?

Denken, befahl er sich. Schau dir die Sache mal aus einer anderen Perspektive an.

Hm. Wie sah die ganze Angelegenheit von Sunnys Seite aus? Mit aller Kraft versuchte er sich vorzustellen, er sei eine Lusche mit Engelsgesicht.

Also … Sunny hatte Luca in der siebten Klasse kennengelernt. Als er ihn zum Heulen gebracht hatte … und dann abgehauen war … und ihn danach ständig als Lappen beschimpft hatte … Und das, obwohl Sunny ihm nichts mehr getan hatte. Sich nicht mal gewehrt hatte, wahrscheinlich, weil er sich nicht traute … Wie hatte Sunny sich da gefühlt?

Schlecht, vermutlich. Ein Kloß bildete sich in Lucas Hals.

»LUCA! LARS! BEREIT?«

Er fuhr hoch.

»Ja!«, riefen sie, wie aus einem Mund. Lothar und Leif waren wieder neben ihnen angekommen. Schweiß lief ihnen in Bächen über die Gesichter und sie hechelten wie überzüchtete Hunde. Lars beugte sich vor. Luca machte es ihm nach, aber in seinem Kopf hatten die Gedanken begonnen, sich selbstständig zu machen.

»AUF DIE PLÄTZE!«

Und dann hatte Sunny ihn im Schnee gefunden. Und obwohl er von Luca nie auch nur ein nettes Wort gehört hatte, hatte er sich um ihn gekümmert. Er hatte ja nicht wissen können, dass ihre Eltern sich dadurch kennenlernen würden. Hätte ja keiner geahnt, dass ausgerechnet die beiden aufeinander abfuhren. Luca selbst war aus allen Wolken gefallen.

»FERTIG!«

Sunny hatte Lucas gefährlichstes Geheimnis erfahren. Und ihm zugehört und … und ihm seinen ersten Kuss geschenkt, aus Freundlichkeit, und weil Luca vermutlich verdammt verzweifelt ausgesehen hatte und …

Und er hatte es niemandem erzählt. Sonst hätte Luca längst davon gehört. An der Schule gingen Gerüchte rum wie Lauffeuer. Sunny hatte ihm auch oft genug versichert, dass er die Klappe halten würde, nur hatte Luca ihm nie geglaubt, weil …

Warum eigentlich nicht? Was, wenn Sunny wirklich so nett war, wie er sich gab? Wenn er einfach ein guter Kerl war, der anderen gern half? Dann war Luca …

»LOS!!!«

Lars sprintete davon, dass die Grashalme flogen.

Luca blieb stehen. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Baseballschläger, mitten in die Fresse.

»Ich bin ein dummes Arschloch«, murmelte er.

Lothar sah ihn ungläubig an.

»Das merkst du jetzt erst?«

 

1.15 Anders aber besser

 

Die Zwillinge redeten beim Frühstück über irgendein Spiel. Ein Fußballspiel. Immerhin das wusste Sunny. So langsam kristallisierten sich ein paar Dinge heraus, seine neue Familie betreffend. Zum Beispiel, dass die beiden astreine Hooligans waren. Mariannes Lippen wurden immer schmaler, je länger sie sprachen.

»Gleich geht's los, dann machen wir sie fertig!« Lars lachte dröhnend. »Diesen Spacken letzte Woche, den mit dem Tränentattoo, weißt du noch? Den hab ich so rundgemacht …«

Sunny verlor wieder den Faden. Kein Wunder. Zwei schräge Augen, eins grau, eins hellbraun, starrten ihn an. Und das, nachdem Luca ihn die ganze Woche über keines Blickes gewürdigt hatte. Stets hatte der auf seinen Teller geschaut und war ihm auch sonst ausgewichen.

Sunny wusste, dass er mit ihm reden musste. Er musste, aber … er zögerte es hinaus, obwohl sein schlechtes Gewissen ihn fast umbrachte.

Und die Erinnerung an diese Viertelstunde im Klassensprecherraum brachte ihn auch fast um. Er hatte die Woche in einem Zustand stetiger Verwirrung verbracht. Immer wieder blitzten Bilder in seinem Kopf auf, Gerüche … die zarte Berührung von Lucas Lippen … Ach, verdammt.

Gerade jetzt sah Luca ihn an. Und Sunny hatte das Gefühl zu verbrennen. Und das Gefühl, Alex auf übelste Weise zu hintergehen, weil er ihn betrog und außerdem immer noch nicht mit Luca über das Team geredet hatte, aber …

Er seufzte.

»Alles in Ordnung, Schatz?« Mariannes Stimme war sanft.

So leise, dass die anderen nichts mitbekamen. Aber die erzählten eh von einer legendären Schlägerei, die vor zwei Jahren stattgefunden hatte und bei der ein halbes Krankenhaus mit gegnerischen Hooligans gefüllt worden war.

»Mir geht's gut.« Sunny lächelte beruhigend. Sonst besprach er alles mit ihr, aber das … Es war nicht nur, dass sie manche Dinge noch nicht erfahren sollte. Irgendwie wollte er es auch für sich behalten. Nur für sich. Alles. Nur nachts, wenn alle anderen schliefen, packte er die Erinnerungen aus.

»Wirklich?«, fragte sie zweifelnd.

»Ja. Ja, alles gut. Bin nur ein bisschen müde.«

 

Nach dem Frühstück flüchtete er die Treppen hoch in sein Zimmer. Er kauerte sich auf seinem Schreibtischstuhl zusammen, schloss die Augen und lauschte dem alten Haus. Dielen knarrten, wo die schweren Kampfstiefel der Zwillinge entlangtrampelten. Lothar brüllte irgendetwas, das er nicht verstand.

Inzwischen fand er es beruhigend. Es fühlte sich fast an wie ein Zuhause. Anders als die stille Mietswohnung, in der sie früher gewohnt hatten. Hier war immer was los.

Trotzdem war es schön, dass er ein paar Momente Ruhe hatte. Spätestens in einer Viertelstunde würde irgendwer in sein Zimmer stürmen, um sich irgendetwas zu leihen, weil hier nie jemand anklopfte …

Es klopfte an der Tür. Schwach und vorsichtig.

»Marianne?«, rief er.

»Nein, äh, ich bin's. Luca.« Die Stimme war so leise, dass er ihn kaum verstand. Sunny zuckte zusammen.

»Komm rein«, sagte er.

Warum war er plötzlich außer Atem? Er änderte seine Kauerhaltung in einen vorbildlichen Lotussitz. Gut, das war die Gelegenheit. Die Chance, alles zu klären.

Zögernd schob Luca sich ins Zimmer, schloss die Tür hinter sich und blieb stehen. Er roch frisch geduscht, das konnte Sunny selbst vom Schreibtisch aus erschnuppern.

»Also«, begann Luca. Dann schien er nicht weiterzuwissen. Er kratzte sich an der Schulter, die sein schwarzes Tanktop freiließ. »Ich …«

Wieder verstummte er. Sunny hatte das Gefühl, dass es besser sei, abzuwarten. Also wartete er.

»Es tut mir leid«, sagte Luca.

Was? Er blickte Sunny direkt an, genau wie eben am Esstisch.

»Echt. Alles. Ich … ich hab nachgedacht. Das hätte ich, glaube ich, öfter tun sollen, aber ich … Es tut mir wirklich leid.«

Er hatte eine schöne Stimme. Warum war Sunny das nie aufgefallen? Sie war wie … Zartbitterschokolade. Dunkel und melodisch. Sunny starrte ihn an.

»Äh, also … Was genau tut dir denn leid?«, fragte er.

Luca fuhr mit der Hand über seine kurzgeschorenen Haare.

»Dass … dass ich dich angeschrien hab, damals, in der Siebten. Ich wollte nicht … Ich meine, ich hab echt viele Leute zum Weinen gebracht. Du musst dich da nicht schämen oder so. Ich dachte immer, das macht man so. Rumbrüllen, wenn man wütend ist. Du kriegst ja mit, wie es bei uns zugeht.«

»Ja.« Sunny musste grinsen. »Ja, das krieg ich.«

Luca schenkte ihm ein schwaches Lächeln. Fast ein wenig schüchtern. Er war überhaupt nicht Sunnys Typ, viel zu breit und brutal. Aber Sunny musste zugeben, dass sein Lächeln hübsch war.

»Oh, und danke, dass du mich aus dem Schnee gezogen hast. Und dass du … Ich weiß jetzt, dass du die Klappe halten wirst. Sorry. Ich hab nur ein wenig Zeit gebraucht.«

»Schon okay«, sagte Sunny.

»Wirklich?« Luca sah ihn zweifelnd an.

Sunny strahlte.

»Wirklich. Mir … mir tut es auch leid.«

Luca blinzelte. »Was denn?«

Er schien wirklich keine Ahnung zu haben, wovon Sunny sprach.

»Na, dass ich so … dass ich …«, Sunny schluckte, »dass ich so ü-über dich hergefallen bin. Und dass ich dich geschubst und beleidigt habe und … Ich bin sonst nicht so. Ehrlich.«

Er hatte das Gefühl, am ganzen Körper zu erröten. Seltsamerweise lachte Luca.

»Das weiß ich. Mach dir keine Sorgen, ich bin doch viel schlimmer.«

»Na ja, nicht, was … äh … also, Küssen und so angeht.«

Von einer Sekunde auf die andere war Lucas Gesicht knallrot.

»Ne, das wohl nicht.« Er sah auf seine Schuhspitzen. »Aber es hat mir … also … Das war echt schön.«

»Was? Aber …«

»Ich … ich war doch nur so panisch, weil, na, weil ich dachte, du hättest mich in der Hand«, murmelte Luca. »Aber ich … Jetzt habe ich keine Angst mehr vor dir.«

Sunny wäre fast aus dem Schreibtischstuhl gekippt.

»Du hattest wirklich Angst vor mir?«

Luca nickte. »Ja. Aber nicht mehr.«

»Äh. Gut.« Sunny blinzelte. »Ich hab auch keine Angst mehr vor dir.«

»Ja.« Luca blickte wieder auf. »Das hab ich gemerkt.«

Sunnys Kopf verglühte fast. Er wusste nicht, was er tun sollte. War damit alles gesagt? Aber das wollte er nicht. Bleib hier, wollte er rufen. Möchtest du … Willst du …

»Magst du mich nochmal küssen?«, fragte er. »Ich halte auch still.«

Was für einen Blödsinn laberst du da, du Lusche?, brüllte eine Stimme in seinem Kopf. Ihr habt euch gerade so gut verstanden. Musst du dich gleich wieder in einen brünstigen Lustmolch verwandeln?

Aber Luca hatte nicht gelogen. Zwar wurden seine Wangen noch röter, aber da war keine Furcht mehr in seinem Blick. Nur Überraschung.

Und bevor Sunny sich noch blöder vorkommen konnte, hatte Luca den Raum durchquert. Seine Hände schlossen sich um die Lehnen von Sunnys Schreibtischstuhl. Er schaute auf ihn hinab wie eine misstrauische Katze.

»Echt jetzt?«, fragte er. »Darf ich?«

Sunny nickte. Sein Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb.

Lucas Lippen waren noch genauso köstlich wie am Montag. Genau so weich. Aber diesmal drückte er sie auf Sunnys Mund, als wollte er etwas ausprobieren. Neugierig, fast spielerisch öffneten sie sich und ihr Atem vermischte sich.

Der Hunger erwachte in Sunny, stärker als zuvor. Er packte Lucas Gesicht, schloss die Finger um seinen Nacken und zog ihn zu sich her. Seine Zunge drang zwischen Lucas Lippen. Er sah Sterne, sobald er das feuchte Innere kostete. Und spürte, dass Lucas Zungenspitze gegen seine stupste wie ein scheues Tier.

Als sie sich voneinander lösten, klopfte Sunnys Herz so rasant, dass ihm schwindelte.

»Sorry«, keuchte er. »Ich … ich wollte mich echt zusammenreißen.«

»Mann, ich bin doch nicht aus Zucker.« Luca grinste schief. Seine Augen wirkten irgendwie vernebelt. »Das halte ich schon aus.«

»Echt?«

»Ja, du … du kannst ruhig heftiger rangehen.«

Sunnys Herz blieb stehen, nur, um gleich darauf im Galopp weiterzuhämmern.

»D-du auch«, flüsterte er.

Luca beugte sich wieder vor.

»He, Sunny!«

Lothar stürmte ins Zimmer. Wie immer ohne anzuklopfen. Sie stoben auseinander. Luca fiel praktisch auf Sunnys Bett. Sunnys Magen verwandelte sich in einen Stein. Aber Lothar hatte nichts gemerkt.

»Hast du einen Tacker? Meinen hab ich gerade geschrottet.«

»Ja, nein, ja … Moment.«

Mit glühenden Ohren beugte Sunny sich über den Schreibtisch. Es war ein Wunder, dass er das graue Metallteil fand. Am ganzen Körper bebend drückte er es Lothar in die Hand. Hinter dessen Masse sah er Luca, totenbleich, mit schreckgeweiteten Augen.

»Danke. Ich bring ihn dir nachher wieder«, rief Lothar und war schon aus der Tür. Die Tür fiel knarrend ins Schloss.

Die beiden sahen sich an.

»Das … war knapp«, flüsterte Sunny.

Luca nickte. Mist. Die Stimmung war gekippt. So, wie Luca schaute, schien es wahrscheinlicher, dass er sich übergeben würde, als dass er Sunny nochmal küssen würde.

Aber Luca überraschte ihn zum zweiten Mal heute.

»Das ist zu gefährlich«, sagte er. »Wir müssen woanders hin, wenn wir weitermachen wollen.«

Weitermachen? Ja! Ja, bitte!

»Ich weiß, wohin wir gehen können.« Sunny schluckte. »Also … aber du musst noch was wissen. Ich bin in Alex verliebt.«

»Das hast du mir doch schon gesagt.« Luca sah ihn fragend an.

»Ja, nur … ich meine, wir können nicht … ein Paar sein. Oder so.«

Du klingst wie ein Idiot, du Lappen, dachte Sunny. Luca nickte bedächtig.

»Ich weiß. Ich kann eh nicht … Also ich könnte eh nicht dein Freund sein, auch wenn du das wolltest. Ich kann der Freund von niemandem sein. Nie.«

»Das ist ziemlich traurig.« Sunny fühlte sich mit einem Mal tonnenschwer. Aber Luca zuckte mit den Achseln.

»Ist halt so. Lass uns einfach … Du weißt schon. Küssen und so. Bis Alex zur Vernunft kommt und du ihn deiner Mutter vorstellen kannst.«

»Ja« Sunny verzog das Gesicht. »Ja, das wird ganz bestimmt passieren.«

Peinliches Schweigen. Hatte Luca nett sein wollen, als er das gesagt hatte? Sunny wusste es nicht.

Schließlich kletterte er aus dem Stuhl auf den Schreibtisch und öffnete das Fenster.

»Komm mit.« Er lächelte. »Ich zeig dir was.«

Es kam ihm vor wie ein Verrat. Ein Verrat an Alex, dem eigentlich sein geheimer Platz vorbehalten sein sollte. Aber er war so, na ja … Er war so scharf auf Luca. Er schämte sich für sein Verhalten. Nur nicht genug, um sich diese Gelegenheit entgehen zu lassen. Und nicht genug, um sich nicht über Lucas Gesichtsausdruck zu freuen, als der sich zwischen der Wand und dem Dach unter freiem Himmel wiederfand.

Luca sah sich um, als hätte er ihm gerade das Wunderland gezeigt. So, wie er sich das von Alex gewünscht hatte … Egal.

»Das ist der Hammer.« Luca kletterte auf den Dachfirst und schaute auf den Garten hinunter. »Hier finden sie uns nie.«

»Nicht schlecht, was?«, fragte Sunny stolz.

Der Sommerwind zerrte an seinen Haaren. Sie sprachen gedämpft. Sunny hatte keine Ahnung, ob unten jemand war oder wie weit der Wind ihre Stimmen trug. Aber sehen konnte man sie definitiv nicht.

Luca rutschte vom First herunter und lehnte sich gegen die Schräge. Seine helldunklen Augen musterten den Himmel. Er war strahlend blau heute. Wolkenlos, wie ein Meer aus Saphiren. Verwundert beobachtete Sunny, wie … hübsch die Begeisterung Luca machte. Doch, so entspannt sah er richtig gut aus. Wie ein zufriedener Kater. Sunny lehnte sich neben ihm gegen das Dach und tastete nach Lucas Hand.

»Sag’s mir einfach, falls du Angst bekommst«, flüsterte Sunny. »Dann hör ich auf.«

»Ich hab keine Angst.« Luca schien beleidigt. »Wofür hältst du mich? Das hab ich doch schon …«

»Ja, aber falls doch, sag Bescheid.« Sunny lächelte. »Es ist okay, sich zu fürchten.«

»Sicher.« Luca schnaubte leise. »Du siehst nicht sehr ängstlich aus.«

Sunny sah ihn an. Und Luca blickte zurück, wachsam und neugierig. Eine Wolke tauchte ihn in Schatten und seine Pupillen weiteten sich.

»Weißt du, Luca«, Sunny grinste schief, »ich hab vor fast allem Angst, aber davor nicht. Ich hab schon so lange darauf gewartet, ich kann … ich kann nicht glauben, dass das endlich passiert.«

Luca blinzelte. Und plötzlich schaute er richtig sanft.

»Nein«, murmelte er. »Ich auch nicht.«

Sunny hob seine Hand, deren Finger immer noch Lucas hielten. Langsam, den Moment auskostend, hob er sie an den Mund und küsste jeden einzelnen von Lucas Knöcheln. Dann beugte er sich vor und küsste Luca selbst.

Kurz darauf rollten sie eng umschlungen über die Ziegel.

 

1.16 Küsse im Sonnenschein

 

Sunny hatte nicht gelogen. Egal, wie hart Luca ihn anpackte, er hielt es aus. Mehr noch. Als Luca sich endlich traute, ihn mit voller Kraft zu umarmen, hörte er ein leises Lachen. Sunnys riesige Augen blitzten ihn an. Die geröteten Wangen schienen selbst im Schatten zu leuchten.

»Mehr«, flüsterte er.

Und Luca gab ihm mehr. Grub seine Finger in Sunnys weiche Locken und küsste ihn, als wollte er seinen Mund verschlingen.

Es war seltsam befreiend, ihn zu küssen. Zu wissen, dass er dasselbe Geheimnis trug wie Luca. Als hätten sie die Last zwischen sich aufgeteilt. Nur dass Sunny dieses zentnerschwere Gewicht trug wie einen Kieselstein, den man sich einfach so in die Tasche steckte und vergaß.

Er war verdammt sexy. Warum war Luca das nicht früher aufgefallen? Er hatte … Er hatte ihn immer nur als schmächtige Lusche wahrgenommen, doch Sunny war stärker, als er gedacht hatte. Seine Muskeln waren flach, aber hart und definiert. Musste von diesen Yogaübungen kommen, die er mit seiner Mutter machte.

Sunny drückte seine Hüfte gegen Lucas und hätte ihn fast von sich geschleudert. Inzwischen stand Sunny mit dem Rücken zur Wand und Luca vor ihm, weil sie nicht sicher waren, ob das Dach sie aushalten würde. Nicht, wenn sie sich so ineinander krallten und aneinander rieben, und …

Luca fühlte sich wie im Blutrausch. Roter Nebel verschleierte sein Gehirn. Dabei waren sie noch voll bekleidet. Er hatte sich bisher nur getraut, eine Hand unter Sunnys gelbes Shirt zu schieben und über die glatte Haut auf dem Rücken zu streichen. Sunny hatte mal wieder weniger Hemmungen. Seine Finger steckten hinten in Lucas Hose und massierten seine Arschbacken. Fest. Aus seiner Kehle kamen schnurrende Geräusche.

Irgendwo weit weg, in einem entlegenen Winkel seines Gehirns, fürchtete Luca sich immer noch davor, dass jemand sie entdecken würde. Aber die Lust war stärker. Hundertmal stärker.

Er packte Sunny, presste ihn gegen die Wand und der schnurrte nur noch lauter. Sunny küsste Luca, feucht und köstlich. Dann verließen seine Hände Lucas Hintern und glitten zwischen seine kräftigen Finger. Mit verschleiertem Blick sah er zu Luca auf. Biss sich auf seine Lippen, die vom Küssen voll wie reife Früchte waren.

»Darf ich …«, wisperte er.

Luca nickte. Klar durfte er. Was er durfte? Keine Ahnung. Aber Luca war dafür, dass er es tat.

Sunny nahm Lucas Hand und führte sie in seinen Schritt. Dort, unter dem weichen Stoff der Jogginghose, die Sunny morgens immer trug, fühlte Luca pralle Härte. Er hatte eben schon gespürt, dass Sunny so erregt wie er selbst war. Trotzdem war die Berührung ein Schock. Als würde die Hitze dort seine Fingerspitzen verbrennen. Vorsichtig packte er zu.

Sunny stöhnte. Die Kulleraugen schlossen sich, bis man nur noch die dunklen, bebenden Wimpern sah. So dichte Wimpern … Sie passten irgendwie gar nicht zu dem Teil zwischen Lucas Fingern, an dem er langsam auf und ab strich. Immer weiter, bis er Sunny die Hand auf den Mund legen musste, weil das Stöhnen zu laut wurde. Lucas Herzschlag dröhnte in seinen Ohren.

Sunnys Augenlider flogen auf. Er packte Lucas Hand, hastig, und zerrte sie von sich weg. Was? Luca sah sich um. Niemand zu sehen. Nur der Baum und das rostig-graue Dach.

»Nein, das ist es nicht … ich …« Sunnys Hände krallten sich in Lucas Shirt. Er machte ein Gesicht, als hätte er Schmerzen. Atmete tief ein und aus. Dann entspannte er sich wieder.

»Sorry.« Sunny lächelte schräg und Luca konnte die Grübchen sehen, die sich auf seinen Wangen bildeten. »Ich wäre fast gekommen.«

»Warum bist du's nicht?«, flüsterte Luca.

Sunny sah ihn zögernd an.

»Ich will nicht … Ich will dich nicht überfordern.«

»Ich hab dir gesagt, dass ich keine Angst mehr habe.« Luca spürte, wie die Hitze in sein Gesicht schoss. Wofür hielt dieser Typ ihn? Für ein zartes Pflänzchen, das er vor seinem großen bösen Schwanz beschützen musste?

»Ja, aber …« Sunny kaute wieder auf seiner Lippe. Entzückend. »Wär das nicht irgendwie … unhöflich?«

»Weiß nicht«, brummte Luca. »Ich versteh davon so wenig wie du. Aber …«, er straffte sich, »ich schulde dir eh noch was. Von Montag.«

Diesem Lappen würde er es zeigen … Na ja ein Lappen war er eigentlich nicht … Egal. Luca sank vor Sunny auf die Knie. Der schaute ihn an, als hätte er keine Ahnung, was er vorhatte. Erst, als Lucas Hände den Bund der Jogginghose packten, blitzte Verständnis in seinen Zügen auf. Einen Moment lang sah er aus, als wollte er protestieren. Tat er aber nicht.

Luca sagte sich, dass er das ganz bestimmt drauf hatte, und zog Sunnys Hose herunter. Dessen Ständer sprang ihm entgegen und hätte ihn beinahe ins Auge getroffen. Ohne zu zögern, griff er danach. Sunny keuchte. Luca sah ihn warnend an und legte den Finger an die Lippen. Sunny nickte. Er biss sich auf den Daumen. Als er das nächste Mal stöhnte, wurde das Geräusch von seinem Finger gedämpft.

Und er stöhnte. Luca hätte fast mitgemacht, als er ihn hörte. Er streichelte Sunnys Schwanz. Auf und ab, bis er genug Mut gesammelt hatte. Dann öffnete er den Mund.

Er schmeckte salzig. Die Tropfen an seiner Spitze rannen Lucas Kehle hinunter, während er versuchte, ihn ganz in den Mund zu bekommen. Verdammt, wie ging das? Er hatte ihn gerade mal halb in sich aufgenommen und schon musste er würgen. Grummelnd begnügte er sich damit, daran zu lutschen und wenigstens diese Hälfte mit Speichel zu benetzen und zu bearbeiten.

Es gefiel ihm irgendwie. Er mochte den Geschmack und die Hitze in seinem Mund. Und die seidige Haut, über die er mit der Zunge fuhr. Das gedämpfte Stöhnen über ihm wurde immer … unmenschlicher, fast tierisch. Luca sah auf, ohne das Saugen zu unterbrechen.

Sunny hatte den Kopf zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Die aufgeworfenen Lippen zitterten um seinen Daumen herum. Er sah aus, als wollte er etwas sagen, schaffe es aber nicht. Was die Wörter gewesen wären, kapierte Luca eine Sekunde später. Plötzlich war sein Mund voll mit bitterem Saft. Er schoss ihm über die Zunge, in den Hals und … in die Luftröhre.

Hustend krümmte er sich. Wich von Sunny zurück, versuchte, Luft zu bekommen und gleichzeitig kein Geräusch zu machen. Irgendwann klappte es. Zum Glück. Er durfte auf keinen Fall hier auf dem Dach an Sperma ersticken. Das würde Dad gleich mit ins Grab bringen. Mit tränenden Augen sah er auf.

Sunny war zu Boden gesunken. Seine Brust hob und senkte sich im Sekundentakt und na ja … die Hose hatte er sich nicht hochgezogen. Er starrte Luca aus großen, feuchten Augen an.

»Das … ich …« Die Wörter schienen ihm auszugehen. Stolz erfüllte Luca, als er ihn so sah.

»Krieg dich wieder ein, du Lusche.« Er grinste.

»Klappe, du Dummbeutel.«

Sunny grinste zurück. Seine Zähne blitzten. Die Sonne kam heraus und verwandelte seine Haare in ein aufgewühltes Meer aus flüssigem Honig. Für einen Moment vergaß Luca, zu atmen. Dann machte Sunny einen Satz, wie ein kleiner Kater, und landete auf Lucas Brust. Er drückte Luca mit seinem Körpergewicht zu Boden.

Von nahen war er noch … süßer. Luca schluckte. Nein. Jungs waren nicht süß. Selbst solche Lockenköpfe wie Sunny … dessen Hand an Lucas Körper abwärts wanderte und ihn den Faden verlieren ließ. Hilflos lag er da, unfähig, sich zu bewegen. Seine Muskeln weigerten sich, zu funktionieren, als Sunnys Finger über seinen Bauch strichen, die Erhebungen dort erkundeten, tiefer fuhren, über den Bund der Jeans … und sich um die weit größere Erhebung in seinem Schritt schlossen.

Flüssiger Strom schoss in Lucas Adern. Sein ganzer Körper schrie Sunny zu, weiterzumachen. Und er schien das zu hören. Mit neugierigem Blick, die Zunge im Mundwinkel wie ein Kind, das malte, machte er sich an Lucas Hosenstall zu schaffen.

Nein, rief eine Stimme in Lucas Kopf, während der Rest von ihm Ja! brüllte. Er biss sich auf die Lippen. Sah zur Seite. Auf die moosbedeckte Unterseite der Dachschindel vor ihm. Er roch ihren erdigen Duft. Witterte das Metall, auf dem er lag. Und spürte einen kühlen Luftzug auf der Haut, zwischen den Beinen. Sunny hatte die Hose aufbekommen.

»Nicht …«, sagte Luca, aber es war schon zu spät.

Er wartete darauf, dass Sunny zögerte. Irgendetwas sagte. Lachte. Aber er spürte nur die warme Hand, die sich um seine Härte legte und seine Sicht verschwamm. Funken glühten in ihm, immer mehr. Sunny machte das gut, mit viel Druck und … Auf einmal spürte er dessen Atem in seinem Gesicht.

»Hey«, flüsterte Sunny. »Schau mich an.«

Luca nickte. Die Glut zwischen Sunnys Fingern wurde immer heißer. Diese riesigen warmbraunen Kulleraugen waren alles, füllten seine gesamte Welt aus. Bis sie plötzlich verschwanden. Alles wurde weiß. Die Glut wurde zu Feuer, zu einer Explosion, zu … Luca bäumte sich auf, zuckte, zitterte, wimmerte. Und kam.

Er spürte Nässe auf seinem Bauch. Als er sich, nach Luft ringend, aufrichtete, betrachtete er den Schaden. Seine Jeans, sein Shirt, Sunnys Hand und dessen halber Körper waren mit weißen Flecken übersät.

Aber Sunny schien das nichts auszumachen. Er lächelte, zog sich das Shirt über den Kopf und begann, sie beide damit sauber zu tupfen. Luca schaffte es, sich so weit hochzustemmen, dass er seinen Oberkörper auf der Dachschräge ablegen konnte. Die Ziegel waren warm und rau unter seinem Rücken.

Er überlegte, schnell seine Hose zuzuknöpfen, aber da hatte Sunny seinen Lockenkopf schon in Lucas Schoß gebettet und sich hingelegt. Luca hörte ihn seufzen. Glücklich. Er erinnerte ihn immer mehr an eine vollgefressene Katze. Wie von selbst hoben sich seine Hände und kraulten durch Sunnys zerzauste Locken. Ja, er schnurrte.

»Tut mir leid«, flüsterte Sunny.

»Was denn jetzt schon wieder?«

»Dass ich nicht aufgehört habe. Du wolltest, dass ich aufhöre, oder?«

»Ne. Ich …« Luca schluckte. »Also ich wollte nur nicht, dass du mich … da anschaust.«

Er sah Sunnys dunkle Wimpern blinzeln. Der kippte den Kopf nach hinten, um ihn anzuschauen.

»Warum?«

»Äh … ist dir irgendetwas aufgefallen?«

»Was denn?«

Luca seufzte erleichtert. Also doch nicht.

»Ich wusste, dass sie mich angelogen haben«, brummte er. Super. Er hatte sich die ganze Zeit umsonst Sorgen gemacht.

Sunny blickte ihn immer noch abwartend an.

»Meine Brüder«, erklärte Luca. »Sie haben mir erzählt, dass … also hast du das Muttermal gesehen?«

»Ja«, schnurrte Sunny. »Es ist hübsch. Sieht aus wie ein Herz.«

Luca knurrte.

»Meine Brüder haben gesagt, es sieht aus wie Lepra, und dass … dass die Mädels mich deshalb eklig finden werden.

»Und das hast du geglaubt?« Sunny schien entsetzt. Luca warf die Hände in die Luft.

»Sie haben es mir jeden Tag erzählt. Drei Jahre lang! Diese Vollidioten, ich hab gewusst, dass die nur Blödsinn labern.«

Sunny schien immer noch schockiert.

»Bin ich froh, dass ich ein Einzelkind bin«, murmelte er. Sein Kopf bewegte sich wieder. Die Locken fühlten sich gut an auf Lucas nackter Haut. »Aber duschst du nicht mit dem Fußballteam? Wenn da keiner was gesagt hat, hast du da nicht gemerkt, dass du ganz normal bist?«

»Na ja, ich hatte so 'ne Ahnung«, murrte Luca. »Aber irgendwie hatte ich die ganze Zeit noch … Ich bin so ein Trottel.«

Er kam sich saublöd vor. Das hätte er doch ahnen können, oder? Aber Sunny zuckte nur mit den Schultern und gähnte.

»Keine Sorge«, murmelte er. »Alles in Ordnung. Hübsch sogar … oh!«

»Was ist?«

»Alex! Ich … ich wollte dich was fragen, wegen ihm.«

Lucas Laune wurde rapide schlechter.

»Was ist mit dem?«

»Ich … Also … Kannst du ihm nicht noch eine Chance geben? Er will so gerne zurück ins Team.«

Vergiss es, wollte Luca sagen. Aber er konnte nicht. In diesem Moment hätte er Sunny nichts abschlagen können.

»Ich … schau mal, was sich machen lässt«, brummte er, obwohl er wusste, dass das ein Fehler war.

»Das wäre nett.« Noch ein Gähnen. Sunny streckte sich, kratzte sich mit der Hand über den bloßen Bauch. Die Haut dort war glatt und schimmerte leicht, genau wie auf der Brust, auf der man die eckigen Ansätze seiner Muskeln sah. Und seine Nippel, zart, mit einem warmen Rosa-Ton.

Sunnys Gesicht entspannte sich. Seine Wimpern sanken und kurz darauf war er eingeschlafen. Wie ein Kätzchen, einfach so.

Viel zu vertrauensselig, dachte Luca. Was, wenn er voll der böse Typ wäre? Man gab sich doch nicht so in die Hände von … irgendwem. Aber Sunny dachte ja auch, dass Alex ein netter Mensch wäre. Na ja, er würde über die Sache nachdenken. Für Sunny.

Aber erstmal würde er weiter beobachten, wie der Wind mit Sunnys Haaren spielte. Wie dessen Lippen im Schlaf zuckten, wie die vorüberziehenden Wolken seinen Körper in ein Wechselspiel aus Schatten und Licht tauchten. Und sich ziemlich großartig fühlen.

 

1.17 Gefahr der Entdeckung

 

»Alex! Rat mal!«

Sunny hopste den gewundenen Weg, der von dem Märchenhaus in die Stadt führte, hinunter. Die Sonne leuchtete auf den fleckigen Asphalt. Er lief an ähnlich heruntergekommenen Häusern wie ihrem vorbei, alle getrennt durch dichte, verwilderte Hecken. Sie hatten ihre Nachbarn beim Einzug kennengelernt, aber ansonsten sah man sich hier kaum. Die Hecken waren zu hoch.

»Alter, wo warst du gestern?«, fragte Alex, statt zu raten. Er klang mürrisch. Sunnys Herz machte einen Hüpfer. Hatte Alex ihn vermisst? »Ich dachte, ich seh dich auf Daniels Party. Hast du die vergessen?«

»Oh, ich … hab was mit meiner Familie gemacht«, stotterte Sunny. Fast stimmte es. Er hatte etwas mit seinem neuen Stiefbruder gemacht. Den ganzen Tag lang, auf dem Dach, nur unterbrochen von Mittag- und Abendessen. Irgendwann war ihnen klar geworden, dass sie sich viel zu auffällig verhielten, wenn sie dauernd zusammen verschwanden. Irgendwann gegen Mitternacht, als sie eng umschlungen den Vollmond bewundert hatten.

Also traf Luca heute Ali und Kolja am Badesee und Sunny ging zu Alina-Lara und Mandy. Unauffällig. Unverdächtig, sagte er sich. Sein Körper kribbelte immer noch, überall da, wo Luca ihn berührt hatte.

»Hattet ihr Spaß?«, fragte er Alex. »Ist Caroline zurück aus dem Krankenhaus? Sie hat mir geschrieben, dass …«

»Keine Ahnung, was mit Caroline ist. Die war auch nicht da.« Alex klang immer noch grantig.

»Oh, hm … Hast du … wen kennengelernt?« Heimlich hoffte Sunny, dass er das nicht hatte. Aber Alex lernte immer Mädels kennen.

»Ja. So eine kleine Süße. Blond. Laura. Hat aber nicht geklappt.«

»Was? Warum?« Das war ungewöhnlich.

»Sie war mit ihrer Freundin da. Und die hat an ihr geklebt wie 'ne Klette. Immer, wenn ich sie loseisen wollte, hat die irgendetwas von Mädchenabend gebrabbelt.« Alex schnaubte. »Ich hätte dich gebraucht, Sunny. Wir sind doch ein Team.«

Sunny schluckte.

»Ja, tut mir leid, nur … Das war wichtig. Familienabend und so. Damit wir uns alle besser kennenlernen.«

»Super.« Alex schien echt zu schmollen.

»Hey, aber ich hab Neuigkeiten.« Sunny grinste. »Du bist zurück in der Mannschaft. Ich hab mit Luca gesprochen. Erst hat er nur gesagt, er denkt darüber nach, aber dann konnte ich ihn doch überreden. Er hat schon mit eurem Trainer telefoniert. Ab Montag bist du wieder dabei.«

»Echt?« Alex' Stimme war so fröhlich, dass Sunny fast gestolpert wäre. »Das ist ja super! Wie hast du das geschafft?«

Hab ihm einen geblasen, dachte Sunny. Mehrfach.

»Ach, ich hab halt … logisch argumentiert«, behauptete Sunny, obwohl er im Debattierclub damals mit Abstand der Schlechteste gewesen war. »Und er ist eigentlich ganz in Ordnung.«

Alex schnaubte.

»Sicher. Hey, was machst du heute? Gehen wir zum Badesee?«

»Oh, ich hab Serienabend. Mit Alina-Lara und Mandy. Falls du Lust hast …«

»Schaut ihr wieder diese Kinderserie?«, fragte Alex misstrauisch.

»Ponywolf? Das ist All Ages, das kann man in jedem Alter sehen.«

»Wie du meinst«, sagte Alex. »Viel Spaß damit. Pass auf, dass sie dir nicht an die Wäsche gehen.«

»Tun sie nicht. Bis morgen.«

»Ciao.«

 

Kaum hatte Sunny geklingelt, riss Mandy schon die Tür auf.

»Da bist du ja …« Sie erbleichte. Schlug sich die Hand vor den Mund.

»Alina!«, brüllte sie ins Haus. »Ernstfall! Es ist so weit!«

»Was?« Sunny sah an sich herunter. Verknittertes Shirt, zerfranste Jeans. Alles ganz normal. Was hatte sie?

Alina-Lara tauchte im Türrahmen auf. Trauer breitete sich in ihrem runden Gesicht aus, als sie Sunny sah. Ihre Äuglein verdüsterten sich. Mandy beugte sich vor.

»Wer ist sie?«, fragte sie streng. »Und warum hast du uns nichts von ihr erzählt? Du weißt, dass wir sie kennenlernen müssen. Schließlich bist du viel zu naiv und vertrauensselig. Was, wenn sie … nur mit dir spielt oder so? Geht das schon lange mit euch?«

»Was? Über wen redet ihr?« Ein mulmiges Gefühl breitete sich in Sunnys Magengegend aus.

Sah man es ihm irgendwie an? Konnte man sowas sehen? Sah er glücklicher aus als sonst? Befriedigter? Oh nein. Brachte er Luca gerade in Gefahr, entdeckt zu werden?

»Sunny …«, sagte Mandy drohend.

»Sie will dich nur schützen.« Alina-Lara lächelte schwach. »Sie meint das nicht so.«

»Wohl«, brummelte Mandy. »Wenn die dir wehtut, kann sie was erleben.«

»Aber … woher wisst ihr es?«, fragte Sunny. »Kann man … sieht man mir das irgendwie an?«

Die beiden blickten sich an und prusteten los.

»Sunny …« Mandy grinste. »Du hast ungefähr zwanzig Knutschflecken am Hals.«

»Was?«

Der Schock traf Sunny wie ein Vorschlaghammer. Scheiße! Er erinnerte sich, dass Luca gestern an seinem Hals gesaugt hatte. Na ja, nicht nur an seinem Hals … gestern, als es schon dunkel gewesen war und … Mist. Sie waren solche Anfänger. Hatte seine Mutter die Knutschflecken gesehen? Und … Lucas Familie? Ahnten die was? Er brauchte eine Ausrede, sofort.

»Und, wer ist sie?«, fragte Mandy, als sie aufgehört hatte, zu lachen.

»Jemand, den ihr nicht kennt.« Gut soweit. »Und sie …« Er seufzte. »Hört mal, das mit uns, das darf niemand wissen, okay?«

»Warum? Hat sie so strenge Eltern? Oder«, ihre Augen wurden groß, »einen Freund? Hast du Alex ein Mädel ausgespannt?«

»Warum sollte ich das tun?« Sunny war entsetzt. »Das würde ich nie … niemals machen!« Er schluckte. »Ne, sie hat einen Exfreund. Einen saubrutalen. Der war schon mal im Knast, und … außerdem hat er drei … vier große Brüder.«

»Oh. Wow. Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?« Mandy musterte ihn. »Bist du so verliebt?«

»Ja«, behauptete Sunny. »Ja, bin ich.«

Alina-Lara seufzte. Ihre weichen Arme schlossen sich um ihn.

»Du Armer«, sagte sie.

So viele Lügen. Sunny fühlte sich furchtbar. Aber er musste Luca schützen.

 

1.18 Spaß am See

 

»Guck mal die, die hat richtige Melonentitten«, sagte Kolja bewundernd.

»Wassermelonentitten.« Ali verschlang das Mädel, das gerade aus dem Wasser kam, mit den Augen.

»Ja. Sehr große Titten. Geil«, behauptete Luca.

War er überzeugend? Keine Ahnung. Kolja und Ali hörten eh nur mit einem Ohr zu. Seit wann waren die beiden so auf Mädchen fixiert? Musste der Sommer sein, sonst interessierten sie sich doch auch mehr für Fußball. Was nur einer der Gründe war, aus denen Luca sie mochte. Er hätte nicht gedacht, dass er sich je vor den beiden so verstellen müsste.

Sie fuhren damit fort, über das Mädel zu reden, also stellte Luca sich schlafend. Vergrub seinen Kopf in den Armen und schloss die Augen.

Er hörte Kinder kreischen und Wasser spritzen. Er spürte die Sonne auf dem nackten Rücken. Und den blauen Fleck, den Ali ihm verpasst hatte, eben, als er ihn mit Kolja untergetaucht hatte. Und … irgendwie fühlte er Sunny noch immer, obwohl er keine sichtbaren Spuren des gestrigen Tages mehr trug. Er hatte sich abgesucht, morgens im Bad.

Luca streckte sich wohlig. Fast hätte er geseufzt. Obwohl er fürchtete, dass man ihm alles ansah, was er gestern gemacht hatte, ging es ihm großartig. Alles schien heller und freundlicher. Die Sonnenstrahlen, die auf den kleinen Wellen glänzten, das saftige Grün der Liegewiese, der leichte Wind, der seine erhitzte Haut abkühlte … Selbst die kreischenden Bälger waren ganz goldig.

So hatte er auch mal gekreischt, damals … als seine Brüder ihn mit vereinten Kräften untergetaucht hatten. Na ja, er hatte sich gut gewehrt. Einmal hatte er Lars die Nase blutig gehauen, als der ihn in den See schleifen wollte. Und dann hatte ihre Mutter ihnen einen Vortrag gehalten, dass ihnen die Ohren geklingelt hatten.

Hm.

Er hatte lange nicht an sie gedacht. Nicht so. Nicht an die Zeiten vor der Krankheit.

Erinnerungen stiegen in ihm auf. Daran, wie sie rotgrüne Melonenstücke aus einer türkisfarbenen Kühlbox holte und verteilte. Daran, wie sie ihre Söhne gezwungen hatte, die Füße vom Sand zu befreien, bevor sie in ihre Schuhe stiegen. An ihr wildes Lachen …

Wenn sie gewollt hatte, hatte sie alle vier Brüder unter ihre Arme stecken und mitzerren können und sie hatten keine Chance gehabt. Hm. Irgendwie war Dad nicht viel da gewesen damals. Luca konnte sich kaum an Momente mit ihm erinnern. Als Mom krank geworden war, da war er wieder präsenter gewesen. Und das Leben war ein ganzes Stück härter geworden …

Eine Stimme scheuchte ihn aus seinen Gedanken. Eine, die er kannte … Alex. Der hatte sie noch nicht bemerkt. Er stand mit zwei Mädchen da, nur ein paar Meter entfernt und laberte die zu. Kein Wunder, dass er Kolja, Ali und ihn nicht sah. Eins der Mädels, die, der er sich zuwandte, hatte mindestens Honigmelonenbrüste.

»Was macht der hier?«, grollte Kolja. Er hatte Alex ebenfalls erblickt. Und er hatte ihm das Foul noch längst nicht verziehen.

»Was schon? Der versucht, Weiber rumzukriegen. Macht ja nie was anderes.« Ali betrachtete Alex misstrauisch.

Das war das Problem mit Alex. Er war ein guter Fußballer und ganz unterhaltsam. Aber bei Frauen kannte er kein Erbarmen. Ihm war egal, ob sie die Freundinnen von jemandem waren oder ob seine Mannschaft sich gerade mitten im Spiel befand. Letztens hatte er eine Torchance verpasst, weil er mit einer kurvigen Zuschauerin in den vorderen Rängen geflirtet hatte. Luca hätte ihm am liebsten den Kopf abgerissen.

Aber Sunny mochte ihn. Na ja, er liebte ihn sogar. Warum? War da irgendetwas, das Luca nicht sah?

»Ich hab euch gesagt, dass er zurück in der Mannschaft ist«, sagte er. »Wir sind ein eingespieltes Team, da können wir es uns nicht leisten, jemanden wie ihn zu verlieren. Und es tut ihm … wirklich leid, das hab ich dir schon gesagt.«

Er klang fast wie Sunny. Es tut ihm leid. Als ob das irgendetwas ändern würde … aber Sunny hatte Lucas Entschuldigung auch angenommen. Mehr als das. Und das hatte tatsächlich etwas geändert.

Und Kolja und Ali akzeptierten seine Entscheidung, Alex zurück in die Mannschaft zu lassen. Brummelnd.

»So ein Arschloch«, murmelte Ali.

»Ist er«, sagte Luca. »Aber wir brauchen ihn.«

»Stimmt schon«, meinte Kolja, erstaunlich friedlich. Dann grinste er. »Trotzdem: Wie wär's, wenn du rüber gehst und ihm die Tour versaust?«

Luca grinste zurück. Sie nannten ihn den Mädchenschreck. Normalerweise fanden Ali und Kolja es gar nicht lustig, wie schnell Mädchen abhauten, sobald Luca dazukam. Mädchen hatten Angst vor ihm. Irgendetwas in seiner Haltung strahlte Gefahr aus, etwas, das sie wohl instinktiv witterten. Musste er von seinen Brüdern haben. Es war ein Wunder, dass immerhin Lothar eine Freundin gefunden hatte.

»Wird erledigt.« Er stand auf und schlenderte zu Alex und den Mädels rüber.

Alex sah auf. In seinem hübschen Gesicht zuckte ein Muskel, als er Luca erkannte.

»Alex, Alter! Was machst du hier?« dröhnte Luca.

Wie erwartet wurden die Augen der Mädels rund, als sie ihn sahen. Er war nicht besonders groß, aber das machte er mit Breite und Körperspannung wett. Und mit dem stummen Versprechen, dass es, wo immer er war, bald eine Schlägerei geben würde.

»Oh, ich … ich zeige Marie und Chrissi den See.« Alex lächelte strahlend. Und ein wenig nervös. »Die beiden spielen auch Fußball, weißt du? Das ist Luca, unser Kapitän«, erklärte er.

Die beiden, eine dunkelblond, eine braun, sahen Luca an.

»Hallo«, sagte er, so unfreundlich wie möglich.

»Hi.« Die Braunhaarige lächelte.

Hä? Luca legte den Kopf schief. Auch die Dunkelblonde, die mit den Honigmelonenbrüsten, griente ihn an. Was …

»Fußball, was?« Er sah sie skeptisch an. »Habt ihr was drauf?«

Die Braunhaarige zuckte mit den Achseln. »Klar. Können wir dir beweisen, wenn du willst.«

»Äh … okay.« Warum hatten die keine Angst? Fragend sah er ausgerechnet Alex an, aber der schaute, als würde er Luca zum ersten Mal sehen.

»Habt ihr einen Ball dabei?«, fragte er, weil ihm nichts Besseres einfiel.

»Haben wir.« Die Dunkelblonde stemmte die Hände in die Hüften. Was zur Hölle? Na, egal. Ihm war eh langweilig gewesen.

»Weißt du, wir haben uns gerade unterhalten …«, begann Alex, aber die Braunhaarige unterbrach ihn.

»Das Tor hinten ist grad frei. Spielen wir. Mädchen gegen Jungs.«

»Ach, das ist doch öde«, sagte Alex und warf dem Melonenmädchen einen begehrlichen Blick zu. »Ich und Marie gegen euch beide, wie wär's?«

»Warum ist das öde …«, begann die Braunhaarige, als Kolja und Ali plötzlich neben ihr standen.

»Ein Spiel?« Ali rieb sich die Hände und schaute auf Maries Brüste. »Wir sind dabei!«

Kolja nickte. Alex wirkte alles andere als glücklich.

»Dann können wir aber nicht mehr Mädchen gegen Jungs spielen«, sagte er.

»Macht nichts.« Chrissi legte einen Arm um Marie. »Aber wir beide sind in einem Team, ist das klar?«

»Genau«, sagte Marie.

»Aber das ist unfair«, protestierte Alex.

»Warum?« Maries Augen wurden schmal.

»Na … also …« Alex schien es für klüger zu halten, ruhig zu sein. Kolja nicht.

»Dann könnt ihr doch nur verlieren«, sagte er. »Ihr wisst schon.«

»Was wissen wir?«

»So … mit zwei Mädchen in der Mannschaft«, sprang Ali ein. »Wir sind einfach stärker als ihr.«

»Ach ja?«, fragte Marie. »Das werden wir ja sehen.«

»Ihr wollt echt zu zweit spielen?« Kolja schüttelte den Kopf. »Keine gute Idee. Aber hey, wie wär's, wenn die Verlierer die Gewinner mit Sonnencreme einreiben müssen?«

»Ja, klingt gut.« Alex nickte zustimmend.

»Oder wenn sie ihr Oberteil ausziehen müssen?«, sprang Ali ein.

»Was für ein Oberteil?« Luca sah auf Alis nackte Brust.

»Okay, dann halt die Hose.«

»Ist das erlaubt?«

»Ja, klar. Schau dich doch mal um.«

Luca warf einen Blick auf die Wiese. Oh. Da lagen komplett nackte Frauen aller Altersklassen. Natürlich wäre ihm das aufgefallen, wenn er … sich für Frauen interessiert hätte.

»Hast du das nicht gemerkt?«, fragte Kolja. »Guck doch mal, die da hinten. Ein bisschen alt, aber … hehe, siehst ja.«

Er deutete auf eine dralle Mittdreißigerin, die ihre gebräunten Schenkel in die Sonne hielt. Mist.

»Doch, klar …«, sagte Luca und schluckte die Panik herunter, die seine Kehle hochzuklettern drohte. »Egal, spielen wir.«

»Aber die Mädels brauchen noch Unterstützung«, sagte Alex und lächelte charmant. »Wir können nicht zu viert gegen sie spielen.«

»Ach, die schaffen das schon«, sagte Luca. Bloß diese gefährliche Unterhaltung beenden.

»Ne, die brauchen jemanden. Sonst ist es noch unfairer.« Kolja imitierte Alex' Lächeln. »Wie wär's mit mir?«

»Ich bin viel schneller als der, Mädels«, sagte Ali.

»Wir nehmen ihn.« Chrissis Finger deutete auf Luca. »Er ist der Einzige, der uns was zutraut.«

»Aber …« Luca sah in die Runde. Wie verdächtig machte er sich gerade? »Okay. Super. Los geht's.«

 

Sie gewannen. Einerseits, weil die Mädels echt so gut waren, wie sie behauptet hatten. Vor allem Chrissi, die den Ball am Fuß hielt, als wäre er daran festgeklebt. Und andererseits, weil Alex, Kolja und Ali ein vollkommen erbärmliches Spiel ablieferten.

»Sagt mal, was macht ihr da?«, zischte Luca Ali zu, nachdem der schon wieder ein Duell mit Marie verloren hatte. »Ihr müsst rangehen. Das könnt ihr doch sonst auch.«

»Das sind Mädchen«, flüsterte der zurück. »Die sind empfindlich, du Honk.«

»Was?« Luca sah zu Chrissi, die gerade Alex umrempelte und den Ball ins Tor hämmerte, dass der Zaun dahinter klirrte. Kopfschüttelnd lief er zu ihr und haute ihr demonstrativ auf die Schulter. Chrissi flog ein Stück nach vorne, hielt sich aber auf den Beinen.

»Gut gemacht«, brummte er.

»Danke.« Sie grinste und boxte ihm gegen den Oberarm. Hart. Luca sah zu Ali, der ihn anstarrte.

»Siehst du?«, flüsterte er ihm zu. »Die sind nicht aus Porzellan.«

»Mann, du verstehst echt gar nichts von Frauen«, zischte der zurück.

»Wohl. Total … viel«, log Luca.

»Alter, du hattest noch nie eine Freundin und deine ganze Familie sind Männer.«

»Ja und?«

Ali schüttelte den Kopf und rannte weiter.

Marie schoss das Siegestor. Luca spielte ihr den Ball zu und sie donnerte ihn an Alex vorbei, der keine Chance hatte, ihn zu halten. Sie jubelten. Und dann fielen die Mädels erst einander um den Hals, und dann Luca.

 

Danach saßen sie auf der Wiese herum. Insgeheim hatte Luca gehofft, dass die Mädels mit Alex verschwinden würden. Sie waren nett, aber die ganze Situation war zu brenzlig. Sowas war früher nie vorgekommen. Da hatte er Mädchen mit einem Blick verjagen können. Aber irgendwie funktionierte das nicht mehr.

»Luca versteht nichts von Frauen«, behauptete Ali schon wieder. Diesmal in der großen Runde. Alle sahen ihn an.

Glatteis, dachte Luca. Gefahr.

»Na und?«, murrte er. »Gibt doch noch anderes im Leben.«

»Ja, aber nichts Wichtigeres.« Alex lächelte Marie an. Die kicherte leise. Aber sie saß neben Luca, zusammen mit Chrissi.

»Was ist mit Weltfrieden?«, fragte Luca.

Ali schüttelte traurig den Kopf. Scheiße. Das alles behagte Luca überhaupt nicht. Vielleicht sollte er mit den beiden flirten, so wie es die anderen taten. Aber wie zur Hölle flirtete man?

»Ich hol mir was zu essen«, sagte er und stand auf.

Die anderen Jungs schienen froh, dass er ging. Endlich hatten sie freie Bahn bei den beiden, die nach dem Spiel darauf bestanden hatten, dass sie auf Lucas Handtuch sitzen durften. Schließlich waren sie ein Team, hatte Marie gesagt.

Luca stapfte über die Wiese. Die Angst war zurück. Nicht so schlimm wie sonst, aber … Er hatte das Gefühl, Alex hätte ihn beobachtet. Anders als sonst. Misstrauisch. Ahnte er …

»Luca! Warte!« Chrissi war plötzlich neben ihm. »Ich komme mit.«

Er blickte sie an. Sie lächelte.

»Okay.«

Stumm gingen sie nebeneinander her. Was wollte sie? Chrissi fing ein Gespräch an, zum Glück über Fußball, sonst wäre Luca verloren gewesen. Sie kauften Pommes und Currywurst und, weil Chrissi noch nicht zurück wollte, setzten sie sich auf diese ranzigen weißen Plastikstühle, die vor der Bude standen. Eigentlich war sie ziemlich lustig. Aber Luca konnte sich nicht entspannen.

»Du bist anders, weißt du?«, sagte sie nach einer kurzen Pause. »Du hast uns noch nicht einmal auf die Brüste gestarrt.«

»Hab … hab ich wohl«, sagte er. »Ihr habt es nur nicht gemerkt.«

»Ach, echt?«

Warum sah sie denn jetzt erfreut aus? Luca war komplett überfordert. Aber Chrissi schien nichts davon mitzukriegen, so, wie sie die Haare zurückwarf, sich Ketchup von den Lippen leckte und weiterredete.

»Weißt du … es ist selten, dass jemand so mit uns spielt wie du. Wir fordern dauernd Leute heraus. Manchmal wetten wir um Geld. Aber wenn wir mit Jungs spielen, wollen die uns immer beeindrucken. Dann versuchen sie, das ganz alleine durchzuziehen und geben nie den Ball ab.«

»Dann müssen sie sich nicht wundern, wenn sie verlieren«, sagte er.

»Nein«, bestätigte sie und steckte sich ein Stück Currywurst in den Mund.

 

Er war froh, als sie wieder bei den anderen waren. Gab sich Mühe, zu schweigen. Und wenn das nicht funktionierte, das Gespräch auf die anderen Jungs umzulenken.

»Warum haben sie keine Angst vor mir?«, flüsterte er Kolja zu, als er es nicht mehr aushielt.

»Keine Ahnung. Na ja …« Kolja musterte ihn. »Du bist heute echt anders.«

»Wie anders?« Luca fröstelte, obwohl es fast dreißig Grad hatte.

»Irgendwie … entspannter«, sagte Kolja. »Du lächelst dauernd. Ist was Gutes passiert?«

»Nein.« Ja. Mist. Er hatte gewusst, dass Sunny ihn verändern würde. Na ja, er hätte es wissen müssen. Aber so schnell? Das war gefährlich. Viel zu gefährlich.

»Na, jedenfalls funktioniert's«, sagte Kolja neidvoll. »Ich wette, Chrissi gibt dir gleich ihre Nummer.«

»Was? Äh … super.«

Als die Mädels sich ein Eis holten, haute er ab. Verabschiedete sich in Windeseile, packte seinen Kram zusammen und radelte heim.

Sunny war noch nicht zurück. Gut. Der war eine Gefahr für ihn. Das … was auch immer da zwischen ihnen war, war viel zu riskant. Er würde ihn ignorieren, ab sofort. Und für immer.

Wahrscheinlich.

 

1.19 Fast zu spät

 

Sunny raste die Treppenstufen hinunter und wickelte sich im Laufen einen Stoffschal um. Verdammt! Er hatte total verschlafen. In einer Viertelstunde musste er in der Schule sein und der Weg dauerte mindestens eine halbe.

 

Warum hatten sie gestern auch eine ganze Season Ponywolf geschaut? Er war erst nach Mitternacht zuhause gewesen. Und dann hatte er auch noch versucht, Luca auf's Dach zu locken, aber der hatte nicht auf seine Nachrichten reagiert. Wahrscheinlich hatte er schon geschlafen. Und nun hatte Sunny verpennt.

Fast wäre er mit Aaron Wolf zusammengeprallt. Dessen grauschwarze Augenbrauen zogen sich zusammen.

»Was machst du denn noch hier?«, grollte er.

Am Anfang hatte Sunny gedacht, er wäre ständig wütend. Aber inzwischen glaubte er, dass das einfach seine normale Stimmlage war.

»Ich hab verschlafen!«, rief Sunny. »Ich muss … Luca!«

Luca war hinter seinem Vater aus der Küche getreten. Als Sunny ihn rief, machte er einen Satz zurück.

»Luca, du musst mich mitnehmen! Wir schreiben in der ersten Stunde eine Klausur!«

»Vergiss es«, knurrte Luca. Sein Vater wandte sich zu ihm um.

»Du nimmst ihn mit«, sagte er.

»Mach ich nicht.« Luca verschränkte die Arme.

Voll gemein, dachte Sunny. Ich dachte, wir wären … irgendetwas. Freunde?

»DU NIMMST IHN MIT!«, brüllte Aaron. »KEINE WIDERREDE!«

»ICH WILL ABER NICHT!«

»DAS IST MIR EGAL! IN DREI SEKUNDEN SITZT IHR ZUSAMMEN AUF DEM FAHRRAD ODER ES GIBT ÄRGER!«

Schließlich gab Luca klein bei. Sunny verstand nicht, was er hatte.

Zu zweit traten sie aus der Haustür. Vögel zwitscherten schrill und die Morgenluft war klar und frisch. Luca stieg auf sein Fahrrad, das glücklicherweise einen Gepäckträger hatte, und Sunny hüpfte hinter ihn.

»Was soll das werden?«, fragte Luca, als Sunny die Arme um seine Hüfte schloss. »Halt dich gefälligst am Sattel fest.«

»So ist es viel sicherer.« Sunny drückte seine Wange in Lucas Rücken. Der versteifte sich.

»Alter, lass los. Wie sieht das denn aus?«

»Ich halt mich am Gepäckträger fest, sobald wir in die Nähe der Schule kommen«, murmelte Sunny. »Versprochen.«

Luca roch köstlich. Seine Wärme drang durch sein hellgraues Shirt in Sunnys Brust.

»Aber …« Luca knurrte. »Okay. Du wirst ja sehen, was du davon hast.«

»Was …«

Luca startete, und Sunny wäre fast runtergefallen. Sein Stiefbruder trat in die Pedale wie ein Wahnsinniger. Raste über den Asphalt, an all den hohen Hecken entlang. Sunny sah nur ihre verschwommenen Umrisse, als sie vorbeisausten. Der Fahrtwind riss an seinen Locken. Er lachte leise. Das war grandios. Lucas Rückenmuskeln, die sich an seiner Wange bewegten, dessen flacher Bauch unter seinen Händen, die Geschwindigkeit, die ersten Sonnenstrahlen … Einfach fantastisch.

Dann kam der Hügel. Lucas Tempo wurde kaum langsamer, als er sich hochkämpfte. Schnaufend überquerte er die Spitze. Inzwischen waren sie in der Stadt. Drei- bis vierstöckige Gebäude auf beiden Seiten, Ampeln … und dicke Autos, die an ihnen vorbeibrausten.

Das Tempo steigerte sich. Sunny erwartete, dass Luca aufhören würde zu radeln, jetzt, wo es abwärts ging. Wurde er nicht. Er trat weiter in die Pedale, so stark wie zuvor. Der Fahrtwind wurde heftiger. Sie wurden immer schneller, Sunny konnte die Häuser nicht mehr sehen, da waren nur noch Flecken und Streifen …

»Langsamer!«, rief er.

Luca hörte nicht. Sunny wurde bewusst, dass keiner von ihnen einen Helm trug. Dass sie genau auf eine belebte Kreuzung zusteuerten, unten, am Fuß des Hügels … Marianne hatte ihm eingeschärft, dass er nie, nie ohne Helm fahren durfte, aber …

Er schloss die Augen.

Der Wind pfiff ihm um die Ohren. Sein Herz kletterte in seinen Hals, pochte so laut, dass er nichts anderes mehr hörte, nur noch fühlte, wie das Tempo zunahm und zunahm und zunahm …

Und dann riss Luca den Lenker herum. Sunny klammerte sich an ihn. Wurde zur Seite geschleudert, weg von Lucas Rücken, dann knallte er wieder dagegen. Blinzelnd öffnete er die Augen. Sie standen genau am Rand der Kreuzung. Autos fegten an Sunnys linkem Bein vorbei, so nah, dass er den Luftzug spürte. Einen Meter weiter und sie wären unter die Räder gekommen. Sunnys Atem ging stoßweise.

»Na, willst du weiter mitfahren?«, fragte Luca höhnisch und drehte sich um. Und schaute verdutzt, als er Sunnys lachendes Gesicht sah.

»Das war super!« Das Blut rauschte durch seine Adern. Er fühlte sich lebendiger als je zuvor. »Super! Machen wir das nochmal?«

Luca blinzelte. Sein Mund öffnete sich, als wollte er etwas sagen. Aber dann schien er es sich anders zu überlegen. Langsam sank sein Kopf auf den Lenker.

»Was hast du?«, fragte Sunny.

Luca seufzte.

»Ich kann keinem mehr Angst machen.«

»Hä? Aber du hast mir Angst gemacht. Das war …«

»Super. Ich weiß.« Kopfschüttelnd blickte Luca Sunny an. Er runzelte die Stirn.

»Warum hast du eigentlich einen Schal um? Ist doch viel zu warm.«

Sunny blickte sich um, sah aber niemanden, der ihn kannte. Verstohlen schob er den Stoff ein Stück herunter und zeigte Luca seinen Hals und die bräunlich-violetten, schon halb verblassten Flecken darauf. Luca wurde erst blass, dann rot.

»Oh. Oh, Scheiße.«

»Keiner hat etwas gemerkt«, versicherte Sunny ihm. »Na ja, außer Mandy und Alina-Lara. Aber denen hab ich erzählt, ich hätte eine heimliche Freundin.«

»Ah. Aha.« Luca nickte. »Dann … ist ja gut.« Die Sonne schien in sein helles Auge und ließ es aussehen wie Honig.

»Ich mag sie nicht anlügen«, sagte Sunny. »Aber ich glaube, es geht nicht anders.«

Sie schwiegen. Autos rauschten vorbei. Die Klausur wartete. Egal.

»Hast du mich ignoriert?«, fragte Sunny leise. Aber Luca hörte ihn.

»Ich hab's versucht.« Er sah ihn an, mit einem seltsamen Blick. Sunny konnte ihn nicht deuten. »Ich … hab's echt versucht. Klappt aber nicht.«

»Hast du wieder Angst gekriegt?«, fragte Sunny. Irgendwie hörte sein Herz nicht auf, zu hämmern. Luca nickte.

»Ich muss dir was erzählen«, sagte er. »Später, nach der Schule. Auf dem Dach.«

»Okay.« Sunny war glücklich. Er war unignorierbar, das war doch was. Und es würde weitergehen. Jetzt mussten sie es nur noch innerhalb von fünf Minuten zur Schule schaffen.

Sie schafften es in vier.

 

1.20 Traum und Realität

 

Sunny lag auf Luca und machte wohlige Geräusche. Er fühlte sich satt und zufrieden, dabei hatten sie noch gar nicht zu Abend gegessen. Unten in der Küche kämpften die Zwillinge gerade mit einem halben Ferkel. Ihr Geschrei drang bis nach hier oben. Aber es war so undeutlich, dass man es mit ein wenig Fantasie für sanftes Wellenrauschen halten konnte. Und Sunny hatte eine Menge Fantasie.

Lucas Brust war so gemütlich, trotz der harten Muskeln. Schade, dass er sich immer noch weigerte, sein Shirt auszuziehen. Na ja, dass er überhaupt hier mit ihm lag grenzte an ein Wunder. Sunnys Nase drückte sich in den durchgeschwitzten Stoff. Er seufzte.

»Ich hab jemanden kennengelernt«, sagte Luca. Was? Sunny fühlte sich, als hätte er eine Palette Eiswürfel geschluckt. »Ein Mädchen.«

»Ein Mädchen?« Sunny richtete sich auf.

Lucas Blick war auf den Himmel gerichtet. Zwischen seinen Augenbrauen prangte eine Falte, ein sicheres Zeichen, dass sein Gehirn auf Hochtouren arbeitete.

»Sie heißt Chrissi. Ich hab sie anscheinend gestern am Badesee aufgerissen. Aus Versehen.«

»Aha. Wie das?« Irgendwie mochte Sunny diese Chrissi nicht. Er hatte jetzt schon ein schlechtes Gefühl bei der Sache.

»Keine Ahnung. Wir haben Fußball gespielt und dann … haben wir Currywurst gegessen und dann …«

»Ja?«, knurrte Sunny.

»Dann meinte Kolja, dass sie bestimmt gleich nach meiner Nummer fragt, also bin ich abgehauen. Nur hat sie mir trotzdem geschrieben. Ali hat ihr meine Nummer gegeben, der Horst.«

»Aha. Und was willst du jetzt machen?«

»Keine Ahnung. Sie ignorieren?«

»So, wie du das mit mir gemacht hast? Eine tolle Idee.« Sunny verstand nicht ganz, warum er plötzlich so wütend war.

»Mir fällt nichts Besseres ein. Ich meine … ich weiß auch nicht. Es war seltsam.« Lucas dunkle Stimme war voller Zweifel. »Das war so … einfach. Wenn ich wollte, könnte ich sie jetzt ins Kino einladen. Oder auf die Party am Freitag. Soviel weiß selbst ich über Mädchen. Und es wäre so leicht. Ich könnte mit ihr da hin und Händchen halten und so und keiner würde was sagen. Weil sie ein Mädchen ist«

»Ach das ist es.« Sunny fühlte sich, als hätte Luca eine schwere Last von ihm heruntergerollt. »Vielleicht kannst du irgendwann …«

»Nein«, sagte Luca bestimmt. »Ich kann das nicht. Nie.«

»Ja, das hast du schon gesagt.« Sunny beugte sich vor und gab ihm einen winzigen Kuss. Sofort glättete sich Lucas Gesicht wieder.

»Du würdest das machen, oder?«, fragte Luca. »Einfach mit deinem Freund auf die Party gehen, rumknutschen und nicht darüber nachdenken, was sie sagen.«

Sunny überlegte.

»Ne. Ja, schon. Ich würde da hingehen. Aber ich hätte trotzdem Angst.«

»Aber du würdest es machen?«

»Ja.«

Luca nickte. Er sah mit einem Mal traurig aus und Sunny verstand nicht, wieso.

»Hey, aber wir sind am Freitag zusammen auf der Party«, sagte Sunny. »Weiß nur keiner, dass wir was miteinander haben und ein Paar sind wir auch nicht, aber ansonsten …«

Luca schnaubte.

»Ja, ja, genau dasselbe. Ne, du hast was Besseres verdient. Bald kannst du bestimmt händchenhaltend mit Alex oder sonst wem durch die Schule laufen und öffentlich rumknutschen und so.«

»Ja.« Sunny wusste nicht genau, was er fühlte. Wenn er mit Alex zusammen wäre, konnte er Luca nicht mehr … Nein, das ging nicht. Dabei war es gerade so schön.

»Und dann …« Luca klang immer noch schwermütig. »Dann kannst du später mit ihm zusammenziehen und studieren, und …«

»Erst reise ich ein Jahr lang um die Welt«, sagte Sunny. »Vielleicht auch zwei, und dann wird erst studiert. Soziale Arbeit, denke ich.« Er hatte keinen richtigen Plan, wenn er ehrlich war. Aber bald würde er einen machen. Bestimmt.

»Was?« Luca richtete sich auf. Sunny rutschte von ihm herunter und war gezwungen, sich ebenfalls hinzusetzen. Womit hatte er Luca so schockiert?

»Was ist?«, fragte er.

»Soziale Arbeit? Weißt du, was … was du da machen musst?«

»Na …«

»Ein Kumpel von Lothar studiert das. Der arbeitet mit Ex-Knackis.«

»Ja und? Das ist halt ein Teil davon …«

»Und Alkoholikern und Obdachlosen und Schwerstkriminellen.« Er packte Sunny. Seine Pranken reichten fast ganz um die Oberarme. »Das ist viel zu gefährlich. Einen Lappen wie dich zerreißen die in der Luft!«

»Tun sie nicht.« Sunny funkelte ihn böse an.

»Du hast keine Ahnung, was die tun!« Frechheit, Luca traute ihm ja gar nichts zu.

»Klar hab ich das. Denkst du, ich bin total naiv, oder was?«

»Ja! Ja, bist du. Ich …« Luca sah hin und her, als suchte er nach einer Lösung. Atmete tief ein und aus. Dann sprang er auf. »Komm mit.«

Sunny folgte ihm murrend.

 

»Da drüber. Los!« Luca zeigte auf die Autoreifen, die als eine meterweite löchrige Gummistraße auf dem Rasen lagen. Er hatte die Brüder einmal darüber laufen sehen, als er früh genug wach gewesen war. Sunny zuckte mit den Achseln.

»Na gut.« Mit beiden Beinen sprang er in den ersten Reifen. Hüpfte in den zweiten. Beim dritten hörte er Luca leise knurren.

»Laufen!«, rief der. »Nicht hüpfen!«

»Aber so macht es mehr Spaß …«

»LAUFEN!«, brüllte Luca. Sunny blieb stehen.

»Sag Bitte«, verlangte er.

Luca starrte ihn an. Seine Augen quollen fast aus den Höhlen.

»LAUFEN, HAB ICH GESAGT!«

»Und ich hab gesagt, du sollst bitte sagen«, sagte Sunny. »Echt, wo ist das Problem?«

Luca stieß einen wütenden Schrei aus. Vermutlich war er kurz davor »Bitte« zu sagen, als Lothar aus dem Haus gestampft kam. Vermutlich.

»Was veranstaltet ihr da?«, fragte Lothar. Sein Riesenschädel legte sich schief, als er Sunny in dem Reifen stehen sah.

»Sunny trainiert mit uns«, sagte Luca. Wie bitte? »Ab sofort.«

Lothar betrachtete Sunnys schmale Gestalt. Er gab ein zweifelndes Schmatzen von sich.

»Die Prinzessin? Meinst du, die hält das durch?«

»Ich bin keine Prinzessin«, sagte Sunny, aber Lothar hörte nicht auf ihn.

»Muss er«, sagte Luca. »Er will Sozialarbeiter werden.«

»Was?« Lothar starrte Sunny an. »Bist du dir da sicher, Prinzessin?«

»Ja.« So langsam wurde Sunny wütend. Das schaffte auch echt nur seine neue Familie. »Ich will was Gutes tun, und …«

»Kleiner, da wirst du in der Luft zerrissen. Lass das lieber.«

»Vergiss es, der hat sich das in den Kopf gesetzt.« Luca schüttelte den Kopf. »Wir müssen ihn abhärten.«

»Ja …« Lothar kratzte sich am Kinn. Ach so war das. Sunny schaute in Lucas Gesicht. Der war gar nicht zornig. Der war besorgt um ihn.

»Okay«, sagte er. »Ich mach mit. Wird bestimmt lustig.«

»Wird es nicht«, sagten Lothar und Luca wie aus einem Mund.

 

1.21 Feier mit Überraschungen

 

»Sunny!« Carlotta sprang auf ihn zu. Sie strahlte. »Endlich, es will schon wieder keiner tanzen!«

Sie packte seine Hand und er ließ sich mitziehen, Luca hinter sich zurücklassend. Aber dessen Fußballkumpels riefen eh nach ihm.

Sie waren zusammen hergekommen. Zu Fuß, weil Luca saufen wollte, wie er ihm versichert hatte, und nicht riskieren wollte, sein Rad zu schrotten. Hm. Wenn er danach ging, wie besoffen Luca damals im Winter gewesen war, war das auch besser so.

Also tanzte Sunny mit den Mädchen und Luca trank mit den Fußballern.

Die Musik dröhnte Sunny bis auf die Knochen. Er fühlte sich leicht, gut. Er wusste nicht genau, wieso. Aber das mit Girlanden geschmückte Zimmer wirkte so freundlich, alle Gesichter strahlten und der Erdbeersaft mit Schuss (zwei Flaschen Wodka) glitzerte wie hundert Rubine. Selbst der Zigarettenrauch vom Balkon war köstlich. Na ja, das Einzige, was sich seit der letzten Party verändert hatte, war, dass er jetzt eine Affäre hatte. Eine sehr harmlose Affäre. Er hatte Luca noch nie nackt gesehen. Nur seinen … Sunny sah sich um. Lucas Blick und seiner trafen sich, durch den ganzen Raum. Schnell sahen sie wieder weg.

Schade, dass Mandy und Alina-Lara nie zu Partys kamen. Vielleicht hätten sie echt Spaß gehabt. Aber Sunny war schon daran gewöhnt, dass seine Freundeskreise sich nicht vermischten.

Alex war noch nicht da. Der schneite irgendwann um elf herein, ein Mädchen im Arm, das er frisch kennengelernt hatte. Sie hatte eine Freundin dabei. Die, eine zauberhafte Braunhaarige, sah sich im Raum um. Ihre Augen leuchteten, als sie auf die Fußballergruppe trafen.

Sunny legte den Kopf schief.

»Luca!«, rief sie. Luca hätte fast sein Bier verschüttet, als er sie sah.

»Hallo«, sagte er. Mit drei Schritten war das Mädel bei ihm und hing an seinem Hals. »… Chrissi.«

Oh, dachte Sunny. Diese Chrissi war sehr, sehr hübsch in ihrem engen, blau-weiß-gestreiften Sommerkleid.

»Wer ist das denn?«, flüsterte Anna Sunny ins Ohr. »Und was will die von Luca?«

Sunny zuckte mit den Achseln. Luca wirkte überrascht und überfordert. Chrissis Arme verließen endlich seine Schultern. Sie grinste ihn an und sagte irgendetwas. Er nickte. Zusammen gingen sie in die Küche. Vermutlich hatte sie verlangt, dass er ihr etwas zu trinken besorgte.

»Ich … ich glaube, das ist die, die er am Badesee kennengelernt hat«, sagte Sunny.

»Was, Luca?« Anna pfiff leise durch die Zähne. Ihr Mund verzog sich zu einem kleinen Herz. »Die hat Mut. Ich weiß gar nicht, wie man sich an den rantraut, der wirkt so abweisend.«

»Indem man total aufdringlich ist«, murmelte Sunny.

»Was?«

»Nichts.« Er schrak auf. Schon wieder war seine böse Seite hochgekommen, obwohl er es ihr nicht erlaubt hatte. Mist. »Vielleicht ist sie sehr mutig?«

»Hm.« Anna trat einen Schritt näher an ihn heran und senkte die Lider. Ihre grünbraunen Augen glänzten. »Mutig ist gut. Vielleicht sollte ich auch mal mutig sein.«

Er roch den Erdbeersaft auf ihrer Zunge. Vorsichtig machte er einen Schritt zurück.

»Ich … schau mal, ob ich was über diese Chrissi herausfinden kann«, sagte er. »Bin gleich zurück.«

Eine enttäuschte Anna zurücklassend, marschierte er auf Alex zu. Der lächelte strahlend, als er Sunny erkannte. Wunderschön wie immer.

»Sunny! Willst du was sehen?«

»Wer ist diese … Ja, na gut.« Sunny räusperte sich. »Was denn?«

»Das hier!« Alex hielt ihm ein glänzendes Rechteck aus Plastik unter die Nase. Ein Führerschein. Ausgestellt auf Großkreuz, Alexander.

»Du hast ihn? Hammer!« Sunny klopfte Alex auf die Schulter. »Seit wann?«

»Seit heute!« Alex lachte. »Die Prüfung war supereinfach. Ich bin da so durch.« Er machte eine streichende Bewegung mit der Hand. »Ich hab Marie hergefahren.«

»Super hat er das gemacht.« Marie tätschelte Alex' Brust und Sunny fühlte die altbekannte Eifersucht.

»Was, hast du etwa schon ein Auto?«, fragte Sunny.

»Ne, ich hab den Audi von meinem Vater geliehen.« Alex wirkte superstolz. Klar, wenn sein Vater ihm seinen neuen Wagen überließ. »Der geht so ab, 260 Sachen und man hört ihn kaum. Ich hab gleich mal die Autobahn ausprobiert …«

Sunny ertappte sich dabei, dass er den Faden verlor, während Alex von seiner Fahrt erzählte. Immer wieder schaute er durch die offene Küchentür. Da saßen Luca und Chrissi an einem kleinen Tisch und redeten und redeten. Und redeten.

Luca war verdammt attraktiv, so, wie er da saß. Entspannt, einen Arm auf die Tischplatte gestützt. Kräftige Muskeln zeigten sich unter der gebräunten Haut, die der rote Ärmel freiließ. Chrissi schien das auch zu gefallen, denn ihr Blick glitt anerkennend über Lucas Körper. Dauernd. Klar war er nicht so hübsch wie Alex, viel rauer und scharfkantiger, aber … das hatte auch seinen Charme. Als wäre Alex ein reinrassiger Golden Retriever und Luca … ein ungezähmter Wolf.

»Seit wann redet Luca so viel?«, fragte Sunny und deutete auf die beiden.

»Hä? Ach, der Trottel hat ein Mädchen gefunden, das auch Fußball spielt. Glücksgriff.« Alex lachte. »Der wär doch verloren, wenn er ein Kompliment machen müsste.«

»Hm.« Sunny beobachtete aus schmalen Augen, wie Chrissi sich immer näher an Luca heranschob. Sie war hübsch. Sehr hübsch. Das musste selbst Luca auffallen.

»Sie ist echt hartnäckig.« Marie schüttelte den Kopf. »Er hat sich nicht gemeldet, die ganze Woche über und trotzdem ist sie hergekommen. Und es sieht aus, als hätte sie Erfolg.«

Was? Oh. Chrissi war Luca jetzt so nah, dass zwischen ihren Köpfen nur noch ein paar Zentimeter Abstand waren. Luca wich nicht zurück.

»Ach du Scheiße. Ich wette, das ist sein erster Kuss«, brummte Alex.

Ist es nicht, dachte Sunny. Und er soll nicht … Er soll nicht …

Maries Stimme wurde dramatisch.

»Und sie küssen sich in drei, zwei, … eins …

»Ich muss los«, sagte Sunny.

 

1.22 Flucht in die Nacht

 

Einen Moment später stand Sunny unten vor Carlottas Haustür und fragte sich, was in ihn gefahren war. Chrissi war doch keine Gefahr, oder? Aber was, wenn Luca … Wenn der verbergen wollte, was er war? Was wäre eine bessere Tarnung als eine wunderschöne Freundin? Auf jeden Fall hatte Sunny nicht sehen wollen, wie sie sich küssten. Allein der Gedanke bereitete ihm Übelkeit.

Sei nicht albern, dachte er. Du bist doch eh in Alex verliebt.

Denn das war er. Sein Herz pochte noch genauso stark wie immer, sobald Alex den Raum betrat. Na ja, eventuell war es ein wenig schwächer geworden. Oder bildete er sich das ein? Aber er konnte doch nicht gleichzeitig zwei Kerle … Außerdem gehörte Luca ihm nicht. Und ein Paar hätten sie nicht mal werden können, wenn Sunny nicht in jemand anderen verliebt gewesen wäre.

Er würde wieder hochgehen. Das war total kindisch. Sollten Luca und Chrissi doch rumknutschen, soviel sie wollten. Und Alex und Marie auch … Er seufzte.

Statt zu klingeln, überquerte er die Straße und betrat den kleinen Park gegenüber von Carlottas Haus. Sobald er die grüngestrichenen Metallgitter am Eingang hinter sich gelassen hatte, wurde es ruhiger. Der Straßenlärm verstummte.

Nur ein paar Schritte gehen, sagte er sich. Obwohl, eigentlich bin ich jetzt eh schon auf dem Heimweg …

Es war angenehm kühl, nun, wo die Sonne untergegangen war. Der frische Wind strich über seine bloßen Arme, die er vor Muskelkater kaum bewegen konnte. Das Morgentraining war so hart, wie Luca und Lothar es versprochen hatten. Trotzdem machte es irgendwie Spaß. Er hatte sich körperlich nie so ausgetobt, nie seine ganze Kraft eingesetzt, aber dort durfte er es. Musste es sogar.

Die dunklen Schattenrisse der Büsche links von ihm und der Lindenblütengeruch in der Luft hatten eine beruhigende Wirkung auf ihn. Fast fühlte er sich ein wenig geborgen. Oder wenigstens verborgen vor den Blicken anderer, fast unsichtbar in der Dunkelheit.

Ein Kloß kroch seinen Hals hoch, mit jedem Schritt ein Stück mehr. Er wusste auch nicht, warum. Er hätte so gern mit jemandem geredet. Sich jemandem anvertraut. Aber das ging nicht. Alex hatte recht gehabt. Es war gut gewesen, dass er Mandy und Alina-Lara nicht erzählt hatte, dass er schwul war. Sonst hätten die gleich einen Mann verdächtigt, als sie seine Knutschflecken gesehen hatten. Und dann wären sie vielleicht auf Luca gekommen …

»Sunny!«

Komisch, als er die Stimme hörte, dachte er erst, es wäre Alex. Dabei war es eindeutig Luca. Dessen kräftige Gestalt war selbst als Silhouette im Licht der Straßenlaternen unverkennbar.

Je näher er kam, desto mehr Einzelheiten konnte Sunny ausmachen. Als würde ein total verpixeltes Foto langsam laden. Lucas dunkle Haare schälten sich aus den Schatten, die eckigen Konturen seines Gesichts, die Helligkeit seines einen Auges, die Dunkelheit des anderen, die weiten Schultern und schließlich sein ganzer Körper, den er mit der kraftvollen Eleganz eines Raubtiers bewegte.

Sunny wollte sich ihm in die Arme werfen. Aber er blieb stehen.

»Was machst du denn hier?«, fragte er.

Luca zuckte mit den Achseln. Sein Gesicht verriet nicht, was er fühlte.

»Hatte keine Lust mehr«, sagte er. »Gehst du heim?«

»Ja«, murmelte Sunny. »Ja, ich glaub schon.«

»Ich komme mit.«

Und schon war er an ihm vorbeimarschiert. Sunny hatte Mühe, mitzuhalten. Erst, als er Luca bat, langsamer zu gehen, verringerte der sein Tempo.

Seite an Seite schlenderten sie durch den dunklen Park. Über die große Wiese, unter riesigen Kastanien entlang. Weit entfernt rauschten Autos. Leute lachten, ihre Worte verzerrten sich durch die Entfernung. Selbst hier saßen noch vereinzelt Pärchen im Dunkeln. Hinten, auf einer der Bänke, waren die Umrisse von zwei Leuten zu sehen, die richtig zur Sache gingen. Es war halt Sommer.

»Was machst du hier draußen?«, fragte Sunny. »Ich dachte, du wolltest saufen.«

»Ne, keine Lust mehr.« Lucas Gesicht war verschlossen. »Ich … ne.«

»Dabei lief es doch so gut mit Chrissi.« Sunny wollte sich bremsen, aber er konnte nicht. »Sie ist hübsch. Und es … sah aus, als hättet ihr Spaß gehabt.«

»Sie ist lustig«, sagte Luca zögernd. »Nett.«

»Ah. Schön«, brachte Sunny hervor.

Luca schwieg. Eine Frage drängte Sunnys Hals hoch, obwohl er sie nicht stellen wollte.

»Hast du sie geküsst?«, platzte er schließlich heraus. Luca sah ihn nicht an. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und schaute zu Boden. Und nickte.

»Und … und wie war's?«, fragte Sunny.

»Nett«, sagte Luca leise.

Der Schmerz in Sunnys Brust war unerträglich. Am liebsten hätte er Luca gepackt, in die Büsche gedrängt und ihn geküsst, bis ihm Hören und Sehen verging. Bis er dieses kleine Geräusch machte, ganz tief aus der Kehle heraus, ein fast unhörbares Maunzen wie von einem Kätzchen.

Na, war das auch nett?, hätte Sunny dann gefragt. Du küsst keine Chrissis mehr, ist das klar?

Aber er hatte kein Recht darauf. Sie hatten sich nie etwas versprochen. Also ging er weiter neben Luca her und konzentrierte sich darauf, die Wut wegzuatmen. Die Eifersucht. Und den Schmerz.

»Wenn das alles so … nett war, was machst du dann hier?«, flüsterte er.

»Also …« Luca verzog den Mund. Er rieb sich den Nacken, als wäre die Antwort ihm peinlich. »Ich hab gesehen, dass du mit Alex und Marie geredet hast, hinten, beim Schrank. Und dann warst du plötzlich weg. Das war wegen ihnen, oder? Als ich raus bin, ist er ihr praktisch schon an die Wäsche gegangen. Fast so schlimm wie die da.« Er deutete auf das Pärchen, das die Parkbank als Bett missbrauchte. »Ich dachte, dass du … dass du deshalb abgehauen bist. Stimmt doch, oder?«

»Nein … Ja, schon.« Sunny blickte zu Boden. Eigentlich war er … Aber er sagte etwas anderes. »Ich hab geglaubt, ich gewöhn mich daran. Aber es tut jedes Mal weh.«

Luca schnaubte.

»Muss übel sein, bei dem Verschleiß, den Alex hat. Und dann benutzt er dich noch dauernd, um die Freundinnen von seinen Opfern abzulenken.«

»Das ist dir aufgefallen?«, fragte Sunny erstaunt.

»Das fällt jedem auf. Er ist da nicht gerade subtil.«

»Nein … nein, wohl nicht.« Sunny seufzte leise. »Ich will denen nichts vormachen. Aber es ist so schwer, Alex was abzuschlagen. Für mich zumindest.«

»Du könntest trotzdem …« Luca ballte die Fäuste. »Du … Ach, scheiße. Ich würde Alex am liebsten eine reinhauen. Dafür, was er mit dir macht. Für diese ganzen Weiber, die er vor dir abschlabbert. Aber«, er atmete tief ein, »er weiß ja nicht, dass du ihn liebst.«

Sunny schluckte.

»Doch«, murmelte er. »Doch, das weiß er.«

»Was?« Luca fuhr zu Sunny herum. Sein Gesicht war so ungläubig, dass seine Augenbrauen fast seinen Haaransatz erreichten. »Er weiß es?«

»Ich hab's ihm gesagt.« Sunny trat nach einer Bierflasche, die über den Rasen kullerte. »Gleich nach einer Woche oder so. Damals, als er neu in die Klasse gekommen ist.«

»Und was hat er dazu gesagt?«

Ui, Lucas Stimme vibrierte vor unterdrückter Wut. Als würde er nur noch ein paar Informationen einsammeln wollen, bevor er zurückstampfte und Alex den Arsch versohlte. Das durfte Sunny nicht zulassen.

»Er kann doch nichts dafür, dass er mich nicht liebt. Das … das ist einfach Pech.«

»Aber dass er dich ausnutzt ist kein Pech«, knurrte Luca. »Dass er dich ausnutzt, weil du ihn halt magst. Das ist einfach schäbig.«

»Ich mache ja mit«, murmelte Sunny. »Ich kann nicht … Ich kann ihm nichts abschlagen. Ich bin so gern mit ihm zusammen.«

»Ein tolles Zusammensein«, murrte Luca. Er war ein Stückchen in sich zusammengesunken. Aus irgendeinem Grund wirkte er weniger wütend und eher … traurig.

Es war ein langer Weg nach Hause. Aus dem Park heraus durch nachtdunkle Straßen, nur beschienen vom künstlich-trüben Licht der Straßenlaternen. Sie schwiegen, minutenlang. Dann hielt Sunny es nicht mehr aus.

»Ich hab … Ich hab ihn herumgeführt, am ersten Tag. Frau Hinrichs hat gesagt, ich soll das machen. Ich hatte … Ich war irgendwie in ihn verliebt, sobald er reinkam. Er ist so schön. Wie ein Prinz oder so. Und … Also am Anfang war er eigentlich eher kühl zu mir. Hat nur so aha und hm gesagt.« Sunny sah Alex' desinteressierten Blick noch vor sich. »Aber ich hab mir richtig Mühe gegeben. Hab ihn all meinen Freunden vorgestellt, Carlotta, Elif, Anna, Alina-Lara und Mandy und Elisa und …«

»Und dann fand er dich auf einmal doch ganz toll?«, brummte Luca.

»Ja.« Sunny strahlte. Er war so stolz darauf, dass er das geschafft hatte. Dass Alex sein Freund war, auch wenn er niemals sein … Freund sein würde. Luca schnaubte.

»Der hat doch nur kapiert, dass du voll der Mädchenmagnet bist. Echt, seit ich dich kenne, schwirren sie um dich rum. Du bist halt ein Frauenversteher, so einer, vor dem sie keine Angst haben müssen.«

»Hat er nicht.« Wut schoss durch Sunnys Körper. Heiße, plötzliche Wut. »Was laberst du da? Du … du bist doch nur sauer, weil Alex ein besserer Kapitän wäre als du.«

Luca blickte ihn überrascht an. Aber dann warf er den Kopf in den Nacken und lachte dröhnend.

»Hat er dir das erzählt?«, fragte er, kichernd. Sunny blieb stehen. Er verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ja, hat er. Willst du etwa sagen, dass er lügt?«

»Dein Liebster wäre ein gottverdammt beschissener Kapitän.« Lucas Stimme triefte vor Spott. »Das weiß jeder, nur er nicht.«

»Von wegen«, fauchte Sunny. »Ich hab's selbst gehört, von Elias. Dass Alex nur ein paar Stimmen hinter dir war, als du gewählt worden bist.«

Luca knurrte leise.

»Na und? Ich hab gewonnen.«

»Fast hättest du es nicht.«

Luca schien ernsthaft zu überlegen, ihm eine zu zimmern. Tat er natürlich nicht. Aber sein Gesichtsausdruck war der eines tollwütigen Wolfs kurz, bevor er einem Kaninchen die Kehle durchbiss.

»Ne, fast nicht«, gab er zu. »Hab ich aber. Und wenn wir heute nochmal wählen würden, würde ich deinen Schatzi immer noch schlagen. Mit links. Ich hab nämlich Ali und Kolja auf meiner Seite und jeden, dem Alex je ein Mädel ausgespannt hat. Und das sind 'ne ganze Menge.«

»Alex macht das nicht«, sagte Sunny. »Der würde nie was mit einer anfangen, die schon einen Freund hat.«

Luca sah ihn an, als wäre er der größte Trottel auf der Welt. Das musste er sich nicht bieten lassen. Mit erhobenem Kopf ging Sunny weiter.

Erst dachte er, Luca wäre stehengeblieben. Aber dann hörte er seine Schritte hinter sich auf dem rissigen Asphalt und sah aus den Augenwinkeln, dass er sich wieder neben ihn geschoben hatte. Sunny ignorierte ihn. Stur blickte er auf den Bürgersteig, auf dem sich ihre Schatten verzerrten. Sie verschwanden, wenn sie in einen neuen Lichtkegel traten, und dehnten sich wie Kaugummi, sobald sie eine Straßenlaterne hinter sich ließen. Niemand sonst schien unterwegs zu sein. Ab und zu zischte ein Auto an ihnen vorbei. Die Wut ließ nicht nach.

»Was hat er gesagt, als du es ihm erzählt hast?«, fragte Luca. »Alex, meine ich.«

»Dass … dass er mich … Dass das leider nicht geht«, brachte Sunny hervor. Der alte Schmerz flammte wieder auf. War aber irgendwie befreiend, davon zu reden. »Er hat gesagt, wir könnten gern Freunde bleiben, solange ich keinem erzähle, dass ich schwul bin.«

Luca fletschte die Zähne.

»Wundert mich gar nicht. Dieses verblödete Arschloch.«

»Nein … nein! So hat er das nicht gemeint.« Sunny erinnerte sich an Alex' verständnisvollen Blick. Damals, in Alex' hellem Zimmer mit dem gigantischen Bildschirm an der Wand. »Er will mich schützen. Er hat gesagt, dass ich in Gefahr wäre, wenn es alle wüssten. Ich meine, wie viele Jungs an unserer Schule sind offen schwul? Keiner. Zu gefährlich.«

»Ich dachte, du willst es allen sagen, wenn du einen Freund hast? Oder war das nur so ein Hirngespinst?« Luca klang skeptisch.

»Nein, aber …« Sunny seufzte. »Das ist kompliziert.«

»Klingt so.«

»Ich werde es ihnen sagen. Zuerst Alina-Lara und Mandy. Nur nicht jetzt. Wenn die es jetzt herausfinden, bist du in Gefahr.«

Luca zögerte, dann brummte er uneindeutig. Sie gingen weiter. Die Häuserdichte verringerte sich. Vorgärten mit akkurat gestutzten Hecken schlummerten im Dunkel vor sich hin. Lucas und Sunnys Schritte waren das einzige Geräusch weit und breit. Sie waren fast da. Nur ein paar Straßen von hier begann der Aufstieg zum Märchenschloss.

»Wenn …« Sunny überlegte, wie er es formulieren sollte. »Wenn Ali und Kolja wüssten, dass du auf Jungs stehst …«

»Das dürfen sie nicht!«, schnappte Luca. Er schien selbst erstaunt über seine heftige Reaktion. Tiefes Einatmen. Geballte Fäuste, die im Dämmerlicht weiß schimmerten. »Nie. Echt nicht. Du weißt nicht, wie die über Schwuchteln reden.«

»Schwuchteln wie uns, meinst du?« Sunny kratzte sich am Arm. »Keine Angst, ich hab's dir doch versprochen. Ich frag mich nur … Würde das so viel ausmachen? Wenn die es wüssten, wärst du dann noch Kapitän?«

»Nein.«

»Sicher?«

»Verdammt sicher.«

»Aber sie sind deine Freunde. Das wären sie auch noch, wenn du es ihnen sagen würdest, oder?«

»Ich …« Luca sah sich nach links und rechts um, aber niemand war zu sehen. Die schmale, gewundene Straße lag verlassen da. Die Furcht in seinem Blick tat Sunny weh. »Ich weiß nicht. Keine Ahnung.«

»Man hört doch nicht einfach auf, jemanden zu mögen, weil er …«

»Können wir das Thema lassen?«, bat Luca. »Ich … Weißt du, deshalb war ich so panisch, als du es rausgekriegt hast. Wenn du es Alex erzählt hättest, dann hätte er es sofort ausgenutzt, um meinen Posten zu kriegen.«

»Hätte er nicht!«

»Sicher.« Luca lachte bitter. »Okay, glaub, was du willst. Aber erzähl es ihm nicht.«

»Eh nicht. Versprochen.«

Sunny blickte Luca verstohlen an. Das grelle Licht zauberte tiefe Schatten in sein Gesicht. Er sah Lucas Kiefermuskeln mahlen. Sah, dass der wieder die Fäuste geballt hatte.

Es frisst ihn auf, dachte Sunny. Stückchen für Stückchen, immer mehr. Und irgendwann wird nichts mehr von ihm übrig sein …

Mit einem Mal war er tieftraurig. Aber die geballten Fäuste brachten ihn auf eine Idee.

»Kann ich deine Hand halten?«, bat er.

 

1.23 Hand in Hand

 

»Kann ich deine Hand halten?«, bat dieser Lockenkopf und Luca wäre fast in einen Laternenmast gelaufen.

»Bist du verrückt?«, zischte er. »Das sieht doch jeder.«

»Wer soll das sehen?«, fragte Sunny verdutzt. Er sah sich auf der menschenleeren Straße um. Tatsächlich waren alle Fenster dunkel. Meilenweit. Aber hinter der nächsten Biegung würden sie das Hexenhaus sehen.

»Was, wenn jemand hinter der Hecke steht?«, flüsterte Luca und wusste selbst, wie unwahrscheinlich das war. Änderte aber nichts an der Panik, die an seinen Eingeweiden nagte. »Warum … willst du das überhaupt?«

»Will nur mal ausprobieren, wie das ist.« Sunny zuckte mit den Achseln. »Wir haben doch schon ganz andere Dinge getan.«

Luca knabberte auf seiner Unterlippe herum.

»Okay«, sagte er schließlich. »Nur ganz kurz. Bis zur Biegung.«

Sofort drängten sich Sunnys Finger zwischen seine, öffneten seine Fäuste. Es fühlte sich seltsam an, Hand in Hand mit ihm zu gehen. Die Wärme zu spüren, die von ihm ausging. Luca musste dauernd schlucken und wusste nicht, warum. Als sie sich nach ein paar Schritten voneinander lösten, fühlte er sich seltsam leer.

»Und, war's gut?«, fragte er spöttisch. Das Hexenhaus ragte vor ihnen auf, in all seiner schäbigen Pracht.

»Ja.« Sunny nickte ernsthaft. Seine Locken wippten. »Ja, sehr gut. Hey, zeigst du mir nochmal, wie man hangelt, wenn wir da sind?«

»Klar« Luca wollte eh noch nicht reingehen.

Dabei waren sie ganz allein. Seine Brüder waren bei irgendeiner Klopperei, beziehungsweise einem Fußballspiel, und ihre Eltern besuchten Lucas Oma. Eigentlich konnten sie sich noch ein paar Stunden auf das Dach zurückziehen. Aber Sunny steuerte bereits auf den Garten zu. An den Mülltonnen vorbei, hinter das Haus. Zum Gerüst.

Es war stockdunkel auf dem Rasen. Keine Straßenlaternen, um ihn zu beleuchten. Der Mond war nur noch eine schmale Sichel und man sah kaum, wohin man trat. Alles war pechschwarz, minutenlang, bis ihre Augen sich an die Finsternis gewöhnt hatten. In irgendeinem Nachbargarten kläffte ein Hund.

Sunny trat vor das Gerüst. Er griff eins der aufgespannten Seile, an denen sie sich sonst entlanghangelten, hängte sich daran und baumelte vor und zurück wie ein Kind. Ein Spielkind. Luca seufzte leise. Er wünschte … Er wusste es nicht. Wahrscheinlich, dass er auch nur einmal diese Leichtigkeit verspüren würde, die Sunny ausstrahlte. Wie verträumt er hin und her schaukelte, die Hände am Seil, das Shirt hochgerutscht, so dass Luca einen schmalen Streifen Bauch erahnen konnte. Schade, dass es so dunkel war.

»So geht das.« Luca ging zum Ende der Strecke, sprang hoch, griff in das Seil neben Sunnys und setzte eine Hand vor die andere. Sein Körpergewicht zog ihn nach unten, aber seine Armmuskeln waren stark. Kurz darauf war er auf gleicher Höhe mit Sunny angekommen, der inzwischen mit dem Kopf nach unten am Seil hing und sich nur mit den Kniekehlen festhielt.

»Hast du überhaupt zugeschaut?«, fragte Luca. Trotz der Dunkelheit sah er Sunnys Lächeln.

»Hab ich.« Sunny schaukelte wieder vor und zurück. Sein Shirt löste sich und verdeckte sein Gesicht. Und legte seinen flachen Bauch frei. Als er den Stoff hob, um wieder etwas sehen zu können, war Lucas Gesicht vor seinem. Ebenfalls umgedreht.

Eigentlich ganz lustig, dieses Mit-dem-Kopf-nach-unten-hängen, dachte Luca.

»Hey.« Er grinste.

»Hey.« Sunny grinste zurück. Und dann legte er die Hände um Lucas Kopf und küsste ihn.

Das Blut rauschte in Lucas Ohren. Der Kuss und das Auf-dem-Kopf-stehen sorgten dafür, dass ihm verdammt schwindlig wurde. Trotzdem hielt er es so lange aus, wie er konnte. Genoss das kreiselnde Gefühl in seinem Schädel und Sunnys weiche Lippen, bevor er sich aufrichtete, das Seil mit beiden Händen packte und zurück auf den Boden sprang. Sunny folgte ihm.

Nervosität kribbelte in Lucas Bauch. Irgendetwas hatte Sunny vor, das spürte er ganz deutlich. Der Lockenkopf lächelte, ein strahlendes, weißblitzendes Lächeln, das seine Kulleraugen leuchten ließ, und zog sich das Shirt über den Kopf. Streifte die Schuhe ab. Knöpfte seine Hose auf und riss sich mit einem Ruck den Rest seiner Klamotten vom Leib.

Luca schluckte. Aber sein Mund war sofort wieder trocken. Sunny stand vor ihm, vollkommen regungslos. Und vollkommen nackt. Das viel zu schwache Mondlicht erhellte seinen Körper. Seinen … verdammt köstlichen Körper. Biegsam und warm und hart an all den richtigen Stellen.

Luca schluckte erneut. Er wusste, was Sunny sich von ihm erhoffte. Er hatte ihn immer wieder gebeten, dass sie … also, dass sie sich mal komplett ausziehen würden. Das Problem war, dass Luca genau wusste, dass der letzte Rest seiner Hemmungen verschwinden würde, wenn sie das taten. Noch konnte er sich beherrschen, na ja manchmal, und Sunny von allzu riskanten Aktionen abhalten. Aktionen wie der hier. Was, wenn seine Brüder doch früher heimkamen? Wenn …

Ein Windstoß fegte über das Gras und verwuschelte Sunnys Locken. Die Luft roch nach Lavendel, Sunny öffnete den Mund … und Luca wusste, dass er verloren hatte.

»Bitte?«

Luca zerrte sich das Shirt vom Leib und schleuderte seine Schuhe auf den Rasen. Zögerte einen Moment, aber dann schälte er sich aus dem Rest seiner Kleidung. Vollkommen nackt spürte er den kühlen Luftzug auf seiner Haut. Das Gras unter seinen Füßen kitzelte, während er auf Sunny zuging, so unausweichlich, als würde er ihn mit dunkler Magie zu sich herzerren.

Luca riss Sunny an sich, presste sich gegen ihn, drückte die hungrigen Lippen auf Sunnys. Es war fast zu viel. Das warme Gefühl von Haut an Haut. Sunnys nasser Mund, seine Hände, die zielstrebig über Lucas Rücken fuhren, das Zucken zwischen seinen Beinen, die erwachende Härte, die sich an seine drängte … Ja. Ja, es war zu viel. Sie gingen in die Knie.

Sunny packte Luca, lehnte sich zurück und zog ihn mit sich. Wieder lächelte er. Wie ein Engel mit einem Heiligenschein aus zerdrücktem Gras. Sein Unterleib rieb gegen Lucas. Kurze, hektische Stöße, die seinen Ständer in Lucas Oberschenkel gruben.

»Langsam«, flüsterte Luca.

Er wollte es genießen. Mit sanftem Druck ergriff er Sunnys Hände und hielt sie über seinem Kopf in den kühlen Rasen. Er küsste ihn, so sacht, wie er es aushielt. Und mit jedem Kuss bewegte er sein Becken. Gedrosselt, unendlich träge. Sunny stöhnte bei jedem Schub. Ihre Schwänze rieben aneinander und Luca spürte, wie sie noch härter wurden. Schon fühlte er Feuchtigkeit, da, wo Sunny gegen seinen Bauch drängte. Dessen Seufzen nahm einen klagenden Unterton an.

»Schneller«, flehte er.

Luca hörte nicht auf ihn. Obwohl das Ziehen in seinem Inneren unerträglich wurde, riss er sich zusammen. Achtete darauf, wie sich Sunnys Atem auf seinem Gesicht anfühlte. Dessen glatte Haut an seiner, so seidig, dass ihm noch schwindliger wurde als vorhin. Prägte sich das Gefühl von Sunnys harten Nippeln auf seiner Brust ein.

Merk dir alles, dachte er. Es ist nicht für immer. Nichts ist für immer.

Aber schon nach viel zu kurzer Zeit konnte er nicht mehr. Sunny, der hilflos unter ihm festgepinnt lag, stöhnte ihm zu, schneller zu machen, endlich schneller zu machen. Und Luca gab nach. Er ließ Sunnys Hände los und bohrte seine Finger unter den herrlichen Körper, spürte aufgewärmtes Gras auf seinem Handrücken und Sunnys feste Arschbacken unter seinen Fingerspitzen. Sunnys Hände, die sich in seinen Rücken gruben. Hektisches Atmen an seinem Ohr. Und das fieberhafte Reiben ihrer Unterleiber.

Sunnys Bauch, sein Bauch pressten sich aneinander, so fest, dass er nur noch Hitze spürte und Enge und Hitze … Der Orgasmus riss ihn mit, heftig, so dass er für einen Moment gar nichts mehr sah. Er spürte Sunny unter sich zucken. Die Nässe, mit der sie sich gegenseitig vollspritzten. Er hörte das wunderbare Ächzen, das Sunny ausstieß, als sein Körper erschlaffte und er zurück ins Gras sank. Und das sanfte Zittern in allen Gliedern.

Kühle Nachtluft strich über seine feuchten Schultern und seinen bloßen Hintern. Halme kitzelten seine Nase, Sunnys Haare streichelten seine Wange und er roch Erde und frischen Schweiß. Lecker. Sunnys Finger glitten langsam über seinen Rücken. Sie zeichneten Muster darauf, die er nicht erkannte. Kreise und Schlangenlinien und …

Autotüren klappten.

Sie waren so beschäftigt gewesen, dass sie das Taxi nicht nahen gehört hatten. Luca sah auf. Zwischen dem Haus und der Hecke sah er ganz deutlich, wie Lars und Leif aus einem hell erleuchteten gelben Wagen kletterten. Schwankend und brüllend.

»Faueffbeeeee …«, gröhlte Lars, ohne erkennbare Melodie.

Nein! Einen Moment lang blieb Luca wie versteinert liegen. Dann stoben er und Sunny auseinander. Sie griffen nach ihren Kleidungsstücken, rafften alles in Windeseile zusammen und stolperten los. Hinter das Gerüst, das Einzige, das sie vor den Blicken der beiden verstecken konnte.

Luca lehnte sich mit dem Rücken gegen die grobe Holzwand. Sunny neben ihm keuchte leise. Die klammen Stofffetzen in den Händen schob Luca seinen Kopf Stück für Stück zur Ecke des Gerüsts hin. Und erstarrte.

Lars und Leif kamen über den Rasen getaumelt. Sie waren nur noch wenige Meter von ihnen entfernt.

»Faueffbeeeee … du bist so scheee …« Leif stolperte, fing sich aber wieder. »Und ich bin wohl schneller über die Mauer. Viel schneller! Beweis es dir …«

»Laber nicht«, lallte Lars. »Ich mach dich sowas von fertig …«

Er unterbrach für einen Moment, um im hohen Bogen ins Gras zu kotzen. Genau dahin, wo sie eben noch gelegen hatten.

Bleib stehen, flehte Luca ihn stumm an. Bitte bleib stehen.

Warme Nässe lief über seinen nackten Bauch, zwischen seine Schenkel. Sunnys Saft, vermischt mit seinem. Er spürte es ganz deutlich im Windhauch. Als er sich umsah, blickte er direkt in panisch aufgerissene Kulleraugen unter einem Nest aus Locken.

»Haha, du Opfer!« Leif schlug seinem Bruder auf den Rücken, so dass der mitten im Reihern drei Schritte vorwärts taumelte und sich hinlegte.

»Was soll das, du Idiot?«, brüllte Lars. Selbst im Dunkeln konnte Luca sehen, dass sich Erbrochenes über seine ganze Vorderseite verteilt hatte. »Ich mach dich alle, du Krücke!«

Torkelnd stürzte er sich auf Leif. Sie gingen zu Boden. Luca schluckte. Die Zwillinge taten sich nie ernsthaft weh. Sie rauften bloß. Aber besoffen, wie sie waren, konnte das schnell schiefgehen …

Einen Moment später hörten sie lautes Schnarchen.

Luca blinzelte ungläubig. Die beiden Trottel lagen auf dem Rücken, die Arme weit ausgebreitet und pennten. Ihr Gurgeln weckte ein paar Vögel, die anfingen, schrill zu piepsen, was Lars und Leif aber nicht davon abhielt, weiterzuratzen.

Hektisch zogen Luca und Sunny sich wieder an. Sie schlichen an den Suffköppen vorbei über den Rasen und um das Haus herum. Erst, als sie die Haustür abgeschlossen hatten und sicher im Flur standen, atmeten sie auf.

»Scheiße«, keuchte Luca. »Scheiße, das war knapp.«

Im hellen Licht des zitronengelb gestrichenen Flurs wirkte Sunny noch bleicher.

»Das war meine Schuld«, wisperte er. »Wenn ich nicht gewollt hätte, dass …«

Luca hätte ihn beruhigt, wenn er nicht selbst so kaputt gewesen wäre. Zitternd stiegen sie die Treppen hoch bis in Sunnys Zimmer.

»Meinst du, sie sind in Ordnung?«, fragte Sunny und ließ sich auf sein Bett plumpsen. Luca setzte sich neben ihn. »Können wir sie einfach so liegenlassen?«

»Wir kriegen die da eh nicht weg«, sagte Luca. »Sie sind zu schwer und aufwachen tun sie sowieso erst morgen früh. Ne, mach dir keinen Kopf«, fügte er hinzu, als er Sunnys besorgtes Gesicht sah. »Die haben schon ganz andere Sachen überstanden.

»Ja … wahrscheinlich.« Sunny biss sich auf die Lippen. »Es tut mir so leid. Das war alles meine Schuld. Sie hätten uns fast erwischt und es war meine Schuld …«

Luca legte den Arm um ihn. Immerhin das konnte er tun. Außerdem beruhigte Sunnys warmer Leib an seinem ihn ein wenig.

»Das hätte schiefgehen können«, flüsterte er. »Richtig, richtig schiefgehen.«

Sunny schluchzte trocken.

»Du musst mich nicht trösten«, murmelte er. »Du bist doch selbst ganz blass.«

Kein Wunder. Luca wurde erst so langsam klar, was da passiert war. Sein Magen drohte, sich umzustülpen. Verdammt.

»Luca?« Sunnys Stimme war winzig klein. »Willst du … aufhören?«

»Womit?« Luca schaffte es nicht, ihn anzusehen. Einatmen, ausatmen. Lippen fest zusammenpressen.

»Mit … mit uns.«

Ja, das wäre das Beste, sagte der vernünftige Teil seines Gehirns. Das wäre wirklich das Beste.

Keine gefährlichen Aktionen mehr. Weitermachen wie bisher. In der Schule den Macker geben, zuhause rumbrüllen und sich ab und zu heimlich auf Pornos einen runterholen. Fantastisch.

»Ich weiß nicht«, sagte Luca. »Ich glaub nicht. Noch nicht. Irgendwann müssen wir aufhören, das ist klar. Wir können nicht ewig so viel Glück haben.«

Sunny nickte todtraurig. Luca ertrug es kaum, sein betrübtes Gesicht zu sehen. Also sah er weg.

»Luca?«

»Ja?«

Nicht hinschauen, sagte Luca sich. Wenn Sunny ihn aus seinen Welpenaugen ansah, konnte der ihn zu allem überreden. Dann würde er sogar runter gehen, und neben seinen schlafenden Brüdern nackt mit Sunny über den Rasen rollen …

»Wenn du … Wenn du aufhören willst, musst du es mir nur sagen, okay?«, schniefte Sunny.

Verdammt, er heulte echt. Luca schloss seinen Arm fester um ihn, rieb seinen Oberarm, auf und ab. Aber er traute sich nicht, hochzuschauen.

»Ehrlich«, sagte Sunny. »Wenn … Wenn du mich nicht mehr sehen willst, sag einfach: Ich will aufhören. Und dann lass ich dich in Ruhe. Sofort. Für immer.«

»Mach ich.« Luca wandte den Kopf. »Versprochen. Aber nicht heute.«

Er küsste Sunnys nasse Wange.

»Heute … kann ich noch nicht aufhören«, flüsterte er in dessen zerzauste Locken. Ein Grashalm ragte daraus hervor und kitzelte seine Nase.

»Okay.« Sunny kicherte glucksend. Seine Stirn drückte gegen Lucas Hals. »Okay …«

Nun, da der größte Schock überstanden war, begann Lucas Körper wieder, sich zu regen. Und scheiße nochmal, sein Körper war schlimmer als je zuvor. Wollte mehr als je zuvor. Er hatte gewusst, dass er eine Grenze überschritt, wenn er sich nackt mit Sunny im Gras wälzte. Und nun erwachten mit jeder Minute neue Bedürfnisse.

»Meinst du, wir könnten es mal tun?«, fragte er. »So … richtig, meine ich.«

Seine Wangen brannten. Wie zur Hölle machte man diesen Vorschlag auf elegante Weise? Keine Ahnung.

»Ich … wäre gerne in dir.« Argh. Lucas Magen krampfte sich zusammen. Wie viel peinlicher konnte es noch werden?

Sunny regte sich nicht. Hatte er ihn verschreckt?

»Ich …« Der Lockenkopf seufzte. »Ich würde auch gern, aber … Ehrlich gesagt, hab ich immer gedacht, mein erstes Mal wäre mit Alex.«

»Oh. Ja klar.« Luca kam sich blöd vor. So richtig.

»Ich … ich wollte, dass er es ist, der mich … äh … du weißt schon.« Immerhin behandelte Sunny das Thema genauso tollpatschig wie Luca.

»Schon gut. Echt. Machen wir einfach weiter wie bisher«, murmelte Luca. Ein neuer Gedanke entstand in seinem Kopf. Er räusperte sich. »Außer … Außer, wenn du mich ficken willst.«

Wie war nochmal das passende Wort dafür? Liebe machen? Aber das brachte er noch viel weniger über die Lippen.

Sunny sah ihn an, als hätte er nie darüber nachgedacht, dass das möglich wäre.

»Stimmt«, murmelte er. »So könnten wir das auch … Äh, könnten wir echt … Ich muss darüber nachdenken, glaub ich.« Aber der Gedanke schien ihm zuzusagen, wenn Luca das Zucken im Schritt seiner Hose richtig deutete.

»Lass dir Zeit«, sagte Luca leichthin. So, als würde ihm nicht fast das Herz aus der Brust springen, wenn er daran dachte.

Sunny starrte ihn immer noch an.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du sowas vorschlägst.«

Luca zuckte mit den Achseln. Er konnte nicht mehr zurück, warum also nicht vorwärtsgehen? Auch, wenn er nicht mal ahnte, wohin der Weg führte.

 

1.24 Bereit oder nicht

 

Mit Luca schlafen. Sex haben. Sunny konnte an nichts anderes mehr denken. War er bereit dafür?

Na ja, sein Körper war mehr als bereit. Wann immer Luca ihm den Rücken zudrehte und er seinen prallen Arsch sah, begann Sunnys ganzer Körper, zu kribbeln. Ja, er wollte das. Er zweifelte nur daran, ob es richtig war. Sollte er das nicht mit Alex tun? Mit jemandem, den er wirklich liebte? Nutzte er Luca nur aus, wenn er mit ihm schlief? Aber Luca benutzte ihn ja auf die gleiche Weise und er fand es toll.

»Du denkst darüber nach, was?«, fragte Luca, als Sunny gedankenverloren über seinen Hintern strich.

Es war Sonntag, und sie hatten sich auf das Dach zurückgezogen, obwohl sie behauptet hatten, Hausaufgaben zu machen. Sunny nickte. Er wollte es. So sehr. Aber durfte er es?

 

Er vergaß den Gedanken höchstens für ein paar Minuten. Meistens, wenn er beim Morgentraining an den Seilen entlanghangelte, oder mit äußerster Mühe über das Gerüst kletterte.

Luca half ihm, so gut er konnte. Bei manchen Übungen war Sunny gar nicht so weit hinter den Brüdern zurück. Bei allem, was mit Geschicklichkeit und Geschwindigkeit zu tun hatte. Aber wenn es darum ging, seine Armmuskeln einzusetzen, versagte er kläglich. Und beim Ringen? Hatte er keine Chance.

»Streng dich an, Prinzessin!«, rief Lars fröhlich, als er ihn am Samstagmorgen in den Rasen drückte.

Unmöglich. Sunnys Hände waren schmerzhaft auf seinem Rücken verdreht und die Beine hatte Lars mit seinen verhakt, so, dass er gefangen war wie ein zappelnder Käfer. Nur, dass er nicht zappeln konnte.

Die anderen standen um sie herum: Aaron Wolf, Lothar, Leif und Luca. Sunny glaubte, Mitleid in ihren breiten Gesichtern erkennen zu können.

»Gibst du auf?«, fragte Lars.

Sein Atem streifte Sunnys Wange. Alles schmerzte. Er musste nur sagen, dass er aufgab, aber … Er wollte nicht. Trotz stieg in ihm auf. All diese Gefühle, die er sonst verdrängte, durfte er im Training herauslassen. Zorn half ihm über die Seile, Wut über die viel zu hohe Holzwand …

Lars packte ihn fester und Sunny wimmerte. Langsam wurde sein Arm taub. Wenn er nicht bald aufgab, würde er abfallen. Er hatte keine Möglichkeit, sich hier herauszuwinden, aus diesem Schraubstockgriff … Hm. Unter äußerster Anstrengung drehte Sunny den Kopf.

Und leckte Lars über die Wange.

Der brüllte überrascht auf, lockerte seinen Griff. Und Sunny schaffte es, sich loszureißen und ihn seinerseits in einen Klammergriff zu bringen. Eine Sekunde lang. Dann hatte Lars ihn abgeschüttelt und sich schreiend aufgerichtet.

»ER HAT MICH GELECKT!«, schrie er.

Aaron, Lothar und Leif schauten zutiefst entsetzt. Luca lachte sich tot. Japsend hielt er sich den Bauch und krümmte sich so stark, dass er ein paar Schritte nach vorn stolperte.

»DAS IST NICHT LUSTIG!«, brüllte Lars. »ER HAT MICH GELECKT!«

»Du bist halt eine Pussy. Die gehören geleckt«, brummte Lothar.

Mit einem Schrei stürzte Lars sich auf ihn. Aaron Wolf tat wie immer nichts, um die Rauferei zu unterbinden.

»Sehr … wirksam, Junge«, sagte er und nickte Sunny zu. Der richtete sich stolz auf.

»Ja, das war klasse«, kicherte Luca. »Du …«

»Sunny.« Mariannes Stimme brachte seine Nackenhaare dazu, sich aufzurichten.

Wann war sie aus dem Haus getreten? Ihr Blick ging ihm durch und durch. Wie sie so dastand, mit flatternden braungrauen Haaren und einem flammend roten Gewand, schüchterte sie ihn mehr ein als die fünf Riesenkerle um ihn herum. Denn sie war enttäuscht, das sah er ganz deutlich.

Schwer enttäuscht.

»Kommst du kurz mit rein?«, bat sie mit schwerer Stimme. »Ich muss etwas mit dir besprechen.«

»Aber … wir sind mitten im Training«, sagte Sunny. Er wusste nicht, warum. Normalerweise widersprach er ihr nicht, wenn sie so dreinschaute.

»Ist in Ordnung, Junge. Du bist entlassen«, dröhnte Aaron Wolf und warf Marianne einen vorsichtigen Blick zu.

»Oh.« Sunny schluckte. »Danke.«

Keiner der anderen protestierte. Mit gesenktem Kopf schlurfte Sunny hinter Marianne her, betrat das Haus und folgte ihr in die Küche.

 

1.25 Mutter gegen Sohn

 

»Setz dich«, sagte sie und nahm selbst an dem riesigen Birkenholztisch mit den dicken Beinen Platz.

Elefantendicken Beinen, aber die brauchte er auch. Familie Wolf neigte dazu, mit den Fäusten auf den Tisch zu hauen. Marianne dagegen … Sunny wusste nicht, wie sie das machte, aber wenn sie ihn so enttäuscht ansah wie jetzt, wurde er nicht wütend, sondern verlor alle Willenskraft. Schlaff plumpste er auf einen der Stühle.

»Was ist denn?«, fragte er, obwohl er es bereits ahnte.

»Ich habe dich gebeten, dich von diesen …«, ihre Stimme wurde zu einem Flüstern, »Rüpeln fernzuhalten. Musst du dich unbedingt in Gefahr bringen?«

»Ich bin nicht in Gefahr!«, protestierte er.

»Nicht in Gefahr? Und was war das eben?« Sie deutete auf das Fenster.

Hinter der Scheibe, im Garten, nahm Leif gerade Lothar in die Zange. Dessen Augen ploppten fast aus dem Gesicht, als er versuchte, sich aus der Umklammerung zu winden.

»Er hätte dir fast den Hals gebrochen. Weißt du, wie das ausgesehen hast? Weißt du, wie ich mich dabei gefühlt habe?«

»Lars würde mir nie was brechen«, murmelte Sunny. »Das sieht schlimmer aus, als es ist, echt. Ich … hab so 'ne Art Welpenschutz. Und die können mit ihrer Kraft umgehen. Üben sie ja jeden Tag.«

»Alle denken, sie könnten mit ihrer Kraft umgehen. Bis ein Unfall passiert.« Mariannes Lippen waren schmal und weiß. »Ich mache mir doch Sorgen um dich, Sunny. Diese Prügeleien, das Rumgeschrei … Das passt nicht zu dir.«

»Ich schreie nicht rum.« Sunny fühlte sich furchtbar. »Das tun nur die anderen.«

»Und wie lange wird es dauern, bis du auch so ein Schreihals wirst?«, zischte sie. Ihre Augen wurden feucht. »Das macht mir Angst, Sunny. Möchtest du wirklich damit weitermachen? Auch wenn … wenn ich so eine Angst um dich habe?«

Nein, hätte Sunny fast gesagt, als er ihre riesigen, nass glänzenden Augen sah. Natürlich nicht. Wie immer, wenn sie diesen Gesichtsausdruck hatte, so voll Schmerz und Furcht. Wie immer, wenn sie ihre Hände auf seine legte und ihn flehend ansah. Schon öffnete sich sein Mund. Dann hörte er Luca draußen etwas rufen.

»Ich möchte weitertrainieren«, sagte er. »Luca macht sich sonst Sorgen um mich.«

»Wie bitte?« Marianne blinzelte. »Luca?«

»Er will, dass ich mittrainiere, damit ich lerne, mich zu wehren.« Sunny lächelte schwach. »Das ist doch nett von ihm, oder?«

»Gegen wen sollst du dich denn wehren?« Mariannes Gesicht wirkte plötzlich anders. Härter. »Gegen Typen wie ihn? Ich weiß ganz genau, wie er dich behandelt hat. Du hast es mir oft genug erzählt. Lusche hat er dich genannt. Und Lappen. Und …«

»Das war früher.« Sunny zog seine Hände zurück und verschränkte die Arme. Sein Herz klopfte bis zum Hals. »Jetzt sind wir Freunde und wir trainieren zusammen.«

Marianne schwieg verblüfft. Kein Wunder, bisher hatte er sich selten geweigert, etwas zu tun, das sie nicht wollte. Er sah förmlich, wie sich hinter ihren Augen eine neue Taktik zusammenbraute.

»Sunny«, sagte sie nach langem Zögern. »Gewalt erzeugt Gewalt. Das weißt du.«

»Weiß ich nicht«, sagte er. »Woher auch? Und außerdem will ich ja niemanden verprügeln. Ich will mich nur wehren können, falls mich jemand angreift.«

»Wenn du ständig damit rechnest, wird dich irgendwann jemand angreifen!« Sie sprang auf. Sunny zuckte zurück. »So funktioniert das nämlich. Man kann Gewalt nur aus seinem Leben heraushalten, wenn man sie nicht zulässt. Nicht in seinem Handeln und nicht in seinen Gedanken. Ich … So habe ich dich doch nicht erzogen, verdammt.«

Entsetzt sah Sunny, dass Tränen über ihre Wangen liefen. So hatte er sie noch nie erlebt. Sie erreichte nicht die Lautstärke von Aaron, aber ihre Stimme war doppelt so eindringlich.

»Aber Marianne, ich will doch nur …«

»Du hast nichts zu wollen!« Was? »Es gibt kein Training mehr für dich. Aus und vorbei, hörst du?«

»Gibt es wohl!« Er sprang auf. Wut pulsierte in seinem Bauch. »Du kannst es mir nicht verbieten!«

»Sunny!« Sie räusperte sich, als hätte sie sich daran erinnert, dass sie ein ruhiger, besonnener Mensch war. Hob ihr Kinn. »Natürlich kann ich es dir verbieten. Ich bin deine Mutter.«

Richtig, plötzlich sah sie wie eine Mutter aus. Nicht wie die Frau, mit der er sein Leben lang durch dick und dünn gegangen war. Eine strenge, harte Mutter, die keine Einwände akzeptierte.

»Das darfst du nicht », sagte er. »Luca …«

»Und Luca siehst du auch nicht wieder. So ein Schläger ist kein Umgang für dich.« Was zur …

»Wir wohnen im selben Haus!« Das war knapp gewesen. Beinahe hätte er gebrüllt.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739375762
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Januar)
Schlagworte
love romance komödie schwul boys yaoi gay liebesroman

Autor

  • Regina Mars (Autor:in)

In einer magischen Vollmondnacht paarten sich ein Einhorn und ein Regenbogen und zeugten Regina Mars. Geboren, um Kaffee zu trinken, lebt sie im Süden Deutschlands und erfreut die Welt mit ihren poetischen Romanen, in denen die Liebe stets gewinnt und Witze so dumm, albern und fragwürdig sein dürfen, wie sie wollen. Ihre Website, auf der sie täglich über ihr erbärmliches Schreibtempo jammert, äh, »ein Schreibtagebuch führt«: reginamars.de