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Regina Mars Collection 1

Seine Narben, No Way, Zu ihm, Funkenflut - 4x Gay Romance

von Regina Mars (Autor:in)
779 Seiten

Zusammenfassung

Die Regina Mars Collection 1 enthält diese vier Gay Romance-eBooks: SEINE NARBEN Einfach alles an Matt ist falsch. Er hat kein Geld, keine Manieren und keinen Respekt vor Stan. Stan, dem ungekrönten König des Internats Schloss Hoheneck. Stan, dem reichen Adelsspross: Beliebt, gutaussehend und, wenn er je ehrlich zu sich wäre, verdammt einsam. Aber das ist er aus Prinzip nicht. Warum wird ausgerechnet Matt sein Mitbewohner? Stan muss ihn loswerden. Wenn nötig, dann mit miesen Tricks und einem hinterhältigen Plan. Einem Plan, der beinhaltet, dass er Matt verführt? Sollte kein Problem sein, schließlich ist Stan ein berüchtigter Playboy. Kann es mit einem Jungen so anders sein als mit einem Mädchen? Ja. Kann es. Eine Katastrophe folgt auf die nächste und schließlich fragt sich Stan, wer hier eigentlich wen verführt ... NO WAY Eigentlich will Pierre sich nur an Boris rächen, weil er eine Prügelei mit dem riesigen Torwart verloren hat. Das geht schief. Er findet sich plötzlich als Boris´ Nachhilfelehrer wieder und gerät immer mehr in den Sog seiner nachtblauen Augen ... ZU IHM Noel muss Victor sehen. Sofort. Victor, seinen größten Rivalen im Fußballteam und bei den Frauen. Victor, den arroganten Eisklotz. Da ist eine Sache, die Noel nicht ungeklärt lassen darf, egal, was sich ihm in den Weg stellt. Leider ist das eine ganze Menge. Unterwegs zu seinem Konkurrenten scheint sich die halbe Welt gegen Noel zu verschwören ... aber ist Victor wirklich sein Konkurrent? Oder verbergen sie durch ihre Feindseligkeit Gefühle, die sich keiner von beiden eingestehen will? FUNKENFLUT Windumtoste Klippen, an denen sich mächtige Wellen brechen. Tiefschwarze Nacht. Hoch auf den Felsen thront das Internat Burg Rabenstein. Welches Geheimnis verbirgt das dunkle Gemäuer? Chris würde es gern herausfinden. Aber kann ein verpeilter Chaot wie er das überhaupt? Er schafft es ja nicht mal, Julien aus dem Weg zu gehen, der zwar ein humorloser Streber ist, aber leider auch verdammt attraktiv ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

 

1. *** SEINE NARBEN ***

1.1 Auf gar keinen Fall

1.2 Im Speisesaal

1.3 Unter der Haut

1.4 Vor dem Spiegel

1.5 Um die Wette

1.6 Hinterrücks

1.7 Am Boden

1.8 Aufgeflogen

1.9 Angeheuert

1.10 Unter der Dusche

1.11 Über die hohe Kunst der Verführung

1.12 Im Museum

1.13 Mit Zunge

1.14 Auf Stroh gebettet

1.15 Am Telefon

1.16 Vor dem Fenster

1.17 In Ekstase

1.18 Auf dem Dach

1.19 Ohne Probleme?

1.20 Im Vollrausch

1.21 Ausgenüchtert

1.22 Überfordert

1.23 In Flammen stehend

1.24 Im Dunkel der Nacht

1.25 Zum Geburtstag viel Glück

1.26 Tief gestürzt

1.27 Drunter und drüber

1.28 Zwischen Schilf und Birken

1.29 Aus Versehen

1.30 Durch den Sturm

1.31 In fragwürdiger Gesellschaft

1.32 Aus Liebe

1.33 Unter Fremden

1.34 Mit freundlichen Grüßen

1.35 Epilog

2. *** NO WAY ***

2.1 Pierre

2.2 Boris

2.3 Mein neuer Feind

2.4 Auf Kaperfahrt

2.5 Plan B

2.6 Nicht einfach

2.7 Eine erschreckende Erkenntnis

2.8 Eine fürchterliche Fahrt

2.9 Ein Handel

2.10 Chaos

2.11 Abwärts

2.12 Alles wird gut

2.13 Doch nicht

2.14 Regen

2.15 Feigling

2.16 Die Rückkehr

3. *** ZU IHM ***

3.1 Eine einstündige Fahrt

3.2 Warum Victor ein Idiot ist, Teil 1

3.3 Eine kurze Unterbrechung

3.4 Warum Victor ein Idiot ist, Teil 2

3.5 Eine winzige Verzögerung

3.6 Warum Victor ein Idiot ist, Teil 3

3.7 Ein minimaler Umweg

3.8 Einen Hauch vom Weg abgekommen

3.9 Warum Victor ein ... was?

3.10 Eine kleine Pause.

3.11 Fast da, echt

3.12 Angekommen

3.13 Victor

3.14 Und am Ziel

4. *** FUNKENFLUT ***

4.1 Chris

4.2 Burg Rabenstein

4.3 In die Fresse

4.4 Stör mich nicht

4.5 Mein erster Schultag

4.6 Willst du?

4.7 Wir waren keine Freunde

4.8 Fünf Uhr morgens

4.9 Hauptverdächtige

4.10 Am Badesee

4.11 Fun?

4.12 Nachts auf dem Dachboden

4.13 Schuhgröße 44

4.14 Hölle

4.15 Verdrängung

4.16 Eine unerwartete Entwicklung

4.17 Der Wettbewerb

4.18 Mein allerschönster Familienurlaub

4.19 Wir müssen mit dir reden

4.20 Flucht

4.21 Neue Erkenntnisse

4.22 Das Geständnis

4.23 Warten

4.24 Es tut mir so leid

4.25 Epilog

1. *** SEINE NARBEN ***

 

1.1 Auf gar keinen Fall

 

Sobald Stan seinen neuen Mitbewohner sah, wusste er, dass er ihn loswerden musste.

 

»Das ist dein Zimmer«, sagte Herr Niklasson zu dem ärmlichen Loser. »Nicht schlecht, was?«

Der Hausvater kicherte nervös, aber der Neue verzog keine Miene. Mürrisch sah er sich in dem hellen Raum um, betrachtete die bequemen Betten, das hohe Fenster und die stuckverzierte Decke. Sein Blick blieb an Stan hängen. Der lächelte. Solange Niklasson anwesend war, musste er wohl den Musterschüler mimen. Also machte er einen Schritt auf den Neuen zu und streckte ihm die Hand hin.

»Hi, ich bin dein Mitbewohner. Konstantin Friedrich Wilhelm von der Waldeshöhe-Leberbach. Nenn mich Stan.«

Der Neue zog eine Augenbraue hoch, so, als würde er Stan nicht abnehmen, dass das wirklich sein Name war. Aber er erwiderte den Händedruck.

»Matthäus«, brummte er. Er hatte eine angenehme, volle Stimme. »Matt.«

Stan wollte gerade etwas entgegnen, als sein Blick auf Matts kräftige Hand fiel. Er zuckte zusammen. Was zur Hölle? Über die gebräunte Haut schlängelten sich drei weiß-rosafarbene Narben. Eine große, die aus dem abgewetzten Ärmel lugte, und zwei kleinere auf dem Handrücken. Sie sahen aus wie Inseln auf einer Landkarte.

Hastig ließ Stan die verunstaltete Hand los. Der Neue kniff die Augen zusammen, sagte aber nichts.

»Du hast Glück, Matt«, schaltete sich Herr Niklasson ein. »Stan ist unser Schulsprecher und sowas wie eine kleine Berühmtheit. Er kann dir nachher das Internat zeigen.«

»Klar, mach ich.« Stan nickte.

Auf gar keinen Fall, dachte er. Mit dem Typen wollte er nicht gesehen werden. Dem stand armer Schlucker ins Gesicht geschrieben. Von seinem verblichenen grauen Kapuzenpulli bis zu den ausgelatschten Sneakers. Und im Gesicht wurde es nicht besser. Wer immer Matt die Haare schnitt, gehörte verhaftet. Sah aus wie mit einem Beil gestutzt, keine der braunen Strähnen hatte die gleiche Länge.

Sein Mund war zu breit, die Wangen zu pickelig, die Ohren standen ab. Zumindest gegen die Ohren hätte man etwas tun können. Und gegen die Lücke zwischen seinen Vorderzähnen. Bei Stan hatten sie solche Makel schon als Kind beseitigt. Okay, die Ohren-OP war schmerzhaft gewesen, aber für gutes Aussehen musste man nun mal leiden. Und Stan sah fantastisch aus. Groß, blond und sportlich. Allerdings nicht ganz so groß wie Matt.

»Soll ich die restliche Einführung übernehmen?«, fragte Stan Niklasson. Je eher er den los wurde, desto eher konnte er seine Maske fallen lassen. Und Niklasson nickte auch gleich, so heftig, dass sein spitzer Bart zitterte.

»Das ist nett von dir. Matt, ich hoffe, du lebst dich gut ein.« Er winkte dem Neuen noch einmal, was vermutlich würdevoll aussehen sollte, und stahl sich aus dem Zimmer.

Matt beachtete ihn nicht. Er wuchtete seine Reisetasche mit den ausgefransten Henkeln auf das leere Bett. War das alles, was er dabei hatte? Irgendwie erinnerte er Stan an einen Straßenkater, dreckig, mager und vernarbt, der versehentlich in ein richtiges Haus geraten war. Was machte einer wie der auf Schloss Hoheneck? Das hier war die Domäne von Leuten wie Stan. Gestriegelten Rassekatzen mit einem ellenlangen Stammbaum.

Bevor Matt den Reißverschluss öffnen konnte, packte Stan die schäbige Reisetasche und stellte sie auf den Boden. Matt runzelte die Stirn.

»Was soll das?«, brummte er.

»Du wirst hier nicht einziehen. Fang gar nicht erst an, auszupacken.« Stan baute sich vor ihm auf und sah ihm direkt in die Augen.

Matt guckte verblüfft, dann lachte er unerwartet.

»Was ist so komisch?«, fragte Stan.

»Ich wusste, dass du ein Arschloch bist, sobald ich hier reingekommen bin.« Seine Mundwinkel verzogen sich spöttisch. »So ein richtiger reicher Scheißer.«

Frechheit. Aber Stan ließ sich nicht beeindrucken. »Und ich wusste, dass du so ein richtig armes Unterschichtenbalg bist. So eins, das man mit Leitungswasser gesäugt hat. Welcher Psychopath hat eigentlich deine Haare geschnitten?«

»Meine Schwester.« Das Lächeln verschwand aus Matts Gesicht und machte einem warnenden Ausdruck Platz. So eine Eine falsche Bemerkung und du hast meine Faust in der Fresse-Miene. Stan kümmerte sich nicht darum.

»Deine Schwester? Wie alt ist die? Drei? Sollte man da nicht besser mit einer Papierschere umgehen können?«

»Zehn, und wenn du nicht gleich die Klappe hältst, tut's dir leid.«

»Wird es dir leidtun«, korrigierte Stan. »Und dir wird es leidtun, wenn du nicht das Zimmer wechselst. Ich habe Pläne für dieses Schuljahr und dazu brauche ich den richtigen Mitbewohner. Und unglücklicherweise bist das nicht du.«

»Oh nein«, sagte Matt, staubtrocken. Dann packte er die Reisetasche und hob sie wieder aufs Bett. »Tja, tut mir leid wegen deinen Plänen.«

»Um deine Pläne«, verbesserte Stan. »Und ich glaube, du bist dir deiner Stellung nicht bewusst. Ich bin Konstantin Friedrich Wilhelm von der Waldeshöhe-Leberbach und wenn ich an dieser Schule etwas sage, wird das gemacht.«

Matt sah ihn an, als hätte er gerade etwas unglaublich Blödes von sich gegeben und zog den Reißverschluss der Tasche auf. Stan gab es nicht gern zu, aber er war verwirrt. Normalerweise reagierten Leute nicht so auf ihn. Normalerweise waren sie beeindruckt, sobald sie ihn trafen, und wenn sie dann noch erfuhren, wer sein Vater war (falls sie es ihm nicht direkt ansahen), konnte er sich vor Bewunderern nicht mehr retten. Und vor Verehrerinnen.

Genau deshalb musste er diesen Versager hier loswerden. Der würde bestimmt den ganzen Tag hier rumhängen und Gerichtsshows gucken oder was der Pöbel sonst so tat. Es war Stans Ziel für dieses Semester, jede Woche ein anderes Mädchen flachzulegen, und zwar hier. In diesem Zimmer. Vor dem Fenster, auf dem Bett, vor dem Spiegel, auf dem Schreibtisch. Wie sollte das gehen, wenn er ständig einen unkooperativen Mitbewohner am Hals hatte?

Er packte Matts rechten Arm, aber der entriss ihn ihm sofort.

»Lass los«, schnappte er.

Was war sein Problem? Stan fuhr sich durch die Haare, so, dass seine Rolex im Licht der Deckenlampe blitzte.

»Wie wär's damit? Ich gebe dir tausend Euro, wenn du umziehst. Dafür kannst du bestimmt ... tausend Burger futtern.«

»Nein.« Matt riss den edlen Kirschholzschrank auf, der am Fußende seines Bettes stand und begann, seine Klamotten einzuräumen. Ein Teil war beschissener als das nächste. Eine Jeans hatte sogar Flicken am Hintern. Dann hielt der Neue inne, als wäre ihm ein Gedanke gekommen. Seine schrägen Katzenaugen musterten Stan. »Warum ziehst du nicht um? Dann bist du mich los.«

»Das hier ist das beste Zimmer im ganzen Internat.«

»Ach so«, sagte Matt mürrisch. »Tja, Pech für dich.«

Damit war das Gespräch für ihn wohl beendet. Stan ballte die Hände zu Fäusten. Diesen Trottel würde er verjagen, noch in dieser Woche. Sein letztes Schuljahr würde legendär werden, egal, wer sich ihm in den Weg stellte!

 

1.2 Im Speisesaal

 

Sie hatten den Speisesaal über die Ferien renoviert. Die Rundbögen in der Wand strahlten weiß und der Marmorboden war frisch abgeschliffen und poliert. 250 Schüler verteilten sich auf die Tischreihen, aßen, redeten und klapperten mit ihrem Besteck. Als Stan in den Raum trat, wurde er mit lauten Rufen begrüßt.

»Stan the Man! Na endlich!« Gerrit schlug mit der flachen Hand auf den leeren Platz neben sich. Vanessa und Leonora zeigten Stan ihr perfektes Zahnpastalächeln, als er sich an den schweren Eichentisch setzte. Stan fühlte den altbekannten Stich im Herzen, als er Vanessa sah. Aber der Schmerz war schwächer geworden. Bald würde er gar nichts mehr fühlen, wenn er ihre hellblauen Elfenaugen und die schulterlangen dunklen Haare vor sich hatte. Es konnte gar nicht früh genug so weit sein.

»Wie war dein Urlaub?«, gurrte Vanessa.

»Gut, gut.« Stan zeigte seine eigenen perfekten Zähne. Einer der Kellner stellte einen voll beladenen Teller vor ihm auf der Tischplatte ab. »Ich war mit meinem Vater in St. Tropez. Er hat eine neue Frau.«

»Ein Model?«, fragte Leonora und legte ihren entzückenden Kopf schief.

»Was denkst du denn?« Stan knackte eine der Scheren seines Hummers. Gerrit und Vanessa lachten laut.

»Stan!« Ciara-Sophie schwebte auf ihn zu.

Die hellbraunen Haare wehten hinter ihr her wie ein Schleier, ihre Brüste wippten und Stan beschloss, dass sie das Mädchen für diese Woche war. Sie hatte eine bunte Zeitschrift in der Hand. Kaum war sie angekommen, hielt sie Stan eine Seite vor die Nase.

»Sag mal«, sie kicherte, »Ich war mir nicht sicher, aber: Ist das dein Vater?«

Das wusste sie genau, aber Stan tat so, als wäre es ihm peinlich.

»Ja, ich fürchte schon.« Er sah in die neueste Ausgabe von Royal aktuell. Was, nur Seite fünf? »Wir haben erst gemerkt, dass da ein Paparazzo war, als es zu spät war. Der ist doch echt mit seinem Bötchen zu unserer Yacht gepaddelt und hat durch das Bullauge fotografiert.«

»Sieht aus, als hättet ihr Spaß gehabt.« Ciara-Sophie zwinkerte.

Ja, so sah es aus. Wie immer, wenn Ambros, Stans Vater, dabei war. Auf dem Foto saßen sie zu fünft auf einem weißen Ledersofa: Ambros, Stan, Stans neue Stiefmutter Valeria und zwei dunkelhaarige Schönheiten.

»Ambros von der Waldeshöhe-Leberbach (45), Bad Boy des Adels, feiert mit seiner neuen Frau Valeria und seinem Sohn Konstantin (17)« lautete die Unterschrift.

Stans Vater hatte den Kopf in den Nacken geworfen und hing so lässig auf dem Sofa, als würde ihm die ganze Welt gehören. Stan konnte nur davon träumen, irgendwann so männlich und selbstbewusst auszusehen. Aber er war auf dem besten Weg dahin, fand er. Sie alle lachten, Champagnergläser in den Händen haltend. An ihren geröteten Wangen sah man, dass es nicht die erste Flasche gewesen war. Oder die zweite.

Stan mochte den Geschmack von Champagner nicht. Und die Frauen waren nervig gewesen, vollkommen überkandidelt. Ihr kreischendes Lachen gellte ihm immer noch im Ohr. Trotzdem hatte er mit einer von ihnen geschlafen. Er wusste nicht mehr, mit welcher. Aber als sein Vater ihn beim Katerfrühstück gefragt hatte, ob er noch eine gute Zeit gehabt hatte, hatte Stan gegrinst und Ambros hatte laut gelacht.

»Das ist mein Junge!«, hatte er gesagt. »Kommt ganz nach seinem alten Herrn.«

Stan wurde ganz warm, als er daran dachte. Er würde lernen, Champagner zu mögen. Bestimmt.

»Kann ich die behalten?«, fragte er Ciara-Sophie.

»Für deine Sammlung? Klar. Aber dafür musst du mir demnächst mal Nachhilfe geben.« Wieder zwinkerte sie. Stan war sicher, dass sie das vor dem Spiegel übte. Sie machte es ausgezeichnet. Er schenkte ihr sein charmantestes Lächeln.

»Mach ich. Versprochen. Wie wär's gleich morgen?«

»Passt perfekt. Bis dann!«

Sie entschwebte zu ihrem Tisch und alle, selbst die beiden Mädchen, sahen auf ihre Pobacken, die sich in der engen beigefarbenen Hose bewegten wie zwei Gummibälle.

»Schlampe«, flüsterte Vanessa und Leonora kicherte. Gerrit prostete Stan mit seinem Wasserglas zu.

»Ist sie dein Projekt für die erste Woche?«

»Sieht so aus.« Stan lehnte sich zufrieden zurück.

»Und mit deinem neuen Mitbewohner hast du geredet?«, fragte Gerrit. »Wann kann ich einziehen?«

»Ach, der. Ich arbeite daran.«

Stan sah düster zu dem Tisch hinüber, an dem Matt ganz alleine saß und mit dem Hummer in Parmesanschaum kämpfte. Der Neue guckte angewidert, als hätte er noch nie vernünftiges Essen zu Gesicht bekommen. Hatte er wahrscheinlich auch nicht.

»Das ist doch nicht etwa der da?«, fragte Gerrit. Stan nickte düster. »Ach du Scheiße. Aus welchem Kinderheim ist der denn abgehauen? Meinst du, das ist einer von diesen Stipendiaten?«

»Keine Ahnung, ehrlich gesagt. Werde ich noch herausfinden.« Stan fischte geschickt das zarte Fleisch aus der Brust seines Hummers. Köstlich. Hummer war sein absolutes Lieblingsessen. Auch wenn dieser Kantinenfraß natürlich nicht mit dem Hummer, den er im Urlaub verspeist hatte, mithalten konnte. Frisch gefangen, direkt aus dem Meer ins kochende Wasser. »Meinst du, der ist klüger, als er aussieht? Vielleicht hat er echt ein Stipendium für Hochbegabte.«

Gerrit zuckte mit den Schultern. »So sieht er nicht aus. Aber wer weiß? Schäbig, wie der herumläuft, können seine Eltern sich das Schulgeld bestimmt nicht leisten.«

Nicht jeder hier hatte reiche Eltern. Aber die meisten. Eine Schule, die pro Monat 4000 Euro kostete, konnte man anders gar nicht bezahlen. Ciara-Sophies Eltern hatten angeblich Schulden gemacht, nur, um ihre Tochter herzuschicken. Das Internat Schloss Hoheneck hatte eben einen exzellenten Ruf.

»Tja. Ich bekomme schon heraus, warum er hier ist.« Stan knackte die zweite Schere. »Und dann ziehen wir zusammen. Das wird ein legendäres Schuljahr.«

»Ich kann's kaum erwarten.« Gerrit grinste.

Stan hätte sich keinen besseren Mitbewohner aussuchen können. Gerrit war beliebt, reich und adlig. Aber nicht ganz so beliebt, reich und adlig wie Stan selbst. Die perfekte Nummer Zwei. Er war sogar ein paar Zentimeter kleiner.

 

1.3 Unter der Haut

 

Stan keuchte, ballte die Hände zu Fäusten und überholte Gerrit. An dessen verkniffenem Gesicht sah er, dass ihm das gar nicht gefiel. Aber er konnte nichts machen. Bald lag Stan eine Länge vor ihm, dann zwei.

Wie immer setzte Stan sich an die Spitze des Morgenlaufs. Seine Füße trommelten über den weichen Erdboden. Sein Atem ging stoßweise, aber er schwitzte kaum. Er lachte in sich hinein, als er Gerrit leise fluchen hörte. Sonnenstrahlen kitzelten sein Gesicht, die Luft duftete nach frisch geschnittenem Gras und hinter sich hörte er das Keuchen der armen Schweine, die er abgehängt hatte. Alles perfekt.

Der Morgenlauf bestand aus fünf Runden um Schloss Hoheneck. Stan sah auf den riesigen Kasten mit den weißen Mauern, halbrunden Fenstern und roten Dachziegeln. Früher hatte er gedacht, alle Schlösser hätten Türme. Aber Hoheneck wirkte eher wie eine gigantische Villa. Direkt nebenan lag das sogenannte Zwergenhaus, ein neu errichtetes Ziegelgebäude im klassizistischen Stil. Hier lebten die Kleinen, aus den Klassen 1 bis 6. Stan hatte früher dort gelebt. Er hatte sein halbes Leben auf Schloss Hoheneck verbracht, mit einer einzigen Unterbrechung ...

Jemand überholte ihn und er schreckte auf. Vor sich sah er Matts grottigen Haarschnitt. Und darunter Matt, der über den Trampelpfad raste, den Generationen von Schülern in die saftig grüne Wiese gestampft hatten. Ah, er war also schnell. Hatte er ein Sportstipendium?

Wollen wir doch mal sehen, dachte Stan, gab sich einen Ruck und beschleunigte. Obwohl seine Lungen fast aufgaben, schob er sich an Matt heran. Sie passierten den Haupteingang. Letzte Runde. Vor sich sah Stan schon die Rücken der überrundeten Nachzügler.

»Zur Seite«, kommandierte er und sie sprangen keuchend aus dem Weg.

Matts Augen weiteten sich, als Stan sich an ihm vorbeidrängelte. Stan fürchtete, gleich zu stolpern und zusammenzubrechen. Trotzdem wandte er den Kopf und grinste Matt an, während er an ihm vorbeizog. Matt verzog keine Miene. Und erhöhte das Tempo. Scheiße!

Stans Muskeln brannten wie Feuer, seine Lungen platzten fast, der Schweiß rann über sein Gesicht, aber er gab nicht auf. Seite an Seite mit Matt flog er über die Bahn. Schon näherten sie sich dem Ende. Stan biss die Zähne zusammen, strengte die Muskeln an, zwang sich, schneller zu rennen, immer schneller nur nicht aufgeben ...

Es reichte nicht. Matt kam vor ihm am Tor an. Schwer atmend schlug er gegen den grün gestrichenen Torrahmen und blieb stehen. Stan tat es ihm nach. Er kochte vor Wut.

»Nicht schlecht«, zischte er Matt zu. »Bist bestimmt oft vor der Polizei weggelaufen, was?«

Matt sah ihn wieder an, als ob er der dümmste Typ der Welt wäre.

»Hättest du das mal auch gemacht, dann wärst du nicht so langsam«, sagte er. »Immer nur Porsche fahren macht halt faul und fett.«

Stan knurrte, aber ihm fiel so schnell kein Gegenspruch ein. Außerdem schnappte er immer noch nach Luft. So ein Vollarsch. Er kannte Matt noch keine 24 Stunden, aber er hatte jetzt schon Lust, ihm eine zu zimmern.

Eine Sekunde lang wunderte er sich, dass Matt das langärmlige Oberteil des offiziellen Schloss Hoheneck-Jogginganzugs trug. Dafür war es doch viel zu warm. Selbst in seinem dünnen hellblauen Funktions-Shirt lief Stan der Schweiß in Bächen den Rücken herunter. Aber der Neue war halt seltsam. Stan war fast sicher, dass Matt gestern, bevor er zu Bett gegangen war, gebetet hatte. Was sollte das sonst sein, wenn man sich vor sein Bett kniete und irgendetwas murmelte? Matts gefaltete Hände waren ein weiteres Indiz gewesen. Befremdlich. Verdammt befremdlich. Ob er darum betete, dass Gott ihn von seinen Segelohren erlöste?

Die anderen kamen an und sie gingen duschen.

 

Er musste Matt loswerden, aber wie? Darüber dachte Stan nach, während er sich Lavendelshampoo von Fromágier in die Haare rieb, das 55 Euro pro Flasche kostete. Der würde bestimmt nicht höflich abhauen, wenn Ciara-Sophie nachher kam. Und garantiert würde er sie verpfeifen. Geschlechtsverkehr zwischen Schülern war nämlich streng verboten und wurde mit Rausschmiss bestraft. Hm.

Ob er irgendein armes Mädel bestechen konnte, mit Matt zu schlafen? Wenn sie erwischt würden, würde Matt fliegen und Gerrit könnte einziehen. Nur, wer würde mit Matt …

Auf einmal war es totenstill im Duschraum. Man hörte das Wasser rauschen, aber alle Gespräche waren verstummt. Stan sah sich um. Was war das Problem?

Es war Matt. Stan sah einen Halbkreis aus Leuten, die sich dem Neuen zuwandten. Nackte Jungs, alle in der Bewegung erstarrt, das Duschgel noch in der Hand, die Finger noch in den tropfenden Haaren. Matt stand unter der Dusche. Er seifte sich gerade die Schultern ein und drehte ihnen den Rücken zu. Für einen kurzen, idiotischen Moment dachte Stan, sie würden ihm alle auf den Arsch schauen. Der war nämlich das erste Perfekte, das er an ihm entdecken konnte ... was für ein seltsamer Gedanke. Stan verdrängte ihn sofort. Dann trat einer der Umstehenden einen Schritt zurück und Stan sah, warum alle so geschockt dreinblickten.

Er hatte gedacht, Matt hätte nur drei Narben auf der Hand. Das wäre schlimm genug gewesen. Aber die größte, deren Ende sonst unter seinem Ärmel verschwand, zog sich über Matts ganzen rechten Arm, bis hinauf zur Schulter. Wie eine Reptilienhaut. Wie weißrosafarbenes Felsgestein. Stan lief es kalt den Rücken hinunter. Das waren Brandnarben. Eindeutig. Er merkte, dass er den Neuen anstarrte. So wie all die anderen Jungs im Raum. Und Matt hatte es gemerkt, das war klar. Seine Schultern spannten sich, aber er drehte sich nicht um.

»Habt ihr genug geglotzt?«, fragte er. Nein, es war mehr ein Knurren, tief auf seiner Kehle, als wäre er ein Wolf.

Keiner antwortete. Feiglinge. Stan trat vor.

»Klar haben wir genug gesehen. Ist ja nicht so, als wäre der Anblick besonders schön.«

Er wartete, aber Matt schwieg. Ein paar der anderen drehten sich peinlich berührt um und duschten weiter. Aber die meisten sahen zwischen ihm und Matt hin und her.

»Was ist passiert?«, fragte Stan. »Eine seltene Hautkrankheit? Unterernährung? Krätze?«

Nun drehte Matt sich um und sein Gesicht war bleich vor Wut. Er sah tatsächlich aus wie ein Wolf. Einer, der einem gleich an die Kehle springen würde. Unwillkürlich machte Stan einen Schritt rückwärts und ärgerte sich im nächsten Moment darüber.

»Das geht dich nichts an«, knurrte Matt.

»Kein Grund, zickig zu werden. Ich frag ja nur.« Stan zuckte mit den Achseln. Er hörte Gerrit und ein paar andere kichern. »Wollt's nur wissen. Ich will mir ja keine Krätze holen. Wir duschen hier alle zusammen und ...«

Oh Scheiße. Matt kam auf ihn zu und auf einmal wurde Stan bewusst, dass er ziemlich kräftige Muskeln hatte, für jemanden, der so mager war. Der hatte kein Gramm Fett am Körper und er sah aus, als würde er ihm gleich die Nase zertrümmern. Stan blickte sich nach Gerrit um und bemerkte, dass der sich schon entfernt hatte, mit schreckgeweiteten Augen. Toll. Matts geballte Faust war nur noch zwei Schritte von Stans Gesicht entfernt ...

»Jungs!« Das Brüllen des Sportlehrers füllte den Raum. »Fertig werden! Wer in fünfzehn Minuten nicht am Frühstückstisch sitzt, dreht morgen zwei Extrarunden!«

Das wirkte. Die nackten Jungs stoben auseinander und begannen, sich wie wild einzuseifen. Stan sah zum Sportlehrer und seiner beeindruckenden Wampe hinüber. Hatte er etwas mitbekommen? Sah nicht so aus. Matt war vor Stan stehengeblieben. Sein Blick versprach einen schnellen, aber schmerzhaften Tod. Über seinen verunstalteten Arm lief Wasser in schmalen Rinnsalen. Doch dann wandte er sich ab und marschierte zurück unter die Dusche. Stan schluckte.

Wie hatte er sich verletzt? Heißes Wasser vielleicht? Die Narben waren alt, soviel war klar. So verblasst, dass sie auf einen Kilometer Entfernung wie normale Haut wirken mochten. Aber von Nahem ... Stan sah sich verstohlen um. Matt wusch sich gerade die Haare ... mit Seife? Kein Wunder, dass die so strohig waren.

Sein vernarbter Arm war minimal dünner als der andere. Oder kam es Stan nur so vor? Bevor Matt ihn nochmal beim Starren erwischte, wandte er den Blick ab. Hm. Wenn er herausfand, warum Matt so entstellt war, konnte er das verwenden, um ihn loszuwerden? Denn er musste ihn loswerden.

Gerrit und er hatten schon geplant, eine Mastermindgruppe zu gründen, seit Stan in einem Buch über Erfolg und Reichtum davon gelesen hatte. Ein Mastermind funktionierte so: Steckte man zwei Leute mit ähnlich hoch entwickelten Fähigkeiten zusammen, so verdoppelte sich ihr Können nicht etwa, sondern verdreifachte, vervierfachte, verzehnfachte sich. So wie bei den Wissenschaftlern vom Manhattan Project, die die Atombombe erfunden hatten. Oder bei sexy Zwillingen, die zu zweit ungleich begehrenswerter waren als einzeln.

Diese Macht wollte Stan sich zunutze machen, um noch mehr illegale Partys zu feiern und mehr Mädchen flachzulegen. Er und Gerrit würden sich nie gegenseitig verpfeifen. Nicht, weil sie so gute Freunde waren. Stan war nicht einmal sicher, ob Gerrit ihn überhaupt mochte. Aber sie hatten so viel gegeneinander in der Hand, dass jeder dafür sorgen konnte, dass der andere flog. Ein perfektes Gleichgewicht. Stan lächelte.

Und er brauchte Gerrit. Ambros, Stans Vater, hatte in seinem letzten Schuljahr hier so hart gefeiert, dass er immer noch eine Schullegende war. Angeblich war sogar jemand gestorben, weil er unter Drogen vom Dach gefallen war. Stan bekam eine Gänsehaut, wenn er daran dachte. Aber er konnte nicht zurückstecken. Er musste dem Namen »von der Waldeshöhe-Leberbach« Ehre machen.

Gerrit war in der einzigen abschließbaren Dusche verschwunden, die von allen nur die »Wichskabine« genannt wurde. Fast zu jeder Tageszeit schloss sich hier einer der Jungs ein. Außer in der Kabine und auf der Toilette hatte man im Internat nie viel Privatsphäre. Zimmerschlüssel gab es nicht, damit die Hausväter und -mütter jederzeit überprüfen konnten, dass nichts Illegales vor sich ging. Es sagte Einiges über Gerrits Stellung aus, dass er die Kabine trotz des vollen Duschraums ergattert hatte.

»Bist du endlich fertig?« Stan haute gegen die Wand der Kabine und grinste, als er Gerrits erschrockenes Keuchen hörte.

»Ja, ja, Mann. Nur noch eine Minute.«

»Beeil dich, ich will frühstücken!«

 

1.4 Vor dem Spiegel

 

Der Tag verlief unspektakulär. Stan erzählte in drei Sprachen von seinem Urlaub in St. Tropez und auf Valerias Anwesen und erntete viel Bewunderung. Selbst die Französischlehrerin schmachtete ihn an. Matt war in seiner Klasse, und spätestens mittags war klar, dass er nicht hochbegabt war. Auch nicht völlig verblödet, aber auf keinen Fall so gut, dass es für ein Stipendium gereicht hätte. Erneut fragte Stan sich, was er hier wollte. Auf seinem Platz zwischen Eugen in seinem Hugo Boss-Shirt und Vanessa in Chanel sah Matt noch schäbiger aus. Allerdings, das musste Stan zugeben, schien es ihm nichts auszumachen. Ein Punkt für den Bastard, der ihn im Laufen besiegt hatte.

 

Ciara-Sophie würde um sieben vorbeikommen. Matt war glücklicherweise irgendwann verschwunden und Stan hatte nicht gefragt, wohin. Sie hatten sich nur ein paar Minuten im selben Raum aufgehalten, nachdem Stan vom Reiten gekommen war. Matt hatte ihn angestarrt, als er sein Reitoutfit gesehen hatte. Dann hatte er den Kopf geschüttelt. Stan hätte ihm eine reinhauen können.

Der Neue regte ihn mehr auf, als er sollte. Es war Zeit, zu meditieren. Das alles hinter sich zu lassen. Zum Glück hatte er noch eine Viertelstunde. Als Erstes stellte er sich vor den Spiegel und betrachtete sich. Ja, er sah gut aus. Sein weißes Poloshirt saß perfekt, betonte seine schmale Taille und seinen flachen Bauch. Auch mit seinem Gesicht war er zufrieden. Die scharf geschnittene Nase drückte Willensstärke aus. Seine Wangen hatten endgültig ihren Babyspeck verloren und sein Kiefer zeichnete sich deutlich ab. Gut so.

Früher hatte er befürchtet, ein Mädchengesicht zu bekommen. Als Baby hatte er seiner Mutter so ähnlich gesehen, dass ihn viele für ihre Tochter gehalten hatten. Nicht, dass er sich daran erinnerte. Das hatte man ihm erzählt, lange, nachdem sie gestorben war. Er sah auf das silbergerahmte Bild auf seinem Schreibtisch. Drei blonde Köpfe: sein Vater, seine Mutter und er.

Dieses alte Bild war das Einzige, das er von ihnen allen zusammen besaß. Von seiner Mutter gab es eine Menge Modestrecken, und sein Vater füllte immer noch die Klatschzeitschriften, aber nur auf diesem einen Foto waren sie eine Familie. Schade, dass er sich nicht an die gemeinsame Zeit erinnern konnte. Aber er war schließlich kaum drei Jahre alt gewesen, als sie gestorben war.

Stan setzte sich im Schneidersitz auf das Bett, entspannte die Schultern und schloss die Augen. Er atmete tief und regelmäßig. Alles einsaugen, durcheinanderwirbeln und den Dreck rausspülen, dachte er. Dreck wie diesen neuen Mitbewohner. Dreck wie die letzten drei Urlaubswochen. Alles raus.

Als Ciara-Sophie klopfte, war er vollkommen im Gleichgewicht. Und das war gut so, sie hatte sich nämlich Mühe gegeben. Ihr Ausschnitt ging fast bis zum Bauchnabel und sie hatte eine noch engere Hose gefunden. Ein Wunder, das die nicht platzte, als sie sich an seinen Schreibtisch setzte. Sie roch sommerlich-fruchtig und ihre prallen Lippen glänzten.

»In was brauchst du denn Nachhilfe?«, fragte Stan scheinheilig und stützte sich neben ihr auf der Tischplatte ab.

»Also ...« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Eigentlich in Mathe. Aber das Schuljahr hat ja gerade erst angefangen, da ist es noch nicht so dringend. Wie wär's, wenn wir einfach ein bisschen quatschen?«

Er lachte und setzte sich auf den zweiten Schreibtischstuhl. Den von Matt. »Hattest du in der letzten Arbeit nicht eh eine Eins? Dann warst du besser als ich. Du solltest mir Nachhilfe geben.«

Sie kicherte. Klang, als würde man ein kleines Glöckchen anstoßen. Mädchen wie sie gab es viele im Internat. Ihre Eltern hatten sie mit einer klaren Mission hierher geschickt: Sich einen reichen Ehemann zu angeln. Oder wenigstens einen reichen Freund, der sie seinen anderen reichen Freunden vorstellen konnte. Dass sie klug war, schien weder Ciara-Sophie noch ihre Eltern zu interessieren. Stan fragte sich, warum sie nicht einfach hart arbeitete, studierte und Karriere machte. Aber das war nicht sein Problem.

Er beobachtete, wie sie die Beine erneut übereinanderschlug. Zum dritten Mal, seit sie sich gesetzt hatte. Ihre kleinen Hände mit dem hellrosa Nagellack waren leicht verkrampft. Nicht ganz so selbstbewusst, wie du gern wärst, was?, dachte Stan. Das machte sie verletzlich. Und genau das würde er ausnutzen.

»Du denkst hoffentlich nicht, dass ich hier bin, um ... um mich von dir flachlegen zu lassen.« Ihre Augen weiteten sich.

So unschuldig wie ein neugeborenes Rehkitz. Sicher. Das war das Problem mit dieser Art Mädchen. Ihre Mutter hatte ihr bestimmt eingetrichtert, nur ihren festen Freund ranzulassen. Ihren festen, reichen Freund, der ihre Zukunft sichern würde. Wenn sie merkte, dass er nur ihren Körper wollte, würde Ciara-Sophie auf dem Absatz kehrtmachen und abhauen. Gerrit hatte das nicht kapiert, deshalb hatte er es bei ihr auch nur bis zu einem feuchten Kuss geschafft. Aber Gerrit war nicht Stan.

»Ich meine, ich weiß, dass alle sagen, du wärst ein Aufreißer. Aber ich glaube ... nun ich glaube, da ist noch mehr.« Sie lächelte. »Ich würde gern den echten Stan kennenlernen.« Eine so fette Lüge, dass selbst sie rot wurde.

»Ich ... weißt du, ich wollte dich auch schon längst besser kennenlernen«, log er. Er nahm eine ihrer Hände. »Ich weiß, dass du mehr bist, als nur ein Mädel, das einen reichen Kerl sucht. Mehr als so eine Goldgräberin. Auch wenn deine Eltern wollen, dass du dir einen Millionär schnappst. Egal, wie und mit welchen Methoden.«

Sie riss die Augen auf, nun nicht mehr unschuldig. »Was ... wie bitte? Wer sagt das?«

Alle, dachte Stan und sagte: »Nein, so war das nicht gemeint. Ich ...« Er rieb sich den Nacken und tat verlegen. »Sorry, das klang so falsch. Ich meine, ich bin wohl ein wenig nervös.«

»Wer hat das gesagt?«, wiederholte sie. Ihre Stimme zitterte vor Wut und drohenden Tränen.

»Caroline.« Er seufzte. »Aber das hast du nicht von mir, klar? Und überhaupt, was interessiert es dich, was sie redet? Sie ist nur sauer, dass sie nicht mit dir mithalten kann. Ich meine, du bist ungefähr tausendmal hübscher als sie.«

Ciara-Sophie wirkte geschmeichelt, aber ihr Zorn war noch nicht verraucht. »Danke, ich … du bist so lieb. Aber was hat die Schlampe noch über mich gesagt?«

»Willst du das wirklich hören?«

»Ja!«

»Also ... sie meint, dass du nur mit den Jungs spielst. Dass du in Wahrheit total prüde bist und nie auch nur einen küssen würdest und außerdem noch Jungfrau bist. Und wahrscheinlich lesbisch. Ihre Worte, nicht meine.«

»Bin ich nicht!« Ciara-Sophies Augen blitzten. »Caroline soll ihr Maul nicht so aufreißen. Die ist nur biestig, weil der Einzige, der je über sie rübergerutscht ist, Gabriel ist. Weißt du was?«

»Was?«, fragte er und wusste, dass er sie hatte. Das bestätigte sie auch gleich, indem sie aufstand, sich über seinen Stuhl beugte und ihn küsste. Ihre Lippen schmeckten nach künstlichem Erdbeeraroma.

»Wir machen jetzt rum und nachher erzählst du das Caroline. Die wird grün vor Neid. Aber gefickt wird nicht, das sag ich dir gleich.«

Mehr Küsse. Warme, nassfeuchte. Stan mochte Küssen nicht besonders. Speichelaustausch mit Fremden war ihm ein Graus. Da konnte man sich ja gleich gegenseitig in den Mund spucken. Aber seine Lippen mussten halt leiden, wenn sein Schwanz nachher erfolgreich sein sollte. Er strich Ciara-Sophie die hellbraunen Haare aus dem Gesicht und betrachtete ihre schimmernden Augen.

»Wow«, flüsterte er. »Du ...« Er verstummte.

»Was ist?«, murmelte sie. Ihre Wangen waren bereits rot angelaufen und ihr Atem ging schneller.

»Du ... du bist so schön. Das muss ich dir einfach zeigen. Komm mit.«

Er nahm ihre Hand, sanft, aber fest. Und zog sie vor den Spiegel. Nie den Körperkontakt verlierend, stellte er sich hinter sie. Seine Augen wanderten über ihre schlanke Gestalt.

»Schau dich an«, raunte er in ihr Ohr. »Du siehst aus wie eine Königin.«

»Erzähl doch nichts.« Sie kicherte wieder. Ihr Gesicht färbte sich dunkelrot. Aber sie konnte den Blick nicht von sich abwenden. Und von ihm.

Sie waren ein atemberaubendes Paar, das musste er zugeben. Der Anblick im Spiegel musste das Ziel all ihrer Träume sein: Stan, die blonden Haare leicht zerzaust über seinem attraktiven Gesicht. Davor sie, genauso attraktiv, die cremefarbene Mähne nur wenige Nuancen dunkler als seine Haare. Selbst ihre beigefarbenen Hosen passten zusammen. Mit der Hand fuhr er an ihrer Seite entlang, strich über ihre Kurven, als wäre sie eine kostbare Porzellanstatue.

»Wow«, wiederholte er und küsste ihren Nacken. Er spürte ihre heiße Haut unter seinen Lippen zittern.

Nicht mehr lange, dachte er. Schon war ihr Mund halb geöffnet und ihre Augen halb geschlossen. Als seine Finger über ihren Bauch strichen, protestierte sie nicht. Er presste seine Brust gegen ihren Rücken, ließ sie aber noch nicht spüren, wie hart er war. Schön langsam. Seine Hände kamen bei ihren Brüsten an. Sie waren weich unter dem tief ausgeschnittenen Oberteil. Sein Daumen streifte die gebräunte Haut ihres Ausschnitts und sie seufzte leise.

»Ich liebe deine Haut«, flüsterte er. »So zart.«

Versuchsweise kniff er durch den Stoff in ihre Brustwarzen, und als sie lauter seufzte, beschloss er, dass sie bereit war. Er ließ seine linke Hand auf ihrer Brust und umkreiste damit ihre Nippel. Seine rechte Hand wanderte abwärts. Im Spiegel konnte er sehen, dass sich ihr Mund weiter geöffnet hatte, wie eine Rosenknospe am Morgen. Ihr praller Hintern presste sich gegen seinen Unterleib. Falls sie wegen seiner Erektion beleidigt war, ließ sie es sich nicht anmerken. Aber Frauen waren deshalb selten beleidigt, das wusste Stan. So etwas befürchteten nur unsichere Männer. Meistens fühlten die Damen sich sogar geschmeichelt.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte seine Rechte ihren Schritt. Er fühlte ein leichtes Zucken, als er über ihren Schamhügel strich. Ihre Hose war hier noch wärmer als oben, und er glaubte, eine leichte Feuchtigkeit zu spüren. Er fuhr einmal mit der flachen Hand über ihre intimste Stelle, dann übte er mehr Druck aus und kratzte mit seinem Fingernagel darüber. Sie stöhnte auf. Presste die Beine zusammen, als müsste sie pinkeln. Fast hätte sie mit ihrem Kopf Stans Nase erwischt, als sie sich zu ihm umdrehte.

»Uh, also ...«, murmelte sie.

»Ja?« Er knabberte an ihrem Ohrläppchen und ein weiteres Zucken ging durch ihren Unterleib. »Ich glaub, du hast Glück und ... ich mache heute eine Ausnahme. Nur für dich«

Im Spiegel sah er, dass sie ihn aufmerksam betrachtete. Nun, so aufmerksam sie in ihrem Zustand halt sein konnte. Seine Fingerspitzen wurden allmählich klamm und der Schritt ihrer Hose färbte sich einen Hauch dunkler. Der reinste Ozean. Er schenkte ihr sein freudigstes, unehrlichstes Lächeln.

»Du meinst … wow, ich habe echt Glück.« Noch ein bisschen gespielte Schüchternheit und sie flehte ihn förmlich an, weiterzumachen. Klar, wenn einer wie er zurückhaltend tat, schmolzen die Herzen. Er ist so anders, ich muss etwas Besonderes für ihn sein.

Stan erlaubte sich ein kurzes Grinsen, als er ein Kondom aus seiner Schreibtischschublade fischte. Bei Mädels wie ihr immer ein Kondom benutzen, das hatte sein Vater ihm eingetrichtert. Wenn die schwanger werden, blutest du dein Leben lang. Und Ambros musste es wissen, er hatte sieben Kinder.

»Beeil dich«, stöhnte sie, als Stan die Verpackung aufriss und den Gummi überstreifte. Sie hatte ihre Hände links und rechts vom Spiegel abgestützt und streckte ihm ihren immer noch vollbekleideten Hintern entgegen. Immer musste er alles machen. Stan fummelte an ihrem Reißverschluss herum, bis er ihn aufbekommen hatte. Es wäre leichter gewesen, wenn sie nicht ständig ihren Unterleib bewegt hätte. Aber er schaffte es und dann zog er (langsam, nur nicht die Geduld verlieren) ihre Hose herunter und den Slip gleich mit.

Endlich. Ihr praller Arsch mit den schmalen Bräunungsstreifen lag vor ihm. Stan tat einen tiefen Atemzug, setzte an und drang vorsichtig in sie ein. Ciara-Sophie warf den Kopf in den Nacken und schaffte es trotzdem, ihr Spiegelbild zu betrachten. Stan atmete langsam aus. Er hatte es geschafft. Er war in ihrer glutheißen Enge und sie war so feucht, dass er im Spiegel sah, wie sich ein Tropfen zwischen ihren Beinen löste.

»Mach«, flüsterte sie. »Bitte.«

»Zu Befehl, meine Königin.« Er begann, sich in ihr zu bewegen. Jetzt schon sehnte sein Schwanz sich nach Entladung, drängte darauf, schneller in sie zu stoßen. Das war der beste Teil, der einzige, den er wirklich genoss. Aber er hatte einen Ruf zu verlieren. Nur Versager kamen gleich in der ersten Minute. Er biss sich auf die Lippen und zwang sich, regelmäßig zu atmen. Ciara-Sophie würde gleich so weit sein. Ihre Augen wurden bereits glasig, ihr Stöhnen immer lauter …

Matt riss die Tür auf und hätte sie fast umgerannt.

Ciara-Sophie stieß einen Schrei aus, löste sich von Stan und zog sich in Windeseile die Hose wieder hoch. Matt blickte die beiden erstaunt an, dann warf er schwungvoll die Tür hinter sich zu und ging an ihnen vorbei. Stan hätte ihn erwürgen können. Sofort.

»Was zur Hölle tust du hier?«, brüllte er Matt an. »Raus! Sofort!«

»Hab nur mein Handy gesucht«, brummte Matt und wühlte in der Tasche herum, die auf seinem Bett lag. »Ich bin sofort wieder … ah, da!«

Triumphierend hielt er ein billiges schwarzes Handy in die Höhe. Stan schaute es verächtlich an. Das Ding hatte bestimmt nicht mal Internetzugang, vollkommen erbärmlich. Wieso verkauften sie die Teile überhaupt noch … ach ja, und der Neue hatte den Fick mit Ciara-Sophie unterbrochen, kurz bevor sich die ganze harte Arbeit endlich ausgezahlt hätte.

»Raus, hab ich gesagt!«

Erstaunlicherweise hörte Matt auf ihn. Ciara-Sophie leider auch. Mit knallroter Birne flüchtete sie aus der Tür. Matt trottete hinterher.

»Sorry!« Er winkte knapp, bevor er die Tür hinter sich schloss. Stan hatte das Gefühl, sein Kopf würde gleich explodieren. Er würde ihn umbringen! Umbring… nein.

Kurz bevor seine Faust die Wand traf, stoppte Stan. Er atmete tief ein und aus. Er durfte nicht die Kontrolle verlieren. Nächstes Mal würde er einfach die Tür blockieren. Verwundert merkte er, dass seine Hose immer noch auf seinen Knöcheln hing, und zog sie hoch. Er musste sich beherrschen. Zusammenreißen. Meditieren. Ja, ein wenig meditieren würde ihm gut tun. Und planen, wie er Matt loswerden konnte. Das würde das Beste sein.

 

1.5 Um die Wette

 

Matt gewann den Morgenlauf wieder. Die Wut in Stans Bauch schien mit jeder Minute zu wachsen, die er mit ihm verbrachte. Leider war ihm nur ein Plan eingefallen, um Matt loszuwerden und der war selbst ihm zu heftig. Nämlich der, ihm Drogen unterzuschieben. Das hätte einen sofortigen Rauswurf zur Folge gehabt. Aber dann würde er auch polizeilich erfasst werden, oder? Er wollte, dass Matt das Zimmer wechselte und vielleicht, dass er von der Schule flog. Aber Schlimmeres wünschte er ihm nicht an den Hals, ehrlich.

Beim Frühstück, als Gerrit ihn ständig fragte, wie es mit Ciara-Sophie gelaufen war, bemerkte Stan, dass Matt nicht mehr alleine am Tisch saß. Überraschenderweise hatte er Freunde gefunden. Nicht überraschend war, dass es sich um das Fußballteam handelte. Er saß mitten unter ihnen, an dem Tisch, den diese Neandertaler mit Brötchenresten und Milch und Orangensaft bekleckerten. Genau da gehörte er hin. Wenn die Schule eine Unterschicht hatte, dann war es dieses Team. Überall anders wäre Matt aufgefallen, aber hier fügte er sich ein wie ein gammeliger Zahn in ein kariöses Gebiss. Glücklich sah er trotzdem nicht aus. Stan beobachtete, wie Matt etwas sagte, mürrisch, wie immer, und die beiden Jungs neben ihm in Gelächter ausbrachen. Dem einen tropfte Milch aus der Nase. Widerlich.

»Stan? Hey, Stan. Hörst du mich?« Gerrit wedelte mit der Hand vor seiner Nase herum. Stan blinzelte. Wie lange hatte er schon auf das Fußballteam gestarrt? Verwirrt sah er in die Runde. Gerrit, Vanessa, Leonora, Johannes und Georgius blickten ihn alle an.

»Was ist? Bist du schon auf der Suche nach einem neuen Opfer?«, fragte Vanessa.

»Ja ... nein.« Reiß dich zusammen, befahl Stan sich. Hör auf, hier rumzustottern wie ein Idiot.

Gerrit grinste. »Hat Ciara-Sophie dich so hart rangenommen?«

Leonora kicherte und Stan wurde sich bewusst, wie ähnlich sie und Ciara-Sophie klangen. Wie ähnlich alle Mädels auf ihrer Schule waren. Als hätten sie einen Kurs besucht oder so. Er grinste geheimnisvoll.

»Ein Gentleman genießt und schweigt.« Er machte eine Kunstpause. »Ne, ich überlege gerade, wie ich die Zecke in meinem Zimmer loswerde.«

»Den Neuen?« Gerrit lachte. »Das ist doch kein Problem für Stan the Man.«

Stan hob sein Glas Orangensaft. »Da hast du Recht.«

»Redet ihr über Matt?«, fragte Vanessa.

»Ja, wieso?« Gerrits Gesicht zeigte die Verwirrung, die Stans verbarg. Seit wann interessierte sie sich für den Neuen?

»Oh, dann muss ich euch leider bitten, damit noch eine Woche zu warten. Maximal zwei.«

»Und warum sollten wir das tun, holde Maid?« Stan lächelte charmant.

»Mädchengeheimnis.« Vanessa klimperte mit ihren Wimpern. Wie bitte? »Ich verspreche euch, ich sag Bescheid, wenn ihr ihn loswerden könnt. Dürfte bald so weit sein.«

»Wenn's nach mir geht, schon morgen.« Leonora lachte und Vanessa schlug ihr gegen die Schulter.

»Oh, du! Ganz schön selbstbewusst.«

Sie grinsten sich an. Irgendwie kam Stan nicht mehr mit. Aber er würde einen Teufel tun und sich seine Verwirrung anmerken lassen.

»Wenn es euch wichtig ist, warte ich natürlich«, sagte er. »Aber warum wollt ihr ihn hierbehalten? Ein schöner Anblick ist er nun echt nicht.«

»Ach, ich finde, er sieht sogar ziemlich gut aus.« Leonora blickte zu Matt hinüber, der mit verdrießlichem Gesicht zwischen den grölenden Fußballern hockte. Ihre Augenlider waren auf Halbmast.

Bitte was? Stan merkte, dass sein Glas ihm zu entgleiten drohte, und packte es fester.

»Aber ... Hab ich grad richtig gehört? Ihr seid scharf auf die Zecke?« Gerrits Mund stand offen. Johannes und Georgius guckten nicht klüger. Nur Stan hatte sich im Griff. Aber innerlich fühlte er sich dämlicher als die anderen drei zusammen. Die Mädchen zuckten mit den Achseln und schwiegen.

Irgendetwas lief hier schief. Irgendetwas lief hier ganz gewaltig schief. Stan hatte das Gefühl, die ganze Welt würde kippen und er langsam von ihrer Seite rutschen. Er schaute nach, ob Matt sich über Nacht in einen strahlenden Prinzen verwandelt hatte. Hatte er nicht. Dieselbe Zahnlücke, dieselben strohigen Haare. Okay, seit dem Duschen wusste er, dass Matt ziemlich muskulös war. Aber da war noch das winzige Detail, dass einer seiner Arme völlig entstellt war. Wer zu Hölle würde so was anfassen wollen? Zum Glück stellte Gerrit seine Fragen für ihn und Stan wirkte weiterhin überlegen.

»Aber was ... ich meine, was genau seht ihr in ihm? Machen euch Kopfläuse und Flöhe feucht? Vielleicht könnt ihr euch noch ein paar Krankheiten einfangen, wenn ihr schon dabei seid.«

Vanessa verzog das Gesicht, aber Gerrit starrte sie nur weiter ungläubig an.

»Ich finde, er sieht gefährlich aus«, sagte sie und schob ihren Teller von sich. Sie hatte kaum etwas angerührt. »Geheimnisvoll.«

»Gefährlich? Ich würde eher sagen: verseucht.« Gerrit rümpfte die Nase.

»Du hast ja keine Ahnung«, sprang Leonora ein. »Matt ist halt, na ja, nicht so glattgebügelt wie die restlichen Jungs hier. Habt ihr gehört, dass er sich gestern Abend mit Walther geprügelt hat? Walther aus dem Hockeyteam. Der hat angefangen, macht er ja immer. Nur hat er sich diesmal den Falschen ausgesucht. Ein Schlag und Walther ist zu Boden gegangen. Dieser Matt ist eine echte Kampfmaschine. Und seine Augen sind voll schön.«

Matts Augen haben nicht mal eine richtige Farbe, dachte Stan. Irgendwo zwischen Grün und Grau, total unspektakulär. Sie waren schräg und standen zu weit auseinander. Straßenkateraugen. Und das sollte attraktiv sein? Er sah wieder zu Matt hinüber. Wenn Stan die Augen ein wenig zusammenkniff ... ja, ein wenig verstand er, was die Mädchen meinten. Eventuell lag ein gewisser Charme in Matts schief zusammengesetztem Gesicht mit der Zahnlücke und den abstehenden Ohren und ... nein, doch nicht. Ups, Matt hatte gemerkt, dass er ihn ansah.

Übertrieben freundlich lächelnd hob Stan eine Hand und winkte. Matt runzelte die Stirn. Und nickte. Einer seiner Teamkollegen bemerkte es und bald guckten sie alle zu Stan hinüber. Wie eine Herde Wasserbüffel, die mit tropfenden Mäulern von ihrem Tümpel aufsah. Stan grinste sie an wie ein lauernder Löwe. Oder ein Psychopath. Dann widmete er sich den Resten seines Frühstücks.

Das Fußballteam mochte ihn nicht. Aber das Fußballteam zählte auch nicht. Nur, weil er sich geweigert hatte, bei ihrem Idiotenverein mitzumachen. Gut, vielleicht hätte er sie nicht Idiotenverein nennen sollen, als sie ihn gefragt hatten. War eigentlich ganz nett von ihnen gewesen, zu fragen. Sie hatten gesehen, wie schnell er war und ... Wie so oft schluckte Stan sein schlechtes Gewissen herunter und aß weiter. Einatmen, ausatmen ... Selbst hier, im lauten Speisesaal, half Meditation ihm, mit seinen Problemen klarzukommen.

 

Als Ciara-Sophie in der Pause mit ihm reden wollte, war er nicht überrascht. Er hatte sich schon gefragt, wann sie ihn um ein Rematch bitten würde. Was ihn überraschte, waren ihre Worte.

»Ich brauche deine Hilfe. Kannst du mir sagen, wann Matt heute auf eurem Zimmer ist?«

So langsam reichte es Stan. Sie war schon das vierte Mädel, das heute Informationen über Matt wollte. Und zu wem kamen sie? Zu ihm, seinem Mitbewohner. Obwohl er viel besser aussah und sie sich verdammt nochmal für ihn zu interessieren hatten.

»Kannst du mir erklären, was zur Hölle ihr heute alle mit Matt habt?«, knurrte er. Sie sah ihn erschrocken an. Klar, sonst spielte er ja immer den Charmeur.

»Na ja, das kann ich dir nicht direkt sagen. Ist so ne Sache zwischen uns Mädchen.«

Obwohl sie in einer Ecke fernab von den anderen im Hof standen, senkte Stan seine Stimme. »Zwischen euch Mädchen, hm? Dann kann ich dir leider nicht helfen.«

»Aber, ich ...« Sie verstummte.

»Na gut.« Er rieb sich die Nasenwurzel zwischen Daumen und Zeigefinger. »Wie wär's damit? Ich sage dir Bescheid, wann Matt heute im Zimmer ist. Ich lasse euch sogar alleine. Und dafür erklärst du mir, was hier gespielt wird.«

Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum und, weil es diesmal echt war, sah es ziemlich lächerlich aus. Wie ein mümmelnder Hase. Aber schließlich rang sie sich zu einer Entscheidung durch.

»Ja, okay. Aber du sagst keinem, dass du es von mir hast. Und vor allem keinem Mädchen, okay?«

»Versprochen«, presste er heraus, seinen Zorn unterdrückend.

»Wir haben um ihn gewettet.« Ihre Augen glänzten vor Aufregung. »Wer ihn zuerst ins Bett kriegt, hat gewonnen. Und das werde ich sein, das verspreche ich dir.«

»Ihr habt ...« Stan versuchte, ihre Worte mit der Realität in Einklang zu bringen. »Warum wettet ihr denn um den? Der ist doch ein armer Schlucker. Was ist mit deinen Plänen? Reich heiraten, einen Millionär und so.«

»Oh, ich habe darüber nachgedacht, was du gesagt hast. Dass ich mehr bin als ein Mädel, das einen reichen Kerl heiraten soll. Und es stimmt. Danke dafür.« Sie lächelte. Ehrlich dankbar, soweit er das beurteilen konnte. »Ich bin jung und schön und ich will Spaß haben.«

»Und unter Spaß verstehst du, mit diesem Penner zu schlafen? Ich hätte dir mehr zugetraut.«

»Hey, er sieht echt gut aus.«

»Tut er nicht!« Er musste hier weg, bevor er noch ausrastete. Stan stapfte über den sonnenbeschienenen Hof zurück ins Klassenzimmer. Dieses war ein einladender, heller Raum, bestückt mit ergonomischen, höhenverstellbaren Pulten und Stühlen. Leider war Matt da. Und Vanessa auch.

Matt saß an seinem Pult und Vanessa massierte seine Schultern. Ihr Profil mit der eleganten Stupsnase schimmerte im Sonnenlicht. Matt, dieser Vollarsch. Und er besaß noch die Frechheit, weiter mies gelaunt zu sein.

»Ist gut, danke«, knurrte er. »Aber das reicht jetzt.«

»Aber du bist immer noch verspannt«, gurrte Vanessa und legte ihre Brüste auf seinem Kopf ab. Matt zuckte zusammen. Er wand sich aus ihrem Griff und stand auf. Vanessa wollte etwas sagen, aber dann entdeckte sie Stan, der mit offenem Mund in der Tür stand und sie anstarrte.

»Nein, macht ruhig weiter«, sagte er fassungslos. »Viel Spaß.«

»Du hast ihn gehört.« Vanessa zwinkerte Matt zu.

»Da gibt's nichts zum Weitermachen«, motzte er und wischte sich über die Schultern, wo sie ihn berührt hatte. Als hätte sie eine ansteckende Krankheit.

»Da gibt es nichts weiterzumachen«, verbesserte Stan.

Matt rempelte ihn an, als er das Klassenzimmer verließ. Mistkerl. Vanessa zupfte ihre Mähne zurecht. Ihrem miesepetrigen Gesichtsausdruck nach kam sie mit der Abfuhr, die sie gerade kassiert hatte, nicht so gut klar.

»Musstest du stören?«, fragte sie und stemmte die Hände in die Hüften. »Wenn du nicht gewesen wärst ...«

»Hätte er dir trotzdem einen Korb gegeben. Mach dir nichts vor, der hat doch geguckt, als ob er gleich kotzen würde.«

»Hat er nicht!« Vanessas schöne Augen blitzten. »Der Mann, den ich nicht verführen kann, ist noch nicht geboren!«

»Tja, ich hab da gerade einen Gegenbeweis erlebt.« Stan genoss es, sie so wütend zu sehen. Ihre gemeinsame Vergangenheit war nicht einfach gewesen. Vanessa war einer der wenigen Menschen gewesen, die ihn wirklich verletzt hatten.

»Du freust dich richtig, was?«, zischte sie. »Bist du immer noch sauer, weil ich dich damals abblitzen lassen habe?«

Er schüttelte den Kopf. »Das ist zu lange her. Ich kann mich kaum noch daran erinnern.«

Zweieinhalb Jahre war es her. Und seitdem hatte er eine Menge Frauen flachgelegt. Die Erinnerung an Vanessas nackten Körper, an ihr freches Grinsen, kurz, bevor sie ihn geküsst hatte, verblasste bereits. Aber ganz verschwinden würde sie wohl nie. Schließlich war sie seine Erste gewesen.

Blöderweise hatte Vanessa nur experimentieren wollen, während Stan ... nun, er hätte sich mehr vorstellen können. Vorsichtig ausgedrückt. Aber daraus war nichts geworden. Als er sie gefragt hatte, hatte sie längst eine Zweitaffäre mit einem Kerl aus der Klasse über ihnen angefangen. Ins Gesicht gelacht hatte sie ihm.

»Weißt du, ich denke oft an damals.« Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Vor allem, wenn ich an den Ställen vorbeikomme. Erinnerst du dich, wie wir es in der leeren Box getrieben haben? Du warst ganz nervös damals. Richtig süß.«

Er nickte. Damals hatte er die Nervosität noch nicht spielen müssen.

»Manchmal frage ich mich, wie es inzwischen mit dir wäre.« Sie schritt auf ihn zu wie eine Leopardin. Alles bewegte sich in einem fließenden Rhythmus: Brüste, Bauch, Hüften. Ihre Hand legte sich auf seinen nackten Arm. »Ich habe gehört, du bist richtig gut geworden. Emilia sagt, du wärst der Erste, bei dem sie gekommen ist.«

»Sagt sie das?« Irgendetwas stimmte hier nicht, er merkte es ganz deutlich.

»Ja.« Sie lächelte verschmitzt. »Wie wär's, wenn ich demnächst mal vorbeikomme? Heute, so gegen acht?«

»Klingt gut«, sagte er vorsichtig. In seinem Herzen löste sich etwas, ein Hauch von dem alten Gefühl trieb wieder hoch. Aber in seinem Kopf läuteten die Alarmglocken. »Aber dann ist Matt da. Komm besser um sieben ...«

»Ach, das macht doch nichts.« Sie lächelte. »Soll er ruhig sehen, was er verpasst. Wir können ihn ja rausschmeißen, wenn es zur Sache geht.«

»Ach, daher weht der Wind.« Er fühlte sich beinahe erleichtert, obwohl sein Ego zerschmettert am Boden lag. »Du willst ihn eifersüchtig machen. Damit er doch merkt, dass du die schärfste Lady der Schule bist.«

»Was? Das würde ich nie ...« Sie brach ab. Vermutlich hatte sie sich erinnert, dass er sie zu gut kannte, um darauf reinzufallen.

»Mal ganz ehrlich, Nessa: Falls dein Plan aufginge, wen würdest du dann aus dem Zimmer schmeißen? Ihn oder mich?«

»Dich«, gab sie zu und sah zu Boden. »Bin ich echt so leicht zu durchschauen?«

»Ich fürchte, das bist du.« Seine Stimme klang locker. So, wie er dastand, die Hände in den Hosentaschen vergraben, ein spöttisches Lächeln auf den Lippen, hätte niemand geahnt, wie es in seinem Inneren aussah. Da herrschte das reinste Chaos. Er kapierte einfach nicht, was sie an diesem Matt fand. Der hatte weder Geld noch sah er gut aus. Ja ja, angeblich kam man auch mit Persönlichkeit weiter. Aber Matt hatte den Charakter einer bissigen Bulldogge. Das konnte doch nicht sexy sein.

»Kann ich dich was fragen?«

»Klar.« Sie zuckte mit den Achseln.

»Warum Matt? Ich seh's einfach nicht. Was ist so toll an dem?«

Erneutes Achselzucken. »Er ist neu. Frischfleisch. Und er sieht gut aus. Jetzt tu nicht so entsetzt, ihr Jungs stürzt euch doch auch auf jede Neue, die hier ankommt.«

»Ja, aber ... weißt du das mit seinem Arm nicht? Ich meine, er trägt zwar immer lange Ärmel, aber das muss sich doch inzwischen in der ganzen Schule herumgesprochen haben.«

»Hat es.« Vanessa verzog den Mund. »Auf den Anblick freue ich mich auch nicht. Aber dann muss er halt den Pullover anbehalten, wenn er mich vögelt. Reicht doch, wenn er die Hose auszieht. Und sein Arsch soll ganz toll sein.«

»Und von wem hast du die Info?«

»Von Emmeline. Und die hat es von Waldemar.«

»Natürlich.«

 

1.6 Hinterrücks

 

Irgendwie wurde es immer schwerer, zu meditieren. Stan saß jetzt schon seit fünf Minuten mit gekreuzten Beinen auf dem Bett, aber immer noch hörte er … Stimmen.

Sein Arsch soll ganz toll sein, wisperte Vanessa.

Ich finde, er sieht sogar sehr gut aus, flüsterte Leonora.

Ich mache dir deine Stellung streitig. Problemlos. Obwohl ich ein mies gelaunter, armer Schlucker bin, höhnte Matt.

Okay, das hatte er natürlich nicht gesagt. Stan seufzte. Und gerade, als er begann, sich ruhiger zu fühlen, flog die Tür auf und Matt stürzte herein. Das goldene Licht der Nachmittagssonne beleuchtete seine glanzlose »Frisur«.

»Oh. Hallo«, sagte er, als er Stan auf dem Bett sitzen sah.

»Dir auch einen gesegneten Nachmittag«, knurrte Stan und schloss die Augen wieder.

»Was machst du da? Yoga?«

Stan antwortete nicht. Einen Moment lang hörte er kein Geräusch, dann schien Matt das Interesse verloren zu haben und kramte in seiner Schreibtischschublade herum. Sein Bett knarrte. Einatmen, dachte Stan. Ausatmen. Den Dreck rausspülen. Nichts fühlen. He, das reimt sich! Ach ja, und nichts denken.

Eine Weile später war er endlich wieder im Gleichgewicht. Sein Geist war ein eiskaltes Messer. Er schlug die Augen auf. Matt lag auf dem Bett auf der anderen Seite des Raums. Er las in einem abgegriffenen, kunstledergebundenen Buch. Die Falte zwischen seinen Augenbrauen bewies, dass er hochkonzentriert war.

»Du kannst lesen?«, fragte Stan. »Respekt, das hätte ich dir nicht zugetraut.«

Matt zuckte zusammen, als hätte er völlig vergessen, dass jemand anderes im Zimmer war. Unwillig wandte er den Kopf.

»Bleibst du hier? Musst du heute nicht zum Ponyreiten?«

»Die Ställe sind erst ab sechzehn Uhr geöffnet«, sagte Stan.

»Ah. Schade.« In Matts winzigem Hirn schien es zu arbeiten. »Wie ist das eigentlich bei Bonzen wie dir? Hast du ein eigenes Pony oder müsst ihr euch alle eins teilen?«

»Nun«, Stan lehnte sich zurück. Völlig ungerührt. Er liebte Meditation. »Zunächst mal sind das keine Ponys, sondern Pferde. Und natürlich habe ich ein eigenes. Ein Englisches Vollblut.«

»Ein was? Hat das besonders viel Blut?«

»Das ist eine Pferderasse, du Klappspaten!« Gleichgewicht, sagte Stan sich. Eiskalt. »Mit einem Stammbaum, der bis 1722 zurückgeht. Weiter als deiner vermutlich. Er stammt von Bouncing Ball ab, falls dir das etwas sagt.«

»Bouncing was?«

»Bouncing Ball. Gewinner des Kentucky Derbys 1957.«

»Was für ein dämlicher Name.« Matt schien ungläubig, aber fasziniert. »Und wie heißt dein Pony?«

»Pferd«, verbesserte Stan. »Mein Pferd heißt Dynamite Dancer. Sein Vater war British Balcony und seine Mutter That's My Girl«, leierte er herunter. Vielleicht lernte Matt ja was dabei. »British Balconies Vater war German Krautsalat und dessen Mutter war Princess Pegasus und deren Vater war Bullshit Bingo. Alles Derby-Gewinner. 1973 hat ihr Urgroßvater, Bros before Hoes, sogar alle drei großen Derbys von England gewonnen. Nennt sich Triple Crown.«

Matts Augen wurden immer größer. »Krautsalat ... ist der auch mit Hirnriss und Arschlecken verwandt?«

Stan wurde langsam wütend. Fand dieser arme Schlucker das etwa lustig? Arschlecken war doch aus einer völlig anderen Linie! Allerdings hatte dessen Großvater, Lodenhosen Jones, das Deutsche Derby gewonnen, also vielleicht sollte er sich geschmeichelt fühlen ... Nein, entschloss er sich, nach einem Blick auf Matts zuckende Mundwinkel. Definitiv nicht.

»Ich habe auch nicht erwartet, dass du die Bedeutung eines Stammbaums verstehst.«

»Ja, nein, das tue ich wohl nicht.«

»Ja, nein? Funktioniert Grammatik in der Unterschicht irgendwie anders?«

»Hör auf, mich ständig zu verbessern.« Der Anflug von Fröhlichkeit verschwand aus Matts Gesicht.

»Hör auf, ständig die deutsche Sprache zu vergewaltigen, dann höre ich auf, dich zu verbessern.«

»Oh, Entschuldigung, Monsieur«, näselte Matt und rollte die Augen. Dann setzte er sich auf. »Warum musst du so ein Arschloch sein?«

»Warum ich ...« Stan sprang auf. »Warum ich so ein Arschloch sein ...«

Er stoppte sich. Biss die Zähne zusammen. Wie schaffte Matt es ständig, ihn aus dem Konzept zu bringen?

»Was liest du da?«, fragte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Was Gutes?«

»Oh.« Matt betrachtete das Buch in seiner Hand, als hätte er es ganz vergessen. »Ja, schon.«

»Ein Krimi?«

»Nein, die Bibel.«

»Sicher.« Stan hätte fast gelacht. Wahrscheinlich war es irgendwas Schmutziges. Nackt gefesselt vom geilen Milliardär oder so. Leonora las nichts Anderes. Aber Matt schien vollkommen ernst. Und wenn Stan eins gelernt hatte, dann, dass Matt ein viel zu ehrliches Gesicht hatte. Stan legte den Kopf schief.

»Du ... liest wirklich die Bibel? Die mit Gott? Neues Testament, Altes Testament und so?«

»Welche denn sonst?«, fragte Matt. Ein Gewitter braute sich in seinem Gesicht zusammen. Aber Stan war zu fasziniert, um darauf zu achten. Mit zwei Schritten war er bei Matt und riss ihm das Buch aus der Hand. Auf dünnen Seiten stand in winziger Schrift:

 

1 Und der HERR sandte Nathan zu David. Da der zu ihm kam, sprach er zu ihm: Es waren zwei Männer in einer Stadt, einer reich, der andere arm. 2 Der Reiche hatte sehr viele Schafe und Rinder; 3 aber der Arme hatte nichts denn ...

 

»Du bist so ein Freak.« Stan starrte auf die Seite, bis Matt sich die Bibel zurückholte. »Warum liest du das? Bist du religiös oder so? Oder ist das das einzige Buch, das ihr euch leisten konntet?« Stan war getauft, natürlich, aber er hätte im Leben nicht daran gedacht, eine Bibel anzufassen. Die Konfirmation hatte er nur durchgezogen, weil er danach ein Pferd geschenkt bekommen hatte: Dynamite Dancer.

»Ich will Priester werden«, sagte Matt. Sein Gesichtsausdruck warnte Stan, auch nur ein falsches Wort zu sagen. Der hörte selbstverständlich nicht darauf.

»Du?« Stan lachte. »Du wärst ein furchtbarer Priester.«

»Wäre ich nicht!«

Matts Stimme hätte Stan fast zurück auf sein Bett geschleudert. Er blinzelte. Matts Gesicht war knallrot vor Wut. Seine hellen Augen blitzten.

»Doch, wärst du.« Stan schnaubte verächtlich. »Du bist viel zu cholerisch. Wenn du mich wegen so einer Kleinigkeit schon anbrüllst, wie willst du dann eine ganze Gemeinde leiten? Glaubst du, die fühlen sich aufgehoben, wenn du bei jeder Nichtigkeit ausrastest?«

Er hatte einen Nerv getroffen, das sah er ganz deutlich. Kunststück, Matts Gesicht gab jeden seiner Gedanken preis, als würde er sie laut aussprechen. Von Wut zu Verunsicherung, zu dem Beschluss, sich zu beherrschen um es Stan, dem blöden Bonzen zu zeigen. Matt legte sich demonstrativ zurück auf sein Bett und drehte ihm den Rücken zu.

»Und du bist ein Arschloch«, motzte er. »Das sagen alle.«

»Wer sind alle? Etwa die Idioten vom Fußballteam?«, höhnte Stan.

»Ja, und deine Exfreundin.«

»Meine Ex ... Vanessa?« Plötzlich fühlte sich Stan, als würde der Boden unter ihm aufreißen.

»Kann sein, dass die Vanessa heißt. Die Dunkelhaarige, die mich unbedingt massieren wollte«, brummte Matt. »Die ist nach dem Training nochmal angekommen.«

»Was ... was hat sie gewollt?«, fragte Stan. Er hätte sich nicht so elend fühlen sollen. Schließlich hatte Vanessa nach ihm eine ganze Reihe Kerle gehabt. Reiche, gutaussehende, ältere Kerle. Aber dass dieser Typ, an dem einfach nichts richtig war, bei ihr landen konnte, das machte Stan fertig. Galle sammelte sich in seiner Kehle.

»Was schon? Auf ihr Zimmer eingeladen hat sie mich.« Matt schien richtig genervt davon zu sein, dass wunderschöne Frauen mit ihm schlafen wollten.

»Und? Bist du mitgegangen?«, fragte Stan, als würde es ihn nur am Rande interessieren. Dabei waren seine Fingerknöchel weiß, weil er die Fäuste so fest ballte.

»Hast du was auf den Ohren? Ich will Priester werden.« Matt schlug seine ranzige Bibel wieder auf. »Überhaupt, warum sind die Mädchen hier solche Schlampen? Diese Vanessa war schon die Dritte, die heute ankam.«

»Das ist kein Grund, sie eine Schlampe zu nennen. Sie weiß halt, was sie will. Daran ist nichts Falsches.« Stan tobte innerlich. Sein Gleichgewicht war verschwunden. Gefühle, die er längst verdrängt und begraben geglaubt hatte, wirbelten durch sein Herz. Und schuld war der Neue. Wie machte er das?

»Sorry.« Matt fuhr sich durch die ungekämmten Haare. »Lustig, dass du sie verteidigst. Obwohl sie meinte, dass du ein Arsch wärst. Sie hat gesagt, sie spuckt dir heimlich ins Essen, wenn ich mit ihr mitkomme.«

»Hat sie nicht.« Das war ja ekelhaft.

»Doch, hat sie.« Matt wandte ihm das mürrische Gesicht zu. »Keine Angst, ich hab Nein gesagt. Oh, und sie sagt, du wärst ihr früher hinterhergelaufen wie ein Hündchen. Vollkommen erbärmlich, meinte sie.« Er drehte sich wieder weg.

Die Worte trafen Stan wie ein Faustschlag. Diese Verräterin. Und er hatte geglaubt, sie wären Freunde. Wenigstens das, nachdem sie jetzt seit Jahren in derselben Clique waren. Seine Fingernägel gruben sich schmerzhaft in die Handballen. Und Matt, der ... der klang, als hätte er Mitleid.

Wenn Stan irgendetwas hasste, dann war es, bemitleidet zu werden. Bemitleidet wie damals, als ihm alle den Kopf gestreichelt und traurig geguckt hatten, weil er eine arme Halbwaise war. So ein süßes Kerlchen und dann ohne Mutter, hörte er sie sagen. Und die Großeltern sind auch tot. Was soll nur aus ihm werden?

So ein Schwachsinn. Er hatte doch noch seinen Vater, verdammt. Den coolsten Vater von allen. Und der liebte ihn ... wahrscheinlich.

Klar, auf ein kleines Kind aufzupassen war anstrengend gewesen für einen Mann wie Ambros. Einen, der das Leben mit beiden Händen packte und jeden Tropfen Spaß in sich aufnahm. Da passte ein quengelndes Kleinkind nicht rein. Stan hatte deshalb schnell gelernt, nicht zu jammern. Der Sohn zu sein, den sein Vater wollte.

Die letzten Ferien hatten sie endlich gemeinsam verbracht. Na ja, die erste Hälfte. In der zweiten hatte er allein auf Valerias Anwesen gesessen. Eines Morgens waren sein Vater und seine Stiefmutter einfach weg gewesen. Nach Südafrika geflogen. Ohne ihm Bescheid zu sagen. Stan atmete die Bitterkeit aus, die er bei diesem Gedanken empfand.

Valeria wollte ihren Mann für sich allein, schon klar. Und sein Vater hatte es nie geschafft, besonders viel Zeit mit Stan zu verbringen. Drei Wochen lang war schon ein Rekord gewesen. Was wohl auch daran lag, dass Stan nun erwachsen war und man sich kaum noch um ihn kümmern musste.

Er schüttelte den Kopf. Es gab jetzt Wichtigeres als die Vergangenheit. Stan atmete tief ein und aus und machte seinen Kopf frei. Er musste verhindern, dass Vanessa mit Matt schlief. Klar, noch schaffte der es, uninteressiert zu tun. Aber Stan kannte Vanessa und gegen ihre Verführungskünste hatte Matt auf Dauer keine Chance. Matt musste eh fliegen, und ...

Stan wusste, was er zu tun hatte. Keine Verzögerungen mehr. Und kein Mitleid.

»Ich laufe ein paar Runden. Bin in ein, zwei Stunden zurück«, behauptete er.

»Willst du für morgen früh trainieren?« Der Spott in Matts Stimme bekräftigte Stans Entschluss nur. Schweigend schloss er die Tür hinter sich.

Ciara-Sophie ging beim ersten Läuten an ihr Handy.

»Ist er allein?«, fragte sie atemlos. Im Hintergrund hörte Stan die Geräte des Fitnessstudios knarzen.

»Ja. Tob dich aus.«

Drei Minuten später kam sie über den Flur gerannt, in einem winzigen roten Sporttop und einer noch winzigeren kurzen Trainingshose. Matt würde ihr nie widerstehen können. Zu einer willigen, verschwitzten Ciara-Sophie sagte man nicht Nein. Selbst wenn man, Stan schauderte, Priester werden wollte. Er zwinkerte ihr zu, sie lachte, dann verschwand Ciara-Sophie in Matts und Stans Zimmer. Das war's, dachte Stan. Falle zugeschnappt. Um ganz sicherzugehen, wartete er fünf Minuten, bis er den Flur entlang zu Herrn Niklassons Zimmer ging.

Ihr Hausvater trank gerade grünen Tee, als Stan klopfte. Er legte das Buch auf seinem hellen Holztisch ab. »Die Power des Positivismus«, las Stan. Herr Niklasson war so eine traurige Flachpfeife.

Nicht nur, weil jeder Zentimeter seines geräumigen Zimmers mit Selbsthilfebüchern, Klangschalen und Motivationssprüchen zugemüllt war. Sondern, weil er nicht halb so nett und verständnisvoll war, wie er tat. Wenn man ihm etwas Privates anvertraute, wusste es am nächsten Tag das ganze Haus.

Stan erinnerte sich an sein letztes Gespräch mit Niklasson. Der hatte ihm kichernd erzählt, dass Friedolin sich aus einem Handschuh und zwei Steaks eine Muschiprothese gebaut hatte, die er mehrmals täglich missbrauchte. Klar, dass Friedolin monatelang damit verarscht worden war. Vor allem, wenn es montags Steak gab.

Herr Niklasson hatte auch überall herumgetratscht, dass Norbert-David in Frau Engels, die Geschichtslehrerin, verliebt war. Als Norbert-David ihn, den Tränen nahe, zur Rede gestellt hatte, hatte Niklasson behauptet, er hätte es nur getan, weil Norbert-David sich seinen Gefühlen stellen musste. Sicher. Wenn Stan im Internat eins gelernt hatte, dann war das, sich nie beim Hausvater auszuweinen. Wenn der einen mit neugierigem Blick zum Tee einlud, war die beste Taktik Schweigen und Nicken. Und wenn Niklasson fragte, ob man Probleme hätte, dann sagte man, dass alles total in Ordnung wäre. Er war ein Arsch. Andererseits war er perfekt, sobald es darum ging, Leute in die Scheiße zu reiten.

»Was kann ich für dich tun, Stan?«, fragte er mit einem verständnisvollen Lächeln. Sein Bärtchen wurde breiter, als er den Mund verzog.

»Ich … also ich mache mir Sorgen um Matt.« Stan setzte sich an den Tisch und guckte traurig. »Ich glaube, er ist sehr unglücklich.«

Herrn Niklassons Gesicht leuchtete auf.

»Oh nein«, stieß er hervor. Total überzeugend. Seine Augen funkelten in seinem Mäusegesicht.

»Ja, also«, Stan zeichnete mit dem Zeigefinger die Maserung der Tischplatte nach, »er guckt ständig aus dem Fenster und nachts, da ... also da weint er, wenn er denkt, dass ich schlafe. Ich weiß nicht, ob er Heimweh hat oder unglücklich verliebt ist, oder so … vielleicht ist er auch schwul. Er guckt mich immer so an ...«

Es war, wie einem hungrigen Hund ein Würstchen hinzuhalten. Herr Niklasson verbarg sein Lächeln nicht mal mehr. Komm, schnapp zu, Junge, dachte Stan.

»Ich dachte, Sie könnten vielleicht mal mit ihm reden. Er ist gerade alleine, also wenn Sie rübergehen möchten ... ich bleibe auch eine Weile weg, dann haben Sie Zeit.«

»Es war richtig, dass du mir das erzählt hast.« Niklasson legte die Hand auf Stans Schulter. »Du bist ein guter Freund, Stan.«

Klar, genauso wie Sie ein guter Hausvater sind, dachte Stan. Aber er lächelte zaghaft.

»Meinen Sie?«

»Ganz sicher. Na, dann will ich gleich mal rübergehen. Vielleicht kann ich dem lieben Matt ja helfen.«

Ja, sie können ihm helfen, rauszufliegen, dachte Stan. Sein Gewissen zwickte ihn, als er an Ciara-Sophie dachte. Die hatte eigentlich nichts mit der Sache zu tun. Aber sie war nun einmal da und es wäre blöd gewesen, sie nicht zu benutzen. Stan folgte Herrn Niklasson durch den schattigen Flur. Sein Herz klopfte bis zum Hals. Schon waren sie an der Tür angekommen, wo Stan sich so positionierte, dass man ihn nicht sehen würde. Herrn Niklassons kleine Rattenhand drückte die Klinke nieder.

»Matt, bist du da?«, fragte er. Stan hörte ihn scharf einatmen. »Ciara-Sophie!«, rief er. »Was machst du denn hier?«

Yes! Stan warf einen schnellen Blick zwischen Niklasson und dem Türrahmen hindurch. Aber ... Er schrak zurück, bis er wieder außer Sichtweite war. Warum zur Hölle waren die beiden angezogen?

»Ich, also ich wollte Matt sein Englischbuch zurückgeben. Tut mir leid.« Ciara-Sophie kicherte nervös. Klar, sie musste ja das ganze Lügen übernehmen. Matt war viel zu ehrlich. »Ich weiß, dass wir nicht zu den Jungs ins Zimmer gehen dürfen, aber er braucht es doch morgen und er ist nicht an sein Handy gegangen und da dachte ich, ich bringe es ihm schnell. Es tut mir wirklich leid!«

»Ciara-Sophie, du weißt, dass ich euch jetzt eine Verwarnung geben muss.« Niklasson schüttelte den Kopf, als würde es ihn ehrlich traurig machen. Dabei liebte er es, Verwarnungen auszusprechen. »Seid froh, dass ich euch nicht bei etwas Schlimmerem erwischt habe, ihr Racker.« Er wackelte gespielt streng mit dem Zeigefinger. »Ihr findet euch morgen um sieben beim Direktor ein. Und denkt daran, bei der dritten Verwarnung werdet ihr suspendiert.«

»Aber wir würden doch nie vö… etwas Schlimmeres machen«, quietschte Ciara-Sophie.

»Nein. Echt nicht.« Matt klang genervt.

Hatte er etwa … hatte er Ciara-Sophie auch abblitzen lassen? Vanessa und Ciara-Sophie, so viel Selbstbeherrschung brachte doch kein normaler Mann auf. Selbst mit Gott auf seiner Seite.

Ciara-Sophie stürzte aus dem Raum, ohne Stan zu sehen. Er sah sie den Flur entlanglaufen und hinter der nächsten Ecke verschwinden. Auch er entfernte sich, langsam und lautlos.

»Matt, wenn du Probleme hast, kannst du jederzeit zu mir kommen«, hörte er Niklasson noch sagen. »Meine Tür steht immer offen.«

Oh ja. Bitte tu das, dachte Stan.

Aber Matt murrte nur »Hab ich nicht, danke« und dann entstand ein peinliches Schweigen, das anhielt, bis Stan außer Hörweite war.

So eine Scheiße.

 

Stan musste Zeit verstreichen lassen, bevor er ins Zimmer zurückkehrte. Sonst würde der Verdacht auf ihn fallen. Also stand er mit Gerrit im Hof herum. Er erzählte ihm von seinen Überlegungen. Davon, dass er Matt Drogen unterjubeln könnte, damit der flog. Gerrit verstand seine Bedenken nicht.

»Klingt doch super, mach das.«

»Aber …« Stan sah eine Gruppe Mädchen vorbeiflanieren. Sie blickten »unauffällig« zu ihm und Gerrit herüber. Stans Rolex glänzte in der Nachmittagssonne und sie schienen wie hypnotisiert davon. »Ach, keine Ahnung. Dann würde er doch polizeilich erfasst, oder? Ich will ihn loswerden, aber nicht sein ganzes Leben versauen.«

»Hast du dir diesen Penner mal angeschaut?« Gerrit grunzte höhnisch. »Sein Leben war versaut, sobald er geboren wurde. Wahrscheinlich hat ihn seine Mutter in irgendeinem ranzigen Hinterhof ausgekackt, neben ein paar Mülltonnen.«

Gerrit mochte Recht haben, aber selbst Stan hatte Grenzen.

 

1.7 Am Boden

 

Nach einer Stunde kehrte Stan ins Zimmer zurück.

»Bin wieder da«, sagte er, als er die Tür hinter sich schloss. »Ist was ...«

Weiter kam er nicht. Matt packte ihn am Kragen und schleuderte ihn gegen die Tür. Stans Rücken prallte schmerzhaft auf die Türklinke. Die Luft wurde aus seinen Lungen gepresst.

»Du hast sie geschickt«, zischte Matt. Seine Augen waren dunkel vor Wut. Ein Pfeil aus Angst bohrte sich durch Stans Magen. Scheiße.

»Wen soll ich geschickt haben?«, fragte er mit gepresster Stimme. Gepresst, weil Matts Hände ihm die Luft abschnürten.

»Du weiß genau, wen ich meine. Und dann hast du Niklasson hergelotst, damit er uns erwischt. Damit ich fliege.«

Verdammt, Matt war klüger, als er aussah.

»Was geht in deinem kranken Gehirn eigentlich vor?«, fauchte Stan. »Was fantasierst du dir da zusammen?« Seine Fußspitzen berührten kaum mehr den Boden. Die Türklinke brach fast seine Wirbelsäule. Und Matts wütendes Gesicht war nur Zentimeter von seinem entfernt.

Wut stieg in ihm auf. Dieser Dreckskerl. Was dachte er, wer er sei? Vanessa abblitzen zu lassen und dann Ciara-Sophie und sich alles zu schnappen, das Stan wichtig war und es dann nicht mal zu würdigen?

»Hast du das nur getan, weil deine Ex scharf auf mich ist?«, knurrte Matt. »Werd erwachsen. Oder ist es, weil ich schneller bin als du?«

»Es ist, weil du ein Arschloch bist«, keuchte Stan. Seine Hände zerrten nutzlos an Matts Klauen.

Er stieß sich von der Wand ab. Das wirkte. Matt taumelte ein paar Schritte rückwärts und Stan warf sich auf ihn. Sie gingen zu Boden. Raufend kugelten sie über die Dielen. Schließlich hakte Matt ein Bein unter Stans, packte seine Arme und nagelte ihn fest. Stan bäumte sich auf, aber Matts Griff war eisenhart.

»Du blöder Penner, lass mich los, du degenerierter Abschaum ...« Er versuchte, Matt in den Hals zu beißen, aber der starrte mit zusammengekniffenen Augen auf ihn nieder.

»Versuch das noch mal und ich prügle die Scheiße aus dir raus. Wenn du nicht demnächst dein Essen durch einen Strohhalm schlürfen willst, lässt du mich bis zum Abi in Ruhe. Ist das klar?«

Stan fühlte sich absolut hilflos. Wäre er nicht so wütend gewesen, hätte er fast geheult. Dieser Wichser. Stans Schulterblätter drückten sich schmerzhaft in die Dielen, sein Shirt war hochgerutscht und hatte seinen flachen Bauch freigelegt und er verlor das Gefühl in den Armen, weil Matt ihn so unnachgiebig packte.

Nein, dachte er. Ich bin Konstantin von der Waldeshöhe-Leberbach und ich lasse mir das verdammt nochmal nicht gefallen. Wieder bäumte er sich auf, presste sein Becken gegen Matts, um ihn von sich zu schleudern, irgendwie ... er erstarrte. Was war das? Für einen Moment zweifelte er an seiner Wahrnehmung, aber als Matts Gesichtsausdruck plötzlich von wütend zu entsetzt wechselte, war er sich sicher: Matt hatte einen Ständer. Was sich da gegen Stans Unterleib drängte, war bestimmt nicht dessen alte Bibel und ... auf einmal machte alles Sinn.

»Du bist schwul«, flüsterte Stan.

»Bin ich nicht!« Matts Gesicht verfärbte sich dunkelrot. Er ließ Stan los und machte einen Satz rückwärts. Seinen Schritt hinter den Händen versteckt, prallte er gegen sein Bett und blickte Stan böse an. Der Junge konnte einfach nicht lügen.

»Doch, bist du.« Stans Herz begann, zu klopfen, als sein Gehirn die Puzzleteile zusammensetzte. »Deshalb hast du die Mädels nicht rangelassen! Oh Mann, das ist zu gut. Und die blöden Kühe haben gewettet, wer dich als Erste flachlegt. Da können sie lange warten!« Er lachte. Mit einem Mal war seine Laune exzellent. Er legte den Kopf schief und lächelte Matt glücklich an. »Weiß es jemand? Nein, vermutlich nicht. Sonst hättest du ja keine Chance darauf, Priester zu werden.«

Matts Gesicht verriet ihn mal wieder. Ein besorgter Ausdruck schlich sich in seine Züge.

»Du ... du verrätst es doch keinem, oder?«

»Hm, das muss ich mir noch gut überlegen.« Stan rieb sich über das Kinn. Endlich, endlich hatte er etwas gefunden, bei dem er Matt packen konnte. Endlich war der erpressbar. »Bin ich wirklich der Einzige, der es weiß?«

Matt zögerte, dann nickte er.

»Hier schon«, murrte er. Stan konnte sich an seinen roten Wangen gar nicht sattsehen. »Und zuhause?«

»Einer.«

»Dein Freund?«

Matt zuckte zusammen, als würde er sich an etwas Schmerzhaftes erinnern. »Nein. Nein, ein ... Bekannter.«

»Ah. Hattest du schon mal einen Freund? Oder eine Affäre?«

Matts Augen wurden stockfinster vor Hass. Er presste die Lippen aufeinander. Aber seine Visage übernahm das Reden.

»Also nicht.« Stan spürte, wie sich ein Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete. »Bist du etwa noch jungfräulich?«

Matt wurde noch röter und Stan warf den Kopf in den Nacken und lachte lauthals los.

»Okay«, er wischte sich Tränen aus den Augen. »Du weißt, was jetzt kommt. Entweder du wechselst das Zimmer oder absolut jeder hier, vom Erstklässler bis zum Direktor, hört, dass du ein Arschficker bist. Oder es gern wärst.«

Matts Lippen waren ein weißer Strich. Er wandte den Kopf und sah aus dem Fenster.

»Nein«, sagte er.

»Was?« Stan war nicht sicher, ob er sich verhört hatte.

»Nein«, wiederholte Matt stur. »Einen Scheiß mache ich. Von einem Wichser wie dir lasse ich mich nicht erpressen. Und was die anderen denken, ist mir eh egal.«

»Aber ...« Stan blinzelte. Das meinte der nicht ernst, oder? »Aber das kann dir doch nicht egal sein.«

Matt blickte ihn direkt an, so verächtlich, dass Stan das Gefühl hatte, zu schrumpfen.

»Nicht jeder ist so oberflächlich wie du. Nach Gottes Gesetz zu leben, bedeutet, dem Bösen nicht nachzugeben. Egal, was die Konsequenzen sind.«

»Dem Bösen? Ich bin nicht das Böse!« Stan sprang auf. »Ich ... ich verteidige nur mein Recht auf mein Zimmer!«

»Unser Zimmer. Und sie können mich nicht rausschmeißen, weil ich schwul bin.«

Verdammt, er hatte recht. Stan stand da wie angewurzelt. Seine ganze geniale Taktik hatte sich in Luft aufgelöst. Wie in Trance beobachtete er, wie Matt aufstand und den Raum verließ. Erst das ohrenzerfetzende Zuknallen der Zimmertür weckte ihn.

Matt war also schwul. Das war kein Grund, ihn rauszuwerfen. Aber: Sex zwischen zwei Schülern hatte den sofortigen Rausschmiss zur Folge. Ergo musste Matt mit irgendjemandem schlafen und dabei erwischt werden, um zu fliegen. Stan wusste auch schon, mit wem. Leider. Er würde mit jemandem reden müssen, mit dem er auf gar keinen Fall gesehen werden wollte. Aber was tat man nicht alles, um ein legendäres letztes Schuljahr zu verbringen.

 

1.8 Aufgeflogen

 

Matts Gedanken rasten. Scheiße. Scheiße! Warum musste ausgerechnet dieser Schnösel sein Geheimnis entdecken? Wie hatte sein Schwanz ihn dermaßen verraten können? Dabei war Stan nun echt nicht so erregend. Viel zu geleckt und gestriegelt und glattgebügelt, und ... aber in der Hitze des Gefechts war es irgendwie passiert, ohne, dass Matt es gemerkt hatte.

Nun war er erledigt. Bis morgen würde Stan es allen erzählt haben. Matt fragte sich, was die Jungs aus dem Fußballteam sagen würden. Er hatte wirklich keine Ahnung. Bisher waren sie ganz umgänglich gewesen. Aber egal, Matt suchte eh keine Freundschaften. Sollten ruhig alle wissen, was er war.

Nur ... sein Herz krampfte sich zusammen. Was, wenn es bis zu den Lehrern oder dem Direktor durchdrang? Was, wenn die es Erwin erzählten? Der wäre so enttäuscht von ihm, und ... als er die Uhr im Hof sah, fiel ihm auf, dass es eh an der Zeit war, seinen Großonkel anzurufen. Er seufzte. Nur noch schnell Hanna abholen.

Todeselend schleifte er sich aus dem Internat, zum Zwergenhaus rüber. Einen Moment lang überlegte er, ob er Stan nicht doch nachgeben sollte. Aber das konnte er nicht. Es wäre einfach falsch gewesen.

Hanna wartete am Zaun auf ihn. Genauer gesagt, auf dem Zaun. Sie stand auf einem schmalen Pfosten, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Ein leichter Sommerwind wehte ihr die langen, dunklen Haarsträhnen ins Gesicht, aber sie wankte kein Stück. Perfektes Balancegefühl.

Auf einem ihrer stöckchendünnen Arme klebte ein rosa Pflaster. Matt kniff die Augen zusammen. Ihr lila T-Shirt mit dem Aufdruck: »Ponywolf: Halloween Happiness« hatte ein paar neue Flecken. Rotbraune. Getrocknetes Blut?

Matt überquerte die Wiese, die die beiden Gebäude des Internats teilte, und setzte sein strengstes Großer-Bruder-Gesicht auf. Hannas Augen leuchteten auf, als sie ihn sah. Sie hüpfte vom Zaun direkt in seine Arme.

»Ist das Blut?«, fragte er bestimmt und setzte sie auf dem Boden ab. »Du weißt, dass du dich nicht prügeln sollst.«

»Hab ich nicht!«, brüllte sie reflexartig. Dann ließ sie die Schultern hängen. »Okay, hab ich. Aber die waren zu zweit und haben angefangen! Und dieser Friedrich-Georg ist so ein dummer Flachwichser, der kann mit dem Arsch nicht denken ...«

»Fluchen sollst du auch nicht.«

»Pfff.« Sie verzog das Gesicht. Dann zuckte ihr Mundwinkel. »Ich hab gehört, du hättest dich mit diesem Stanley geprügelt. Unter der Dusche.«

»Stan heißt der. Und hab ich nicht.« Matt wurde kalt, als er an Stan dachte. »Der ist auch ein total dummer Flachwichser, aber ich kann mich beherrschen. Im Gegensatz zu dir.«

»Die Mädchen meinen, dieser Stan wäre voll der Prinz. Aber die Mädchen sind auch saublöd. Meinst du, wir können bald zurück nach Hause?«

»Hanna.« Sie wich seinem Blick aus, als wüsste sie schon, was er sagen würde. Was er sagen musste. Er tat es nicht gern. »Wir können nicht nach Hause zurück. Erwin kann sich nicht mehr um uns kümmern.«

»Ich weiß.« Ihr trauriges Gesicht versetzte seinem Herzen einen Stich. Ihre Stimme klang noch rauer als sonst. Als würde sie jeden Morgen mit Whiskey und Glasscherben gurgeln, dabei war sie erst zehn Jahre alt. »Ich weiß, dass er zu alt ist. Aber ich will nicht hier bleiben. Ich weiß nicht, warum sie uns herschicken mussten. Die Kinder hier sind so blöd. Die reden immer nur von ihren blöden Ponies und ihren blöden Autos und blöden Sommerhäusern. Ist das bei den Jugendlichen anders?«

»Nein. Das ist so ziemlich genau das, worüber dieser Vollpfosten ... äh, Stan, die ganze Zeit redet.« Er überlegte. »Das Fußballteam ist in Ordnung.«

»Und wie sind die Mädchen?« Hanna grinste. »Sind heiße Bitches dabei?«

Matt rubbelte mit den Fingerknöcheln über ihren Kopf und sie quietschte entrüstet.

»Was hab ich dir über Schimpfwörter gesagt?«

»Du fluchst selber dauernd, du Blödkopp!«

Er verstärkte den Druck, bis sie versprach, nie wieder zu fluchen. Oder wenigstens, solange sie mit Erwin telefonierten. Matt holte sein Handy heraus.

»Ja, Lohmeyer am Apparat?«, meldete Großonkel Erwin sich nach dem fünften Läuten. Wie immer hatte Matt ein schlechtes Gewissen, sobald er seine Stimme hörte. Seine Stimme, die immer zittriger wurde.

»Ich bin's. Matt. Wir wollten hören, wie's dir geht.«

»Matthäus, mein Junge.« Erwins brüchige Stimme wurde weich. »Wie schön, (Pause) von dir zu hören. Warte, (Pause) ich setze mich kurz hin. Meine Beine sind (Pause, Schnaufen) nicht mehr so stark wie früher, musst du wissen.«

»Natürlich.« Matts schlechtes Gewissen verdoppelte sich, weil er immer ungeduldig wurde, wenn er mit Erwin sprach. Der redete so langsam und machte so viele Pausen, dass man in der Zwischenzeit verrückt wurde. Hanna hüpfte an Matt hoch und zupfte an seinem Pullover. »Warte, ich geb dir erstmal Hanna. Sie will dir irgendwas sagen.«

»Ich hab nicht angefangen!«, schrie sie in den Hörer. Gut, dass Erwin so schlechte Ohren hatte. »Aber es tut mir leid. Echt! Und ich vergebe diesem Flachwi ... äh, Friedrich-Georg, dass er mich Pennerkind und verlaust genannt hat! Echt!«

Matt hörte Erwin lachen und fühlte sich etwas besser. Selbst wenn sein Großonkel jetzt auf Hilfe angewiesen war, schien es ihm ganz gut zu gehen. Vielleicht ... vielleicht blieb er noch ein paar Jahre bei ihnen. Matt schluckte. Wenn Erwin starb, dann würden Hanna und er ganz alleine sein. Aber daran wollte er jetzt nicht denken.

 

1.9 Angeheuert

 

Der Typ im blauen Trikot streckte sich nach dem eiförmigen Ball, fing ihn, stolperte und eine Sekunde später war er unter einem Berg verdreckter Gegner begraben. Staub wirbelte auf und verbarg den traurigen Anblick in einer dichten Wolke. Stan sah angewidert auf den Platz, wo die Spieler sich humpelnd voneinander lösten.

Das Rugbyteam war die Schande von Schloss Hoheneck. In den letzten siebzehn Spielen hatten sie siebzehn Niederlagen kassiert. Schlimm genug, dass sie einen Sport ausübten, der nur aus Rammen, Schreien und Schubsen bestand. Sie waren auch noch schlecht darin. Aber zumindest mit einem von ihnen würde er sich heute abgeben müssen. Mit Waldemar. Der Gedanke deprimierte ihn zutiefst.

Das Gerangel/Training schien beendet zu sein: Die Spieler, deren Uniformen inzwischen schlammbraun und grasgrün verschmiert waren, trotteten auf den Spielfeldrand zu. Stan richtete den schneeweißen Pullover, den er über den Schultern trug, und schlenderte zu ihnen hinunter.

»Waldemar«, rief er, weil er diese Schränke nicht voneinander unterscheiden konnte. Ein besonders breiter hob den Kopf.

»Wat is?«, fragte Waldemar. Er legte den Kopf schief, als er Stan erkannte. »Stan von der Dingsbumskirchen«, sagte er. »Mit dir hätt ich nicht gerechnet. Wat willste? Endlich das Ufer gewechselt?«

»Träum weiter.« Stan lächelte freudlos. »Aber ja, ich bin hier, um deinen Traum wahr werden zu lassen.«

Waldemar wischte sich den Staub vom Gesicht und legte seine Neandertalerfresse frei. Tiefliegende Augen, eine platte Nase und mehr Bartstoppeln, als ein Siebzehnjähriger haben durfte. Oder ein Vierzigjähriger. Er sah an Stan hoch und runter.

»Dazu müsstest du ein paar Kilo Muskeln zulegen. Ich mag's prall, falls du verstehst.«

»Deinen anderen Traum«, verdeutlichte Stan. »Du weißt schon, aus dem Internat zu fliegen.«

In Waldemars tumben Augen ging ein winziges Lichtlein an. Er blickte sich zu seinen Teamkollegen um und winkte ihnen.

»Geht schon mal vor. Ich hab noch was mit dem Püppchen hier zu besprechen.«

Die Jungs grunzten zustimmend und trotteten davon. Aber nicht, ohne Stan ein paar misstrauische Blicke zuzuwerfen.

»Püppchen?« Stan steckte die Hände in die Hosentaschen. »Ich bin zutiefst verletzt.«

»Was ist dir denn lieber?«, raunzte Waldemar. »Boyband-Boy? So nennen wir dich sonst.«

Stan konnte nicht mal singen. Er verdrehte die Augen.

»Mir ist egal, wie ein paar degenerierte Schlammkriecher mich nennen. Unglücklicherweise muss ich mit dir reden.«

»Wegen meinem Rausschmiss?« Waldemar sah ihn zweifelnd an. »Leider wissen alle, dass ich fliegen will. Hab schon alles versucht. Auf die letzte Mathearbeit hab ich statt Gleichungen Schwänze gekritzelt. Hat nichts gebracht. Die sind zu scharf auf mein Schulgeld, um mich rauszuwerfen.«

Stan sah auf das erhabene Schulgebäude hinter ihnen und dann auf Waldemars ordinäre Fresse.

»Warum willst du überhaupt fliegen? Ist doch nicht so schlecht hier.«

»In dem Bonzentempel? Nicht so schlecht? Klar, wenn man auf Waldspaziergänge und Ausreiten steht. Ich brauch die Stadt um mich rum. Sobald ich zurück in Köln bin, mach ich drei Kreuze.«

»Was ist mit dem Rugbyteam?«, fragte Stan.

»Hast du uns mal spielen gesehen?«

»Nein, aber ich kenne eure Ergebnisse.« Stan schnaubte. »Und die sind unterirdisch. Ich kann verstehen, dass du diesen Versagerverein verlassen willst.«

Waldemar lachte, ein erstaunlich hohes, kehliges Geräusch.

»Sei bloß nicht zu nett, Boyband-Boy. Aber stimmt schon. Was Besseres zu finden wird nicht schwer. Und du glaubst nicht, wie kacke das ist, wenn man der einzige Schwule im Internat ist. Die ganzen Ferien über hatte ich einen Lover nach dem anderen, aber sobald ich hier bin? Nada. Ich sag's dir, das ist kein Leben.«

Stan nickte. Das konnte er nachvollziehen.

»Dann habe ich die Lösung. Sogar doppelt. Du suchst wen, der mit dir vögelt und du willst rausfliegen, richtig? Wenn du also in flagranti mit einem Kerl erwischt würdest, hätten die gar keine andere Wahl, als dich zu feuern.«

»Ne, aber das ist mir auch klar.« Waldemar verzog das Gesicht. »Leider würd sich hier keiner mit mir einlassen, selbst wenn er Interesse hätte. Die Jungs trauen mir nämlich zu, dass ich sie nur benutze, um zu fliegen.«

»Und damit haben sie Recht, oder?«

Waldemar rieb sich den Stiernacken. »Ich war da vielleicht nen Touch zu offenherzig.«

»Du? Kann ich mir nicht vorstellen.« Stan verschränkte die Arme. »Na egal, ich habe die Lösung. Zufällig weiß ich von jemandem, der auf Jungs steht und absolut nichts über dich weiß.«

»Echt? Wer?«

»Mein neuer Mitbewohner.«

Waldemars Augenbrauen schossen in die Höhe. »Die mies druffe Sahneschnitte? Nice! Der gefällt mir schon besser.«

»Besser als wer?«

»Na, als du! Dieser Matt hat was richtig Wildes. Ich wette, der ist ein Tier, wenn man ihn richtig rannimmt.«

Stan ließ sich seine Verärgerung nicht anmerken. Dafür, dass er schwul war, hatte Waldemar einen grauenhaften Geschmack. Na ja, was sollte man von so einem Höhlenmenschen auch erwarten?

»Gut«, knurrte er. »Dann ist das ja geklärt. Bist du dabei?«

»Ja, klar. Machst du mir ein Date mit ihm aus oder so?«

»Ich glaube, das wird ein bisschen schwierig.« Stan kratzte sich am Kinn. »Ihr müsstet euch wie zufällig über den Weg laufen. Und er darf nicht kapieren, dass er nur ein Mittel zum Zweck ist. Wie wär's, wenn ich euch ein bisschen Zeit alleine unter der Dusche verschaffe?«

»Hey, das wäre klasse!« Waldemar lächelte glücklich. »Aber was ist für dich drin?«

»Na, dass er auch fliegt.« Stan musterte Waldemar herausfordernd. »Oder ist das ein Problem für dich? Hast du ein schlechtes Gewissen?«

»Kein Stück.« Waldemar zuckte mit den Achseln. »Kannst mir glauben, ne Viertelstunde allein mit mir ist den Rausschmiss wert.«

»Ah ja.« Stan war nicht überzeugt. »Hast du zwei Schwänze oder ist deine Wichse aus Zuckerwatte?«

»He, du bist eigentlich ganz lustig.« Waldemar wackelte mit den Augenbrauen. »Wenn du es wissen willst, sag Bescheid. Ich kann's dir zeigen.«

»Nein, danke.« Stan lächelte kalt. »Ich will in Hoheneck bleiben. Im Gegensatz zu dir gefällt es mir hier ganz gut.«

»Du bist ein Freak.« Waldemar schüttelte den Kopf. »Also, wie ist dein Plan?«

 

***

 

Eine Viertelstunde mit mir ist den Rausschmiss wert, hatte Waldemar behauptet. Das hatte eine Erinnerung in Stans Hirn wachgerüttelt. Sein Vater hatte etwas ganz Ähnliches gesagt. Ein Jahr mit mir ist besser als ein ganzes Leben mit irgendeinem Langweiler. Das war kurz nach der Scheidung von Stefanie gewesen. Und vermutlich hatte er Recht. Ambros' Frauen lachten viel und wirkten sehr, sehr glücklich. So richtig Endlich ist mein Traumprinz da-glücklich. Bis es endete. Das Ende war meistens hässlich.

 

Als Stan zurück ins Zimmer kam, schlief Matt bereits. Nur sein Hinterkopf schaute aus der Bettdecke heraus. Falls er aufwachte, als Stan sich umzog, zeigte er es nicht.

Und am nächsten Morgen ignorierte er Stan komplett. Schwieg, zog sein einziges erträgliches Outfit (die offizielle Hoheneck-Sportkleidung) an und trottete aus dem Zimmer. Ob er fürchtete, Stan würde sein Geheimnis überall ausposaunen?

Den Morgenlauf gewann Matt trotzdem. Aber der Abstand zwischen ihnen verringerte sich.

 

1.10 Unter der Dusche

 

Er hatte es keinem erzählt. Mit Erstaunen stellte Matt fest, dass niemand sein Geheimnis erfahren hatte. Das Fußballteam behandelte ihn wie immer und auch sonst machte kein Mensch Bemerkungen. Und die Mädels ließen immer noch nicht locker.

Stan hatte dichtgehalten. Seltsam.

Bestimmt hat er das nicht getan, weil er ein netter Kerl ist, dachte Matt. Prinz von und zu Arschkopf-Geldsack musste etwas vorhaben. Aber was? Was machte man mit der Information, dass jemand schwul war? Es an die Kirche weitergeben, damit Matt kein Priester werden konnte? Würden die auf Gerüchte hören? Vermutlich nicht.

Nachmittags hatten sie zum Glück Fußballtraining, was ihn vom Grübeln abhielt. Und danach war Matt zu fertig, um nachzudenken.

Unter der Dusche spürte er jeden Knochen. Das Team war ganz okay. Fußballerisch und menschlich. Nachdem ihn der Erste gefragt hatte, woher seine Narben kamen, und Matt nur unfreundlich mit den Schultern gezuckt hatte, hatten sie ihn damit in Ruhe gelassen. Auf ihre eigene, schroffe Art waren die Fußballer höflicher als Stan und seine hochnäsigen Freunde.

Die blöden Mädchen hatten alle versucht, herauszufinden, was geschehen war. Aber Matt wollte nicht wieder dieselben Reaktionen bekommen wie zuhause. Er hatte selbst Hanna verboten, darüber zu sprechen, obwohl sie nichts lieber tat, als ihren tollen Bruder in den Himmel zu loben. Aber sie riss sich zusammen. Sie war ein gutes Mädchen. Auf ihre Art. Hoffentlich hörte sie bald auf, sich zu prügeln.

Das Wasser prasselte auf Matts Schultern und seinen Kopf. Kaltes Wasser. War besser so, in einem Raum voll nackter Kerle. Heute war auch noch das Rugbyteam dabei. Lauter breitschultrige Typen mit blauen Flecken, die ihn an Tim erinnerten. Gefährlich.

Matt rubbelte sich gerade die Seife aus den Haaren, als der Feueralarm losging. Das schrille Läuten füllte den Raum. Köpfe ruckten hoch. Ein Raunen ging durch die Dusche.

»Schon wieder?«, motzte jemand. Dann bewegten sich alle flott auf den Ausgang zu, die Handtücher um die Hüften geschlungen.

Jemand hielt Matt zurück. Einer aus dem Rugbyteam. Der Typ legte seine breite, nasse Hand auf Matts nackte Brust.

»Keine Sorge, Süßer. Ist ein Fehlalarm.« Der Rugbyspieler grinste und sah dabei gar nicht schlecht aus. Wasser lief über seine kräftigen Schultern. »Ein paar alberne Jungs, die sich nen Spaß erlauben, das kommt ständig vor.«

»Sollten wir nicht trotzdem rausgehen?«, fragte Matt und sah sich in der leeren Dusche um. Irgendetwas stimmte hier nicht.

»Ach, ich weiß nicht. Die sind alle noch ne Weile weg und wir sind ganz alleine.« Der Breite grinste noch ... breiter. Und deutete nach unten. Ohne es zu wollen, folgte Matt seinem Blick. Ach du ... Der Schwanz des Kerls war voll aufgerichtet.

»Na, mal probieren?«, fragte er.

Matt starrte ihn an.

 

1.11 Über die hohe Kunst der Verführung

 

Stan entfernte sich rasch, aber unauffällig von dem Feueralarmknopf, den er gedrückt hatte. Er positionierte sich in der Nähe der Umkleide, bis der Strom aus halbnackten Jungs versiegt war. Geordnet flüchteten sie nach draußen. Der Direktor ließ jedes Jahr mehrere Probealarme auslösen, um das ideale Verhalten im Notfall zu proben.

Stan lächelte. Er holte sein Handy aus der Hosentasche. Noch eine oder zwei Minuten, dann sollte Waldemar Matt so weit haben. Dann konnte er ein paar Beweisfotos schießen. Und sein Leben wieder in die richtigen Bahnen lenken.

Matt hätte ihm fast die Tür der Umkleide auf die Nase gehauen, als er hinausstürmte.

Was?

Matt bemerkte ihn nicht einmal. Er strebte wie die Vorangegangenen dem Ausgang zu, das feuchte Fußballtrikot am Leib. Die anderen hatten Handtücher getragen, aber Matt musste natürlich wieder seinen entstellten Arm verdecken. Stan sah ihm zähneknirschend nach. Dieser verblödete Waldemar! Wozu war der eigentlich gut? Stan riss die Tür auf und marschierte in die Umkleide.

»Was zur Hölle ist schief gelaufen?«, zischte er Waldemar an, der ganz allein im Duschraum stand. Vollkommen nackt, mit hartem Schwanz. Stan warf einen angewiderten Blick darauf. »Und warum zu Hölle hast du nichts an?«

Waldemar zuckte mit den Achseln.

»Ich dachte, dann sieht der Süße gleich, was ich zu bieten habe. Hat nicht geklappt.«

Stan sah ihn ungläubig an.

»Das war dein Plan, um ihn zu herumzukriegen? Ihm deinen Knüppel ins Gesicht zu halten und aufs Beste zu hoffen?«

»Hey, das hat schon bei ganz anderen geklappt.« Zwischen Waldemars Augenbrauen bildete sich eine tiefe Falte. Stan schlug sich gegen die Stirn.

»Aber doch nicht bei Matt! Der ist eine Jungfrau und ... und will Priester werden! Du Klappspaten! Verstehst du überhaupt irgendetwas von Verführung?«

»Ja.« Waldemar sah ihn an, als wäre Stan hier der Idiot. »Klar. Man findet raus, ob der andere auch ficken will, und ...«

»Nein, tut man nicht!«, fauchte Stan. »Wenn man jemanden verführt, merkt der andere nicht mal, was vorgeht. Ich hab mit mindestens zehn Frauen geschlafen, die alle dachten, sie hätten mich verführt, obwohl es umgekehrt war. So geht das! Es ist die höchste Form der ... der Machtausübung.«

»Klingt grausig«, sagte Waldemar. »Klingt nach Arbeit.«

»Natürlich ist das Arbeit. Deshalb wird es am Ende ja auch belohnt.«

»Aber warum nicht einfach fragen, ob der andere ficken will und dann Spaß haben?«, fragte Waldemar. »Viel weniger anstrengend.«

»Und absolut keine Herausforderung. Hast du denn gar keinen Ehrgeiz?«

»Ne, ich hab Spaß.« Waldemar grunzte amüsiert. »Wenn du so viel von Verführung verstehst, warum übernimmst du den Süßen nicht selber?«

»Das sollte ich.« Stan ballte seine Hände zu Fäusten. »Du bist ja offenbar unfähig. Nur will ich nicht von der Schule fliegen ...« Eine Idee formte sich in seinem Gehirn. Eine, die ihm nicht besonders gefiel. Aber wenn es bedeutete, Matt loszuwerden ... Stan rieb über sein Kinn. »Vielleicht sollte ich echt die Verführung übernehmen. Zumindest den Anfang.«

»Ah ja.« Waldemars Grinsen wurde breiter. »Kann ich dabei zugucken? Kann bestimmt was lernen. Und ich würd gern sehen, wie seine Hochwohlgeborenheit von der Dingsbumskirchen einen fetten Schwanz in die Fresse bekommt.«

Bei den Worten lief es Stan kalt den Rücken herunter. So weit würde er nicht gehen müssen, oder?

»Das ...« Ach, kein Zögern jetzt. Er sah Waldemar herausfordernd an. »Wenn ich dir Matt auf einem Silbertablett liefere, aufgegeilt und zutiefst sexuell frustriert, meinst du, du schaffst es dann, ihn flachzulegen?«

»Klar.« Waldemar zuckte mit den Achseln. »Aber bist du sicher, dass du das, na ja, tun willst?«

»Ich sehe da kein Problem«, behauptete Stan, auch wenn er sich innerlich schüttelte. Mastermind, dachte er sich. Partys. Das stolze Gesicht seines Vaters. Ja. Musste wohl sein. Hoffentlich würde nie jemand davon erfahren.

 

1.12 Im Museum

 

Aber wie verführte man jemanden wie Matt?

Stan musste zugeben, dass er ihn nicht verstand. Er kapierte, was Vanessa oder Leonora antrieb. Bei Ciara-Sophie war es noch leichter. Aber Matt? Keine Ahnung. Er würde sich darauf verlassen müssen, dass der total sexuell frustriert war, nach Jahren der Abstinenz. Dass Waldemar ihn nur überrannt hatte und man ihm mehr Zeit geben musste. Ja. Zeit. Vielleicht konnte Stan noch ein wenig warten? Es echt, echt langsam angehen lassen? Er war sowas von nicht scharf darauf, einen anderen Mann anzufassen.

Am Freitag machte die zwölfte Klasse einen Ausflug. Das Deutsche Kunstmuseum Stuttgart hatte eine Bruegel-Ausstellung in die Klauen gekriegt und nun wurden sie alle im Bus dorthin gekarrt, um sich zu bilden. Gerrit motzte, weil sie ihm nicht erlaubten, in seinem Porsche zu fahren. Stan war froh, dass sie es nicht taten. Nur, weil Gerrit vor ihm achtzehn geworden war, hatte er ein verdammtes Auto. Marietta hatte Gerrit gestern den ganzen Abend lang bezirzt, damit er sie mitnahm. Zum Glück hatte der Direktor verboten, dass er selbst fuhr.

So thronte Stan hinten im Bus, Leonora, Gerrit, Vanessa und Marietta neben sich verteilt. Sie lachten über jeden noch so schlechten Witz, den er machte. Alles war perfekt. Oder wäre perfekt gewesen, wenn er weiter vorne nicht Matts strubbeligen Hinterkopf gesehen hätte.

 

***

 

»Wie Sie sehen, signierte Pieter Bruegel der Ältere seine frühen Werke noch mit Brueghel«, erzählte ihr Führer überglücklich.

Stan ächzte leise. Der Mann war viel zu begeistert. Außerdem flüsterte er, so, als würde er sie alle in ein ganz besonderes Geheimnis einweihen. Als wären sie eine verdammte Grundschulklasse. Und die Ausstellung provinziell zu nennen, wäre noch viel zu höflich gewesen. Erstaunlicherweise schien Matt das genauso zu sehen. Er gähnte ausgiebig, dann drehte er sich um und wanderte davon.

»Bin gleich zurück«, rief er über seine Schulter.

»Darf man erfahren, wo Sie hingehen?« Die Kunstlehrerin funkelte ihn warnend an.

»Pissen.« Matt winkte und war schon fast aus der Tür. Stan seufzte. Ja, er musste ihn loswerden. Er hörte Leonora kichern und sah den angewiderten Blick der Kunstlehrerin. Schnell.

»Dann nehmen Sie gefälligst jemanden mit«, befahl die Lehrerin. »Es ist Ihnen nicht erlaubt, sich hier alleine zu bewegen. Schließlich war der Museumsdirektor so nett, uns die Ausstellung einen Tag vor der offiziellen Eröffnung zu präsentieren. Konstantin, Sie passen auf ihn auf.«

»Was?« Stan und Matt warfen ihr einen gleichermaßen ungläubigen Blick zu.

»Ich brauche doch keinen Babysitter, um auf den Pott zu gehen«, protestierte Matt, während Stan sein Pokerface ordnete.

»So sind nun mal die Regeln.« Er schenkte der Kunstlehrerin ein so strahlendes Lächeln, dass sie rot wurde. »Keine Sorge, ich passe schon auf ihn auf.«

Matt verzog das Gesicht, aber er zuckte mit den Achseln und verließ den Raum. Stan schloss erst zu ihm auf, als er die große Halle im ersten Stock schon fast durchquert hatte. Ein perfekt quadratischer Raum, auf zwei Seiten verglast, in dessen Mitte eine Lichtkonstruktion aus zwei Millionen Halogenlämpchen prangte.

Matt sah sich suchend um.

»Wo zur Hölle sind die Klos?«, murrte er.

»Keine Ahnung. Im zweiten Stock vielleicht?« Stan bemühte sich, genervt zu klingen, obwohl Matt ihn vor dieser grausigen Führung rettete. Und ihm die Gelegenheit verschaffte, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Vielleicht.

Sie stiegen in den Aufzug gegenüber. Als die Türen sich schlossen, merkte Stan, dass die Kabinen winzig waren. Matt und er standen so weit auseinander, wie sie konnten, trotzdem spürte er Matts Atem auf seinem Schlüsselbein. Stan fühlte sich eigenartig. Das ist eine perfekte Gelegenheit, sagte er sich. Du musst schnell handeln. In ein paar Augenblicken kommen wir oben an, und dann ist es zu spät. Aber er konnte nicht. Wie versteinert sah er auf Matts mies gelauntes Gesicht.

»Was ist?«, fragte der.

»Nichts, nichts.« Und tatsächlich fiel Stan nicht ein, was er sagen könnte.

Waldemars Worte rangen in seinem Ohr. »Ich würd gern sehen, wie seine Hochwohlgeborenheit von der Dingsbumskirchen einen fetten Schwanz in die Fresse bekommt.« Stan ballte die Fäuste. Aber so würde Matt nicht rangehen, oder? Er betrachtete dessen Arme. Die waren kräftiger, als er sie in Erinnerung gehabt hatte. Seine Muskeln zeichneten sich deutlich unter dem fusseligen Pullover ab. Matt war stärker als er, so ungern er das zugab.

Was würde passieren, wenn er was mit ihm anfing? Würde Matt ihn einfach zwingen, irgendetwas zu machen, das er nicht machen wollte? Stark genug war er … Mit Entsetzen kapierte Stan, dass er nervös war. Das durfte er nicht. Ein von der Waldeshöhe-Leberbach war selbstsicher, stark und …

»Na endlich«, murmelte Matt, als der Aufzug mit einem hellen »Pling« anhielt. Die Türen brauchten einen Moment, um sich zu öffnen. Und Stan überwand seine Furcht. Er musste sich nur ein kleines Stück vorbeugen, nur seine linke Hand an der Aufzugwand neben Matts schlecht frisiertem Kopf abstützen. Und ihn küssen.

Matts Lippen waren trocken und warm. Sie zuckten, als Stans Mund sich darauf presste, wie eine winzige elektrische Entladung.

Dann war es vorbei. Stan lehnte sich zurück und atmete unmerklich aus. War gar nicht so schlimm gewesen. Fast wie bei einem Mädchen. Und der Effekt war überwältigend.

Matt riss die Augen auf. Seine Kinnlade klappte herunter und sein ganzer Körper erstarrte im Schock.

»Was ...«, begann er. Er schien nicht zu wissen, wie der Satz weiterging. »Warum?«, versuchte er es erneut.

Stan zuckte mit den Achseln.

»Ich hatte halt Lust darauf.« Dann wandte er sich um und verließ den Aufzug. Sein Herz hämmerte. Würde der Neue anbeißen? Er achtete darauf, dass Matt sein Gesicht nicht sah. Nicht mal Stan konnte in dieser Situation seine Gefühle verbergen.

»Aber … warum?«, wiederholte Matt fassungslos.

Yes! Stan verbarg sein Lächeln. Allein dafür hatte es sich gelohnt.

»Hörst du schlecht?«, fragte er gelangweilt. »Mir war halt danach. Hast du nicht die Toiletten gesucht? Die sind da drüben.«

Matt starrte ihn noch einen Moment lang an. Er blinzelte. Dann folgte sein Blick Stans ausgestrecktem Arm. Auf einem Schild in dem schmalen Gang gegenüber leuchtete das WC-Zeichen auf. Mit leicht wackeligen Beinen ging Matt darauf zu. Stan folgte ihm. Am liebsten hätte er laut gepfiffen. Es funktionierte! Und es war überhaupt kein Problem gewesen!

Matt drückte die Türklinke herunter. Die Toilettentür blieb verschlossen. Er rüttelte daran.

»Was soll das denn?«, fluchte er. Er probierte es bei der Damentoilette, aber die war ebenfalls zu.

»Wahrscheinlich, weil sie noch nicht offiziell geöffnet haben.« Stan sah sich um. Niemand da, der die Tür aufschließen konnte. »Wir müssen wohl wieder runterfahren und die Führerin fragen.«

»Das dauert zu lange.« Matt biss sich auf die Unterlippe und guckte griesgrämig.

»Wie bitte?« Stan legte den Kopf schief.

»Ich hab zwei Liter Orangensaft getrunken. Ich mach mir gleich in die Hose.«

»Warum trinkst du denn zwei Liter Orangensaft?« Stan starrte ihn ungläubig an. »Findest du das normal?«

»Unser Trainer meinte, ich muss zunehmen.« Matt sah sich nervös in dem schmalen Flur um. Sein Blick fiel auf einen gigantischen rechteckigen Blumenkübel, der den halben Gang versperrte. Glänzende Palmwedel und Efeu wuchsen daraus. Oh nein. Stan wollte ihn packen, aber da hatte Matt sich schon in Bewegung gesetzt.

»Das ist nicht dein Ernst, oder?«, zischte er. »Was, wenn jemand vorbeikommt? Was, wenn es hier Kameras gibt?«

»Pass halt auf.« Matt stand bereits vor dem Blumenkübel und öffnete seinen Gürtel.

»Hör sofort auf«, zischte Stan. »Wenn uns jemand erwischt, kriegen wir beide Ärger, und dann ...«

Er verstummte, als er ein leises Plätschern hörte. Das durfte nicht wahr sein! Fassungslos sah er zu, wie Matt mit zurückgelehntem Kopf den Blumenkübel bewässerte. Er sah richtig erleichtert aus. So eine Unverfrorenheit! Selbst ein provinzielles Museum wie das hier würde etwas dagegen haben. Stan blickte sich nach rechts und links um. Niemand zu sehen.

»Hör endlich auf damit«, flüsterte er Matt zu.

»Kann nicht. Bin gleich fertig«, murrte der. Unmöglich, der Typ. Stan sah auf das drittklassige Pflanzenarrangement, das Matt schändete. Auf der einen Seite des Kübels klebte eine Plakette. Eine goldene Plakette mit einer Aufschrift. Stans Atem stockte. Ach du Scheiße.

»Matt ...«, sagte er, so ruhig er konnte. »Das ist kein Blumenkübel.«

»Was?« Matt wandte den Kopf.

»Das ist ... Kunst.«

»Was??« Mit schreckgeweiteten Augen blickte Matt auf die Pflanzen.

»Hier steht's: Verachtung III, Ives Manuel Baumeister, 1977.«

»Fuck!« Matt schrak zurück. Hektisch verpackte er seinen Schwanz wieder und zog den Reißverschluss hoch. Stan wartete nicht auf ihn. Er rannte zum Aufzug und hämmerte auf die Taste. Zum Glück gingen die Türen sofort auf. Hinter sich hörte er ein Quietschen: Matt schlitterte über den spiegelglatten Boden. Sie drängelten sich in die Kabine.

»Oh Mann, wie soll man das denn wissen!« Matt wirkte, als hätte er einen Geist gesehen. »Das sah aus wie ein ganz normaler Blumenkasten!«

Etwas drängte aus Stans Kehle, als er den blöden Gesichtsausdruck seines Mitbewohners sah. Seine Mundwinkel zuckten. Er prustete los. Er konnte nicht mehr. Auf einmal war Matts entsetztes Gesicht das Komischste, das er je gesehen hatte. Er wand sich vor Lachen, kicherte wie ein Delfin und konnte sich kaum auf den Beinen halten.

»Halt die Klappe! Das konnte ich doch nicht ahnen!«

»Deshalb ist es ja so lu-lustig«, brachte Stan atemlos hervor.

»Klappe halten, hab ich gesagt. Das war echt ... echt ...« Matt verzog das Gesicht. Und schnaubte. Als die Aufzugtüren sich wieder öffneten, krümmten sich beide, völlig hilflos ihren Lachkrämpfen ausgeliefert.

»Du ... Vollpfosten ...«, grunzte Stan. »Wenn ich wegen dir ... Ärger kriege ...«

Matt konnte gar nichts mehr sagen. In seinen dichten Wimpern hingen Tränen und seine graugrünen Augen glitzerten.

»Was ist denn so komisch, die Herren?«, fragte eine kühle Stimme.

Ihre Kunstlehrerin stand vor der geöffneten Aufzugtür im ersten Stock. Ihre schmalen Augen hinter dem scharfkantigen Brillengestell waren misstrauisch zusammengekniffen. Und weiter hinten, im Ausstellungsraum, wartete die Klasse und blickte neugierig auf Matt und Stan.

Stan erkannte Gerrit, der ihn entgeistert ansah. Dessen Augenbrauen zogen sich zusammen. What the fuck?, sagte sein Gesichtsausdruck. Warum sieht es aus, als hättest du Spaß mit diesem Unterschichtenbalg? Das reichte, um Stan wieder todernst werden zu lassen.

»Ach, nichts«, sagte er in seiner respektvollsten Klassensprecher-Stimme. »Ist die Führung schon beendet?«

»Wir haben noch die Federzeichnungen vor uns.«

Die Kunstlehrerin warf einen messerscharfen Blick auf Matt, der an ihr vorbeihuschte, mit immer noch zuckenden Schultern. Dann schüttelte sie so sacht den Kopf, dass die anderen es vermutlich nicht mal mitbekamen.

»Sie sollten sich überlegen, mit wem Sie sich abgeben«, sagte sie leise zu Stan. »Nicht jeder, der sich an unserer Schule aufhält, verdient es, hier zu sein.«

Stan fühlte sich, als hätte man ihm einen Kübel Eiswasser über den Kopf gekippt. Natürlich war es falsch, sich mit Matt abzugeben. Er musste auf seinen Ruf achten. Dieser Bauer, der sich gerade in ein verdammtes Kunstwerk erleichtert hatte, konnte ihm nur schaden. Aber solange sie zusammenwohnten, würde es schwer sein, ihm aus dem Weg zu gehen.

Stan atmete tief ein. Die Segel waren gesetzt. Bald würde Matts Aufenthalt in Hoheneck Geschichte sein.

Denn er hatte angebissen. Stan tat so, als würde er nicht bemerken, dass Matt ihn immer wieder verstohlen ansah. Während der restlichen Führung. Auf dem Rückweg im Bus. Seltsam, Stan hatte das Gefühl, dass seine Lippen jedes Mal kribbelten, wenn sich ihre Blicke trafen. Genau in der Mitte, da, wo sie Matts Mund berührt hatten.

 

1.13 Mit Zunge

 

»Das Problem ist im Grunde, ich sach mal so, dass ich nicht so richtig um meine Mutter trauern kann. Ich, also ich schlaf nicht mehr und mir geht's allgemein gesundheitlich eher bescheiden. Jetzt meinte meine Frau mal, ich sollte mir Hilfe holen und na ja, jetzt bin ich hier.«

Du Trottel, dachte Stan. Du Schwächling. Ich kann mich an meine Mutter nicht mal erinnern und mir geht's super.

»Und daher rufst du an. Nun, was denkst du, kann ich in dieser Situation für dich tun?«, fragte Steffen von Steffens Sorgentelefon. Seine Stimme war so sanft und beruhigend, als würde er auf einen panischen Kampfstier einreden. Musste ein Scheißjob sein, sich um diese Opfer zu kümmern. Jede Woche, zwei Stunden lang.

Stan lag auf seinem Bett, die Kopfhörer in den Ohren und lauschte gespannt, was für lächerliche Probleme diese Versager heute hatten. Gerrit hatte er erzählt, er müsse lernen. Stan hätte nie zugegeben, dass er dieses Unterschichtenradio hörte. Natürlich nur ironisch, aber trotzdem. Er verpasste nie eine Sendung.

Heute ging es um Luiselotte, die immer noch unter der Fuchtel ihrer verstorbenen Mutter stand, Kevin-Dieter, der Selbstmordgedanken hatte, weil er in seinem Beruf gemobbt wurde und Georg, der nach der Scheidung seinen Hund mehr vermisste als seine Frau. Solche Loser, dachte Stan und knabberte an seinem Daumennagel.

Als die Sendung vorbei war, fühlte er sich seltsam leer.

Was nun? Sie waren heute Mittag von ihrem Museumsausflug zurückgekehrt. Seine Hausaufgaben waren erledigt und er war bereits mit Dynamite Dancer ausgeritten. Matt hatte er seit ihrer Rückkehr nicht mehr gesehen, der hatte irgendein Spezialtraining mit dem Fußballteam. Stan beobachtete die Birke vor seinem Fenster. Das warme Licht der Nachmittagssonne schien durch ihre Blätter und ließ sie leuchten wie Smaragde. Er gähnte.

Vielleicht sollte er diese Blonde aus der Elften (Bettina? Britannica?) überreden, vorbeizukommen? Sie hatte ihn heute im Stall angesprochen und wirkte mehr als willig. Stattdessen hörte Stan sich noch eine Sendung Steffens Sorgentelefon aus dem Archiv an.

Mittendrin platzte Matt ins Zimmer. Er bremste abrupt, als er Stan erblickte.

»Hey, äh, hallo.« Matts Wangen färbten sich rosa.

Oh Mann. Stan verbarg ein Grinsen. Er hatte ihn in der Tasche. Sowas von. Matt schloss die Tür und stand einen Moment lang unentschlossen herum. Er kratzte sich am Arm und fragte schließlich: »Was hörst du?«

Stan stoppte das Sorgentelefon, mitten in der tränenreichen Beichte von Jennifer, die ihren Freund mit einer Frau betrogen hatte.

»Nichts. Wie war das Training?«

»Gut, bin ziemlich fertig. Äh.« Matt konnte den Blick gar nicht von ihm abwenden.

»Was ist?«, fragte Stan, ziemlich unfreundlich. Matts Augen bohrten sich in sein Gesicht.

»Warum hast du mich geküsst?«, platzte er heraus. »Du bist doch nicht ... also ... warum?«

»Hat es dir nicht gefallen?« Stan hob eine Augenbraue.

»Doch, schon ... glaub ich. Es war so schnell vorbei.« Matt sah ihm nicht in die Augen. Stattdessen schaute er, missmutig wie immer, zu Boden. Aber seine Wangen blieben gerötet.

»Willst du es nochmal versuchen?« Stan grinste und Matts Kopf ruckte hoch. Sein Blick verfinsterte sich.

»Erst, wenn du mir sagst, warum«, knurrte er. »Was hast du vor? Ist das irgendein neuer Plan, damit ich rausfliege?«

»Nein«, log Stan. »Ich ... also ...« Er rieb sich den Nacken und guckte verschämt. Hoffentlich funktionierte die schüchterne Masche auch bei Jungs. »Ich hab viel an dich gedacht, seit ... äh, seit wir uns geprügelt haben und du ... also, ich hätte nicht geglaubt, dass du auf Jungs stehst. Das geht mir ständig im Kopf herum. Irgendwie wollte ich das schon immer mal ausprobieren. Du weißt schon, mit einem anderen Jungen. Nur so ein bisschen. Sorry, dass ich dich einfach damit überfallen habe. Du warst so süß, heute im Aufzug.«

»Ja, klar.« Matt lachte freudlos. Verdammt. Stan sah mit flehendem Blick zu ihm hoch.

»Ich meine es ernst. Du hast so ... schmollend geguckt, da konnte ich mich nicht beherrschen.«

»Denkst du, ich bin blöd? Ich weiß doch, dass du was vorhast.« Matt gab ein verächtliches Schnauben von sich. Stan fluchte innerlich. Aber dann bemerkte er das winzigste unsichere Flackern in Matts Augen. Ah. Egal, was sein Verstand ihm sagte, im Herzen wollte Matt ihm glauben.

»Nein, echt!« Stan verschränkte die Arme. Wenn Matt nicht vom schüchternen Stan verführt werden wollte, musste er es eben mit dem echten aushalten. »Sag mir wie, und ich beweise es dir!«

Matt musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen. Nein, er glaubte ihm kein Wort. Und doch ... ja, er wollte es.

»Wenn du das ernst meinst, dann küss mich nochmal«, brummte er. Herausfordernd sah er auf Stan herunter. Der lachte.

»Was, ein Kuss? Das ist alles? Du bist so eine Jungfrau.«

»Mit Zunge«, knurrte Matt.

Stan grinste, schüttelte den Kopf und stand auf. Bevor er wieder nervös werden konnte, baute er sich vor Matt auf und sah ihm tief in die Augen. Der blinzelte. Er roch nach Seife und frischer Luft. Anders als ein Mädchen, oder zumindest die Mädchen, die Stan kannte. Stan merkte, dass er auf seiner Unterlippe herumkaute, und hörte schnell damit auf.

»Bereit?«, fragte er.

Matt nickte wie hypnotisiert. Er hatte Sommersprossen. Winzige Flecken tummelten sich auf seiner Nase, unregelmäßig verteilt wie Sterne am Nachthimmel. Seltsam, bei all seinen Unvollkommenheiten war Stan das nie aufgefallen. Aber jetzt sah er sie. Er machte noch einen Schritt auf Matt zu. Sein warmer Körper stieß gegen Matts. Matt zuckte zusammen, als Stans Brust sich gegen seine presste. Stan schenkte ihm sein breitestes Grinsen. Dann legte er den Kopf schief und küsste ihn.

Er spürte den Schauer, der durch Matts Körper lief, sobald ihre Lippen sich berührten. Er verstärkte den Druck, presste seinen Mund ein wenig fester auf Matts. Irgendetwas geschah in Stans Bauch. Als würde er ein winziges Stückchen fallen, um dann wieder auf dem Boden zu landen. Merkwürdig, dachte er. Aber Matt zu küssen, war nicht übel. Nicht schlimmer als bei einem Mädchen. Vielleicht ... sogar besser?

Die meisten Frauen stürzten sich gleich auf Stan, sobald er sie küsste. Matt dagegen stand da wie versteinert und ließ es geschehen. Und genoss. Stan blinzelte und erkannte, dass die Augen des Neuen geschlossen waren. Als er sich kurz von ihm löste, sah er, dass Matts Gesicht einen träumerischen Ausdruck angenommen hatte.

Erst als die Spitze von Stans Zunge vorsichtig über Matts Lippen strich, kam Leben in den Neuen. Seine Hände tasteten sich über Stans Arme und hielten sich schließlich irgendwo auf Höhe seines Ellbogens fest. Seine Lippen pressten sich auf Stans. Warm. Nein, heiß, fast fiebrig. Stan fiel plötzlich wieder ein Stückchen. Komisches Gefühl.

Er erwiderte den Druck von Matts Mund, öffnete seine Lippen. Seine Zungenspitze fand das feuchte Innere. Tastend drang sie in Matt ein, bis dessen Zunge ihm entgegen kam. Sie taten nicht viel, stupsten sanft gegeneinander, umkreisten sich langsam, wie zwei scheue Tiere, die sich vorsichtig annäherten.

Aber irgendwas stimmte nicht. Ganz und gar nicht. Warum kribbelte Stans Körper überall dort, wo er Matts warmen Leib berührte? Warum gruben sich seine Finger in Matts weichen, verblichenen Pullover? Na ja, weil ihm so schwindelig war, dass er sich nicht zutraute, sicher zu stehen. Und warum machte es ihm überhaupt nichts aus, einen anderen Jungen zu küssen?

Selbst wenn er die Augen schloss, konnte er Matt riechen. Und der roch eindeutig männlich, nach Muskat und Kernseife. Außerdem war da eine Beule in Matts Hose, die sich in Stans Oberschenkel drückte. Immer fester, je länger sie sich küssten. Schließlich löste Matt seinen Mund von Stans. Ihre Stirnen berührten sich. Matts warmer Atem strich über Stans feuchte Lippen und Matts leises Stöhnen ließ Stan noch einen Millimeter tiefer stürzen. Hoffentlich hörte das bald auf. Ihm war schon ganz schwindelig.

»Jetzt überzeugt?«, fragte Stan. Seine Stimme war kaum mehr als ein raues Keuchen. Matt nickte.

»Ja, ich ...« Er sah an Stans Körper herunter. »Jetzt schon.«

Er lächelte schwach. Was? Stan folgte seinem Blick. Und spürte, wie seine Wangen heiß wurden. Matt war nicht der Einzige mit einer Beule im Schritt. Stans eigener Schwanz drängte gegen seine teure Jeans. Wann war das passiert? Er hatte gar nichts mitbekommen bei all dem Küssen, Fallen und Kribbeln. Aber, Stan schluckte, das machte es nur überzeugender, oder? Und er hatte zwischendurch kurz an diese Bettina (Britannica?) gedacht. Ganz bestimmt.

»Und, hat's dir gefallen?«, fragte Stan. Seine Stimme kippte nur ein ganz klein wenig.

»Ja, ich ...« Matts Ohren leuchteten. Er sah zu Boden, fast wütend. »Ja. Siehst du doch. Ach, scheiße.«

Er löste sich von Stan, um im Raum auf und ab zu laufen wie ein gefangener Leopard. Rastlos, machtvoll und nervös. Schließlich warf sich mit dem Gesicht voran auf sein Bett. Er vergrub seine roten Wangen im Kissen. Stans Sinn für Humor kehrte langsam zurück.

»Ist dir gerade klargeworden, dass sich mit Jungs herumknutschen nicht gut mit einer Priesterkarriere verträgt?«

Matt nickte in das Kissen. Stan setzte sich auf sein eigenes Bett. Seine Beine waren immer noch ein wenig wackelig.

»Weißt du, eigentlich steh ich nicht so auf Küssen. Aber das gerade, daran könnte ich mich gewöhnen«, sagte er, bevor ihm auffiel, dass es die Wahrheit war. Oh.

Aber es funktionierte. Matt wandte den Kopf ein Stückchen. Ein grüngraues Auge und ein Stück gerötete Wange erschienen.

»Ja«, gab er zu. »Ich auch.«

»Also, was machen wir?« Stan kapierte gerade nicht, was Lüge und was Wahrheit war. Beide schienen sich in die gleiche Richtung zu bewegen. »Ich meine, wenn wir ab und zu ein wenig rumknutschen, kannst du dann immer noch Priester werden?«

»Ich ... glaub schon?« In Matts Gesicht stritten sich Lust und Pflichtgefühl. Faszinierender Anblick. »Ich bin noch nicht in der Ausbildung, also sollte das klargehen. Zumindest ... sollte es nicht so schlimm sein.« Sein Blick wurde entschlossen. »Aber wir können uns nur küssen. Weiter dürfen wir nicht gehen.«

»Versprochen«, sagte Stan feierlich. »Mehr will ich auch gar nicht.«

Wenn er ehrlich war, verursachte ihm der Gedanke an alles, das über Küssen hinausging, ein mulmiges Gefühl. Die Beule in Matts Hose war mächtig gewesen. Er wollte sich gar nicht ausmalen ... unwillkürlich schüttelte er sich. Das musste Waldemar übernehmen. Sobald er Matt so weit hatte. So schüchtern, wie der ihn berührt hatte, würde das eine Weile dauern.

»Lassen wir es ruhig angehen«, sagte Stan. »Heute müssen wir nichts mehr tun.«

»Ja, klingt gut«, sagte Matt und klang halb erleichtert, halb enttäuscht.

Stan spürte wieder den Rausch der Macht. Er hatte Matt. Er hatte ihn. Pfeifend setzte er sich an seinen Schreibtisch und tat so, als würde er irgendetwas schreiben, während er in Wahrheit Steffens Sorgentelefon hörte.

Alles lief nach Plan.

 

1.14 Auf Stroh gebettet

 

Das Training am Sonntag war eine Katastrophe. Es war zwei Tage her, dass Stan ihn geküsst hatte und Matt stolperte über den Platz wie ein Zombie. Er schoss den Ball einen Meter am Tor vorbei, als er daran dachte, was Erwin davon halten würde, dass er mit Jungs rumknutschte. Dann erinnerte er sich daran, wie Stans Mund schmeckte, und lief plötzlich allen anderen davon. Der Trainer wusste nicht, was er mit ihm anfangen sollte.

»Kannst du dich mal entscheiden?«, brüllte er über den Platz. »Sei gut oder sei schlecht aber hör mit dem Kuddelmuddel auf!«

»Sorry«, brüllte Matt zurück. Aber es wurde nicht besser. Und als er nach dem Training auf sein Handy sah, war da eine Nachricht.

Ich warte im Stall auf dich. Sei um halb sieben da.

Stan

Matts Herz machte einen Hüpfer. Oder war es sein Unterleib? Er fuhr sich durch die verschwitzten Haare. Es war eine Falle. Eindeutig. Dieses verzogene Blag hatte etwas vor. Der versuchte schon die ganze Zeit, ihn loszuwerden.

Er würde nicht hingehen. So blöd war Matt nicht. Er hatte eh beschlossen, sich von Stan fernzuhalten. Vor den Augen Gottes gab es keine Schummeleien. Selbst wenn er das Theologiestudium noch nicht angefangen hatte, wusste er doch, was richtig und was falsch war.

Er hatte nach diesen Regeln zu leben. Und keusch zu bleiben war nun mal eine davon. Egal, wie lecker Stans Lippen geschmeckt hatten. Egal, wie warm sein Körper gewesen war und egal, wie lange es her war, dass Matt einen anderen Jungen geküsst hatte. Es versetzte seinem Herzen einen Stich, als er an Tim dachte. Ob Stan diesen Schmerz auslöschen konnte? Nicht, dass er ihn als seinen ... Freund oder so wollte. Never. Dieser Schnösel war gar nicht sein Typ. Glatt und kantenlos, ohne verborgene Sehnsüchte oder Qualitäten. Reine Oberfläche. Er erinnerte an einen überzüchteten Rasseköter.

Da war nichts Spannendes an Stan. Na ja, bis auf sein Äußeres. Muskulös war er schon. Und ziemlich braungebrannt, weil er wohl den ganzen Sommer auf einer Yacht verbracht hatte oder so … Wenn er grinste, war er sexy. Und küssen konnte er, auch wenn er behauptete, es nicht zu mögen. Er war erstaunlich zärtlich gewesen. Beinahe liebevoll. Und wie er sich an Matt geschmiegt hatte ...

»Matt! Kommst du?«, rief Bert aus dem Fußballteam.

»Ich … ich geh später duschen«, sagte Matt und verachtete sich selbst.

Mit geballten Fäusten trottete er über das Fußballfeld und überquerte die Wiese. Die Stallungen tauchten vor ihm auf. Sie waren ein Teil des Schlosses, schon von Anfang an. 200 Jahre alt, hatte Herr Niklasson gesagt. Holzzäune gingen von dem weißen Gebäude ab und verzweigten sich wie ein Spinnennetz.

Matt sah die grasenden Pferde dahinter nur aus den Augenwinkeln. Er war zu sehr mit seinem Selbsthass beschäftigt. Warum nur musste er auf diesen geleckten Schönling reinfallen? Er sah auf sein Handy. Zehn Minuten zu spät. Vielleicht war Stan schon weg. Geduldig wirkte der nicht. Aber insgeheim wünschte sich Matt, dass er wartete.

Er hatte Glück. Als er lautlos die Stalltür aufdrückte, war das Erste, das er sah, Stan. Er trug diese komischen Reitklamotten, ein dunkelblaues Poloshirt und eine beigefarbene Hose. Brachte immerhin seinen Arsch zur Geltung. Sie waren allein. Leuchtende Staubkörnchen wirbelten durch das Licht, das durch die kleinen Fenster hereinschien und Stans goldene Haare zum Glänzen brachte.

Stan bemerkt ihn nicht. Er stand vor einer der vielen Holzboxen und kraulte ein Pferd. Strich ihm über den riesigen, braunen Kopf und rubbelte ihm liebevoll den Hals. Und lächelte. Erstaunlich. Aber sobald er sich umdrehte und Matt erkannte, verschwand Stans entspannter Gesichtsausdruck.

»Du bist zu spät«, motzte er. Und schaute dabei so hochnäsig, dass Matt ihn am liebsten in den nächsten Misthaufen befördert hätte.

»Sag halt früher Bescheid«, motzte Matt zurück. »Ich war beim Training.«

»Das seh ich.« Stan sah angewidert auf Matts verschwitztes Trikot. »Hättest du nicht duschen können?«

»Dann wäre ich noch später gekommen.« Matt schloss die schwere Stalltür hinter sich. »Und, was willst du?«

»Was wohl?« Stan rollte die Augen.

Matt ballte die Fäuste, um ihn nicht zu erwürgen. So ein arrogantes Arschloch! Andererseits ...

»Komm mit!«

Stan winkte ihm und Matt folgte seinem Knackarsch den Gang entlang. Gar nicht so schlecht hier. Die Luft roch nach Heu und Leder und die alten, dunklen Holzboxen wirkten richtig gemütlich. Vor der letzten in der langen Reihe hielt Stan an.

»Die hier ist immer leer und bis acht kommt niemand vorbei. Genug Zeit.« Sein hübsches Gesicht wirkte gelangweilt. Er hob eine seiner pfeilförmigen Augenbrauen. »Was ist, kommst du?«

»Was hast du vor?«, fragte Matt misstrauisch. Er sah sich im staubigen Gebälk um. Keine Kameras, soweit er sehen konnte. Und Stan wollte bestimmt nicht mit einem Kerl erwischt werden, also was war sein Plan?

»Na, du weißt schon. Küssen. Hatten wir doch besprochen.«

Stan betrat die leere Box. Goldgelbes Stroh bedeckte den Boden. Es knisterte, als er mit seinen braunen Reiterstiefeln darüber stolzierte. Matt verharrte im Eingang, als wäre es die Pforte zur Hölle. Stan war leider ein verdammt attraktiver Teufel, mit seinen blonden Haaren und seinem herausfordernden Blick. Matt biss sich auf die Lippen. Er kämpfte gegen die Versuchung an, versuchte sie niederzuringen, versuchte verzweifelt, sie zu besiegen.

Und verlor.

Wütend auf sich selbst stapfte er in die Box und verriegelte die Tür hinter sich. Bevor Stan noch sein dummes Maul öffnen konnte, packte Matt seinen Hinterkopf und küsste ihn sanft. Stans Lippen schmeckten nach Sommersonne. Ein Ruck ging durch Stans Körper. Er schlang die Arme um Matt und stolperte rückwärts, bis sein Rücken gegen die Wand stieß. Matt drückte sich gegen seinen warmen Leib und wusste, dass er dafür bezahlen würde. Aber es fühlte sich so gut an. Himmlisch. Und er konnte nicht aufhören.

 

»Wir müssen aufhören«, stöhnte Matt nach einer paradiesischen Viertelstunde.

Stan sah ihn mit verschleiertem Blick an. Inzwischen war er es, der Matt gegen die Holzwand presste. Sie hatten sich bereits durch die ganze Kabine bewegt, schubsend, küssend und klammernd. Und es war nicht der erste Versuch, aufzuhören.

»Wirklich«, flehte Matt. Er war so erregt, dass er nicht mehr denken konnte. Seine Willenskraft hing an einem hauchdünnen Faden, und wenn sie jetzt nicht stoppten, dann würde er weitermachen, sich an Stans Lippen satt küssen, versuchen, mit dessen Körper zu verschmelzen, bis er sich in seine Trikothose ergoss. Wenn das keine Sünde war, was dann?

Leider machte Stan es ihm schwer. Wieder presste er seine Lippen auf Matts. Seine blonden Haare klebten mittlerweile völlig verstrubbelt auf seiner Stirn. Und es sah gut aus. Verschwitzt in diesem Dämmerlicht, mit Augen, die nichts mehr zu sehen schienen, war er plötzlich unendlich begehrenswert … Nein! Matt grub seine Finger in Stans Schultern und schob ihn von sich.

»Wir müssen aufhören. Jetzt.« Matt erkannte seine eigene Stimme nicht wieder. Dieses kehlige Raunen. Es schien Auswirkungen auf Stan zu haben. Der keuchte unwillig und streckte die Hände nach Matt aus. Erst Sekunden später kam er zur Besinnung. Sein Blick wurde klarer und sein Gesicht knallrot. Er blinzelte. Helle Augen, dachte Matt. Wie Bernstein.

»Ja. Ja, du hast Recht.« Stan taumelte ein paar Schritte zurück. Er fuhr sich durch die schweißfeuchten Haare. Matt musste sich an der Wand festhalten, um nicht wieder nach ihm zu greifen.

»Scheiße«, Matt sah auf seine Trikothose. Sein Schwanz bäumte sich unter dem dünnen Stoff auf, als wolle er ihn durchstoßen. »Scheiße. Ich platz gleich.«

»Was denkst du, wie's mir geht?«

Jetzt, wo sie sich voneinander gelöst hatten, kroch die Intelligenz zurück in Stans Augen. Seine Hand fuhr über die gigantische Beule im Schritt seiner Reithose. Er erschauerte sichtlich, als er sich berührte.

»Ach, was soll's«, murmelte er. »Willst du zugucken?«

Matt bejahte nicht, obwohl er es wollte. Aber irgendwie musste Stan ihm wohl ansehen, was er dachte. Er schenkte Matt ein fiebriges Grinsen und öffnete seinen schwarzen Ledergürtel. Mit zitternden Fingern holte er sein Teil raus. Den Rücken gegen einen dicken Holzpfeiler gelehnt, die Augen träumerisch geschlossen, begann er, es zu bearbeiten.

Alles bewegte sich im gleichen Rhythmus. Die Brustmuskeln unter dem hochgerutschten Poloshirt, der flache Bauch mit der köstlichen Rille in der Mitte und Stans kräftige Arme. Schon sah Matt die ersten Tropfen auf der Spitze, glitzernd im trüben Licht. Seine Knie drohten, einzuknicken. Dann biss Stan sich auf die Lippen, gab ein kehliges Stöhnen von sich und warf den Kopf in den Nacken. Weißer Saft strömte aus seinem Schwanz, schoss im hohen Bogen durch die Luft und landete im Stroh.

Direkt vor Matts Füßen. Matt sah Stan zittern, sah, wie sein Mund sich wohlig öffnete, und wäre selbst fast gekommen. Langsam rutschte Matt an der Wand herunter. Einatmen, sagte er sich. Ausatmen. So wie es dieser Vollidiot da immer machte. Er hatte Angst, zu ersticken.

»Alles okay?« Stan kniete sich hin und wischte seine Hände im Stroh ab.

Matt nickte, aber er brachte kein Wort über die Lippen. Stan sah ihn fragend an. Warum zog er sich nicht die Hose hoch, zur Hölle? Einatmen, ausatmen … hey, das klappte ja!

»War nur … ein bisschen viel auf einmal.« Matt zog die Beine an und legte seinen Kopf auf die Knie. »Ich muss mich erst daran gewöhnen.«

»Klar, du bist ja auch eine religiöse Jungfrau.« Er wusste, dass Stan grinste. Dieser Mistkerl. Das hier durfte nie wieder passieren, soviel war klar. Das war eine bescheuerte Idee gewesen!

»Und du bist ein oberflächlicher Schnösel.« Matt legte die volle Verachtung, die er für Stan empfand, in seine Stimme. »Ich kann mich wenigstens zusammenreißen.«

»Super. Man sieht ja, wie gut dir das bekommt.«

Matt hörte Stans Gürtelschnalle klimpern. Er spürte Stans Blick auf sich. Aber der sagte nichts. Aus einer der Boxen nebenan kam ein leises Schnauben. Weiter hinten ein Scharren.

»Die Pferde werden unruhig, sagte Stan. Gleich gibt's Futter. Wir müssen ...« Seine Stimme erstarb.

Matt hob den Kopf. Was hatte der Schnösel? Er folgte Stans entsetztem Blick zu seinem eigenen Arm, und … verdammt! Wann war sein Ärmel hochgerutscht? Die rotweißen Narben auf seinem rechten Arm waren selbst im Halbdunkel klar zu erkennen. Hastig riss Matt seinen Ärmel herunter.

»Gibt's da was zu glotzen?«, fuhr er Stan an. Der zuckte zusammen.

»Weißt du ...« Er sah Matt forschend an. »Ich versteh dich nicht. Einerseits bist du der Bauer, der sich dauernd prügeln will, in Blumenkübel pisst und dem vollkommen egal ist, was alle von ihm denken. Und andererseits ... sobald es um deinen Arm geht, benimmst du dich wie ein Mädchen. Und warum du Priester werden willst, kapiere ich immer noch nicht. So, wie du eben rangegangen bist, kannst du mir nicht erzählen, dass du dein Leben lang keusch bleiben willst.«

Matt kniff die Lippen zusammen. Er hätte ihm erzählen können, dass sein Großonkel damals aus dem Kloster ausgetreten war, um für ihn und Hanna zu sorgen. Dass Matt immer das Gefühl gehabt hatte, Erwin etwas schuldig zu sein. Der hätte einen ruhigen Lebensabend haben können. Sich um seine geliebten Gemüsegärten kümmern können, von denen er ständig sprach. Aber die waren im Kloster zurückgeblieben. Und Erwin hatte sich in einer winzigen Mietwohnung mit zwei wilden Gören herumschlagen müssen.

Nicht mal einen Balkon hatten sie gehabt. Nur drei schmale Fensterbretter, auf denen sich kaum ein paar Tomaten züchten ließen. Aber natürlich erklärte Matt das nicht. Er war ja nicht völlig verblödet. Nur so hormongesteuert, dass er kaum klar denken konnte.

»Als ob du besser wärst«, sagte er deshalb, so unfreundlich wie möglich. »Du hast dich ja an mir gerieben wie ein notgeiler Köter.«

Erstaunlicherweise wurde Stan rot. Sonst konnte Matt kaum etwas an seinem Pokerface ablesen. Er war auch nicht sicher, ob er die ab und zu aufblitzenden Splitter von echter Persönlichkeit sehen wollte. Es war leichter, Stan wie einen oberflächlichen, gefühllosen Schnösel zu behandeln, wenn man Augenblicke wie diesen ignorierte. Oder den, in dem er lächelnd sein Pferd gestreichelt hatte.

»Wenigstens klappe ich nicht gleich zusammen, sobald ich ein paar Schmatzer auf den Mund kriege.«

»Auf den Mund?« Matt sah ihn ungläubig an. »Ich dachte, du willst mich aussaugen, so wie du dich in meinem Hals verbissen hast.«

»Wovon redest du?« Stan sah echt aus, als wüsste er nicht, wovon Matt sprach. Matt deutete auf seine Halsgrube. So wie die schmerzte, war sie bestimmt grün und blau vor Knutschflecken.

»Das war ich nicht!« Stans Gesicht wurde dunkelrot.

»Wer denn sonst?«, knurrte Matt und stand auf. »Eins von den Mädels, die mich dauernd verfolgen?«

»Aber ... das ... Ach, tu doch nicht so, als hätte es dir nicht gefallen.«

»Ich sag ja nur.«

»Wäre besser, wenn du die Klappe halten würdest.«

Wow, er hatte Stan vollkommen aus dem Konzept gebracht. Wie war das geschehen? Aber sofort atmete der Schnösel tief durch und sein Pokerface setzte sich wieder zusammen. Matt hatte mal so einen Film gesehen, in dem sich Aliens als Menschen verkleidet hatten. Wenn man denen mit einer Pumpgun in die Fresse schoss, reparierte sich ihr Gesicht innerhalb von Sekunden wieder. Wie ein sich selbst puzzelndes Puzzle. So ähnlich war das bei Stan. Der straffte die Schultern.

»Und jetzt komm. Ich will nicht mit dir erwischt werden.«

»Ne, klar. Wenn jemand sieht, wie du mit einem armen Schlucker wie mir rumknutschst, verstoßen deine Schnöselfreunde dich bestimmt aus ihrem Schnöselclub.«

»Wenn jemand sieht, wie ich mit dir rede, verstoßen sie mich aus ihrem Schnöselclub.«

Matt schnaubte.

 

1.15 Am Telefon

 

Das war ein vollkommen bescheuerter Plan, dachte Stan und tat so, als würde er dem Französischunterricht folgen.

Okay, die Strategie klang logisch und durchführbar. Aber irgendwie verselbständigte sich sein Körper, sobald er Matt küsste. Er hatte ihn wirklich nur küssen wollen. Nur ein bisschen, um ihn auf Waldemars Aggressivität vorzubereiten. Stattdessen waren sie übereinander hergefallen und Matt – die ungefickte, bestimmt total notgeile Jungfrau – hatte ihn zurückhalten müssen. Ihn, den Casanova von Hoheneck. Stan zwang sich, nicht rot zu werden. Das musste aufhören. Er musste einen anderen Weg finden.

Na, ja, das musste er ohnehin. Matt ging ihm aus dem Weg, was eine Frechheit war. Er kam nur noch zum Schlafen in ihr gemeinsames Zimmer. Wo er sich wohl rumtrieb? Bei den Fußballern? Irgendwo im angrenzenden Wald? Noch war es warm genug, dass Matt draußen hätte übernachten können, wenn es nicht verboten gewesen wäre. Aber was, wenn er bei einem von den Fußballern war? Vielleicht stand Matt mehr auf so dreckige, verlauste Wasserbüffel als auf Stan? War er Matt zu »schnöselig«?

Stan atmete bewusst ein und aus. Wieder fühlte er sich, als würde ihm alles entgleiten. Er hatte es gesehen. Für einen Moment, im Dämmerlicht der Box, hatte er gesehen, was diese blöden Mädels an Matt fanden. Für einen Moment hatte sein aus schiefen Teilen zusammengesetztes Gesicht ein unendlich attraktives Gesamtbild ergeben. Ein freches Katzengesicht, mit schrägen Augen, die im Halbdunkel zu leuchten schienen. Ein Straßenkater, klar, aber ein wunderschöner. Der Moment war zum Glück schnell vorbei gewesen.

Jemand tippte ihm auf die Schulter. Misstrauisch blickte Stan zur Lehrerin, aber die schwärmte immer noch von der Schönheit der Region Languedoc-Roussillon.

»Seh ich dich heute?«, wisperte Nora-Mireille in sein Ohr. Stimmte ja, die zierliche Blondine saß hinter ihm.

»Hast du heute nicht Chorprobe?«, flüsterte er zurück. Er hatte jetzt keine Zeit für Frauen. Nicht, bevor Matt aus dem Weg geräumt war.

»Ja, schon, aber nur bis vier. Ist grad eh ein bisschen chaotisch, wegen deinem Mitbewohner.«

Er sah sich zu ihr um. Ihr Schmollmund schmollte heute ganz besonders stark.

»Matt? Ist der etwa im Chor?«

»Weißt du das nicht?« Ihr Flüstern nahm einen beleidigten Klang an. »So ein komischer Vogel. Der kennt fast nur Kirchenlieder, aber Berger denkt, er hätte voll das Talent. Der kümmert sich nur noch darum, dem Neuen Let It Go beizubringen. Und wir anderen haben nichts zu tun. Dabei hat Matt einen total grausigen Dialekt. Der klingt wie der Obersturmbannführer aus irgendeinem Amifilm, wenn er englisch singt.«

Kein Wunder, dass sie schlecht gelaunt war. Ihr Backup-Plan, falls sie keinen reichen Mann fand, war, eine berühmte Sängerin zu werden. Und auf Tournee einen reichen Mann kennenzulernen.

»Matt kann singen?«, fragte Stan ungläubig. Klar, der Neue hatte eine angenehme, starke Stimme. Aber der Chor? Als Junge ging man doch nicht in den Chor! Außer, wenn man Spaß daran hatte, ständig verarscht zu werden. Aber Matt war das wohl egal.

Stan wollte Nora-Mireille gerade ausfragen, als die Tür aufging und Frau Unseld, die Sekretärin des Direktors, eintrat. Vor fünfzig Jahren war sie bestimmt ein Babe gewesen. Nun war sie alt und verbraucht. Allerdings bewegte sie sich trotz ihres Hüftschadens noch wie ein Star.

»Entschuldigen Sie die Störung«, sagte sie. In einem Ton, als würde sie verdammt wütend, falls man es ihr nicht augenblicklich verzieh. Aber ihr Blick wurde weicher, als er auf Stan fiel. Plötzlich war ihm eiskalt. Warum sah sie ihn so an? Was war ...

»Konstantin, kommst du kurz mit?«

Kaum hatten sie das Klassenzimmer verlassen, fragte er: »Was ist passiert? Ist etwas mit meinem Vater?«

Ihre überschminkten Augen sahen ihn überrascht an. »Nein, nein, es ist nichts allzu Ernstes. Glaube ich.«

»Was ist denn los?«

»Ich bin nicht sicher. Die Exfrau deines Vaters hat angerufen und wollte dich sprechen.«

»Seine Exfrau? Welche?«

Hoffentlich nicht Stefanie, dachte Stan. Hoffentlich nicht Stefanie.

 

Es war Stefanie. Er erkannte ihre Stimme, sobald sie »Hallo, Stan« sagte. Und er wurde zurückkatapultiert in eine vergangene, einfachere Zeit. In der er neben ihr im Auto gesessen hatte, die Zwillinge auf der Rückbank, und sie alle lauthals gesungen hatten. Nicht, dass die Zwillinge schon richtige Wörter gekannt hatten.

Sie waren in Stefanies weißem SUV shoppen gefahren oder zum Essen oder zum Schwimmen. Stefanie musste immer etwas unternehmen. Wie alt war er gewesen? Zehn? Elf? Stefanie hatte genauso schlecht gesungen wie Stan. Oft hatten sie sich angegrinst, wenn ihnen ein besonders schräger Ton gelungen war. Wegen Stefanies Haarfarbe hatten viele Verkäufer gedacht, sie wäre seine richtige Mutter. Manchmal hatte er sie korrigiert. Meistens nicht.

»Stefanie.« Seine Stimme klang flach. »Wie geht es dir?« Er war froh, dass der Direktor ihn in seinem Büro alleine gelassen hatte. Niemand sah, dass seine verschwitzten Hände sich nervös öffneten und schlossen.

»Oh, weißt du, ich würde gern sagen, gut, aber ... na ja. Lange Geschichte. Oder kurze Geschichte, je nachdem.« Sie klang fast wie früher. Ihre helle Stimme, ihre Art, zu sprechen als hätte sie alle Ideen der Welt auf einmal. Nur der verzweifelte Unterton war neu. »Ist bei dir alles in Ordnung? Gefällt es dir auf Schloss Hoheneck? Reitest du noch?«

»Ja, ich habe inzwischen ein eigenes Pferd«, sagte er. »Ein Nachfahre von Alabaster und That's not so bad

»Oh, das ist toll!« Sie wirkte ehrlich begeistert. »Alabaster hatten wir damals kurz zu Besuch, das muss so 14, 15 Jahre her sein. So ein schönes Tier. Warte mal, dann kann dein Pferd nur Gorgeous Orc oder Dynamite Dancer sein. Ich habe gehört, die wären in Deutschland im Privatbesitz.«

»Es ist Dynamite Dancer

Stan merkte, dass er sich in den weichen Ledersessel gelehnt hatte und begann, sich zu entspannen. Am liebsten hätte er ewig weiter geredet. Aber das durfte er nicht.

»Stefanie, was ist los? Du würdest nicht anrufen, wenn nicht irgendetwas wäre, oder?« Er schloss die Augen. Er wusste schon, was jetzt kam.

»Es gibt ein Problem mit deinem Vater.« Bingo. »Und ich kann ihn nicht erreichen. Ich weiß, dass wir uns aus den Augen verloren haben, du und ich, meine ich, aber ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll.« Sie lachte bitter. »Du glaubst nicht, wie flott sich dein Freundeskreis reduziert, wenn du plötzlich verarmst. Und ich war so beschäftigt mit ... allem, dass ich kaum noch Zeit hatte, mich bei dir zu melden.«

Das war nett ausgedrückt. Stefanie war immer nett. In Wahrheit hatte Stan den Kontakt abgebrochen. Stefanie hatte noch Monate nach der Scheidung bei ihm angerufen, nur, um sicherzugehen, dass es ihm gut ging. Zuerst hatte er sich gefreut, hatte stundenlang mit ihr gequatscht. Heimlich hatte er gehofft, dass sie wieder eine Familie werden würden. Aber Stans Vater war weitergezogen und hatte keinen Gedanken mehr an Stefanie verschwendet. Und er hatte von seinem Sohn erwartet, dasselbe zu tun.

»Aber ... nun, dein Vater hat bisher die Alimente gezahlt. Meistens zumindest. Und die brauche ich. Du kannst dir nicht vorstellen, wie wir jetzt leben. Wir haben eine kleine Dreizimmerwohnung in der Innenstadt. Ich meine, die ist echt niedlich, aber das Geld reicht hinten und vorne nicht. Selbst das Auto musste ich verkaufen. Und die Wohnung war die letzte Immobilie, die ich noch hatte.«

Klar, sein Vater hatte sie ja gründlich ausgenommen. Mit einem Mal war Stan so schlecht, dass er fast auf den dicken Büroteppich gespuckt hätte. Warum musste sie anrufen? Warum musste sie die alten Geister wecken? Stan ahnte bereits ihre nächsten Worte.

»Seit Juni kam nichts mehr auf meinem Konto an. Stan, ich brauche das Geld. Henrietta bekommt eine Zahnspange und ich weiß nicht, wie ich den Eigenanteil bezahlen soll ...« Sie schluckte. »Und ich kann Ambros nicht erreichen. Weißt du, ob er eine neue Handynummer hat?«

Ja, hat er. Aber das ist nicht der Grund, dachte Stan. Sein Vater hasste es, sich um Geldangelegenheiten zu kümmern. Das Internat wurde per Dauerauftrag bezahlt, den Stan selbst hatte einrichten müssen.

»Ich ...« Stan wusste nicht, was er sagen sollte. Übelkeit kletterte seine Kehle hinauf. »Ich gucke mal, was ich tun kann. Aber versprechen kann ich nichts.«

Und tun konnte er auch nichts. Ambros hörte auf niemanden, höchstens auf seine Frauen. Ab und zu. Aber nie für lange Zeit. Stefanie sollte das eigentlich wissen. Aber sie seufzte erleichtert.

»Danke, das vergesse ich dir nie!« Sie klang so glücklich, dass Stan das Gefühl hatte, sein schlechtes Gewissen würde ihm in den Magen boxen. »Ich weiß doch, wie ungern du ihn um etwas bittest. Ich ... vielleicht geht es ja jetzt aufwärts. Oh, und du musst uns mal besuchen. Henrietta und Wilhelmine sind schon so groß geworden. Letztens haben sie ein Foto von dir und Ambros gesehen, in irgendeiner Zeitschrift beim Frisör. Seitdem fragen sie dauernd nach ihrem großen Bruder.«

»Ach, das.« Stan wusste nicht, was er sagen sollte.

»Und sie gucken sich ganz oft das Bild an, auf dem wir alle zusammen drauf sind.«

Alle zusammen, das waren Stan, Stefanie und die Babys. Ambros hatte zu dem Zeitpunkt schon mit Abwesenheit geglänzt.

»Was, das hast du noch?« Er spürte einen Kloß im Hals. »Immer noch in dem abartigen Plastikrahmen?«

»Hey, den hat Wilhelmine ausgesucht!«

»Als sie kaum sprechen konnte. Sie hat einfach darauf gezeigt und gebrabbelt.« Stan lächelte unwillkürlich. »Hast du wenigstens den springenden Glitzerdelfin abgemacht?«

»Was, aber der ist doch das Beste daran!« Stefanie lachte. Und Stan wurde klar, dass er auflegen musste. Sofort.

»Stefanie, ich ... ich muss zurück in den Unterricht. Mach's gut.«

»Oh, ja, du auch. Meld dich mal wieder. Meine Nummer ist noch dieselbe.«

»Ja, mach ich«, log er. Verdammt.

Er blieb einfach in dem grauen Sessel sitzen. Seine Augen scannten die hoch aufragende Armee aus Kirschholzregalen, die mit Bataillonen ledergebundener Bücher beladen war. Das Schlachtschiff von einem Schreibtisch mit dem riesigen Bildschirm darauf. Sein kaltes Leuchten erhellte den Grundriss von Schloss Hoheneck, der in einem massiven Rahmen an der Wand dahinter hing. Aber nirgendwo fand er eine Lösung. Schließlich stand er auf und trottete aus der Tür.

Von all seinen Stiefmüttern war Stefanie die beste gewesen. Nicht weiter schwer, die anderen hatten ihn bestenfalls toleriert. Niemand wollte, dass das Blag aus der letzten Beziehung noch beim Vater rumhing, wenn man vorhatte, eine neue Familie zu gründen. Als Stan älter wurde, hatte sich das Verhalten der Frauen verändert, aber nicht verbessert.

Valeria war nett zu ihm, wenn sein Vater dabei war, und flirtete mit ihm, sobald der das Zimmer verließ. In St. Tropez hatte sie ständig Stans Oberschenkel gestreichelt und ihm erzählt, wie faszinierend seine Augen waren. Gruselig.

Aber Stefanie? Die hatte ihn sofort ins Herz geschlossen. Sie hatte direkt gefragt, ob er bei Ambros und ihr wohnen wollte. Und er hatte ja gesagt, eigentlich nur, um seinen Vater öfter zu sehen. Der Wunsch hatte sich erfüllt. Wenigstens am Anfang.

Wenn er an die Abende an dem ausladenden Esstisch zurückdachte, an Stefanie mit ihrem dicken Bauch, die dem lächelnden Ambros zuzwinkerte, hatte er immer noch dieses warme Gefühl in der Brust. Sie waren zu dritt picknicken gefahren und später zu fünft. Stan hatte Stefanie mit den Zwillingen geholfen, so gut er konnte. Hört auf euren großen Bruder, hatte sie gescherzt, obwohl seine Halbschwestern noch zu klein gewesen waren, um auf irgendwen zu hören.

Sie waren eine Familie gewesen. Kurzzeitig. Dann waren die gemeinsamen Abende verschwunden, zusammen mit Stefanies Villa, ihren drei Autos, dem Gestüt ihrer Eltern und dem Großteil ihres Vermögens. Denn das war das Problem mit Leuten wie Stefanie: Sie waren zu weich. So verliebt, dass sie keinen Ehevertrag unterzeichneten und dann auf einem Haufen Scherben zurückblieben. Stan hatte damals beschlossen, zur anderen Seite zu gehören. Zu den Wölfen statt zu den Schafen. Denn es gab nur die beiden, und er würde lieber sterben, als sich in ein Schaf zu verwandeln.

Stan knabberte an seinem Fingernagel, während er an Frau Unselds Schreibtisch vorbei in den Flur ging.

Stefanie hatte vollkommen verzweifelt geklungen. Als würde sie auf einem meilenweit zugefrorenen See stehen, auf hauchdünnem Eis mit tiefschwarzem Wasser darunter. Und ein leises Knacken unter ihren Füßen hören. Stan schüttelte sich. Ach, probieren konnte er es. Nach dem Mittagessen, wenn er ein bisschen Zeit alleine hatte.

Die Mittagsglocke erklang. Stan ging gleich in den Speisesaal und wartete auf Gerrit. Der Raum war fast leer und die Holztische sonnenlichtgesprenkelt. Stan lehnte sich betont entspannt in seinem Stuhl zurück, auch wenn er seinen Schädel am liebsten auf die spiegelglatte Tischplatte geknallt hätte. Und liegengeblieben wäre.

»Was geht dir denn im Kopf herum?«, fragte Vanessa, direkt hinter ihm. Stan legte seinen Kopf in den Nacken und betrachtete ihr entzückendes Kinn und ihre Nasenlöcher. Trotz allem musste er über den Anblick grinsen. Aus der Perspektive sah wohl niemand gut aus.

»Was soll sein?«, fragte er. »Seh ich aus, als würde ich denken?«

Leonoras rotblonde Strähnen erschienen neben Vanessas dunklen.

»Du bist so unfreundlich geworden«, schimpfte sie. Eine ihrer schmal gezupften Augenbrauen hob sich. »Früher hättest du gesagt: Holde Maid, was ist dein Begehr oder so.«

Vanessa nickte. Sie wirkte verärgert.

»Färbt dein Mitbewohner schon auf dich ab?«, fragte sie.

Stan war nicht mal beleidigt. Er zuckte mit den Schultern.

»Warum nicht? Der scheint doch Erfolg bei euch Mädels zu haben.«

Vanessa stöckelte um den Tisch herum und setzte sich vor ihn. Ihr Elfengesicht zeigte eine gewisse Verstimmung.

»Der arrogante Sack.« Ihre perlmuttglänzenden Fingernägel trommelten auf die Tischplatte ein. »Ich dachte nicht, dass mich mal irgendwer so nerven könnte wie du, aber dieser Matt schafft es.«

»Sie ist nur sauer, dass sie die Wette nicht gewonnen hat.« Leonora nahm neben ihr Platz.

»Hat jemand gewonnen?«, fragte Stan, plötzlich hellwach. Die Mädchen tauschten einen mürrischen Blick.

»Nein«, gab Vanessa schließlich zu. »Der Typ muss schwul sein oder so.«

Voll ins Schwarze, dachte Stan.

»Er hatte letztens einen Knutschfleck. Sooo ein Teil.« Leonora beschrieb ihn mit den Händen und Stan schluckte. »Aber keins der Mädchen sagt, dass sie es war. Meint ihr, er ist echt schwul?«

»Na ja, was erwartest du?« Stan lächelte ihr spöttisch zu. »Der Kerl will schließlich Priester werden. Wusstet ihr, dass sein richtiger Name Matthäus ist?«

»Ja, hab ich gehört.« Vanessa stützte das Gesicht in die Hände. »Trotzdem. So eine Pleite.« Ihre Augen musterten Stan, als hätte sie etwas Neues entdeckt. »Was ist mit deinen Haaren?«

Unwillkürlich strich Stan sich durch die blonden Strähnen.

»Was soll damit sein?«

»Wie lange warst du nicht mehr beim Frisör?«

»Oh. Stimmt, sonst bin ich immer mit Gerrit gefahren. Aber in letzter Zeit … war soviel los.« Die Erinnerung, wie Matt ihm im Stall in die Haare gegriffen hatte, blitzte auf. Und wie er ihn zu sich hergezogen hatte … Ginge das noch, wenn er sie kürzer schneiden ließe? »Ich glaube, ich lasse die erst mal so.«

»Sieht gut aus«, sagte Vanessa. »Wilder.«

Ein gefährliches Lächeln ließ ihre weißen Zähne blitzen. Stan wartete darauf, dass sein Herz einen kleinen Hüpfer machte, so wie sonst. Aber nichts geschah.

»Danke«, sagte er und musterte den Teller vegetarischen Pilzgulaschs, den die Bedienung ihm hinstellte. Vanessa wirkte leicht irritiert.

»Du siehst zum Anbeißen aus.« Sie zwinkerte.

»Ich weiß.« Er lächelte schwach und probierte das Gulasch.

Vanessa kniff die Augen zusammen. Leonora wirkte beunruhigt. Aber bevor sie etwas sagen konnte, warf Gerrit sich auf den Stuhl neben ihr und grinste breit.

»Ratet mal, wen ich nachher in die Stadt fahre? Und wer sich sicherlich oral erkenntlich zeigen wird?«

»Waldemar?«, vermutete Stan.

Die Mädchen lachten. Gerrit lachte noch lauter, um zu zeigen, dass er ganz sicher nicht beleidigt war.

»Nein, du Spacken! Nora-Mireille. Mann, ich versuche, seit Ostern, die zu überreden und bisher hat sie immer die Eisprinzessin gespielt. Aber Beharrlichkeit zahlt sich halt aus.«

»Herzlichen Glückwunsch.«

Stan dachte an die drei Nachrichten, die Nora-Mireille ihm geschickt hatte. Hätte er antworten sollen? Was war los mit ihm? Seit wann verlor er Mädchen an Gerrit? Und warum machte es ihm nichts aus?

»Auf die hattest du auch mal ein Auge geworfen, oder?« Gerrits Grinsen reichte bis zum vorletzten Backenzahn. Er glättete seine zurückgekämmten Haare mit den Händen. »Tja, sieht aus, als hätte ich gewonnen, Porsche sei Dank. Hast du wenigstens schon den Führerschein?«

»Bald.« Stan rührte in seinem Gulasch. Verdammt, es war an der Zeit, dass er achtzehn wurde. Nur noch knapp zwei Wochen.

»Beeil dich mal lieber, sonst hab ich die Weiber alle durch und für dich bleiben nur noch die Reste übrig.« Gerrit stieß Stan in die Seite.

»Was für ein Auto bekommst du, Stan?«, fragte Leonora neugierig. »Ich hab gehört, dein Vater hat einen Lamborghini Estoque.«

Stan zuckte geheimnisvoll mit den Achseln. Dabei hatte er keine Ahnung. Er würde doch ein Auto bekommen, oder? Und zwar eins, das über 100.000 Euro kostete. Alles andere wäre peinlich.

 

1.16 Vor dem Fenster

 

Später, als Stan mit Gerrit über den Hof ging, schien der nachzudenken. Die Falte über seinen Augenbrauen war ein deutliches Indiz.

»Wie läuft's mit deinem Plan? Kann ich bald einziehen?«

»Ich arbeite daran.« Stan seufzte. »Das dauert leider länger als ich dachte.«

»Hm.« Gerrit verzog den Mund. »Na, ich dachte, wenn du so lange brauchst, fang ich schon mal mit Feiern an. Morgen Abend gibt's feinsten Whiskey aus Schottland. Glenladdich, aus der Destillerie von Dads altem Freund, dem Earl of Loudchester. Die Mädels sind dabei und Noelle und Elisabeth auch. Kommst du?«

»Klar. Was ist mit deinem Mitbewohner?«

»Den hab ich für den Abend rausgeschmissen.« Gerrit lachte. »Ich hab meine Untermenschen im Griff. Anders als du.«

Stan knirschte mit den Zähnen. Aber er konnte schlecht das Gegenteil behaupten.

»Matt ist schwierig«, gab er zu. »Aber, wie gesagt, ich arbeite daran.«

»Hm.« Die Schatten in Gerrits Gesicht ließen ihn richtig misstrauisch wirken. »Tust du das wirklich?«

»Wie bitte? Natürlich tue ich das!« Stans Stimme war lauter geworden, ohne, dass er es wollte. »Was denkst du denn?«

»Na, ihr habt echt Spaß gehabt im Museum.« Gerrit sah starr geradeaus. Auf seinem Kieferknochen zuckte eine Ader. »Kann es sein, dass du ihn behalten willst?«

»Behalten? Wie ein Hündchen?« Stans Stimme troff vor Verachtung. »Natürlich nicht. Der Typ geht einfach gar nicht. Hast du gewusst, dass er im Chor singt?«

»Was, echt?« Gerrits Miene hellte sich auf.

»Ja, hat Nora-Mireille erzählt.«

Gerrit lachte meckernd. »Gehen wir hin! Ich muss sie doch eh fahren und die wird sich nen Ast freuen, wenn ich sie abhole. Gibt nochmal extra Blasepunkte.«

Waldemar und Gerrit waren sich gar nicht so unähnlich, dachte Stan. Aber das konnte nicht sein, oder? Immerhin war einer von ihnen ein gut erzogener Adelsspross und der andere ein schwuler Rugbyproll.

Sie gingen über die weißen Kieswege zwischen den akkurat gestutzten Rasenflächen zum Proberaum des Chors.

»Nora-Mireille hat so einen Apfelarsch, richtig klein und knackig.« Gerrit runzelte die Stirn. »Meinst du, der ist zu klein? Kann ich mich mit ihr sehen lassen?«

»Kannst du.« Stan steckte die Hände in die Hosentaschen. Er knabberte an seiner Unterlippe und dachte an die drei Nachrichten, die sie ihm geschrieben hatte. »Sag mal ... denkst du, sie mag dich wirklich? Oder will sie nur dein Geld?«

»Ist doch egal.« Gerrit zuckte mit den Schultern. »Das Ergebnis ist dasselbe: ein Blowjob.«

»Ja, nur ... wie geht es dir dabei? Was, wenn sie dich ausnutzt?«, fragte Stan, ohne nachzudenken. Das Gespräch mit Stefanie saß ihm noch in den Knochen.

»Ich nutze sie ja auch aus.« Gerrit sah ihn mitleidig an. »Jede Beziehung basiert darauf, dass man sich gegenseitig ausnutzt, das hast du doch als Erster gesagt. Ich gebe ihr das Gefühl, dass sie sich einen reichen Kerl schnappen kann und sie gibt mir einen Blowjob. Ein perfekter Deal.«

»Stimmt schon.« Stan grinste freudlos. Pokerface, sagte er sich. Er wusste diese Sachen doch. Warum zweifelte er plötzlich? Die Dinge waren, wie sie waren. Und die Menschen sowieso.

»Hey, wegen des Zimmers …« Gerrit lächelte. »Dein Plan, ihm was unterzuschieben, war doch gut. Wenn du jemanden brauchst, der dir Drogen besorgt, ist das nicht das Problem. Ich kenne jemanden. Das lässt sich alles regeln.«

»Ich hab's fast geschafft«, wiederholte Stan. »Vertrau mir.«

 

Der Musikraum war abgeschlossen. Gerrit rüttelte an den Flügeltüren.

»Was ist denn das für eine Scheiße? Die sind doch da. Ich hör sie singen.«

»Wahrscheinlich wollen sie nicht, dass jeder Idiot reinkommen und bei der Chorprobe stören kann. Komm mit.«

Stan winkte ihm und ging wieder hinaus. Der Proberaum hatte ein Fenster, das auf den Hof hinausschaute. Es war zu hoch, um einfach hineinzugucken, aber in der Mauer war ein kleiner Vorsprung, etwa einen halben Meter hoch. Stan hüpfte darauf, krallte die Finger in das Fensterbrett über ihm und zog sich hoch. Seine Zehen fanden gerade so Halt auf dem schräg abfallenden Vorsprung.

»Siehst du was?«, fragte Gerrit. Stan nickte.

Eine Reihe weißer Bänke zog sich an den mit hellem Holz verkleideten Wänden entlang. In der Mitte des Proberaums befand sich eine niedrige Bühne. Darauf stand der zehnköpfige Chor und trällerte, begleitet von einem verpickelten Klavierspieler aus der Achten.

»Noch einmal«, hörte Stan den Chorleiter rufen. Herr Berger war ein stockdürrer Mann mit einem mächtigen Schnäuzer und wahnsinnigen hellblauen Augen. »Matt, komm ein Stück nach vorne.«

Stan sah, wie Matt näher an den Bühnenrand schlurfte. Sein griesgrämiges Gesicht deutete nicht darauf hin, dass er aus Spaß an der Freud im Chor war. Was zur Hölle wollte er hier? Er wirkte wie ein Fremdkörper. Vor all den gut frisierten, wohlhabenden Schülern, die sich hinter ihm aufreihten, schien sein Haarschopf noch stacheliger und strohiger zu werden.

»Drei, zwei, eins«, zählte der Chorleiter ein.

Matt öffnete den Mund. Und sang. Stan riss die Augen auf. Er hatte das Gefühl, rückwärts geschleudert zu werden von der Macht des Songs. Matts Stimme war gigantisch. So etwas hatte Stan noch nie aus einem normalen Menschen kommen gehört. Matt klang so glücklich, verzweifelt und hoffnungsvoll, dass sein mies gelauntes Gesicht gar nicht mehr störte.

Rechts hinter ihm sang Nora-Mireille und warf ihm feindselige Blicke zu. Sie hatte mit seinem grausamen Dialekt schon recht gehabt. Aber das machte nichts aus, wenn man so ergreifend sang. Die richtige Aussprache ließ sich lernen, aber diese Eindringlichkeit ni... Matts Blick wanderte über den Chorleiter hoch zum Fenster. Und fiel auf Stan. Verdammt.

Stan zuckte zusammen. Matts Gesang brach ab. Vor Überraschung rutschten Stans Füße von dem kleinen Absatz und er purzelte rückwärts ins Gras.

Gerrit krümmte sich vor Lachen.

»Was machst du da?«, prustete er. »Das sah so bescheuert aus!«

Stan rappelte sich schnell wieder auf. Oh Mann, war das peinlich! Was hatte er sich dabei gedacht, wie ein Spanner durch das Fenster zu glotzen? Und Matt hatte es gemerkt ...

»Halt die Klappe«, knurrte er und Gerrit wieherte noch lauter.

»Und«, fragte er schließlich, »ist er im Chor?«

»Ja«, brummte Stan. »Er singt furchtbar.«

 

1.17 In Ekstase

 

Stan saß auf seinem Bett und meditierte. Ein, aus, ein, aus. Sein Hintern schmerzte von dem Sturz, was es nicht leichter machte, sich zu entspannen. Hatte Matt gemerkt, dass er hingefallen war? Nicht denken, sagte er sich. Ein, aus, ein ... Nach einer halben Stunde war er ruhig genug, um seinen Vater anzurufen.

Als Erstes holte er eine der Zeitschriften heraus, die er im Lauf der Jahre gesammelt hatte. »Das Royal Journal – Neues aus der glamourösen Welt des Adels«. Eine Seite hatte er mit einem Post-It markiert. Die Überschrift war »Ambros von der Waldeshöhes 250.000 Euro-Abend!«.

Cannes, vor drei Jahren: Es gab eine Menge Fotos von Stans Vater, auf denen er mit Estelle, seiner damaligen Frau, um die Wette lachte, Cuvée Belle Epoque-Champagner trank und im Hotel Martinez dinierte. Der Journalist irrt sich, dachte Stan. All das hatte mindestens 300.000 Euro gekostet. Damals war er natürlich noch nicht dabei gewesen.

Er fühlte sein Herz vor Stolz anschwellen, wenn er an seine letzten Sommerferien dachte. Durfte er das alles riskieren, um Stefanie einen Gefallen zu tun? Sein Vater hatte ihn endlich wie einen Freund behandelt. Früher war es ihm schnell zuviel geworden, sich um Stan zu kümmern. Er hatte Stan am Anfang jeder Ferien einen echten Männerurlaub versprochen. Nur du und ich, mein einziger Sohn und Stammhalter, hatte er gesagt und gelacht. Und dann war er nach drei oder vier Tagen verschwunden und hatte Stan in den Händen des Personals zurückgelassen. Bei dem Gedanken dran schnürte sich Stans Brust zusammen. Er war nie gut genug gewesen, aber jetzt ... Er seufzte und sah auf den Artikel.

»Nachdem er das Vermögen seiner verstorbenen Eltern durchgebracht hat, lebt Ambros nun vom Geld seiner vierten Ehefrau Estelle«, las er. »Aber vielleicht wird der berüchtigte Herzensbrecher nun doch sesshaft? Eine Freundin des Pärchens verriet, dass sich bereits ein süßes Geheimnis auf Estelles entzückendem Bauch abzeichnet.«

Welcher Vollhonk schrieb diese Texte? Und glaubten sie das wirklich? Als Estelle die gemeinsame Tochter zur Welt gebracht hatte, war Ambros bereits auf dem Weg zu einer anderen gewesen. Valerias Vorgängerin. Stan betrachtete das glückliche, markante Gesicht seines Vaters. Das war seine Zukunft. Er würde genauso werden wie Ambros. Ein Wolf. Und sein Vater würde stolz auf ihn sein.

Sein Handy klingelte und Stan wäre fast vom Stuhl gefallen. Es war Ambros.

»Hey, Dad«, sagte Stan, betont lässig.

»Mein Lieblingssohn!« Ambros lachte sein volles, herzliches Lachen. Stan kannte es, solange er denken konnte und wurde doch nicht müde, es zu hören.

»Was gibt's?«, fragte Stan. »Was macht Valeria?« Waren das zu viele Fragen auf einmal?

»Ach, die versucht gerade, ein Hole in One zu schlagen. Sie hat sich in den Kopf gesetzt, heute zu gewinnen. Aber das wird nichts. So leicht lässt sich dein alter Vater nicht besiegen.« Ambros machte eine Pause und Stan stellte sich vor, wie er sich zu Valeria umwandte. Wahrscheinlich blickte er über die Weite des Platzes wie ein König über sein Reich. »Die Golfhose steht ihr allerdings.« Ambros lachte.

»Das glaube ich.« Stan versuchte, Ambros' Lachen nachzuahmen und war erstaunt, wie gut es ihm gelang.

»Aber ich rufe nicht an, um mit dem Pfirsicharsch meiner Frau anzugeben. Ich wollte fragen, was mein Stammhalter sich zum achtzehnten Geburtstag wünscht.«

»Ein Auto.« Stan grinste. »Ein schnelles.«

»Ha, das dachte ich mir. Du kommst halt ganz nach mir. Weißt du, zu meinem Achtzehnten habe ich einen Diablo bekommen. Deine Großmutter war völlig fertig. Der Junge bringt sich um, hat sie gesagt. So, wie der fährt, erlebt der seinen neunzehnten Geburtstag nicht mehr.«

Die Sorge war nicht ganz unbegründet gewesen. Stan erinnerte sich an eine alptraumhafte Fahrt über die Serpentinen im Luberon. Er war damals sieben Jahre alt gewesen und hatte mitten auf der Fahrt die weißen Ledersitze vollgekotzt. Und Livias Kostüm. Oder war es Michelles gewesen? Ambros' damalige Freundin war jedenfalls stinksauer gewesen und hatte dafür gesorgt, dass Stan den restlichen Urlaub über an keinem Ausflug mehr teilnahm.

»Weißt du was? Lass deinen alten Vater das Aussuchen übernehmen. Gerald kennt jemanden, der an eine besondere Schönheit herankommt. Wie würde dir das gefallen?«

»Das wäre der Hammer.« Stan platzte fast vor Glück. Gerrit und sein Porsche konnten einpacken. Ambros lachte wieder.

»Dann ist das ja geklärt. Ich bring dir die Kutsche an deinem Geburtstag vorbei. So gegen drei? Wir können auch gleich eine kleine Spritztour unternehmen, wenn du willst.«

»Will ich. Ich ...« Stan wollte nicht darüber reden. Er wollte dieses perfekte Gespräch nicht verderben. Aber ... »Also, da ist noch was. Stefanie hat angerufen.«

Ambros schwieg. Verdammt.

»Welche Stefanie?«, fragte er schließlich.

»Deine Exfrau. Sie hat in den letzten Monaten kein Geld mehr bekommen und ... also sie braucht es wirklich, weil ...«

Sein Vater unterbrach ihn. »Ich kümmere mich darum, sobald ich Zeit habe. Hör mal, ich bin jetzt dran. Hab noch viel Spaß in Hoheneck, ja? Ich weiß, dass ich den immer hatte.«

»Mach ich.« Immerhin. »Und du kommst um drei?«

»Hab ich doch gesagt.« Ambros klang genervt und Stan wusste, dass es höchste Zeit war, aufzulegen.

»Super, vielen Dank! Bye!«

»Bye!« Gut, in Ambros' Stimme lag wieder der Anflug eines Lächelns.

Stan atmete aus, als er das Handy in die Hosentasche steckte. Ambros würde sich darum kümmern. Und er würde herkommen. Mit einem Auto für Stan, aber das war ihm fast egal, solange sein Vater ihn besuchte. Vielleicht würde Ambros ihn diesmal fragen, wie es ihm ginge. Und dann könnte er ihm von den Problemen mit Matt erzählen, na ja, nicht allen, aber eventuell konnte sein Vater ihm einen Rat geben ...

»Wer war das denn?«

Stan fuhr herum. Matt stand hinter ihm, verstrubbelt wie immer und sah ihn fragend an. Wann war er hereingekommen?

»Mein Vater.«

»Ah.« Matt nickte. »Macht Sinn.«

»Wieso macht das Sinn?«, fragte Stan. Und warum musste dieser Kerl ausgerechnet jetzt auftauchen, obwohl er sich tagelang nicht mehr hatte blicken lassen?

»Na, du hast geklungen wie ein kleiner Junge, als du mit ihm geredet hast. Als wärst du fünf oder so.«

Bitte?

»Und du klingst wie ein Vollidiot, wenn du singst. Dein Akzent ist grausam.«

»Ja, das sagen alle.« Matt schien nicht mal beleidigt zu sein. Eher irritiert. »Dieser komische Berger will trotzdem dauernd, dass ich das Solo singe. Keine Ahnung, warum.«

Weil du gut bist, hätte Stan sagen können. Tat er natürlich nicht.

»Was willst du überhaupt im Chor?«, fragte er. »Andere Schwuchteln finden?«

»Nö, nur in Übung bleiben. Für den Kirchenchor.« Matt schüttelte seinen Rucksack von den Schultern. »Und jetzt hör auf zu nerven, ich muss Hausaufgaben machen.«

Nerven? Ein kleiner Teufel flüsterte Stan furchtbar schlechte Ideen ins Ohr. Sein Herz setzte einen Schlag aus, als er sie hörte. Nein, das ging nicht. Er sah zu, wie Matt sich an den Schreibtisch setzte und einen zerfledderten Collegeblock und einen uralten Laptop auspackte. Der Drang, ihn zu ärgern, wurde stärker, je länger er Matts hellen Nacken sah. Seine wuscheligen Haare, die sich weicher anfühlten, als sie aussahen …

»Ich und dich nerven? Würde ich nie tun.« Stan rollte seinen eigenen Schreibtischstuhl zur Tür und klemmte die Lehne unter die Türklinke. So konnte niemand hereinkommen. »Ich werde einfach hier herumliegen und nichts tun. Also fast nichts.«

Er zog sein hellblaues Hemd samt Unterhemd aus und warf es Matt an den Kopf. Und hüpfte auf dessen Bett. Matt fuhr herum. Er betrachtete fassungslos, wie Stan sich auf der Matratze ausstreckte.

Genüsslich fuhr Stan mit der Hand über seine nackte Brust und die Rille zwischen seinen Bauchmuskeln. Er war in diesem Sommer ziemlich kräftig geworden. Seine kantigen Brustmuskeln zeichneten sich deutlich unter der sonnenverwöhnten Haut ab. Er konnte nicht sehen, ob Matt in seine Richtung blickte, aber er hörte, dass der sich nicht bewegte. Worauf wartete er? Stans Hände erreichten seinen Schritt und rieben darüber. Er stöhnte, extra laut, obwohl sein Schwanz sich kaum aufgerichtet hatte. Aber Matt rührte sich nicht. Langsam begann Stan, sich blöd vorzukommen. Wie konnte ein Trottel wie Matt nur so viel Selbstbeherrschung aufbringen? Wie ...

Ein Schatten fiel über seinen halbnackten Körper.

»Ich hasse dich«, sagte Matt. Sein Gesichtsausdruck ähnelte einer Gewitterfront.

»Bist du sicher?«, fragte Stan und deutete auf Matts Schritt, der sich bereits ausbeulte. »Sieht irgendwie nicht so au...«

Matt warf sich auf ihn und erdrückte ihn fast mit seinem Gewicht. Geil. Sein rauer Pullover strich über Stans nackte Haut und der spürte die Wärme, die von Matts Schenkeln ausging. Dann allerdings packte Matt Stans Handgelenke und hielt sie über seinen Kopf. Stan versuchte, sich gegen den Griff zu wehren, aber Matt hielt ihn fest.

»Was wird das denn?«, keuchte Stan.

»Nur küssen diesmal. Wir hören rechtzeitig auf. Und du hältst dich nicht an mir fest wie letztens im Stall.« Matt wurde rot. »Das ist gefährlich. Ich wäre fast ... äh ...«

Stan wusste nicht, ob er Matt niedlich fand oder ihm eine zimmern wollte. Wenn er ehrlich war, beides.

»Im Stall?«, knurrte er. »Da hast du mindestens so oft wieder losgelegt wie ich. Sei nicht so ein Arschloch. Aber wenn du willst, dann rühre ich diesmal keinen Finger. Versprochen. Das hast du jetzt davon. Viel Spaß mit meinem Körper.«

»Danke«, brummte Matt und guckte grimmig. Dann öffnete er seinen Gürtel. Scheiße. Stan ließ sich nichts anmerken, aber innerlich krampfte sich alles in ihm zusammen. Küssen hatte er gesagt! Was hatte Matt vor? Würde er jetzt sein Teil rausholen und ... Aber Matt zog seinen Gürtel aus den Schlaufen und wickelte ihn um Stans Arme.

»Ich will nur sichergehen, dass du dein Versprechen hältst«, sagte er und schloss die Schnalle. Stan rüttelte versuchsweise daran. Bombenfest. Das harte Leder schnitt in seine Haut, aber er würde einen Teufel tun und jammern. Keine Schwäche zeigen.

»Weißt du«, sagte Stan erstaunt, »für so eine katholische Jungfrau bist du ziemlich kinky.«

»Bin ich nicht. Halt die Klappe.«

»Klar, deshalb fesselst du mich auch.«

»Nur, um dich ruhig zu stellen. Das ist kein ... Fetisch oder so. Es hat nichts mit Sex zu tun.«

»Nichts mit Sex zu tun?« Stan lachte. »Dir ist schon klar, dass ich halb nackt bin und du auf mir kniest, oder? Und ich sehe da was, das du nicht siehst und das wird immer größer. Ich wette, wenn ich dir in den Schritt fassen würde, würdest du dich sofort vollspritzen. Wie die kleine Jungfrau, die du bist.«

»Sei endlich ruhig.« Matt lief wieder rot an. Inzwischen leuchteten selbst seine Ohren.

Mit der warmen Nachmittagssonne im Rücken sah er ... richtig gut aus. Stan blinzelte. Nein, sagte er sich. Das stimmt nicht. Das weißt du. Konzentrier dich lieber. Wenn Matt hier irgendwas mit deinem Arsch anzustellen versucht, musst du ihn abwerfen. Und am besten nachtreten. Viel Spaß mit meinem Körper, wie hatte er nur sowas Blödes sagen können?

Sein Herz raste, aber seine Lippen weigerten sich, auch nur den geringsten Laut durchzulassen. Doch als Matt sich über ihn beugte und seinen Körper in warme Schatten tauchte, kam es ganz anders. Unendlich vorsichtig berührten dessen weiche Lippen Stans Wange. Zart wie die Berührung eines Schmetterlingsflügels. Und ebenso sacht wanderten sie über Stans Gesicht, seine Nase und seine geschlossenen Augen.

Was zur Hölle tust du da, wollte Stan fragen, aber der Kloß in seinem Hals hinderte ihn am Sprechen. Was war das? Wieso reagierte er so stark auf diese hingehauchten Küsse? Jeder Punkt, den Matts Lippen berührten, schien sich mit einer knisternden Eisschicht zu überziehen, nur um gleich darauf von Flammen weggebrannt zu werden. Der köstliche Geruch von Matts Haut füllte seine Nase.

Bald gab es keine Stelle mehr, die Matt nicht geküsst hatte. Bis auf Stans Mund. Als Matts heiße Lippen sich endlich, endlich auf seine drückten, verlor Stan das erste Stück seiner Selbstbeherrschung. Sein Unterleib presste sich gegen Matts, hungrig, begierig darauf, die Härte dort zu spüren. Matt keuchte und biss sich auf die Unterlippe. Stan konnte es sehen, in Großaufnahme, so nah waren sich ihre Gesichter. Er beobachtete, wie Matt um Selbstbeherrschung rang und ein weiterer Feuersturm raste durch seinen Körper.

»Lieg ... still ...«, stöhnte Matt.

Stan ärgerte sich über sich selbst. Ab jetzt würde er gar nichts mehr tun. Seine Finger krallten sich um das Kopfteil des Bettes, so gut die Fesseln es zuließen. Er hätte Matt beleidigen können. Aber er fürchtete, dass aus seinem Mund, sobald er ihn öffnete, nur Stöhnen herauskommen würde. Matt wartete noch einen Moment, dann war er wohl wieder bereit. Seine Haare streiften Stans Gesicht, als er sich zu ihm herabbeugte. Seine Lippen zogen eine Spur aus Küssen über Stans Hals. Der schaffte es, weder zu erschauern, noch laut zu wimmern. Bis Matt innehielt und er dessen Gesicht sah.

Matt betrachtete Stans Oberkörper, als hätte er das achte Weltwunder vor sich. Seine geschwungenen Lippen öffneten sich und in seinen Augen mischten sich Faszination und Begehren. Seine linke Hand strich über Stans Schultern und über seine Brust. Er machte es gut, das Streicheln. Fest, aber liebevoll, und es war egal, dass seine Fingerkuppen rau und rissig waren.

»Du bist so schön«, flüsterte Matt.

Verschleiert, wie sein Blick war, bekam er vermutlich selbst nicht mit, was er redete. Stan wollte etwas erwidern, irgendwas Sarkastisches, aber er konnte nicht. Etwas blockierte seinen Hals, ein brennender Ball aus Zärtlichkeit und unterdrückten Tränen. Er kapierte nicht, was los war. Wurde er krank?

Immerhin war er nicht der Einzige, der Probleme hatte: Matt begann bereits, die selbst aufgestellten Regeln zu brechen. Sein Mund wanderte immer tiefer, bis seine Lippen sich um Stans Nippel schlossen und vorsichtig daran saugten. Stan musste mit aller Kraft die Zähne zusammenbeißen, um nicht zu keuchen. Verdammt. Sein ganzer Körper stand in Flammen und er wollte mehr, mehr, mehr ...

»Uuuuuh ...« Seine Selbstbeherrschung war dahin, als Matts Finger über seine andere Brustwarze strichen. Er wand sich, stöhnte und krallte seine Finger in die Bettkante. Ein seltsames Gefühl breitete sich in seinem Körper aus, langsam, wie ein Tropfen Tinte in einem Glas Wasser. Wie Fliegen. Oder Fallen.

»Matt, du … du blöder … Idiot«, murmelte er.

»Halt die Klappe«, stöhnte Matt. Er packte Stans Haare und verschloss seinen Mund mit einem Kuss. Er schmeckte salzig und köstlich, nach Sommerwind. Und seine Hand, die wanderte abwärts, über Stans zitternden Bauch und das komische Gefühl wurde immer stärker, wie ein Wirbelsturm. Ein Brausen erfüllte Stans Kopf, und als er kapierte, was es war, war es bereits zu spät. Matts warme, starke Hand fuhr über Stans Hose, dahin, wo Stans Schwanz sich verzweifelt gegen den Stoff drängte. Matts Finger drückten zu, pressten sich gegen das zuckende Fleisch … und Stan kam. Vor seinen Augen explodierten Lichter, ein Sturm der Erleichterung flutete seinen Körper und er schrie, verzweifelt, gegen Matts hungrigen Mund.

Schwer atmend schlug Stan die Augen auf. Oh nein. Bitte nicht. Er sah Matts verdutztes Gesicht. Vielleicht hatte er es nicht gemerkt. Vielleicht war das hier nicht der verdammt peinlichste Moment in Stans gesamtem Leben. Aber als er an sich heruntersah, breitete sich bereits ein dunkler Fleck im Schritt seiner Hose aus, genau da, wo Matts Hand lag. Stan betete, dass er sterben würde. Einfach jetzt. Ein Blitzschlag wäre gut. Leider lebte er weiter und musste mit Matts Verblüffung klarkommen.

»Also ...« Matt runzelte die Stirn. »Das ging ja schnell.«

»Ging es nicht!« Stan fuhr hoch und hätte Matt fast von sich abgeworfen. »Das ... ich … gar nicht!«

»Wohl. Wann haben wir angefangen? Vor zehn Minuten oder so?« Ein spöttisches Grinsen breitete sich auf Matts Gesicht aus. Stan hasste ihn. So sehr. »Dabei hast du dich eben noch über mich lustig gemacht. Und dann kommst du von ein bisschen Streicheln, als wäre das dein erstes Mal oder so.«

»Halt dein blödes Maul!« Stan riss an seinen Handfesseln. Sein Gesicht brannte vor Wut und Scham. Schließlich konnte er sich aus dem Gürtel befreien und bohrte dem lachenden Matt seinen Zeigefinger in die Brust. »Wenn ich will, dann … bring ich dich noch viel schneller zum Kommen.«

»Ja klar«, wieherte Matt. »Ich glaub nicht, dass ich das viel flotter hinkriege als du.«

»Gib mir eine Minute«, drohte Stan. Er hielt Matt sein Handy unter die Nase. Das Display zeigte 14:29 Uhr. »Bis halb drei hast du abgespritzt«

»Sicher.« Matt wischte sich Lachtränen aus den Augen. »Wie willst du das ...«

Stan schubste ihn auf die Matratze und zog den Reißverschluss von Matts Hose herunter. Ein weiterer Ruck und Matts Schwanz sprang ihm entgegen. Hart, prall und ziemlich groß, aber Stan war zu wütend, um darüber nachzudenken. Und er wusste genau, was er zu tun hatte. Ohne Zögern packte er ihn und hörte Matt überrascht keuchen. Als er fester zupackte, bäumte Matt sich auf, warf den Kopf in den Nacken und stöhnte laut auf.

»Noch dreißig Sekunden«, knurrte Stan.

»Vergiss es«, presste Matt zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Der versuchte tatsächlich, dagegen anzukämpfen.

»Fünfundzwanzig.« Und dann, bevor er es sich anders überlegen konnte, schlossen sich Stans Lippen um Matts Schwanz und nahmen ihn tief in den Mund. Na ja, so tief er konnte, was nicht besonders tief war. Wie machten die Mädels das? Stan hatte doch oft genug auf der anderen Seite gestanden, um es zu wissen. Ach ja, saugen. Schon lief der salzige Geschmack von Matts Vorsaft über seine Zunge. Entschlossen bewegte Stan seinen Mund auf und ab.

Es funktionierte. Matts Finger krallten sich in die Bettdecke, seine Oberschenkel begannen, zu zittern und dann rollten seine Augen zurück. Er wimmerte leise. Stan spürte ein Beben auf seiner Zunge. Und dann wurde sein Mund von dickflüssigem, bitteren Saft geflutet. So viel, dass er dreimal schlucken musste, bis alles weg war.

»Na, was sagst du jetzt?«, fragte er triumphierend und wischte sich über den Mund. Er hob sein Handy. »Guck mal hier: Es ist genau halb drei. Wer ist jetzt ein peinlicher Versager?«

Matt antwortete nicht. Halb saß er, halb hing er über der Bettkante. Seine Brust hob und senkte sich, seine Augen waren weit aufgerissen und blickten ins Leere.

»Sag schon, wer ist jetzt ein Versager?« Stan verschränkte die Arme vor seiner nackten Brust. Aber Matt antwortete immer noch nicht. Er starrte Stan an, als hätte der sich vor seinen Augen in einen Erzengel verwandelt.

»Du hast ...«, brachte er schließlich hervor, »hast du es geschluckt?«

»Ja, klar, ich ...« Durch Matts ungläubigen Blick kapierte Stan erst, was er getan hatte. Er schlug sich die Hand vor den Mund. Den Mund, der bitter schmeckte und sich komisch anfühlte. Ein bisschen pelzig. Außerdem, und das war das Schlimmste, fand er es überhaupt nicht eklig. Hastig rutschte er so weit von Matt weg, wie es das schmale Bett erlaubte.

»Nein, ich … oh Gott!« Ihm war eiskalt. Wie hatte die Situation derart entgleisen können?

Matt wirkte genauso geschockt wie er. Panik kroch in seinen Blick, als er zwischen Stans Mund und seinem Schritt hin- und herflitzte. Ach ja, diese Priestergeschichte.

»Das darf nie wieder passieren«, platzten sie beide gleichzeitig heraus. Sie sahen sich überrascht an.

»Denkst du, wir packen das?«, fragte Stan schließlich. »Irgendwie geschieht es doch immer wieder, und immer gehen wir zu weit ...«

»Das müssen wir halt verhindern! Wir … wir brauchen klare Regeln«, stammelte Matt. »Grenzen. Ja, wir brauchen Grenzen. Und wir müssen«, er schluckte, »zusammenarbeiten und sie einhalten.«

»Ja.« Stan nickte. »Wie ein Team.«

Seltsam, dass er ausgerechnet jetzt so etwas wie Kameradschaft mit Matt verspürte. Matt, der vollkommen zerzaust, knallrot und zutiefst verwirrt vor ihm auf dem Bett hockte. Sexy, dachte Stan, obwohl er es nicht wollte. Und sein Schwanz regte sich bereits wieder in seiner durchnässten Hose. Er räusperte sich.

»Hier haben wir zu viel Zeit. Und Platz. Und es ist zu … sauber.« Er hatte romantisch sagen wollen, aber gerade noch die Kurve gekriegt.

Matt nickte frenetisch. »Ja, wir sollten uns nur noch an total ekligen Orten küssen. Dem Jungenklo zum Beispiel. Da kommt auch ständig jemand rein und kackt, und dann kriegen wir bestimmt keinen hoch.«

»Das ist total widerlich. Perfekt.« Stan war begeistert. »Am besten stellen wir uns einen Wecker. Auf zehn Minuten. Fünf«, korrigierte er, als er Matts skeptischen Blick sah.

»Ja, so sollten wir das in den Griff kriegen.« Matt atmete aus. »Guter Plan.«

»Danke.« Stan lächelte. Er hatte das Gefühl, er sollte Matts Hand schütteln. Stattdessen sahen sie sich an, fielen sich in die Arme und küssten sich. Stans Hände vergruben sich in Matts strohigen Haaren und seine Zunge stieß in dessen Mund, wo sie freudig erwartet wurde …

Matts uraltes Handy klingelte und rettete sie vor sich selbst.

 

1.18 Auf dem Dach

 

»Was … wie … wo bist du?«, stammelte Matt.

Sein Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb und Stans Nähe zerstörte seine Konzentration. In dessen Brust pochte es genau so schnell, das spürte er unter seiner Hand, die auf Stans warmer Haut lag. Seiner rechten Hand. Verdammt. Aber Stan schienen die Brandnarben darauf gar nicht aufzufallen.

»Auf dem Dach.« Hannas Stimme klang klein. Matt hörte Wind durch den Hörer rauschen. »Was?«

»Ich … ich wollte probieren, ob ich noch Höhenangst habe«, sagte sie. Zittrig, fast ängstlich. So, wie sie sich nur ihm zeigte. »Aber, äh … hab ich noch. Kannst du mich holen kommen?«

»Ja … ja, klar. Auf welchem Dach bist du? Im Zwergenhaus?«

»Ne, bei euch. Bei uns war der Dachboden abgeschlossen. Ich bin heimlich durch den Speisesaal und dann die Treppe hoch.«

»Alles klar. Bin gleich bei dir«, sagte er und sprang aus dem Bett. Stan sah ihn fragend an. Matt schüttelte den Kopf.

»Hab keine Angst«, befahl er Hanna.

»Okay.« Sie klang tapfer, aber er wusste, dass er sich besser beeilen sollte. Er steckte das Handy weg und machte seine Hose zu. Hoffentlich merkte man ihm nichts an.

»Wo gehst du hin?«, fragte Stan. Zerknittert und verstrubbelt sah er zum Anbeißen aus.

»Meine Schwester retten«, sagte Matt, zu abgelenkt von Stans Äußerem, um sich zu erinnern, dass er ihm nie etwas Persönliches erzählen durfte. Aber Stan blieb glücklicherweise liegen, als Matt den Raum durchschritt und die Tür hinter sich schloss.

 

Er fand den Dachboden ohne Probleme. Eine staubige Holztreppe hoch und durch eine niedrige Tür und schon stand er in dem dämmrigen Raum, direkt unter dem schrägen Schindeldach. Sofort sah er das offene Fenster, durch das Hanna geklettert war. Er steckte den Kopf hinaus. Schmale Metallstufen führten über die roten, ausgebleichten Schindeln zum Dachfirst. Die waren wohl für den Schornsteinfeger gedacht.

Matt sah nach unten. Vier Stockwerke tiefer lag der Hof. So hoch, dass die Jungs, die in einer Ecke heimlich rauchten, nur stecknadelgroße Köpfe zu haben schienen. Er spürte ein leichtes Unbehagen. Wenn er hier abstürzte, würde er als klebriger Blutfleck im Kies enden. Aber das würde er nicht. Schließlich war er schwindelfrei. Und über ihm, drei Meter entfernt, klammerte Hanna sich mit blassem Gesicht am Blitzableiter fest.

»Ich hab keine Angst«, behauptete sie. Der Wind zerrte an ihrem rosafarbenen Kapuzenpulli und wehte ihr die dünnen Haarsträhnen in die Augen. Matt seufzte. Er packte den Fensterrahmen, zog sich hoch und kletterte hinaus. Kurz darauf saß er neben Hanna auf dem Dachgiebel.

»Wieso zur Hölle bist du hier hoch geklettert?«, fragte er streng.

»Hab ich doch gesagt! Ich wollte sehen, ob ich noch Höhenangst hab. Ich hab schon voll viel geübt, auf dem Zaun und auf der Stehleiter und so!«

»Aber das hier ist doch eine andere Nummer, was?« Er lächelte unwillkürlich. Sie nickte.

»Warum hast du keine Angst?«, fragte sie mit klappernden Zähnen. »Ich meine, ich hab auch keine, aber warum hast du keine?«

Matt zuckte mit den Schultern. »Ist halt so.«

»Aber wieso? Das ist unfair.«

»Nein, ist es nicht. Jeder hat vor etwas Angst. Das ist nur bei jedem etwas Anderes.« Matt schaute in die Ferne, über die gelben Rapsfelder und zum Waldrand. Zwei Reiter jagten über den grasbewachsenen Weg zum Internat und er musste an Stan denken.

»Du nicht. Du hast vor gar nichts Angst.« Hanna schien sich ein wenig zu entspannen, jetzt, wo ihr großer Bruder da war. Gut. Noch ein bisschen reden und er würde sie hier runterbugsieren können.

»Klar hab ich Angst.« Er lächelte. »Aber ich sag dir nicht, wovor.«

»Hm.« Sie musterte ihn. Hanna hatte die gleichen grüngrauen Augen wie er. »Sind es Spinnen?«

»Nein.«

»Ratten?«

»Nein.«

»Hm.« Sie knabberte auf ihrer Unterlippe herum. »Ist es ein Mensch?«

Stans Gesicht erschien vor seinem inneren Auge. Matt zuckte zusammen und Hannas Gesicht erhellte sich.

»Wer ist es?«, fragte sie mit leuchtenden Augen. »Einer von deinen Lehrern? Oder … Erwin?«

»Warum denn Erwin?«, fragte er.

»Ich weiß nicht. Weil du auf ihn hörst. Weil du so traurig warst, als er gesagt hat, dass wir nicht mehr bei ihm wohnen können.«

»Ängstlich und traurig ist nicht dasselbe, Hanna.«

Sie schwieg. Der Wind schwächte ab und leise Stimmen drangen aus dem Hof zu ihnen hoch. Wolkenfetzen warfen ihre Schatten auf das rote Dach, so schnell vorbeiziehend, dass sie ständig blinzeln mussten, wenn die Sonne wieder auf ihre Augen traf.

»Ist es Tim?« Hannas Stimme klang lauernd.

Matt spürte einen leichten Schmerz, als er an Tim dachte. Einen sehr leichten, wenn er daran dachte, wie schwer es ihm vor kurzem noch gefallen war, auch nur seinen Namen auszusprechen.

»Tim?« Er hoffte, seine Stimme klang unverdächtig. »Warum Tim?«

»Weil … weil er nicht mehr bei uns vorbeigekommen ist. Nach dem Zeltlager, meine ich. Vielleicht hast du da herausgefunden, dass er voll böse ist und Angst vor ihm gekriegt.«

»Nein.« Matt hatte im Zeltlager etwas ganz anderes herausgefunden. Nachts, als alle anderen schon geschlafen hatten. Er wusste nicht, wer wen zuerst geküsst hatte, damals, im nachtschwarzen Wald, nur ein paar Meter entfernt von den Zelten. Auf jeden Fall hatten sie beide weitergemacht. Es war für beide der erste Kuss gewesen. Und der zweite und der dritte. Weiter waren sie nicht gegangen, aber Matt war mit einem Mal klar gewesen, dass er in seinen besten Freund verliebt war. Und Tim schien es genauso zu gehen, eine Nacht lang ...

Er schüttelte den Kopf, um den Gedanken loszuwerden.

»Lass uns gehen«, sagte Matt und stand auf. »Du kriegst es eh nicht raus.«

»Warte, ich … ich glaube, ich hab's.« Hanna strahlte. »Es ist dieser Stan, nicht wahr?«

»Quatsch. Vor dem Arschloch hab ich keine Angst.«

»Wieso ist er ein Arschloch?«

»Ist er halt. Frag lieber nicht.«

»Was, wenn ich ihn frage?« An Hannas Gesicht war abzulesen, dass sie sich für sehr clever hielt.

»Auf gar keinen Fall!« Sie guckte erschrocken und er merkte, dass er lauter geworden war. »Auf keinen Fall«, wiederholte er, ruhiger. »Du hältst dich von ihm fern, ist das klar? Stan ist ein böser Mensch. Ein richtig kranker … Perverser. Du willst nicht wissen, was der mit kleinen Mädchen macht.«

»Was denn?« Sie kniff misstrauisch die Augen zusammen.

»Ich hab gesagt, du willst es nicht wissen. Halt dich von ihm fern. Und wenn er dich anspricht, lauf weg.«

»Du lügst. Das sehe ich. Der ist gar kein Perverser.«

Matt seufzte. »Nein, ist er nicht. Aber ich möchte nicht, dass du mit ihm redest. Weißt du, Stan will mich aus dem Internat werfen lassen und dazu ist ihm jedes Mittel recht. Vielleicht verrätst du ihm etwas und er benutzt es als Waffe gegen mich.«

Ihre Augen wurden groß.

»Ich verrate ihm nichts«, versprach sie. »Gar nichts. Du musst hierbleiben.«

Matt lächelte. Er versuchte, nicht daran zu denken, dass er nächstes Jahr sein Abi machen würde und Hanna alleine hier zurückbleiben würde.

»Und jetzt komm«, sagte er. »Ich gehe vor und du kletterst hinterher. Und wenn du abrutschst, fange ich dich, okay?«

»Okay.« Sie löste eins ihrer Händchen vom Blitzableiter und hielt es ihm hin.

Schritt für Schritt leitete er sie über die Metalltreppe und zurück auf den sicheren Dachboden. Sobald sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, grinste sie und behauptete, ab jetzt könnte sie auch alleine auf das Dach klettern. Sie hätte jetzt keine Angst mehr. Matt durchbohrte sie mit seinem strengen Blick, bis sie versprach, nie wieder einen Fuß auf das Dach zu setzen. Erst dann gingen sie hinunter.

 

Keiner von beiden bemerkte Stan, der sich hinter dem Kistenstapel neben der Tür verborgen hielt.

 

1.19 Ohne Probleme?

 

Grundsätzlich lief es gut.

Gerrits geheime Whiskeyparty war lustig und er beschloss, gleich jede Woche eine zu geben. Vielleicht bald in ihrem gemeinsamen Zimmer, wenn Stan Matt endlich losgeworden war.

Die Mädels hatten Matt aufgegeben, da er nicht auf ihre Flirtversuche einging. Die Wette war eingeschlafen und Stan bekam mehr weibliche Aufmerksamkeit als je zuvor. Selbst Vanessa schien seltsam interessiert. Hätte er nicht beschlossen, sich ganz darauf zu konzentrieren, Matt auf Waldemar vorzubereiten, hätte er versucht, sie in die Kiste zu bekommen. Das war gar nicht schlecht, er wusste doch, dass Desinteresse einen umso spannender machte.

Auch mit Matt lief es gut. Sie schafften es mittlerweile, es beim Küssen zu belassen. Meistens. Einmal hatte Matt, trotz der absoluten Widerlichkeit der Klokabine, in der sie sich trafen, abgespritzt. Aber er hielt schon länger durch als früher. Und ab und zu, höchstens jedes zweite Mal, suchte Stan nach ihren Treffen die abschließbare Duschkabine auf.

Aber grundsätzlich lief es gut. Zu gut. Denn sie begannen, zu reden. Wäre ja auch seltsam gewesen, sich anzuschweigen, wenn man aneinandergedrängt in einer engen Toilettenkabine stand. Alle fünf Minuten fünf Minuten Kusspause war eine weitere neue Regel. Und die hielten sie absolut ein.

»Was ist das?«, fragte Matt in einer dieser Pausen. Seine Haare waren noch verstrubbelter als sonst, weil Stan es nicht lassen konnte, mit den Fingern hindurchzufahren.

»Was ist was?«, keuchte Stan. Er folgte Matts Blick und sah an sich herunter. In seiner linken Hosentasche steckte eine zusammengerollte Zeitschrift. »Ach so. Die hat Nora-Mireille mir geschenkt.« Er holte sie heraus und reichte sie Matt.

»Frauenjournal? Denkt die, du stehst auf sowas?« Matt runzelte die Stirn.

»Ne, aber auf Seite 4 ist so ein Minibeitrag über meinen Vater. Ich sammle die.«

»Ah«, Matt schlug die Zeitschrift auf. Er wirkte interessiert. »Welcher ist es denn?«

»Wie, welcher ist es?«

»Na, dein Vater.« Matt hielt ihm die Seite hin.

Sie enthielt drei kleine Artikel. Einer über Stans Vater, der beim Deutschen Derby mehrere Tausend Euro mit Pferdewetten gewonnen hatte. Und zwei über die Besitzer der Siegerpferde, einer fetter und älter als der andere.

»Der hier natürlich!« Stan tippte auf Ambros' strahlendes Gesicht. Matt sah zwischen dem Foto und Stan hin und her.

»Echt? Ihr seht euch gar nicht ähnlich.«

»Natürlich tun wir das!«

Hatte der einen Sehfehler? Stan hörte doch ständig, dass er eine jüngere Ausgabe seines Vaters war. War er ja auch. Zum Glück. Aber Matt betrachtete das Foto mit zusammengekniffenen Augen, als würde Stan ihn verarschen oder so.

»Ich weiß nicht … Vielleicht kommst du mehr nach deiner Mutter? Ist sie das?«

»Tu ich nicht! Und nein, das ist Valeria. Meine Stiefmutter. Die war maximal acht Jahre alt, als ich geboren wurde.«

»Ach so. Ich hab mich schon gewundert, dass sie anders aussieht als auf dem Foto. Das, das auf deinem Schreibtisch steht«, erklärte er, als er Stans fragenden Blick sah. »Die Blonde darauf, ist das deine echte Mutter?«

»Ja, das … das war sie.« Stan unterdrückte den Impuls, an seinem Daumennagel zu knabbern. Mit Matt über seine Mutter zu reden, machte ihn irgendwie nervös.

»Das war sie?« Matts Blick war auf einmal hellwach. »Ist sie … gestorben?«

»Ja, aber das ist kein Drama. Ich kann mich nicht mal an sie erinnern.« Stan sah zu Boden. Wie lange hatte er nicht mehr über sie geredet? »Sie … also, es war ein Unfall mit einem Schnellboot. Sie wurde rausgeschleudert und hat sich das Genick gebrochen.«

»Scheiße.« Matts Blick zeigte ehrliches Mitleid. Irgendwie ertrug Stan das kaum. Etwas ballte sich in seiner Brust zusammen, wenn er an seine Mutter dachte. Er befahl sich, nicht albern zu sein. Wie konnte er jemanden vermissen, den er nie gekannt hatte?

»Kein Grund, so traurig zu gucken.« Er lächelte schief. »Wie gesagt, ich hab sie kaum gekannt. Und ich habe ja noch meinen Vater.«

»Und sonst?«

»Was meinst du?«

Warum sah Matt ihn so an? So … komisch. Irgendwie interessiert, als hätte er eine große Entdeckung gemacht. Aber überhaupt nicht sensationslüstern. Sensationsgeil guckten die meisten Leute, wenn Stan über seine Mutter sprach. Was der Grund war, dass er es so selten tat.

»Na, was ist mit deiner Familie? Hast du Geschwister? Großeltern? Onkel und Tanten?«

»Nein. Nur meinen Vater.«

»Oh, das … das ist traurig.« Matt guckte verunsichert. Als würden ihm gleich die Tränen kommen, dabei passte das kein Stück zu diesem Klotzkopf.

»Ist es nicht. Wie gesagt, ich habe meinen Vater.« Stan hielt ihm das Journal unter die Nase. Langsam wurde er wütend. Er brauchte wirklich kein Beileid von diesem armen Schlucker! »Wenn man so einen Vater hat, braucht man nichts weiter, ist das klar? Guck mal, wie heiß seine Frau ist. Sieht deine Mutter etwa so gut aus?«

Ein Schatten flog über Matts Gesicht. Aber dann verzog er angewidert den Mund.

»Wie redest du denn über meine Mutter? Das ist ja eklig.«

Irgendetwas stimmte nicht. Stan spürte es so deutlich, dass sein Nacken kribbelte. Aber Matt schaffte es ausnahmsweise, seine Gesichtsmuskeln unter Kontrolle zu halten und Stan konnte nicht erkennen, was ihn störte. Und dann flog die Tür zum Vorraum auf. Irgendwer trampelte durch die Toilette und schloss sich in der übernächsten Kabine ein.

»Jemand da?«, brüllte, wer immer es war. Was war das für ein Benehmen? Matt bedeutete Stan, ruhig zu sein.

»Alex?«, rief Matt. Ach, einer von den Fußballern.

»Matt?« Alex lachte dröhnend. »Ich würd dir raten, dich zu beeilen. Gleich wird's hier unangenehm.«

»Kann nicht«, gab Matt zurück. »Das Chili?«

»Jupp!« Alex unterstrich seine Aussage mit einem ohrenbetäubenden Furz. Weitere Geräusche folgten. Stan sah Matt ungläubig an. Dessen Mundwinkel zuckten.

»Hey«, rief Alex, »ich hab deinen bescheuerten Mitbewohner heut getroffen. Er hat mich gefragt, ob du mein Lover wärst.«

»So ein Arsch.« Matt sah Stan mit hochgezogenen Augenbrauen an. Dann grinste er. »Der ist bestimmt scharf auf dich, so wie der rumläuft.«

Stan zwickte ihn in den Bauch.

»Jaha, diese rosa Hemden sind so gay, Alter! Wahrscheinlich hat er was mit seinem Kumpel Gerrit.«

»Ha, garantiert!« Matt wehrte sich lautlos gegen Stan, der versuchte, ihm in den Magen zu boxen.

»Dabei haben sie so geile Ollen um sich rum«, brüllte Alex. »Diese Leonora hat Euter wie … ne Kuh.«

Eine Meisterleistung von einem Vergleich. Bravo, dachte Stan. Fast wäre er bei seinem Gerangel mit Matt ausgerutscht.

»Ja, die sind nicht schlecht. Aber die lässt Stan bestimmt eh nicht ran. Der hat ja keine Haare am Sack«, rief Matt und zuckte zusammen, als Stan ihn in die Seite kniff. Seine Augen blitzten amüsiert. Stan biss sich auf die Unterlippe, um nicht loszuprusten.

»Na ja, eher als uns, Alter. Diese Schnösel bleiben unter sich. Aber hey, vielleicht versuch ich mal, mich hochzuschlafen.«

»Mit Leonora oder mit Stan?«, fragte Matt. Alex lachte laut.

»Hey, wir treffen uns nachher bei Olli«, sagte er. »Bist du dabei?«

»Geht nicht, ich muss mich um was kümmern.«

Sie tauschten noch ein paar Beleidigungen aus, dann verschwand Alex und ließ eine Wolke aus Gestank zurück. Stan hatte das Gefühl, seine Nasenhaare würden erbleichen. Hm. Dieser Alex hatte seine Meinung vom Fußballteam nur bestätigt. Zusätzlich hatte die Art, wie er mit Matt sprach, ein paar seiner Vermutungen bestärkt. Die Fußballer wussten nicht, dass Matt schwul war und richtig dicke Freunde waren sie auch nicht. Nur Kumpels. So sah es zumindest aus.

Er betrachtete Matt, der auf die Geräusche aus dem Waschraum lauschte. Eigentlich waren seine Augen grün, so, wie das Licht hineinfiel. Hellgrün. Stan verstand nicht, warum die Mädels immer von stahlblauen Augen redeten. Grüne waren doch viel charmanter.

»Sag mal, wissen die Wasserbü... Fußballtypen, dass du auf Jungs stehst?« fragte er Matt, sobald die Tür hinter Alex zugeschlagen war.

»Ne. Müssen sie auch nicht. Die würden das nicht so gut finden, glaube ich. Aber denk bloß nicht, dass ich das Zimmer tausche, wenn du es ihnen erzählst.«

Matt musterte den Boden zu seinen Füßen. Suchte er deshalb keine echten Freundschaften? Interpretierte Stan zu viel hinein? Und warum interessierte es ihn überhaupt? Aber das tat es. Sehr.

»Und deine Schwester? Weiß die Bescheid?«

Matt betrachtete ihn misstrauisch.

»Nein, weiß sie nicht. Aber die wird dir nicht glauben«

Klar, ihr Bruder hatte ihr ja auch eingeschärft, ihm nicht zu trauen. Sie waren ein seltsamer Anblick gewesen, auf dem Dachfirst. Wild und ungekämmt, wie zwei Wolfskinder.

»Also bin ich der Einzige, der es weiß?«, fragte Stan. Matt nickte zögernd. »Aber du hast gesagt, es gäbe noch jemanden.«

»Der ist nicht hier. Das ist lange her.« Matt sah noch griesgrämiger drein als sonst. Seine gute Laune von eben war verschwunden.

»Wer war es?«

»Vergiss es. Ich sag dir nicht, wie er heißt.«

»Aber wer war er?«, fragte Stan. Matt rang offenbar mit sich.

»Ein Freund«, sagte er schließlich, als würde er ein großes Geheimnis herausposaunen. Tatsächlich sah er erleichtert aus, als wäre er endlich etwas losgeworden, das lange in ihm geschwelt hatte.

»Toll. Und was war mit dem? Er hat es ja anscheinend für sich behalten.«

»Hat er.« Matt ließ den Kopf hängen. Seine Gefühle standen ihm wie immer offen ins Gesicht geschrieben.

»Ooh«, Stan legte den Kopf schief, »hat er dich abblitzen lassen? Oder wart ihr ein Paar? Bist du etwa gar keine Jungfrau mehr?« Das würde einiges erklären. Vor allem, warum Matt so genau wusste, wo er ihn berühren musste, um ihn in Ekstase zu versetzen.

»Nein, das … war anders. Er war der Erste, den ich geküsst habe.«

»Wer war der Zweite?«

»Du.« Aha. Stan hasste diesen anderen Typen jetzt schon. Wie konnte der es wagen, ihm zuvorzukommen? »Ich … also, wir waren zusammen im ökumenischen Zeltlager. Gib dir keine Mühe, da waren Hunderte. Du kriegst seinen Namen nicht raus.«

»Hatte ich gar nicht vor«, log Stan. Matt lachte freudlos. Aber er redete weiter.

»An einem Abend hatten wir Spüldienst und danach wollten wir nicht ins Bett. Also sind wir rausgeschlichen. Wir haben ne Runde durch den Wald gedreht und gequatscht und dann … dann haben wir uns auf einmal geküsst. Und es war so toll. Ich … ich hab kaum Luft gekriegt vor Glück und die ganze Nacht wachgelegen. Ich dachte, ihm geht's genauso. Ging's glaub ich auch. Nur hatte er am nächsten Morgen plötzlich eine Freundin. Nadine. Keine Ahnung, wo er die so schnell herhatte.« Matt sprach abgehackt. Die Worte stolperten aus seinem Mund, als würde er ein grässliches Verbrechen beichten. »Ich hab versucht, mit ihm zu reden. Aber er ist mir aus dem Weg gegangen. Hat immer dafür gesorgt, dass Leute um uns rum sind. Diese Nadine zum Beispiel. Freunde sind wir nicht mehr.«

»Aber … wolltest du damals schon Priester werden?«

»Nein. Ich glaub auch nicht, dass das was ausgemacht hätte. Mir war alles egal.« Matts Augen wurden feucht und er senkte den Kopf, als könne er es so verbergen. »Ich war so ... so ... verliebt.«

Er presste die Lippen aufeinander. Stan dachte an Vanessa und sein Herz sackte ein Stück weit ab. Ohne darüber nachzudenken, tätschelte er Matts Arm.

»Das … also ich kenn das. Tut mir leid.«

»Tut mir leid wegen … um deine Mutter«, murmelte Matt und blinzelte, bis seine Augen wieder trocken waren.

»Danke«, flüsterte Stan. Sein Handy brummte und sie fuhren zusammen. »Oh, fünf Minuten sind rum. Willst du gehen, oder ...«

Er brachte den Satz nicht zu Ende. Matt machte einen Schritt auf ihn zu und küsste ihn, so unendlich zart, dass er das Gefühl hatte zu schmelzen.

 

1.20 Im Vollrausch

 

»Was ist los?« Vanessa saß rittlings auf Stan. Ein Träger ihres schwarzen Tops hing herunter und ihr Lippenstift war verschmiert.

»Hm?«

Er schrak hoch. Wo waren die anderen hin? Ach ja, Vanessa hatte sie rausgeschmissen, um mit ihm alleine zu sein. Dabei war das Gerrits Zimmer. Allerdings hatte der seinen eigenen Mitbewohner verbannt, man konnte es als Karma bezeichnen.

»Na, da unten.« Sie deutete genervt auf den Schritt seiner Hose. Wo sich absolut nichts regte. Stan zuckte mit den Achseln.

»Ich hätte wohl weniger trinken sollen. Mir ist schwindlig.«

»Musst du kotzen?«, fragte sie erschrocken.

»Nö.« Er wand sich unter ihr hervor. »Aber ich glaube, heute wird das nichts mehr. Ich gehe.«

»Das ist nicht dein Ernst, oder?« An ihrem unsteten Blick sah er, dass sie genauso betrunken war wie er. Dieser Glenladdich wirkte, das musste man Gerrit lassen. »Vor … vor den Ferien hättest du geheult vor Glück, wenn ich dich rangelassen hätte. Und jetzt kriegst du nicht mal einen hoch?«

»Vielleicht wirst du alt«, grollte Stan und stand von Gerrits Bett auf.

»Und das?« Sie gestikulierte mit ihren Elfenhänden und wäre fast umgekippt. »Total fies. Was soll das? Du klingst echt wie dieser Matt.«

»Der ist halt ehrlich.«

»Unhöflich ist der. Und ein Arsch.«

»Nur, weil er dich nicht gevögelt hat?« Stan blickte sich zu ihr um. Ja, sie war immer noch wunderschön. Und ja, er empfand absolut nichts, wenn er sie ansah. »Lass ihn doch einfach in Ruhe.«

Mit diesen Worten wankte er aus dem Raum. Vorbei an Gerrit, der im Flur saß und ihm mit beiden Händen das Daumen-Hoch-Zeichen gab. Stan schüttelte den Kopf und ließ den irritierten Gerrit hinter sich.

Er atmete auf, als er in seinem dunklen Zimmer angekommen war. In ihrem Zimmer. Matts wuscheliger Kopf schaute unter der Bettdecke hervor.

»Hey! Du!«, lallte Stan und rüttelte an Matts Schulter. Der sah sich schlaftrunken zu ihm um.

»Mwas?«, fragte er. Seine Stimme war rau und wunderschön.

»Willst du 'n bisschen rumknutschen?« Stan schwankte näher, bis sich ihre Nasenspitzen fast berührten.

»Ja … nein! Auf keinen Fall. Wir dürfen nicht ...« Matts sommersprossige Nase schnupperte. Wie ein Kaninchen, dachte Stan. Er mochte Kaninchen. »Bist du betrunken?«

Stan nickte glücklich und plumpste auf den Teppich.

»Willst du ein Geheimnis wissen? Ein geheimes?« Er zog die Knie an und grinste Matt an. »Ich hasse Alkohol. Das Zeug schmeckt total grausig. Und dauernd soll ich was trinken, Dreckswhiskey und fucking Champagner. Schmeckt alles wie Pferdepisse.« Er beugte sich näher und flüsterte: »Ich mag Kakao.«

»Ah ja.« Matts Mundwinkel zuckten. Dann lächelte er, ein richtig echtes Lächeln mit Grübchen in den Wangen und allem. »Ich auch.«

»Wir haben so viel gemeinsam!«, jubelte Stan. Er legte den Kopf schief. »Rumknutschen?«

Matt schien einen harten inneren Kampf auszufechten.

»Ne«, sagte er schließlich. »Du bist betrunken. Geh schlafen.«

»Aber ...«

»Schlafen!« Matt deutete auf Stans kaltes Bett. Stan murrte, wuchtete sich aber hoch und plumpste auf sein Nachtlager, mit dem Gesicht voran. Die Bettwäsche roch nach einem Sommer in der Provence. Er wühlte seinen Kopf aus dem Kissen und sah Matt an. Der hatte sich abgewandt. Machte nichts, sein Rücken war voll schön.

»Matt?«, flüsterte Stan. Matt brummte etwas. Irgendwie schien er verstimmt.

»Matt?«

»Was ist?«, knurrte der.

»Du bist süß.«

Matt wandte sich ihm zu. Die Falte zwischen seinen Augenbrauen war tief wie ein Felsspalt.

»Und du bist besoffen. Halt die Klappe.«

»Richtig, richtig süß«, murmelte Stan. Seine Augenlider wurden schwer. »Du hast Sommersprossen.«

»Klappe, hab ich gesagt.«

Lächelnd kuschelte Stan sich in sein Kissen und schlief ein.

 

1.21 Ausgenüchtert

 

Am nächsten Morgen wollte Stan sterben. Nicht wegen des Whiskeys. Von Edelstoff wie Glenladdich bekam man keinen Kater. Sondern weil er sich an gestern Nacht erinnerte. Und Matt erinnerte sich leider auch.

»Erzähl mir nochmal, wie süß ich bin«, sagte der und grinste. Seine langen Beine baumelten über die Bettkante. »Voll süß oder nur richtig, richtig süß?«

»Das habe ich nie gesagt«, knurrte Stan und zog sich die Bettdecke um die Schultern. »Hör auf, dir Sachen einzureden, die du hören willst, Schwuchtel.«

»Ach, schade. Dann hab ich mir wohl nur eingebildet, dass du meine Sommersprossen niedlich findest.«

»Ja, hast du.«

Stan funkelte ihn hasserfüllt an. Aber in seinem Bauch rumorte die nackte, kalte Angst. Was hatte er noch gesagt? Er konnte sich nicht an alles erinnern, aber es war grauenvoll gewesen. Wenn Matt das irgendwem erzählte … Gerrit zum Beispiel. Aber der würde ihm nicht glauben, oder? Bestimmt nicht. Ganz bestimmt nicht. Einatmen, ausatmen …

»Meditierst du wieder?« Matt war wirklich unerträglich gut gelaunt. Konnte er nicht wie sonst rumgrummeln?

»Ja. Halt deine ungewaschene Fresse.«

»Du musst nicht unhöflich werden. Nur, weil du in mich verliebt bist.«

»Bin ich nicht!!« Stan packte sein Kissen und schleuderte es Matt ins Gesicht. Der fing es auf, und als er dahinter auftauchte, wirkte er verwirrt.

»Hey, das war doch nur Spaß. Ich weiß, dass du nicht wirklich in mich verliebt bist.« Er legte den Kopf schief. »Bist du nicht, oder?«

»Natürlich nicht!!« Stan sprang auf, schnappte sich seine Sportsachen und stürmte aus der Tür.

 

Er zog sich in der Umkleide der Sporthalle um. Seine Gedanken rasten so durcheinander, dass er kaum bemerkte, dass jemand aus der Wichskabine trat. Er hatte Matt zu nah an sich herangelassen. Viel zu nah. Das musste enden. Er musste ihn loswerden, und zwar sofort! Die Panik kroch Stans Kehle hoch und verursachte ihm mehr Übelkeit, als der Whiskey es je geschafft hätte.

»Bist du einem Zombie begegnet?«, fragte Waldemar und Stan schrak hoch. Ach, der hatte in der abschließbaren Kabine rumgegrunzt.

»Was … was laberst du da?«, fragte Stan genervt.

»Du bist weiß wie 'ne Wand.« Dieser Rugbyproll lachte, ordinär wie immer. Ein Pflaster zierte sein Breitmaul.

»Was ist passiert?« Stan deutete darauf. »Blowjobunfall? Zu viele Schwänze auf einmal verschluckt?«

»Schön wär's.« Waldemars Gesicht verfinsterte sich und Stans Laune wurde besser. »Kleiner Unfall beim letzten Spiel.«

»Habt ihr verloren?«

»Was denn sonst? Und Danilo, dieser Arsch, hat mich nachher dreißig Runden um den Platz laufen lassen, weil er meint, es wäre meine Schuld. So ein Blödsinn. Der Typ ist ungenießbar in letzter Zeit.«

»Danilo?«

»Unser Captain. So eine Flachpfeife. Ich kann's kaum erwarten, hier wegzukommen.« Die Gebirgslandschaft auf Waldemars Stirn bewegte sich. »Bearbeitest du die Sahneschnitte noch?«

Stan verharrte. Nein, wollte er sagen. Der Plan ist abgeblasen. Aber die Panik regte sich wieder und diesmal brauste sie so stark heran, dass er fast erstickte. Er presste seine Hände zwischen seinen Schenkeln zusammen, damit das Zittern aufhörte.

»Ja. Ja, tue ich. Und ich denke, er ist so weit.« Eine Stimme in seinem Kopf schrie ihn an, die Klappe zu halten. Aber die Angst war stärker. »Bringen wir es zu Ende. Heute Abend.«

»Endlich.« Waldemar grinste und haute Stan auf die Schulter. »Du bist der Beste. Stan the Man!«

»Weiß ich selbst«, entgegnete Stan und fühlte sich hundeelend.

 

1.22 Überfordert

 

»Du hast dich also in deine beste Freundin verliebt. Weiß sie denn von deinen Gefühlen?« Steffens Stimme war sanft wie immer.

»Nein, ich … ich glaub nicht«, schluchzte Britta, 43, aus Dortmund. »Ich trau mich einfach nicht, es ihr zu sagen und, na ja … was ist, wenn ich es ihr sage und sie hasst mich? Ich hab so eine Angst.«

Du Versagerin, erzähl's ihr doch einfach, dachte Stan halbherzig. Und wenn sie dich nicht will, warst du halt nicht gut genug … Er schluckte hart. Das musste verdammt wehtun. So wie Vanessa ihm damals wehgetan hatte. Und dieser Tim Matt. Dass er Tim hieß, wusste er aus dem Gespräch zwischen Matt und seiner Schwester, das er belauscht hatte.

Da hatte Matt außerdem gesagt, dass Stan ein Arschloch sei. Klar, war er ja auch. Und das würde er weiterhin sein. Ein Arschloch. Ein Wolf. Was war los mit ihm? Seit wann hatte er Mitleid mit den Trotteln, die bei Steffens Sorgentelefon anriefen? Seit wann …

Die Tür ging auf. Stan drehte sich mitsamt seinem Schreibtischstuhl und erwartete, Matt zu sehen. Stattdessen erblickte er Vanessa. Ihre wunderschönen Augen waren zu schmalen Schlitzen verengt.

Sie schloss die Tür hinter sich.

»Was ist euer Begehr, Madame?« Er stand auf. Vanessa machte drei Schritte auf ihn zu und fiel ihm um den Hals. Ihre Lippen drückten sich auf seine. Sie schmeckte nach künstlichem Himbeeraroma. Stan packte ihre Arme und löste sie von seinem Nacken. »Ich hab gefragt, was du willst.«

»Ich will wissen, was hier gespielt wird«, zischte sie. Auch aus nächster Nähe war ihre Haut porenlos perfekt. Keine Pickel. Keine Sommersprossen. Langweilig. »Warum interessierst du dich nicht mehr für mich? War das dein Plan? So zu tun als wäre ich dir egal, damit ich zurückkomme?«

»Nessa, das zwischen uns ist zwei Jahre her«, sagte er. »Ich kann dir nicht ewig hinterhertrauern.«

»Also gibst du zu, dass du in mich verliebt warst?« Sie lächelte triumphierend.

»Ein bisschen«, sagte er. »Aber das ist vorbei. Wir haben uns verändert.«

»Du hast dich verändert. Ich war von Anfang an perfekt.« Sie warf die Haare zurück. Er hatte ihren Humor immer gemocht. Doch gerade fragte er sich, ob sie das nicht bitterernst meinte. »Aber ich verstehe nicht warum. Was ist passiert?«

»Nichts. Die Zeit heilt alle Wunden. Hör mal, ich hab noch zu tun ...«

»Es ist Matt, oder?« Ihr Mund verzog sich angewidert. »Seit ihr zusammenwohnt, spinnst du irgendwie. Und ich glaube, ich weiß warum.«

»Da bin ich ja mal gespannt.« Er verschränkte die Arme und hob lässig eine Augenbraue, obwohl ihm die kalte Panik durch alle Adern kroch.

»Ihr habt was miteinander, oder?« Ein grausames Lächeln verwandelte ihr schönes Gesicht in eine Fratze. Ihre Intelligenz hatte er auch immer gemocht. Stans Miene blieb absolut unbewegt, obwohl er am liebsten geschrien hätte. Dann lachte er laut auf.

»Was?« Er prustete los. Das Zittern seines Oberkörpers ließ sich leicht als Lachkrampf tarnen. »Wie kommst du denn darauf?«

»Er interessiert sich nicht für Mädchen, wie man klar gesehen hat. Du seit Neuestem auch nicht mehr. Und trotzdem hatte er einen Knutschfleck, so groß wie ... Australien. So wie ich damals, vor zwei Jahren. Das ist eine logische Schlussfolgerung, würde ich sagen.«

»Das ist eine vollkommen idiotische Schlussfolgerung. Nessa, du kennst mich doch. Selbst wenn ich schwul wäre, würdest du mir nicht einen besseren Geschmack zutrauen?«

Ein winziges Zucken in ihrem Lid verriet ihre Unsicherheit. Gut. Er musste das nur eiskalt zu Ende bringen. Wieso schaffte er das bei ihr eigentlich ohne Probleme? Vor Matt stotterte er ständig rum wie ein Vollhonk.

»Aber …«, sagte sie, »ich wollte dich nur warnen. Du weißt, was das für Konsequenzen hätte.«

»Was für Konsequenzen denn? Dass ich viel zu fabulous für die Welt wäre?«

»Nein. Ich meine, weil niemand mehr was mit dir zu tun haben will, wenn man dich mit diesem armen Schlucker erwischt.« Sie stützte die Hand auf die Hüften. »Gerrit eh nicht, aber Leonora und ich und Werner und ...«

»Ja ja, und alle anderen auch. Alle, die zählen. Ich hab's verstanden.« Er lächelte. »Dann ist es ja gut, dass ich nicht schwul bin, was?«

»Allerdings.« Sie machte einen Schmollmund, bei dem Nora-Mireille vor Neid erblasst wäre. »Stell dir vor, was dein Vater sagen würde, wenn er morgen kommt. Der würde deinen tollen Wagen einpacken und so schnell weg sein, dass du nicht mal bis drei zählen könntest. Weißt du noch, als er damals erfahren hat, dass dein Babysitter schwul ist? Wie hieß der? Clemens? So ein Klischee.« Sie rollte die Augen, als wäre das Clemens' Schuld gewesen. »Hast du den je wiedergesehen? Oder seinen alten Freund Bernard von Schönhausen? Der, der jetzt mit seinem Stecher an der Côte d'Azur lebt? Ich wette, er erwähnt nicht mal mehr seinen Namen.«

Jedes ihrer Worte schmerzte wie ein Dolchstoß. Aber Stan lächelte scheinbar ungerührt weiter.

»Okay, ich bin gewarnt. Ich halte mich ganz bestimmt von Matts edlen Teilen fern ...« Weiter kam er nicht, denn Vanessa warf sich wieder in seine Arme. Ihre schmale Hüfte presste sich gegen seinen Unterleib.

»Was zur Hölle stimmt nicht mit dir?«, fragte sie, als er nicht reagierte. Bevor er antworten konnte, wurde die Tür aufgerissen und Matt stürmte herein. Er stolperte, als er Vanessa in Stans Armen erblickte, und konnte sich gerade noch vor einem Sturz retten. Seine Augen weiteten sich. Über sein Gesicht raste eine Abfolge von Gefühlen: Erstaunen, tiefer Schmerz und ... blinde Wut. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen und aus seinen Pupillen schienen Blitze zu schießen. Verdammt, was war los? War er … eifersüchtig? Stans Herz machte einen Hüpfer und sofort folgte die Furcht wie ein böser Fluch.

»Hallo«, grollte Matt und starrte Vanessa hasserfüllt an. Die zuckte zusammen. Nein. Nein!! Stan hatte sie gerade überzeugt, dass hier nichts lief und Matt kam an und machte alles kaputt …

Es reichte.

»Du wolltest gerade gehen, nicht wahr?«, fragte er Vanessa äußerst höflich und schob sie durch den Raum. Als er sie trotz ihrer Proteste vor die Tür befördert hatte, klemmte er den Schreibtischstuhl unter die Türklinke. Und holte sein Handy heraus.

Zugriff in 15 Minuten, schrieb er Waldemar. Halt dich bereit.

Matt stand immer noch an derselben Stelle, in seinem schweißnassen Fußballtrikot, und sah zu Boden, die Fäuste geballt. Er wirkte genauso verwirrt wie Stan sich fühlte. Stan ging an ihm vorbei zum Fenster. Aber er sah den Himmel dahinter kaum. Spürte nur Matts Schweigen in seinem Rücken.

Jetzt kam es darauf an. Einatmen, ausatmen … Er würde sich beherrschen. Keine unwillkommenen Gefühle, keine intimen Gespräche. Er würde auf Matts Körper spielen wie auf einem Klavier und ihn Waldemar in die Arme treiben. In die verdammte Duschkabine. Denn da gehörte Matt eh hin, verschwitzt und lecker wie er war. Nein, korrigierte Stan sich. Nicht lecker. Eklig. Einatmen …

Matts Arme schlossen sich um Stans Brust und sein heißer Kopf legte sich auf seine Schulter. An seinem Rücken spürte Stan die Wärme, die von dem Neuen ausging.

»Was … was machst du da?«, flüsterte Stan heiser.

Sein Puls raste. Ihm war schwindlig. Er wollte sich in diese Umarmung hineinschmiegen und für immer darin versinken, Matts Geruch nach frischem Schweiß und geschnittenem Gras einatmen ... Aber er durfte nicht. Vanessa hatte Recht. Seine Freunde würden ihn verstoßen. Sein Vater würde ihn hassen. Das musste enden.

»Ich weiß nicht.« Matt klang wie ein kleiner Junge, die Stimme gedämpft von Stans Poloshirt. Er ließ nicht los. Stan spürte Matts dampfenden Atem auf seiner Haut und das bewirkte, was Vanessa mit all ihrer Verführungskunst nicht geschafft hatte: Er wurde hart, von einer Sekunde auf die andere. Matts Lippen knabberten über seine Schulter wie die eines störrischen Pferdes. Gefühle stiegen in Stan auf, viel zu viele, um auch nur eins klar zu erkennen. Er wandte seinen Kopf, damit Matts trockene Lippen über seine streifen konnten, genoss die feste Umarmung, ach was, liebte die feste Umarmung …

Die Furcht hob ihren Kopf und biss zu. Nein!

Reiß dich zusammen, Stan, schrie sie. Du musst dir diesen armen Schlucker vom Hals schaffen. Fall nicht auf ihn rein. Lass dich nicht verführen von so einem … Entstellten. Das war eine Idee.

»Hey«, flüsterte Stan gegen Matts Kinn. »Zieh dein Trikot aus.«

Matt blinzelte. »Die Hose?«, fragte er.

»Nein, du Trottel. Das Oberteil.«

Matts Narben waren widerlich, erinnerte Stan sich. Keine Gefahr, ihn noch erotisch zu finden, wenn er dessen Verunstaltung vor Augen hatte. Und dann würde er den Plan durchziehen. Eiskalt.

Matt biss sich auf die Unterlippe. »Ich kann das nicht.«

»Beim Duschen kannst du es auch«, sagte Stan. »Wo ist das Problem?«

»Du findest meinen Arm doch eklig.« Matt sah ihn trotzig an. »Hast du selbst gesagt.«

»Ich will dich sehen, wie du bist«, platzte Stan heraus. »Genau … genau so, wie du bist.«

Matt sah zu Boden. Fantastisch. Hätte Stan gewusst, dass er so augenblicklich die Stimmung verderben konnte, hätte er es schon viel früher gemacht. Oder auch nicht.

»Bist du sicher?«, fragte Matt.

»Ja, ganz sicher«, flüsterte Stan. »Bitte.«

Matt trat einen Schritt zurück, warf Stan einen unsicheren Blick zu … und zog sich das Trikot über den Kopf.

Die Narben waren noch genauso tief in seinen rechten Arm geätzt, wie Stan sich an sie erinnerte. Wie Reptilienhaut. Wie Felsgestein, nur aus Fleisch und der Arm war ein wenig dünner als der linke. Also warum ekelte Stan sich nicht? Warum dachte er, dass Matt fantastisch aussah, wie er da stand, das Trikot in der Hand, ohne Stan in die Augen zu blicken?

In einem letzten Versuch, Abscheu zu empfinden, hob Stan die Hand und berührte Matts vernarbte Haut. Der atmete scharf ein, als hätte er nach all der Zeit noch Schmerzen.

»Fühlt sich an wie versteinert«, murmelte Stan. Seine Finger tasteten über das Narbengewebe, fuhren die Erhebungen und Tiefen ab. Matt beobachtete ihn fassungslos.

»Hast du … hast du keine Angst?«, fragte er leise. Stan sah ihm fest in die Augen.

»Ich bin Konstantin von der Waldeshöhe-Leberbach. Ich habe vor nichts Angst«, sagte er verächtlich, hob Matts Hand und küsste die größte der Narben dort.

Sie schien unter seinen Lippen zu kribbeln. Matt sah einen Augenblick lang aus, als würde er gleich losheulen. Aber dann strich seine linke Hand Stan die Haare aus der Stirn. Und der Blick, den er ihm schenkte, ließ Stans Herz Purzelbäume schlagen. Doch die Angst drückte ihm die Kehle zu. Das Gesicht seines Vaters erschien vor seinem inneren Auge. Keine Fehler, Stan, sagte es. Ich erlaube keine Fehler. Mein Sohn kommt ganz nach mir. Stan fühlte einen Kloß im Hals, der ihn fast erstickte.

Wie ein Schlafwandler drängte er Matt durch den Raum und schubste ihn rücklinks auf sein Bett.

»Ich zeig dir was«, sagte Stan mit ausdrucksloser Stimme. »Keine Angst, ist ganz harmlos. Ich verspreche dir, dass du nicht kommst. Ist eine Übung, damit du demnächst länger durchhältst.«

»Das ist ja wie Fußball von einem Einbeinigen zu lernen«, brummte Matt, aber sein Spott hatte keinen Biss. Er sah Stan an, sah ihn unter seinen dunklen, dichten Wimpern hervor an, als wäre Stan die Erfüllung all seiner Träume. Das war der Blick eines Schafs, das gleich vom Wolf gerissen wurde. Stan hätte heulen können.

Er kniete vor Matt nieder. Eine Stimme erhob sich in seinem Kopf und wollte ihm etwas zurufen, aber die Furcht jaulte so laut, dass er sie nicht verstand. Mit klammen Fingern packte er den Bund von Matts Sporthose.

»Sag Bescheid, wenn du kurz davor bist. Dann hör ich auf.«

Matt nickte. Jede einzelne seiner Sommersprossen schien zu leuchten, so gerötet war sein Gesicht. Stan zog Matts Shorts herunter, ganz langsam. Das ist das letzte Mal, sagte er sich. Mach es richtig.

Matts Schwanz ragte vor ihm auf, hart vor Erwartung und es fühlte sich nicht im Geringsten seltsam an, darüber zu streichen. Stan mochte die samtige Wärme, das leichte Zucken, als seine Finger über die Spitze fuhren. Matts schweres Atmen, seine verschleierten Katzenaugen. Selbst die Tatsache, dass er nach dem Training nicht gerade frisch roch, störte nicht. Stan öffnete den Mund und ließ seine Zungenspitze über den Schaft tanzen, das Salz ablecken …

»Stop«, keuchte Matt.

»Was, schon?«

»Sei halt nicht … so sexy … zur Hölle.« Matt sank tiefer in die Kissen.

»So bin ich nun mal.« Stan zuckte mit den Achseln. »Kann nichts dagegen tun.«

Das schwache Lächeln auf Matts aufgeworfenen Lippen jagte elektrische Ladungen durch sein Herz. Wieder kämpften die seltsame Stimme und die Furcht miteinander. Wieder gewann die Furcht.

»Bereit für mehr?«

Matt nickte.

Diesmal nahm Stan ihn ganz in den Mund und packte mit beiden Händen zu. Matt hielt eine halbe Minute durch, dann hob er die Hand, zu vernebelt, um zu sprechen. Aber Stan ging es nicht viel besser. Hätte die Angst ihm nicht im Nacken gesessen, hätte er sich auf Matt geworfen, sich seinem Hals verbissen und sich an ihm gerieben, bis … Stan atmete tief ein. Und wieder aus.

So ging es eine Weile weiter. Stan lernte, auf Matts immer schwächer werdende Signale zu hören. Er bekam trotz des Chaos' in seinem Kopf heraus, dass Matts Oberschenkel sich anspannten, wenn er fast so weit war, also presste er stets eine Hand darauf. Matt war jenseits von Gut und Böse. Er hing auf dem Bett, den Kopf nur noch von der Wand dahinter aufrecht gehalten und verständigte sich über eine Mischung aus Keuchen und Brummen. Seine Lippen waren feucht und wundgebissen und Stan hätte so gern darüber geleckt, aber er durfte nicht. Das Gesicht seines Vaters und Vanessas verächtliche Miene waren zu deutlich in seinem Kopf. Also machte er weiter.

Und er schaffte immer mehr. Inzwischen verschwand Matts Teil halb in seinem Mund, obwohl es ihm gigantisch vorkam. Er hörte Matt stöhnen, sah, wie der seine Hände in der völlig zerwühlten Decke vergrub. Spürte, wie sich die Muskeln in seinen Oberschenkeln verhärteten.

»Hey«, Stan hob den Kopf. »Du hast nicht Bescheid gesagt.«

Matts Körper schien zum Zerreißen gespannt. Sein Blick flackerte und sein Atem ging stoßweise.

»Bitte … flüsterte er. »Ich kann nicht mehr ...«

Fast hätte Stan es getan. Fast hätte er weiter gemacht, Matt die Erleichterung verschafft, nach der er sich verzehrte. Stattdessen packte die Angst ihn am Kragen und zog ihn auf die Beine.

»Ich glaube, das reicht für heute.« Stan klopfte sich die Knie ab und versuchte, seine fast schmerzhafte Erregung zu ignorieren. Matt schien nicht in der Lage zu antworten. Flehend starrte er zu Stan hoch. Stan räusperte sich. »Du solltest duschen gehen. Du stinkst.«

Matts Brust hob und senkte sich weiter. Sein Blick wurde langsam klar. Er nickte. Wie in Zeitlupe richtete er sich auf.

»Stimmt wohl«, murmelte er. »Sorry.«

»Nicht schlimm.« Stan spürte, dass er gleich heulen würde. Ganz bestimmt. Er fühlte bereits, wie die Tränen in seine Augen krochen. Also drehte er sich um und setzte sich auf seinen Schreibtisch, mit dem Rücken zu Matt. Seine zitternden Finger strichen über ein »Royal Journal«, das oberste auf dem Stapel, der dort lag. Bei dieser Ausgabe hatte Ambros es sogar bis auf das Cover geschafft. Sein Hochzeitsfoto mit Valeria prangte rechts unten. »Traumhochzeit im Grünen«, stand in verschnörkelten Lettern darüber. Sein strahlendes Lachen schien Stan zu verhöhnen.

Hinter ihm knarrte das Bett: Matt stand auf. Dann klappte die Tür. Er war alleine, endlich. Stan ballte die Hände zu Fäusten, schmetterte sie auf die Schreibtischplatte und schluckte mit Gewalt alle Gefühle herunter. Eiskalt, flüsterte die Furcht in sein Ohr. Hol dein Handy. Waldemar steht bereit. Du musst ihn mit Matt fotografieren. Stan streckte seine bebenden Finger nach dem Handy aus, aber es rutschte ihm aus der Hand.

Beeil dich, hörte er. Matt ist bestimmt schon in der Dusche angekommen. Und Waldemar geht entschlossener ran als du … Ein Bild entstand in seinem Kopf: Matt und Waldemar, eng umschlungen unter dem fließenden Wasser, das über ihre muskulösen Körper rann. Er hasste Waldemar.

Endlich schaffte Stan es, das Handy zu packen. Wie ein Schlafwandler stand er auf und wankte zur Tür. Gut so, sagte die Angst. Weiter. Sie war leiser, jetzt, wo sie ihren Willen bekam. So leise, dass er endlich die andere Stimme verstand.

Du willst das doch nicht!, schrie sie. Halt sie auf. Stan erstarrte. Halt sie auf!

Im nächsten Moment raste er den Flur entlang, bis die Wände verschwammen. Er sprintete die Treppe hinunter, nahm drei Stufen auf einmal und rannte Slaloms um jeden, der im Weg stand.

 

Keuchend riss Stan die Tür zur Umkleide auf. Sie war leer, die Spinde offen, die lackierten Holzbänke verlassen. Er hörte die Dusche rauschen.

Nein!, schrie die Stimme, lauter, als es die Furcht je gewesen war. Stan marschierte durch den Umkleideraum. Er würde diese verdammte abschließbare Tür eintreten, er würde die beiden auseinanderzerren, er würde … mit Waldemar zusammenstoßen, der aus dem Duschraum trat, nackt bis auf ein Handtuch, das er sich um die Hüfte geschlungen hatte.

Sie starrten sich an. Ein Knurren drang aus Stans Kehle. Er schoss vor, packte Waldemars baumstammdicken Hals und drückte zu. Der Rugbyspieler riss die Augen auf. Seine Pranken ergriffen Stans Arme und versuchten, ihn von sich wegzureißen, aber Stan dachte nicht daran, sich von diesem Arschloch besiegen zu lassen.

Sie gingen zu Boden und Stan wurde von Waldemars Masse fast zerdrückt. Blind vor Wut rollte er ihn herum und presste Waldemars Handgelenke auf die feuchten Fliesen.

»Was hast du mit ihm gemacht?«, brüllte er in Waldemars erschrockenes Gesicht.

»Stan?«, stammelte Waldemar. »Bist du ... bist du das?«

»Wer denn sonst, du Flachzange??« Stans Geschrei hallte von den Wänden wider. »Was hast du mit ihm gemacht?«

»Na … nichts.«

Stan blinzelte.

»Wie, nichts?«

»Bin wieder abgeblitzt.« Waldemar versuchte, mit den Achseln zu zucken, konnte es wegen Stans festem Griff aber nicht. »Der ist hier reingewankt, als wäre er halbtot. Aber mein charmantes Angebot, ihm beim Waschen zu helfen, hat er trotzdem abgelehnt.«

»Was?«, frage Stan. »Aber … wo ist er jetzt?«

»In der Wichskabine. Allein.« Waldemar runzelte die Stirn. »Lässt du mich jetzt los?«

Erleichterung durchströmte Stans Körper. »Also lief da nichts zwischen euch?«

»Ne, hab ich doch gesagt. Und ich hab auch gesagt, dass du loslassen sollst. Himmel, Arsch und Zwirn. Du bist stärker, als du aussiehst ...«

Die Tür zur Umkleide ging quietschend auf. Stan sah nicht, wer eintrat und er war zu geschockt, um sich umzudrehen. Denn er kniete immer noch auf Waldemar, der bei dem Geraufe sein Handtuch verloren hatte und splitternackt war. Scheiße. Scheiße! Was für eine Ironie, dass es nicht Matt war, der mit dem Rugbyspieler erwischt wurde, sondern er.

»Oh. Hey.« Waldemar lächelte dem Neuankömmling schwach zu. »Danilo.«

Stan sah sich um. Hinter ihm stand ein Berg von einem Kerl, noch größer und breiter als Waldemar und glotzte auf sie hinunter, als würde er sie am liebsten zertreten. Seine roten Haare leuchteten im Schein der Deckenlampen. Und er war wütend. Verdammt wütend.

»Was machst du da? Mit dem?« Verächtlich deutete Danilo auf Stan.

»Also, du wirst es nicht glauben, aber es ist nicht, wie es aussieht ...«

»Sieht aus, als würdest du mit Boyband-Boy rumvögeln.«

»Tu ich nicht!« Waldemar schüttelte Stan ab, als wäre der eine Laus und richtete sich auf. So, wie er und Danilo sich gegenüberstanden, wirkten sie wie zwei Eisberge, die gleich zusammenstoßen würden.

»Oh, tut mir furchtbar leid«, knurrte Danilo. »Ist ja nicht so, als wärst du besonders wählerisch.«

»Warum bist du so ein Arschloch?«, fragte Waldemar. »Was willst du jetzt machen? Mich wieder dreißig Strafrunden laufen lassen? Oder gleich nem Lehrer Bescheid sagen, damit ich fliege?«

»Er will dich küssen, das ist doch klar.« Stan richtete sein Poloshirt. Er blickte Waldemar an, als wäre der der dümmste Mensch der Welt. War er vermutlich auch. »Der Fleischberg hier ist verliebt in dich, das ist doch offensichtlich. Und er kommt nicht damit klar, dass du mit jemand Hübscherem auf dem Boden rumkugelst.«

»Was laberst du wieder für einen Scheiß?«, blaffte Waldemar. Dann sah er zu Danilo, der so rot geworden war, dass man seine Gesichts- und Haarfarbe nicht mehr voneinander unterscheiden konnte. »Äh, das stimmt doch nicht, oder, Danilo?«

»Nananatürlich nicht!« Danilo schaffte es, noch röter zu werden. Stan schüttelte den Kopf.

»Natürlich stimmt es. Guck ihn dir an, der ist total eifersüchtig. Wirklich, ihr seid solche Trottel.«

Mit diesen Worten verließ er die Umkleide und überließ diese Rugbyidioten ihrem Schicksal. Ganz im Ernst, wie konnte man nur so blind sein?

 

1.23 In Flammen stehend

 

Als Stan den Flur entlang stapfte, hatte er keine Ahnung, was er tun sollte. Sein Herz fühlte sich an, als hätte es zehn Stunden im Schleudergang hinter sich und seinem Körper ging es nach der Rauferei mit Waldemar nicht besser. Er holte sein Handy heraus. Fast hätte er seinen Vater angerufen, aber dann fiel ihm ein, dass der morgen sowieso kam.

Gottseidank. Wenn ihm jemand helfen konnte, dann Ambros. Na ja, vielleicht. Was der davon halten würde, dass er mit Matt rumgemacht hatte, war klar ... aber das musste er ihm ja nicht erzählen. Nur, wie sollte er dann sein Problem erklären? Kapierte Stan selbst überhaupt, was sein Problem war? Kurz überlegte er, Gerrit Bescheid zu sagen, dass der die Drogen besorgen sollte. Aber das brachte er nicht über sich. Nicht, wenn er an Matts unschuldigen Blick dachte. Seit wann sah der so ... rein aus? Oder hatte sich Stans Sicht auf ihn verändert? Anscheinend schon, inzwischen fand er selbst dessen Narben sexy, äh, akzeptabel.

»Argh«, Stan raufte sich die Haare. »Was tun?«, flüsterte er, so leise, dass man ihn nicht verstehen konnte. »Warum hat Matt Waldemar abblitzen lassen? Vielleicht … will er nicht, dass der die Narben sieht? Aber wieso durfte ich sie dann anfassen? Und woher hat er die überhaupt? Ich weiß eigentlich gar nichts über ihn. Außer, dass er arm ist und Theologie studieren will und dauernd miese Laune hat und ein grottiger Lügner ist ...«

Gut, dass niemand sonst im Flur war: Er benahm sich ja wie ein Wahnsinniger. Ruhig bleiben. Nachdenken. Wenn es darum ging, mehr über Matt herauszufinden, wusste er, was zu tun war.

 

»Hey.« Sein strahlendes Lächeln warf Eloisa fast aus ihrem Schreibtischstuhl. Ihre Brille beschlug. Leichtes Spiel, dachte Stan. Eloisa gehörte zu den armen Schluckern, die dank eines Stipendiums im Internat waren. Kein Wunder, war sie doch die perfekte Karikatur einer Streberin. Vom verkniffenen Mund bis zur hochgeschlossenen Bluse. Ihr Hobby war es, Frau Unseld im Büro zu vertreten, was diese gern in Anspruch nahm, um sich im Lehrerzimmer mit Kaffee und Klatsch einzudecken. Stundenlang. Obwohl sie Eloisa sonst gern als »Sozialfall« und »Speichelleckerin« bezeichnete.

»Ha... Hallo.« Eloisa fiel der silberne Kugelschreiber aus der Hand. Zwischen Frau Unselds Schreibtisch und dem riesigen Aktenschrank wirkte sie winzig. »Was kann ich für dich tun?«

»Ach«, er erhöhte den Charmefaktor seines Lächelns um 157 Prozent, »Ciara-Sophie meinte, dass du heute hier arbeitest. Ich wollte fragen, ob ich dich kurz vertreten soll. Falls du dir einen Kaffee holen willst oder so.«

»Ich mag keinen Kaffee«, sagte sie und zuckte im nächsten Moment zusammen, als täte es ihr leid.

»Stimmt, du wirkst mehr wie eine Teetrinkerin.« Er musterte sie. »Lass mich raten: Darjeeling? Nein, Pai Mu Tan?«

»Earl Grey.« Kein schlechter Geschmack.

»Natürlich«, sagte er. »Der Klassiker.«

Eloisa entspannte sich sichtbar. »Leider haben sie den nur im Schulcafé, im Erdgeschoss. Es dauert sieben Minuten hin und zurück. So lange kann ich den Schreibtisch nicht verlassen.«

»Wow, das ist präzise.« Er fuhr sich durch seine goldenen Locken. »Aber kein Problem. Wenn du willst, halte ich hier die Stellung.«

»Das ist lieb, äh ... aber ich habe versprochen, dass ich hier bleibe, bis Frau Unseld zurück ist ...« Sie schien zerrissen zwischen Pflichtbewusstsein und ihrer Liebe zum Tee. Oder dem Wunsch, noch länger mit ihm zu reden.

»Ich verrate ihr nichts.« Stan holte einen Zehn-Euro-Schein aus seiner Brieftasche und reichte ihn ihr. Er zwinkerte. »Und ich spendiere den Tee. Du arbeitest viel zu hart.«

Das gab ihr den Rest. Kaum war sie auf dem Weg zum Café, öffnete Stan den edlen Kirschholzschrank. Die Schülerakten lächelten ihm entgegen, alphabetisch sortiert.

L wie Lohmeyer, dachte Stan. In der Mitte des Schranks fand er sie: Lohmeyer, Johanna Maria und ... er stutzte. Lohmeyer, Matthäus Maria? Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Allein dafür hatte es sich gelohnt. Er sah auf die Uhr. Noch sechseinhalb Minuten. Niemand zu hören.

Der hellgraue Ordner war schwer. Und sobald er ihn aufschlug, wusste er, dass er mehr Informationen bekam, als er wollte. Was machte die Kopie eines Zeitungsartikels in einer Schülerakte? Und dann auch noch so ein alter, getackert an mehrere Briefe der Diözese Bettenburg (Rheinland)

»Der kleine Held - Achtjähriger rettet Schwester aus der Flammenhölle«, las er.

Die Überschrift erinnerte Stan an die Artikel über seinen Vater. Doch der Inhalt war ein vollkommen anderer. Als Erstes war da das Foto. Inmitten des Feuers im Hintergrund konnte man mit Mühe ein Autowrack erkennen. Sah aus wie die Reste eines Kombis, so eine richtige Arme-Leute-Familienkutsche. Das Wrack brannte hinter einer Autobahnabsperrung und vor den Flammen stand Matt: ein kleiner Junge mit verheultem Gesicht und einem schreienden Baby auf dem Arm.

Stans Atem stockte. Er war neun Jahre jünger als heute und seine Augen waren verpixelt, aber das war eindeutig Matt. Stan erkannte seine Segelohren. Welcher kranke Scheißer hatte das Foto gemacht, statt dem weinenden Kind zu helfen? Stan war einiges von Paparazzi gewöhnt, aber das hier? Als er die Bildunterschrift entzifferte, fühlte er sich, als hätte er einen Schlag in den Magen bekommen.

»Matthäus L. (8) zog seine kleine Schwester aus dem brennenden Auto, in dem ihre Eltern starben.«

Nun wusste er, woher Matts Narben stammten. Auf dem Foto war Matts rechter Ärmel verbrannt bis zur Schulter, was auf dem Schwarz-Weiß-Bild zunächst nicht auffiel. Aber wenn man es wusste ... Stan schluckte.

»Scheiße, Matt«, sagte er zu dem kleinen Jungen auf dem Foto. Das brennende Auto, in dem ihre Eltern starben. Matts Eltern waren tot? Stan sackte auf dem Boden zusammen. Matts Eltern waren tot. Deshalb hatte der so reagiert, als Stan von seiner Mutter erzählt hatte. Weil es ihm genauso ging. Nur ungefähr hundertmal schlimmer. Da war so viel Schmerz in diesem Bild, so viel Angst, dass er sich fragte, wie Matt zu dem halbwegs stabilen Kerl hatte werden können, der er heute war. Gemessen an den Umständen benahm er sich fantastisch.

»Kein Wunder, dass er keine Angst vor mir hat«, murmelte Stan. Wenn man so eine Katastrophe durchgemacht hatte, dann war es einem egal, was ein kleiner Trottel wie Stan tat. Selbst wenn Stan ihn losgeworden wäre, wäre das mit Abstand nicht das Schlimmste, das Matt je passiert war.

Mit starrem Blick sah Stan auf die Uhr. Noch zwei Minuten. Er überflog den Rest der Akte und die Geschichte wurde nur herzzerreißender. Die Geschwister waren von ihrem einzigen lebenden Verwandten aufgenommen worden. Ihrem Großonkel Erwin (76), einem ehemaligen Mönch. Bis der zu alt geworden war, um für sie zu sorgen.

Den Briefen nach hatte Erwin Lohmeyer alle Gefallen, die er je angesammelt hatte, eingelöst, um die beiden in einem guten Internat unterzubringen. Schloss Hoheneck. Da waren so viele Briefe von hochrangigen Kirchentypen, dass sie den Rest der Akte füllten, darunter einer von einem Bischof, der denselben Nachnamen wie der Direktor hatte ... Deshalb war der Ordner also so schwer.

Stan hörte Schritte und schrak hoch.

Als Eloisa um die Ecke bog, hatte er die Akte bereits wieder verstaut und sein Pokerface geordnet. Na ja, nicht ganz. Sie fragte ihn nämlich prompt, ob es ihm gut ginge. Aber wie sollte man nicht blass werden, wenn man so etwas über seinen größten Feind herausfand?

 

1.24 Im Dunkel der Nacht

 

Stan konnte nicht einschlafen.

Immer wieder blickte er zu Matts strubbeligem Kopf hinüber, dessen Umrisse er im Dunkeln kaum erkannte. Er konnte nicht anders. Ständig sah er das Kind auf dem Foto vor sich. Das Kind, dem der Schmerz der ganzen Welt ins Gesicht geschrieben stand. Das, laut dem Artikel, nicht in Panik verfallen war, nachdem das Auto seiner Eltern gegen den schlingernden Laster geprallt und von der Fahrbahn geschleudert worden war. Der Wagen hatte sofort angefangen zu brennen. Trotz seiner Wunden hatte Matt sich abgeschnallt und seine Schwester aus ihrem Kindersitz befreit. Sekunden, bevor der Wagen in Flammen aufgegangen war, hatte er sie hinter der Absperrung in Sicherheit gebracht. Während ihre Eltern im Wagen hinter ihnen verbrannt waren ...

Stan starrte an die dunkle Decke, suchte rastlos die trüben Schatten nach Hilfe ab. Zu all seinen chaotischen Gefühlen hatte sich jetzt noch ein überwältigendes Schuldgefühl gesellt. Es erdrückte ihn fast. Matt, der kleine, weinende Junge, Matt, der sich immer noch um seine Schwester kümmerte, der für Stan, der absolut keine Probleme hatte, Mitleid empfand, nur, weil dessen Mutter tot war ... Dabei hatte Stan keine Erinnerungen an sie. Nur ein paar verblichene Fotos und Modestrecken, in denen sie Klamotten vorführte, die heute niemand mehr so tragen würde ... Im Gegensatz zu Matt, der als Achtjähriger auf einen Schlag seine Familie verloren hatte.

Matt, den er nur als Störfaktor sah, als Hindernis auf dem Weg zu seinen größten Zielen: Partys zu feiern und Mädels flachzulegen. Zwei Dinge, die ihm immer weniger bedeuteten, je mehr Zeit er mit Matt verbrachte. Matt, der ungehobelte Raufbold, dessen schüchterne Küsse Stan immer noch auf seinen Lippen spürte.

Wieder sah er zu Matts Wuschelkopf hinüber. Matt stöhnte leise. Er schlief unruhig heute Nacht. Kein Wunder. Stan glaubte nicht, dass er je wieder ruhig geschlafen hätte, wenn er so ein Inferno überlebt hätte. Wenn er zum Beispiel seinen Vater und Stefanie verloren hätte ... ein absurder Gedanke, aber er ließ ihn nicht los. Was, wenn die beiden in einem brennenden Wrack umgekommen wären? Hätte er es geschafft, die Zwillinge zu retten? Hätte er es wenigstens geschafft, sich selbst zu retten?

»Nicht ...«, murmelte Matt im Schlaf. »Bitte nicht ...«

Er zuckte, hektisch, wie von Krämpfen geschüttelt. Oh nein. Er träumte doch nicht von dem Unfall, oder? Bestimmt nicht. Vielleicht war das ja nur ein besonders aufregender feuchter Traum. Vielleicht wurde er gerade mit einem Ledergürtel gefesselt, so wie er Stan ...

»Nicht ... brennt«, flüsterte Matt, kaum hörbar. Stans Magen zog sich zusammen. »Brennt … bitte ... kommt raus. Kommt endlich da raus«, schluchzte Matt. Seine Hände griffen in die Luft und sein Körper wand sich unter der dünnen Bettdecke.

Bevor er auch nur darüber nachdachte, was er tat, stieg Stan aus seinem warmen Bett und tapste zu Matt hinüber.

»Hey! Hey, wach auf!« Er rüttelte an Matts Schulter. »Du hast einen Alptraum.«

Matt riss die Augen auf. Das Weiße darin wirkte bläulich im Mondlicht. Er atmete, mit harten, keuchenden Stößen, und schien Stan erst Augenblicke später zu erkennen.

»Was? Ja ... ich ...«, stammelte er. Schweiß glänzte auf seiner Stirn. Und der gebrochene Ausdruck in seinen Augen ließ Stan keine Wahl.

»Rutsch rüber«, befahl er Matt und stieg zu ihm ins Bett, unter die weiche Bettdecke. Es überraschte ihn nicht einmal, dass ihre Körper perfekt zusammenpassten. Als wäre sein Bauch nur dafür geformt worden, sich gegen Matts Rücken zu schmiegen. Stans Hand ruhte auf Matts Brust, direkt über dessen wild pochendem Herzen.

»Was wird das denn?«, murmelte Matt. Nicht unfreundlich, eher verunsichert.

»Wonach sieht's denn aus?«, brummte Stan. »Ich passe auf dich auf.«

»Aber du ... Warum willst du ...«

Der Satz erstarb mittendrin, als wäre Matt die Puste ausgegangen. Der Kragen seines Pyjamaoberteils kitzelte Stans Nase. Es roch ein wenig nach Weichspüler, aber hauptsächlich nach Matts Nachtgeruch. Irgendwo zwischen Vanille und Muskat. Stan entschied, dass er den Geruch mochte. Sehr mochte.

»Wovon hast du geträumt?«, fragte er und seine Lippen strichen über den glatten Stoff.

»Nichts Wichtiges«, sagte Matt sofort. Aber sein Herz hämmerte weiter, als säße ihm der Traum noch in allen Knochen.

»War es der Autounfall?« Ein Ruck ging durch Matts Körper. Stans Mund bewegte sich weiter, obwohl er nicht wusste, wie er die nächsten Sätze beenden würde. »Ich hab deine Schulakte gelesen. Ich ... es tut mir leid. Dein Foto, ich ...« Seine Stimme brach. Verwundert merkte er, dass seine Augen nass wurden. »Das wollte ich nur sagen: Dass es mir leidtut, wie ich dich behandelt habe und ... ich wollte deinen Arm nicht beleidigen. Ich meine, okay, wollte ich. Aber nur, weil ich ein Arschloch bin, okay?«

»Okay.« Matt schnaubte. Klang wie ein winziges Lachen. Er schwieg für einen Moment, aber Stan spürte, dass er nicht schlief. »Weißt du ... die meisten Leute finden meinen Arm eklig. Aber sie tun auf Krampf so, als wäre nichts. Du warst wenigstens ehrlich. Du hast gleich gesagt, dass du ihn widerlich findest. Damit kann ich umgehen, irgendwie. Mit diesem falschen Mitleid, das ich sonst bekomme, ist das viel schwerer.«

»Dein Arm ist nicht eklig«, sagte Stan. »Das hab ich mal gedacht, aber ...« Er tastete unter der Decke herum, bis er seine Hand unter Matts rechten Ärmel geschoben hatte. Das Narbengewebe lag unter seinen Fingerspitzen. »Eigentlich fühlt sich das ganz gut an. Wie ... lebendiger Fels. Also sag nicht sowas.«

Matt seufzte.

»Ich komm nicht klar damit, wenn du so bist.« Seine Stimme klang trotzig. Und traurig und wehmütig, alles gleichzeitig. »So wie gestern Nacht, als du hier betrunken angekommen bist und mir erzählt hast, wie süß ich bin.«

»Ach, das.« Stan spürte seinen Wangen wärmer werden. Zum Glück sah Matt ihn nicht.

»Wann hast du meine Akte gelesen?«, fragte Matt.

»Heute Nachmittag. Da war ein Artikel über den Unfall drin. Und ungefähr 'ne Million Briefe von irgendwelchen Pastoren.«

»Das hat Erwin angeleiert.« Matt schien zu lächeln. »Die hatten gar keine Wahl, als uns aufzunehmen, nach der Empfehlungslawine.« Er verstummte.

Stan spürte Matts warmen Leib an seiner Brust und hielt ihn noch enger umschlungen. Sein Unterleib presste sich gegen Matts festen Hintern. Ziemlich erregend, aber auf eine andere Art als sonst. Gemütlicher, fast entspannt. Er wollte nie wieder weg von hier. Wann hatte er sich zuletzt so geborgen gefühlt? Hatte er das je? Da war eine schwache Erinnerung, aber er konnte sie nicht zuordnen.

»Wir ... wir haben gesungen«, sagte Matt plötzlich. »Im Auto. Das haben wir immer. Und dann gab es auf einmal diesen Knall, und ... und dann hat alles gebrannt und Mama und Papa haben sich nicht bewegt und es wurden immer mehr Flammen und ich wusste nicht, was ich tun soll. Dann habe ich mir Hanna geschnappt und bin rausgerannt. Hab nicht mal gemerkt, was mit meinem Arm war. Und auf einmal … da war es so heiß in meinem Rücken. Weil das Auto ... das ...«

Stan streichelte seinen Arm und drückte seine Stirn in Matts erhitzten Nacken. Der schluckte.

»Es hat echt komisch gerochen. Nach Rauch und Tankstelle und ... ein bisschen wie unser Grill, wenn Papa Steaks gebraten hat ... Sie konnten mir nicht sagen, ob sie noch gelebt haben, als ich ausgestiegen bin. Ich … Vielleicht hätte ich sie noch rausziehen können.«

»War denn noch Zeit?«

»Ich weiß nicht«, flüsterte Matt. »Das ist alles so durcheinander. Ich glaube nicht. Aber ich kann es nicht sagen. Das ist das Schwierigste von allem, hat Mel gesagt. Das zu akzeptieren.«

»Mel?«

»Meine Therapeutin.«

»Du warst in Therapie?«

»Ein paar Jahre lang. Bis es mir besser ging.«

»Und deine Schwester?«

»Die kann sich an nichts erinnern. Zum Glück.« Matts Stimme veränderte sich, wurde weicher. »Klar hat sie mehr geweint als sonst, aber ... na ja, sonst hat sie nicht so viel abgekriegt.«

»Aber du hast was abgekriegt«, murmelte Stan und strich weiter über die Narben. Matts rechte Hand umschloss Stans Handgelenk, sanft, aber entschlossen.

»Ja«, sagte er nur. Seine Stimme klang rau. »Das hab ich wohl.«

Stan wusste nicht, was er sagen sollte. Von draußen hörte er Spätsommergeräusche: Grillen zirpten, Vögel sangen. Aber hier drinnen war es vollkommen still.

»Was habt ihr gesungen? Vor dem Unfall, meine ich«, fragte er schließlich. Eine saublöde Frage, aber etwas Besseres fiel ihm nicht ein.

»So ein Kinderlied. Das Super-Elefantenrennen«, sagte Matt, nach kurzem Zögern.

»Hey, das kenne ich.« Stan lächelte. »Von Stefanie, meiner Stiefmutter. Wenn wir Auto gefahren sind, haben wir das immer gesungen. Oder gegröhlt. Wir hatten es beide nicht so drauf.« Er lächelte bei der Erinnerung. »Wie geht das nochmal? Bei einem echten Elefantenrennen, rennen, rennen ... Da darf keiner pennen, pennen, pennen ... Denn das geht, äh … hm ...«

»Einmal um die Welt«, raunte Matt.

Sie bekamen die ganzen drei Strophen zusammen, Matt mit seiner schönen, vollen Stimme und Stan mit seiner schrägen. Matts Rückenmuskeln entspannten sich.

»So ein blödes Lied«, motzte er schließlich. »Warum fand ich das gut?«

»Du warst halt klein.« Stan grinste. »Ich dachte damals schon, dass ich zu alt und viel zu cool wäre, um das zu singen. Ich meine, ich war zehn. Aber Stefanie hat mich immer überredet, wenn mein Vater nicht dabei war ...«

»Der singt nicht?«

Stan stellte sich vor, wie Ambros das Super-Elefantenrennen sang und lachte unwillkürlich. »Nein. Nie.«

»Ah. Schade.« Matts Stimme wurde schläfrig.

»Geht's wieder?«, fragte Stan leise. »Soll ich gehen?«

Er wollte nicht. Auf keinen Fall wollte er diese gemütliche Höhle verlassen, Matts warme Hand loslassen, und zurück in sein kaltes Bett kriechen. Matt schüttelte den Kopf.

»Ne«, brummte er. »Bleib noch ein bisschen.«

Stan konnte sein Gesicht nicht sehen, aber sein Nacken wurde heißer. Klar, Matt war nicht der Typ, der zugab, dass er weiter bekuschelt werden wollte. Schon gar nicht von ihm. Stan sog Matts Geruch ein wie ein kostbares Parfüm. Noch besser als Hummer mit Parmesanschaum, sein absolutes Lieblingsessen. Besser als alles andere ... Die Turmuhr schlug zwölf, dumpf und unheilverkündend.

»Herzlichen Glückwunsch«, murmelte Matt.

»Stimmt ja.« Stan blinzelte. Er war achtzehn. Endlich. Wie lange hatte er darauf gewartet? Und nun hätte er den Moment fast verpasst. Er lächelte und schmiegte sich fester an Matt. Lauschte dessen Atemzügen, die immer regelmäßiger wurden, bis er sicher war, dass der Neue schlief. Er hörte in weiter Ferne ein Auto starten. Das Rauschen der Bäume und das blasse Mondlicht machten ihn ebenfalls müde. Seine Augenlider wurden schwer, und ehe er es verhindern konnte, war er eingenickt.

 

1.25 Zum Geburtstag viel Glück

 

Am nächsten Morgen wagten sie es nicht einmal, sich in die Augen zu sehen. Schweigend zogen sie sich an und verließen das Zimmer.

Stan hatte keine Ahnung, was er sich dabei gedacht hatte. Nachts, im Dunkeln, war es ihm wie das Vernünftigste auf der Welt vorgekommen, Matt zu umarmen. Nicht nur das, es hatte Gefühle in ihm geweckt, von denen er nicht mal gewusst hatte, dass es sie gab. Gefühle, die wie ein aggressiver Wespenschwarm durch seine Brust summten. Obwohl er sie überhaupt nicht gebrauchen konnte.

Bei Licht betrachtet war die Nacht nämlich ein Desaster gewesen. Wenn jemand morgens ins Zimmer gekommen wäre und sie gesehen hätte, wären sie aus dem Internat geworfen worden. Und zwar beide. Konstantin Friedrich Wilhelm von der Waldeshöhe-Leberbach durfte nicht mit einem Kerl erwischt werden. Noch dazu mit so einem unpassenden. Bei ihren geheimen Treffen hatte Stan stets darauf geachtet, dass sie unbeobachtet waren. Darauf, dass auf keinen Fall jemand etwas mitbekam. Und jetzt das. Einfach so alles zu riskieren, weil er Schuldgefühle hatte ... und Matt im Arm halten wollte, am liebsten für ... nie.

Stan stoppte seine Gedanken. Einatmen, ausatmen. Es brachte nichts. Das Chaos ließ sich nicht mehr verscheuchen. Er sehnte den Moment herbei, in dem sein Vater ankommen würde. Gegen drei hatte Ambros gesagt. Das Auto war Stan mittlerweile egal. Aber er brauchte einen Rat, bevor er durchdrehte.

Beim Morgenlauf versagten Matt und er völlig. Gerrit gewann und ließ sich feiern wie ein König. Unter der Dusche ignorierten sie sich erst recht.

 

»Herzlichen Glückwunsch, Stan!«

Leonora umarmte ihn fest. Ihre weichen Brüste drückten sich gegen ihn und der süßliche Geruch ihres Parfüms stieg ihm in die Nase. Vanessa tat es ihr nach, strahlend, mit nur dem leisesten Funken Misstrauen in den Augenwinkeln.

»Na, wo ist dein Wagen?« Gerrit haute ihm auf die Schulter, so fest, dass dessen Rolex bestimmt einen Abdruck in Stans Haut hinterließ. Dessen minderwertige Rolex, Modell Oyster Perpetual. Stans war eine Cellini Date, um die Gerrit ihn immer beneidet hatte ... Erstaunt bemerkte Stan, dass er heute Morgen vergessen hatte, sie umzuschnallen.

»Herzlichen Glückwunsch, Stan!« Nach und nach kamen andere Schüler und vor allem Schülerinnen an seinen Tisch. Sie gratulierten ihm, bis sein Frühstückstisch vor Geschenken beinahe überquoll. Vanessa und Leonora begutachteten jedes einzelne Päckchen und nur wenige fanden Gnade vor ihren Augen.

»Was ist das? Ein Schal aus der Herbstkollektion? Vom letzten Jahr?« Leonora kicherte. »An deiner Stelle würde ich den direkt verbrennen.«

»Nicht so schlimm wie das hier.« Vanessa hielt ein kleines, würfelförmiges Paket mit einer rotglänzenden Schleife hoch. »Eine Packung Earl Grey? Und nicht mal ne gute Marke. Was denkt diese Helosa sich?«

»Eloisa.« Stan nahm es ihr aus der Hand. »Ich finde das sehr nett von ihr.«

»Ja, aber ... Tee? Was hat sie dafür ausgegeben? Höchstens zehn Euro.«

»Eher zwei neunzig.« Leonora kicherte.

»Was? Ich wusste nicht mal, dass es so billigen Tee gibt.«

»Doch, doch, ich war letztes Wochenende bei meinem Onkel und komischerweise steht der total auf das Zeug ...«

»Das ist ja barbarisch!«

»Sie hat halt nicht so viel Geld«, sagte Stan und legte den Tee auf den neuen Sattel, den er von Leonora bekommen hatte.

Irgendwie war er gereizt. Na ja, kein Wunder. Hinter einem Obstkorb, klar erkennbar durch die Blätter der Ananas, sah er Matt, der zwischen den Fußballern saß und ihm immer wieder »verstohlene« Blicke zuwarf. Wenn der so weitermachte, wussten bald alle, was hier lief. Was immer das war. Stan blickte ja selbst nicht durch. Auf jeden Fall hatte Vanessa bereits Verdacht geschöpft. Ständig sah sie zwischen Stan und Matt hin und her ...

Frau Unseld schritt durch den Speisesaal wie eine greise Königin. Ihre klappernden Absätze steuerten auf Stans Tisch zu.

»Guten Morgen.« Er lächelte sie an. »Sind Sie auch gekommen, um mir zu gratulieren?«

»Ich fürchte nicht«, sagte sie. Ihr Blick war ernst, aber distanziert. Stan blinzelte. Diesen Blick reservierte sie sonst für ungezogene Schüler. Oder arme. »Kommst du bitte mit?«

»Natürlich«, sagte er zögernd. »Ist etwas passiert?«

Er sah die neugierigen Mienen seiner Freunde. Die Atmosphäre am Tisch veränderte sich.

»Das erklärt der Direktor dir«, sagte Frau Unseld.

Sie überprüfte nicht einmal, ob er ihr folgte, was er natürlich tat. Was war geschehen? Grauenerregende Bilder erschienen in seinem Kopf: sein Vater, tot im Straßengraben, neben dem brennenden Wrack von Stans neuem Wagen. Oder im Inneren, wie Matts Eltern, ohnmächtig oder tot, während die Flammen sich immer näher an sein markant schönes Gesicht fraßen ... Stan schluckte. Ganz ruhig. Bestimmt war es ganz harmlos. Vielleicht ein weiterer Anruf von Stefanie? Oder hatte Waldemar ihn und Matt verpetzt, oder ... ruhig. Einatmen. Ausatmen.

Der Direktor begrüßte ihn mit einem knappen Kopfnicken. Er war ein dünner Mann mit weißem Bart, der sich normalerweise herzlich und lustig gab. Heute wirkte er todernst. Die Vorhänge in seinem Büro waren zugezogen und die Schreibtischlampe, die sein Kinn anstrahlte, verlieh seinem Gesicht ein diabolisches Flair.

»Konstantin. Weißt du, warum du hier bist?«

»Leider nicht. Hat es mit meinem Vater zu tun?« Stan faltete die Hände, damit sie nicht zitterten, und sah ihn künstlich gelassen an.

»Ich fürchte schon.« Der Direktor seufzte und nicht der Hauch eines Lächelns entspannte seinen Mund.

Stans Atem stoppte. Was? Sein Hals war wie zugeschnürt, als hätte er einen Schlag auf den Kehlkopf abbekommen. Und der Gesichtsausdruck des Direktors machte es nur noch schlimmer. Unendlich langsam bewegten sich dessen Lippen.

»Dein Vater hat es in den letzten drei Monaten versäumt, das Schulgeld für dich zu überweisen. Kannst du uns sagen, warum?«

»Hat er das?« Endlich bekam Stan wieder Luft. Zu beschäftigt, das Schulgeld zu zahlen war besser als tot. Viel, viel besser.

»Ja.« Der Direktor schien irritiert, als Stan erleichtert aufatmete. »Ich denke nicht, dass du dir deiner Lage bewusst bist, Konstantin. Wenn er bis zum Monatsende nichts überwiesen hat, dann müssen wir deinen Platz auf Schloss Hoheneck leider jemand anderem überlassen. Die Liste der Anwärter ist lang, das kannst du mir glauben.«

»Aber das ist bestimmt nur ein Missverständnis. Haben Sie schon versucht, ihn anzurufen?«

»Ja, bereits mehrfach, und jedes Mal haben wir um Rückruf gebeten. Aber es ist nichts geschehen.«

Stan hatte das unangenehme Gefühl, dass der Boden unter seinen Füßen nicht so fest war, wie er sein sollte.

»Nun, er ist sehr beschäftigt, Soll ich es einmal versuchen?«

»Ich bitte darum.« Die Stimme des Direktors war frostig.

Stans Finger bebten, als er die gespeicherte Nummer antippte. Das war bestimmt ein Missverständnis. Vielleicht war das Konto, von dem sein Schulgeld abging, leer. Das sollte kein Problem sein, sie hatten ja noch genug andere Konten ...

»Sie haben die Nummer von Ambros Friedrich Wilhelm von der Waldeshöhe-Leberbach gewählt. Ich bin zurzeit nicht erreichbar, aber Sie können mir gern eine Nachricht hinterlassen«, hörte er. Wie üblich klang sein Vater, als hätte er einen Cocktail in der Hand und ein Model im Arm.

»Er geht nicht ans Telefon«, sagte Stan und sah dem Direktor fest in die Augen. »Aber ich sehe meinen Vater heute noch. Ich kläre das. Verlassen Sie sich darauf.«

»Das hoffe ich. Vergiss es nicht.« Der Direktor pfählte ihn förmlich mit seinem Blick. »Wenn er uns das Schulgeld weiterhin schuldig bleibt, haben wir das Recht, deine Wertsachen zu pfänden.«

»Meine Wertsachen? Meinen Sie die Rolex?«

»Unter anderem. Ich kenne jemanden, der Interesse an deinem Pferd hat.«

»An Dynamite Dancer? Vergessen Sie's ... äh, das wird nicht nötig sein.«

Der Direktor zog eine Augenbraue hoch. Stan ballte die Hände zu Fäusten. Wieso sah der Mann mit einem Mal wie ein Mafiapate aus? Und Frau Unseld hatte Stan kaum eines Blickes gewürdigt, als sie ihn hergebracht hatte. Als wäre er einer von den armen Schülern, den Stipendiaten oder so. Eine Unverschämtheit!

»Wie gesagt, ich kümmere mich darum«, sagte Stan mit eisgekühlter Stimme. »Einen schönen Tag wünsche ich noch.«

Sobald er seinen Vater ans Telefon bekam, würde er ihn überreden, ihn die Schule wechseln zu lassen. Die taten ja so, als wäre Ambros ein Betrüger, nur weil er einmal vergessen hatte, das verdammte Schulgeld zu bezahlen!

Stan warf die Bürotür hinter sich zu und marschierte an Frau Unselds Schreibtisch vorbei auf den Flur hinaus. Er atmete tief ein. Dann machte er noch einmal kehrt und funkelte sie böse an. Er wusste, er sollte sich beherrschen. Der strahlende, freundlich-charmante Adelsspross sein, den er sonst spielte. Aber es reichte.

»Warum behandeln Sie mich wie einen Verbrecher?«, zischte er sie an. Frau Unseld kniff die Augen zusammen und verzog den Mund, als wäre er ein pöbelnder Obdachloser.

»Nun, weil wir nicht sicher sind, ob wir das ausstehende Schulgeld bekommen. Es ist allgemein bekannt, dass dein Vater Geldsorgen hat ...«

»Hat er nicht!«, schnappte Stan. »Er hat gerade erst wieder geheiratet und schwimmt im Geld! Meine neue Stiefmutter ist ein Supermodel, falls Sie das nicht wussten! Ein schwerreiches Supermodel mit Millionenverträgen!«

»Selbst wenn er momentan in einem Ozean von Geld schwimmt, wird es nicht lange dauern, bis er wieder pleite ist.« Ihre Stimme war noch eisiger als die des Direktors. »Es tut mir leid, Stan. Anscheinend hat dir niemand die Wahrheit gesagt. Unser Finanzberater hat uns davor gewarnt, dich aufzunehmen ...«

»Er hat was?«

Sie schenkte ihm ein Mini-Lächeln, das wahrscheinlich mitleidig wirken sollte, aber die Schadenfreude in ihren Augen nicht verbarg.

»Nun, dein Vater war bereits damals eine tickende Zeitbombe. Wenn man sich einzig auf sein Aussehen verlässt, dann hat man ab vierzig nichts mehr zu lachen. So wie dein alter Herr. Glaub mir, ich musste das selbst schmerzhaft erfahren. Und euch Männern geht es da leider genauso, das wirst du auch eines Tages herausfinden.«

»Werde ich nicht! Was ist denn heute los, zur Hölle? Zeigen alle ihre hässliche Seite oder lassen sie einfach ihre Masken fallen?« Stan hatte das Gefühl, in einem schrägen Traum gelandet zu sein. Oder in einem Paralleluniversum.

»Gewöhn dich lieber daran«, Frau Unseld lächelte freudlos. »Und lern etwas Nützliches. Das hat mir, grob ausgedrückt, den Arsch gerettet, als meine Karriere als Filmsternchen vorbei war.«

»Vergessen Sie's«, Stan wandte sich zum Gehen, »und hören Sie auf, mit dämlichen Ratschlägen um sich zu werfen, nur, weil sie nichts aus sich gemacht haben. Hätten sie ihr Geld vernünftig angelegt, müssten Sie jetzt keine Akten sortieren.«

»Vernünftig angelegt?« Ihre Mundwinkel kräuselten sich. »So wie dein Vater?«

 

1.26 Tief gestürzt

 

Als Stan den Flur entlanglief, fragte er sich, wer es bereits wusste. Gerüchte verbreiteten sich hier in Windeseile. Hatten sie es alle geahnt?

Wahrscheinlich hatte Frau Unseld in der Sekunde, in der die erste Zahlung nicht eintraf, alles im Lehrerzimmer weitergetratscht. Gerrit und Vanessa hatten in letzter Zeit diesen lauernden Blick drauf ... ach was, das bildete er sich ein. Garantiert. Aber irgendwie hatte er keine Lust darauf, zurück in den Speisesaal zu gehen. Obwohl da seine Geschenke lagen. Die Bediensteten würden die schon in sein Zimmer räumen.

Er hielt sein Handy an sein Ohr und versuchte erneut, Ambros zu erreichen. Der war doch schon unterwegs. Konnte er nicht früher kommen, Stan holen und das ganze Missverständnis aufklären? Stan hatte sich nie weniger erwachsen gefühlt als heute, an seinem achtzehnten Geburtstag.

Ohne zu wissen, was er tat, war Stan auf den Parkplatz gelaufen. Hier draußen fühlte er sich etwas freier. Die Sonne strahlte und ein leichter Wind wehte über die Maseratis, Porsches und Lamborghinis der älteren Schüler. Die Luft roch nach frischem Heu und ... Sturm?

Stan wandte sich um. Am Horizont, ganz weit hinten, braute sich etwas zusammen. Eine schwarze Linie kroch unter das Himmelsblau wie eine heranstürmende Armee. Der Wind wurde stärker. Immerhin war er hier allein. Stan lehnte sich gegen einen silbernen Porsche Spyder und versuchte, die Ruhe zu genießen. Es funktionierte nicht. Angst rumorte in seinem Bauch. Ein Verdacht war in ihm aufgekeimt, über den er noch nicht einmal nachdenken wollte. Er wollte Ambros vertrauen. Der war doch sein Vater, verdammt! Die einzige Familie, die er noch hatte, nachdem seine Großeltern gestorben waren ...

Sein Handy vibrierte. Es war Ambros. Stan atmete auf, so erleichtert, dass er fast geheult hätte.

»Dad, gottseidank, ich ...« Er riss sich zusammen. Ambros mochte keine Jammerlappen. »Wo bist du?«

Ambros klang bereits jetzt genervt. »In Venedig natürlich. Wo soll ich denn sonst sein? Hast du vergessen, dass die Filmfestspiele angefangen haben? Hör mal, ich habe nicht viel Zeit ...«

»Wa... wie bitte?« Stan war ganz sicher, dass das ein Scherz war. Das musste ein Scherz sein. Bitte! »Du bist in Venedig«, wiederholte er und unterdrückte das Zittern in seiner Stimme.

»Das sagte ich doch.«

»Hast du«, Stan schloss die Augen, »hast du vergessen, dass du herkommen wolltest? Du weißt schon, wegen meines Geburtstags?«

»Oh.« Stille am anderen Ende der Leitung. »Oh, verdammt. Sorry, mein Sohn. Daran hab ich gar nicht mehr gedacht. Es war soviel los. Wir haben in den letzten drei Wochen sieben Länder besucht, Valeria ist immer noch in New York und … ach, das tut mir echt leid. Kannst du deinem alten Herrn verzeihen?«

Nein. Nein, konnte er nicht. Stan schluckte.

»Klar, kein Problem«, sagte er, bevor seine Stimme ihn im Stich ließ. Er hatte wirklich Angst, dass er heulen würde. Aber das durfte er nicht. Nicht hier, in Sichtweite des Internats. Er musste Haltung bewahren. Er war doch erwachsen.

»Das ist fantastisch. Gut, dass ich so einen großherzigen Sohn habe.« Ambros lachte. »Ich sag dir was, du bekommst gleich zwei Autos … Was hatten wir gesagt, was du für eins kriegst?«

Einatmen. »Das sollte eine Überraschung sein.« Ausatmen.

»Ach ja.« Ambros war die Situation hörbar unangenehm. »Dann weiß ich Bescheid. Okay, ich muss gleich los, war sonst noch etwas?« Es war klar, dass er hoffte, es würde nichts weiter sein. Aber Stan räusperte sich.

»Mein Schulgeld wurde nicht bezahlt. In den letzten drei Monaten. Kannst du nachgucken, ob das Konto leer ist? Jetzt?«

»Ich weiß nicht, Stan, ich muss wirklich los ...« Ambros klang wie ein mauliges Kind.

»Jetzt!« Stan richtete sich auf. »Sie wollen mich von der Schule werfen, wenn das verdammte Geld nicht überwiesen wird, also setz dich in Bewegung und guck nach!«

Stans Stimme hallte über den Parkplatz. Weiter hinten, neben dem Tor, drehten sich zwei Mädchen nach ihm um. Stan atmete schwer. Er hatte nicht schreien wollen. Wirklich nicht. Aber die Panik hatte seinen ganzen Körper erfasst und sein Vater, der Einzige, der ihm helfen konnte, war unbrauchbar und er hatte nicht mal an seinen Scheißgeburtstag gedacht! Ambros schwieg. Als er wieder sprach, klang er zum ersten Mal in seinem Leben wie ein Vater.

»Nicht in dem Ton, Stan!«, sagte er. »Das muss ich mir von dir nicht gefallen lassen ...«

»Wenn du nicht auf der Stelle nachguckst, sorge ich dafür, dass jede einzelne deiner Exfrauen deine neue Nummer bekommt«, knurrte Stan. »Und dann kannst du dich jeden Tag mit wütenden Furien rumschlagen. Soweit ich mich erinnere, haben Estelle und Livia noch Unterhaltsklagen gegen dich laufen.«

»Stan, was … ist denn los mit dir?« Ambros klang, als hätte sein Sohn sich spontan in ein Monster verwandelt.

»Ich fliege vom Internat, Dad. An meinem Geburtstag. Bitte … bitte guck nach.«

Ambros würde sich nach diesem Gespräch monatelang nicht melden, das war klar. So viel Drama verkraftete er nicht. Immerhin schien er sich in Bewegung zu setzen. Stan hörte einen tiefen Seufzer und dann das Geräusch eines aufklappenden Laptops.

»Welches Konto ist es?«, fragte er gelangweilt. Von wegen monatelang. Jahrelang. Stans Herz sank.

»Bayern LB. Danke, Dad.«

Ambros gab statt einer Antwort nur ein Knurren von sich. Stan hörte Tastenklappern, dann ein genervtes Seufzen.

»Ja, das ist leer. Überzogen bis zum Anschlag.« Ambros lachte, ohne Freude. »Warte, ich öffne eins von den anderen. Wenn ich das verdammte Geld überweise, gibst du Ruhe, richtig?«

»Ja. Tut mir leid, Dad. Echt.« Stan massierte seine Nasenwurzel. Immerhin war seine schlimmste Befürchtung nicht wahr geworden. Die, dass sein Vater ihn seinem Schicksal überlassen würde, jetzt, wo er achtzehn war. Wie hatte er so etwas nur denken können? Sie waren eine Familie, auch wenn nicht immer alles perfekt lief.

»Hm. Komisch«, sagte Ambros.

»Was ist, Dad?«

»Das ist auch leer. Vielleicht hätte ich den Finanzberater damals doch anheuern sollen. Aber es gibt ja noch die Lloyds Bank ...« Er verstummte und Stan befürchtete das Schlimmste. Sein Schweigen zog sich wie die Stille vor einem Bombeneinschlag. Dann hörte er seinen Vater brüllen. Wütend. Ungläubig.

»Dieses Miststück!«, dröhnte es aus dem Hörer. »Diese verkommene kleine Hure! Diese ...«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739375779
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Januar)
Schlagworte
love romance Liebesroman Sammlung schwul boys yaoi Komödie gay

Autor

  • Regina Mars (Autor:in)

In einer magischen Vollmondnacht paarten sich ein Einhorn und ein Regenbogen und zeugten Regina Mars. Geboren, um Kaffee zu trinken, lebt sie im Süden Deutschlands und erfreut die Welt mit ihren poetischen Romanen, in denen die Liebe stets gewinnt und Witze so dumm, albern und fragwürdig sein dürfen, wie sie wollen. Ihre Website, auf der sie täglich über ihr erbärmliches Schreibtempo jammert, äh, »ein Schreibtagebuch führt«: reginamars.de
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Titel: Regina Mars Collection 1