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Aequipondium: Ein neuer König

von Ima Ahorn (Autor:in)
210 Seiten
Reihe: Aequipondium, Band 4

Zusammenfassung

Auf der Longlist 2021 des tolino media Newcomerpreis!

Königskrone günstig abzugeben!

Wer hätte das gedacht: Entdecker Siegbald Sockenloch wird König des magischen Kontinents Aequipondium. Obwohl er anfangs begeistert ist, merkt der bequeme Abenteurer schnell, dass sein neues Amt ziemlich mühsam ist. Aber einfach abdanken? Seine Freundin, die Hexe Theolinde, ist jedenfalls dagegen. Was soll dann aus Aequipondiums seltsamen Kreaturen werden? Besser wäre es, einen würdigen Nachfolger zu ernennen. Nur wer ist würdig und wichtiger: willig? Einen Kandidaten gäbe es ja, doch der ist verschwunden. Und ist er überhaupt bereit, die Krone von Aequipondium zu tragen? Siegbald scheut keine Mühen, um endlich die Königswürde loszuwerden. Er begibt sich auf eine Suche, die ihn kreuz und quer über den Kontinent führt.

Ob es ihm gelingt, einen Dummen zu finden und in sein bequemes Abenteurer-Dasein zurückzukehren?

Humorvolle Fantasy mit legendären Helden und skurrilen Charakteren. Für alle Fans der Scheibenwelt.

Dies ist Siegbalds viertes Abenteuer, aber alle Bücher der Serie können auch einzeln gelesen werden.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Einleitung

Aequipondium. Der letzte magische Kontinent auf der Erde des 18. Jahrhunderts. Noch liegt er friedlich und unentdeckt im stürmischen Süden des pazifischen Ozeans. Doch der Wissensdurst der europäischen Gelehrten ist groß und auch gierige Händler suchen auf der ganzen Welt nach unerschlossenen Märkten und neuen Handelsgütern. Bald werden sich die Schiffe der Entdecker und Abenteurer wie Haie in immer engeren Kreisen um die steilen Küsten und seemonster-verseuchten Klippen des Kontinents bewegen.

Doch bis jetzt haben nur ein paar Schiffbrüchige, gestrandete Entdecker und natürlich allerhand magisches Volk den Weg hierher gefunden.

Einer von ihnen ist der Entdecker Siegbald Sockenloch, der als Botschafter Preußens versuchte, den sagenhaften Gegengewicht-Kontinent zu finden, um damit Ruhm und Reichtum zu erlangen.

Statt Reichtum, fand er neue Freunde und erlebte unglaubliche Abenteuer. Dennoch nagt das Heimweh an ihm. Denn was nutzt die größte Entdeckung, wenn man sie mit niemandem teilen kann? Was, wenn man den Gegengewicht-Kontinent nicht wieder verlassen kann?

 

 

Der Bote

Mit einem zufriedenen Seufzen ließ sich Siegbald in den Badezuber sinken. Das heiße Bad war ein Luxus, den er sich nicht öfter als einmal in der Woche gönnte. Der Aufwand, das Wasser vom Brunnen zu holen, auf dem Herd zu erhitzen und es anschließend zum Badezuber zu schleppen, war einfach zu groß. Doch der Moment in dem ihm das heiße Wasser über die Schultern schwappte und das Prickeln des beinahe zu heißen Wassers nachließ, entschädigte ihn für die Mühe.

Früher hatte er keinen Gedanken daran verschwendet und sich beinahe jeden Tag von seinem Leibdiener ein Bad bereiten lassen. Doch seit er in Aequipondium war, hatte er keinen Leibdiener mehr und das hieß, er, Siegbald Odin Sockenloch, musste sich selbst um sein Badewasser kümmern. Es spielte keine Rolle, dass er Sonderbotschafter des preußischen Königs war, ein Entdecker und inzwischen auch ein recht erfahrener Abenteurer. Wenn er baden wollte, musste er selbst anpacken.

„SOCKENLOCH!“

Der Ruf, der Siegbald aus seiner Träumerei riss, war so laut, dass die Fensterscheiben klirrten und sich ein zitterndes Wellenmuster auf seinem Badewasser bildete.

Die laute, tiefe Stimme klang ein wenig nach dem Riesen Herrn Heinzel, fand Siegbald. Aber warum sollte der ihn aufsuchen? Und warum ausgerechnet jetzt? Er ließ sich noch ein paar Zentimeter tiefer ins heiße Wasser sinken. Ein Glück, dass seine Freundin Theolinde Taubenfuß, der der Badezuber und auch das Haus, in dem er stand, gehörte, sogar noch eine Handbreit größer war als der ohnehin schon stattliche Siegbald. So bot der Zuber ihm ausreichend Platz.

„SOCKENLOCH!“

Aus dem nun etwas dumpferen Klang schloss Siegbald, dass der Rufer das Haus durch die Hintertür betreten hatte und jetzt in der Küche stand. Offenbar war es tatsächlich Herr Heinzel, denn wer sonst würde es wagen, einfach uneingeladen das Haus einer Hexe zu betreten? Theolinde war nicht zu Hause, aber sicher würde gleich Johannes, Siegbalds ehemaliger Diener, den Riesen darüber informieren, dass Siegbald gerade ein Bad nahm. Er mochte ihn nicht mehr bedienen, doch waren sie gewissermaßen Hausgenossen und er respektierte immer noch die Privatsphäre des Entdeckers.

Gerade fiel Siegbald ein, dass Johannes heute den Comte de La Pérouse besuchen wollte, da donnerte auch schon die Faust des Riesen gegen die Tür der Kammer. Ehe Herr Heinzel nun die Tür einschlagen und seinen Kopf hereinstecken konnte, meldete sich Siegbald schließlich.

„Ich komme gleich“, rief er und wurde mit einem zufriedenen Grollen belohnt.

Kurz darauf hörte er am Knarren der Dielen, dass Herr Heinzel in die Küche zurückgekehrt war. Einen Moment lang war Siegbald versucht, noch zehn Minuten in der Wanne liegen zu bleiben, damit sich der ganze Aufwand mit dem Badewasser wenigstens gelohnt hatte. Doch das Wissen, dass draußen ein ungeduldiger Riese auf ihn wartete, hatte die Atmosphäre der Entspannung vertrieben. Brummend kletterte Siegbald aus dem Zuber. Vielleicht ließ sich die Angelegenheit ja rasch genug regeln, dass er wieder in die Wanne kam, ehe das Wasser kalt war.

Er warf einen kurzen Blick in Theolindes Frisierspiegel. Ein stattlicher Mann. So hatte man ihn zumindest noch vor ein paar Jahren bezeichnet. Groß und breitschultrig war er noch immer. Doch seine schönen blonden Locken wurden spärlicher und gerade jetzt hingen sie wie nasse Rattenschwänze über seine Ohren und bis auf die Schultern. Und am Bauch setzte er langsam Fett an. Versuchsweise hielt er die Luft an und zog den Bauch ein. Ja, so war es besser. Insbesondere, da ungewohnte Arbeiten, wie das Wasserholen, seine Muskeln hatten anwachsen lassen, machte er so eine gute Figur, für einen Mann von gut dreißig Lebensjahren.

Ein Klappern aus der Küche erinnerte ihn an den wartenden Riesen. Rasch rubbelte er sich trocken und zog einen Morgenmantel über.

Mit feuchtem Haar und nur halbwegs präsentabel bekleidet, erschien Siegbald wenig später in der Küche. Herr Heinzel, der Riese, hatte sich inzwischen selbst einen Tee bereitet, den er nun zwischen seinen gewaltigen Pranken hielt. Er war regelmäßig zu Gast in Theolindes Küche, so war der Entdecker nicht sonderlich überrascht, ihn zu sehen. Allerdings führten ihn seine Angelegenheiten immer zur Hexe. Dass er einmal nach Siegbald suchte, war ungewöhnlich und genaugenommen seit der unglückseligen Geschichte mit Küchenhuhn Alma Wiesenglück nicht mehr geschehen. Damals war er im Auftrag des Königs unterwegs.

„Was gibt es?“ fragte Siegbald leicht ungehalten.

Doch nun, da er ihn gefunden hatte, hatte es Herr Heinzel gar nicht mehr so eilig, zur Sache zu kommen. Zuerst fragte er nach Theolinde, dann nach dem Befinden ihrer gemeinsamen Freunde, der Dächsin Augusta Zwiebel und Maximilian Otter. Auch wie es der Drachendame Luna und ihren Kindern erging, wollte er wissen.

Während Siegbald zähneknirschend seine Fragen beantwortete, nickte er nachdenklich oder gab ein zufriedenes Brummen von sich. Wenn es so weiterging, war das Badewasser sicher eiskalt bis Siegbald wieder allein war. Erst, als der Riese seinen Tee ausgetrunken hatte, rückte er damit heraus, was ihn hergeführt hatte.

„Der König will dich sehen, Sockenloch“, grollte er.

„König Robert? Mich? Aber wieso denn?“

Leichte Besorgnis mischte sich in Siegbalds Tonfall. Zwar glaubte er nicht, dass er sich etwas zu Schulden hatte kommen lassen, aber sein Ruf im Königsschloss war von Anfang an nicht der Beste gewesen. Dass er geholfen hatte, das Magische Zentrum Aequipondiums wieder zu stabilisieren, mochte die Meinung des Königs etwas verbessert haben, doch andererseits hatte er auch versucht, über das Meer zu fliehen und die Entdeckung des Gegengewicht-Kontinents in Europa bekannt zu machen. Alles in allem war Siegbald in den letzten Monaten zufrieden gewesen, vom König und den anderen wichtigen Persönlichkeiten Aequipondiums weitgehend ignoriert zu werden.

„Geht mich nichts an“, grollte der Riese. „Aber du sollst dich so schnell wie möglich bei seinem Haus unter dem Zahnstein blicken lassen.“

„Unter dem Zahnstein?“ echote Siegbald verwundert. „Wieso nicht im Schloss?“

Herr Heinzel musterte ihn nachdenklich. „Ich an deiner Stelle würde mich lieber auf den Weg machen, anstatt hier unnütze Fragen zu stellen.“

„Wie? Du meinst, sofort? Noch heute? Aber der Zahnstein ist doch viel zu weit, um heute noch hinzukommen.“

Siegbald warf einen zweifelnden Blick aus dem Fenster, so dass er den von der tief stehenden Nachmittagssonne goldgelb gefärbten Waldrand sehen konnte.

Der Riese erhob sich schwerfällig, trug seine Tasse zur Anrichte und, nachdem er sie sorgfältig abgespült hatte, stellte er sie zurück ins Regal.

„Ist deine Sache. Ich bin nur der Überbringer der Nachricht“, grollte er. Dann wandte er sich zur Tür. „Ich mache mich jetzt jedenfalls auf den Rückweg und übernachte in Landsby.“

„Warte“, rief Siegbald ganz automatisch.

Der Riese betrachtete ihn abwartend, während Siegbalds Gedanken rasten. Natürlich musste er zum König. Aber konnte er denn überhaupt hier weg? Theolinde war unterwegs und auch Johannes würde frühestens morgen zurückkehren. Wo Augusta Zwiebel sich rumtrieb, wusste Gott allein. Somit war es an Siegbald, sich um das Haus zu kümmern. Andererseits gab es eigentlich nicht viel, um dass er sich kümmern musste und schließlich ließ man einen König nicht warten.

„Ich zieh mir nur rasch etwas an und schreibe Theolinde eine Notiz“, verkündete er das Ergebnis seiner Überlegungen.

Ehe Herr Heinzel antworten konnte, war der Entdecker bereits zur Tür hinaus und hinauf in sein Zimmer geeilt.

Als sie nur zehn Minuten später den Weg durch den Dolchwald nahmen, dachte Siegbald mit vager Befriedigung, dass ihm so zwar sein Bad entgangen war, er sich andererseits aber auch vor der Aufgabe drücken konnte, das gebrauchte Badewasser zu entsorgen. Außerdem gab es in Landsby vielleicht etwas Besseres zum Abendessen, als ein weiteres Mal gebratene Riesenzucchini. Auch wenn er Theolinde liebte, wünschte er sich manchmal ein wenig Abwechslung von ihrer Vorliebe für einfache und schnelle Riesengemüsegerichte.

 

 

Unter dem Zahnstein

Als Siegbald am darauffolgenden Nachmittag das kleine Haus von König Robert im Schatten des Zahnsteins erreichte, war sein Kopfweh beinahe verflogen. Es war seltsam gewesen, aber bei den Wikingern in Landsby schien Siegbald fast so etwas wie eine Legende zu sein. Dabei hatte er sie bisher nur ein oder zwei Mal besucht und kannte sie eigentlich kaum. Er hatte keine Ahnung, ob er seinen Ruf dem alten Gunnar zu verdanken hatte, mit dem er in Rüblingen einen Schaukampf gegen Drachendame Luna ausgefochten hatte, oder ob es an seinem Besuch in Walhalla lag. Doch davon konnte nur der französische Entdecker La Pérouse oder einer aus dessen Mannschaft berichtet haben, denn Theolinde hatte er nicht viel davon erzählt.

Was auch immer der Grund war: Die Wikinger hatten seine Anwesenheit genutzt, um ein rauschendes Fest zu feiern. Der Met war in Strömen geflossen und nicht einmal die eher fade Küche aus Spinatstrudel und Riesenapfelkuchen konnte irgendwem die Laune verderben.

Beim Essen fragte Siegbald sich, ob die Wikinger, wie die meisten Aequipondier, die er getroffen hatte, aus Prinzip kein Fleisch aßen, oder ob sie nur darauf verzichteten, weil Siegbalds Freundin Theolinde Taubenfuß so eine vehemente Schützerin aller lebenden Kreaturen war.

Herrn Heinzel hatte Siegbald in Landsby zurückgelassen. Der Riese befand, er hatte keinen Grund, trotz seines Brummschädels bereits am Morgen weiterzuziehen. So war Siegbald allein in Richtung Hauptstadt gewandert.

Schon von weitem war der backenzahnförmige Fels zu erkennen, der sich auf seinen drei „Zahnwurzeln“ hoch über die Landschaft erhob und auf dessen „Kaufläche“ sich Schloss Oberzahnstein befand. Am Fuße des Zahnsteins breitete sich das Dorf Unterzahnstein aus und auf der anderen Seite, im Schatten des Zahnsteins, befanden sich ein kleiner See und das Sommerhaus des Königs.

Sommerhaus war eigentlich eine viel zu großzügige Bezeichnung für die schäbige Holzhütte, die dem König als Platz für seine weniger royalen, schmutzigeren Beschäftigungen diente. Oh, es war keineswegs ein Liebesnest. Im Gegenteil: Hier verbrachte der König seine Zeit beim Angeln, mit der Schweinezucht oder bei der Gartenarbeit. Warum er Siegbald ausgerechnet hier empfangen wollte, wo er doch ein großzügiges und hübsches Schloss ganz in der Nähe hatte, war Siegbald ein Rätsel. Vielleicht versuchte er, heimlichen Lauschern auszuweichen oder dem Hoftratsch zu entkommen.

Ja, das wird es sein, entschied Siegbald. Doch warum der König ausgerechnet mit Siegbald Geheimnisse zu besprechen hatte, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen.

„Hallo?“

Siegbald klopfte an die Tür des Häuschens, aber es schien niemand zuhause zu sein. Eben wollte er sich abwenden und es doch oben im Schloss versuchen, da hörte er das Quietschen einer Gartentür.

„Oh, guten Tag, Herr Sockenloch. Ihr seid schon hier? Prächtig, prächtig. Dabei hatte ich Euch nicht vor morgen erwartet.“ Der alte Mann rieb sich zufrieden die Hände und strahlte über das ganze Gesicht.

„Majestät.“ Siegbald neigte höflich den Kopf.

Hätte er es nicht besser gewusst, er hätte die Gestalt, die in Strohhut, Bauernkittel und groben Hosen angetan war, für einen Gärtner gehalten. Auch die schmutzigen Hände und die erdigen Flecken an den Knien machten es nicht besser.

„Kommt. Ich will Euch etwas zeigen“, forderte der König ihn auf und winkte ihn in Richtung der Gartentür.

Zögernd folgte Siegbald ihm. Er hatte sich zwar längst daran gewöhnt, sich nicht mehr zu jeder Mahlzeit umzukleiden, doch für die Audienz beim König hatte er sich doch ein wenig herausgeputzt. Der Entdecker hatte wenig Lust, seine letztes gutes Justaucorps zu beschmutzen, um gemeinsam mit seiner Majestät im Kompost zu wühlen.

Er hätte sich jedoch nicht sorgen müssen, denn König Robert hielt das Objekt, das er ihm zeigen wollte, bereits in der Hand, als Siegbald durch das Gartentor trat.

„Was haltet Ihr davon?“ fragte er.

Skeptisch betrachtete Siegbald das Gemüse, das der König in der Hand hielt. War das ein Scherz? Machte sich der König etwa über ihn lustig? Doch ein Blick ins Gesicht des Monarchen zeigte ihm nichts als ehrliche Begeisterung.

„Eine Karotte“, stellte Siegbald fest.

König Robert nickte. „Aber nicht irgendeine Karotte. Dies ist eine Wichtelwurzel. Findet Ihr nicht auch, dass sie genau aussieht wie ein Wichtel?“ Erwartungsvoll blickte er zu Siegbald auf.

Tatsächlich hatte sich die Wurzel im harten Boden des Gartens mehrfach geteilt, sodass mit ein wenig Fantasie eine menschenartige Figur zu erkennen war, mit zwei längeren Wurzeln für die Beine und zwei weiteren, die Arme sein mochten.

„Ähm, ja. Ja, durchaus“, bestätigte Siegbald schließlich. Je schneller sie diese Posse hinter sich brachten, desto besser.

Zufrieden ließ der König seine Zucht wieder in der weichen Erde verschwinden. „Ich habe eine neue Leidenschaft“, gestand er dabei. „Wir werden in diesem Jahr einen Kreaturen-Karotten-Wettbewerb veranstalten. Und ich habe die feste Absicht, ihn zu gewinnen.“

Siegbald zögerte. „Was ist mit dem Riesengemüsewettbewerb?“ fragte er.

Der König winkte ab.

„Riesengemüse hat in Wirklichkeit keine Zukunft“, stellte er fest. „Der kulinarische Wert ist begrenzt und auch, wenn man damit die Hungrigen speisen kann, so ist eine baumstammdicke Stange Porree doch einfach zu viel für einen Haushalt, in dem nur noch eine alte Frau oder ein ältliches Ehepaar lebt. – Hast du gewusst, dass die Wichtel einen Ruderwettbewerb geplant haben, bei dem sie ausgehöhlte Riesenzucchini als Boote verwenden wollen? Einige Exemplare dieser Kürbisfrucht werden inzwischen so groß, dass auch Goblins und sogar Menschenkinder antreten wollen.“ Der König schüttelte traurig den Kopf. „Wenn das die Achtung ist, die die Jugend vor unseren wertvollen Agrarprodukten hat, so sollten wir auf die Zucht von Riesengemüse künftig wohl verzichten.“

Ein schelmisches Funkeln trat in seine Augen. „Außerdem sind Karottenkreaturen viel amüsanter. Hast du gewusst, dass Dr. Fry angeblich eine hat, die aussieht, wie ein Einhorn? Nein? Aber ich werde ihn schlagen. Ich arbeite an einem Exemplar, das das Gesicht von Amalberga hat.“

Bei dem Gedanken an ein Gemüse, das das Gesicht der gestrengen Oberhexe zeigte, bekam Siegbald eine Gänsehaut. Trotzdem bemühte er sich um ein aufmunterndes Lächeln und nickte dem König zu.

„Aber das ist doch sicher nicht der Grund, aus dem Ihr mich hergerufen habt. Oder?“ fragte Siegbald in dem verzweifelten Versuch, weiteren leidenschaftlichen Ergüssen über den Anbau von ornamentalem Gemüse zu entgehen.

Das Gesicht des Königs, eben noch vom Strahlen des wahren Enthusiasten erfüllt, wurde ernst.

„Leider nein. Aber vielleicht folgt Ihr mir besser ins Haus.“

Das Innere des Häuschens war, wie auch sein Äußeres, recht einfach gehalten. Man könnte auch sagen: primitiv. Es gab zwei Räume, von denen der größere als Wohnstube, Küche und Werkstatt in Einem zu dienen schien, während der andere wohl der Schlafraum war.

Nachdem er die Tür hinter Siegbald geschlossen hatte, füllte der König zwei Tonbecher aus einem mit einem Tuch abgedeckten Krug, der auf der Anrichte stand. Er drückte Siegbald einen der Becher in die Hand und ließ sich dann ächzend auf einem der Küchenstühle nieder. Mit einer Geste bedeutete er dem Entdecker, sich ebenfalls zu setzen.

Während Siegbald darauf wartete, dass König Robert endlich zur Sache kam, schnupperte er misstrauisch an seinem Becher. Überraschenderweise enthielt der nichts anderes als Apfelsaft. Wie er den König kannte, war es vermutlich ein Riesenapfelsaft. Vielleicht nicht die schlechteste Wahl, überlegte Siegbald und dachte an seinen Kater von letzter Nacht. Wobei ihm eine Tasse Kaffee oder wenigstens ein starker schwarzer Tee bedeutend lieber gewesen wäre.

„Wenn Ihr Hunger habt, es ist noch Riesenbohneneintopf da. Amelia hat ihn gekocht.“

Siegbald, dem eben erst aufgefallen war, wie hungrig er nach der Wanderung von Landsby nach Unterzahnstein eigentlich war, zögerte. Zwar könnte er etwas zu Essen vertragen. Aber ein Riesengemüsegericht, das die launische und verwöhnte Tochter des Königs gekocht hatte, das schien ihm nicht geheuer.

„Esst Ihr auch etwas, Majestät?“

König Robert verneinte. „Ich habe es probiert. Aber ich fürchte, mein alter Magen ist nicht robust genug dafür.“

Siegbald nickte verständnisvoll. „In dem Fall fände ich es unhöflich, allein vor euren Augen zu essen.“

„Wie Ihr wollt.“

Nachdem der König Siegbald eine Weile nachdenklich betrachtet hatte, fragte er: „Habt Ihr von den Aufständischen gehört?“

Der Entdecker riss überrascht die Augen auf. „Es gibt Aufstände? Weswegen? Und wogegen überhaupt?“

„Ihr wisst also nicht, wer die Aufständischen sind?“

Siegbald schüttelte den Kopf.

König Robert seufzte. „Das hatte ich befürchtet. – Nun, dann wird Euch dies wohl einigermaßen überraschen.“

Er griff in seine Tasche und zog eine zerdrückte Pergamentrolle hervor, die er über den Tisch schob.

„Lest!“, forderte er Siegbald auf und deutete auf das Pergament.

Der Entdecker nahm die Rolle und begann mit wachsendem Erstaunen zu lesen.

An den Tyrannen,

Wir, die Aufständischen, fordern, dass König Robert mit sofortiger Wirkung die Krone niederlegt. Fortan soll Siegbald unser König sein.

Eine Weile versuchte er, auch die letzte Zeile des Schreibens zu entziffern. Schließlich gab er auf und zeigte sie dem König. „Was bedeutet dies hier?“

Der Alte kniff die Augen zusammen, um zu erkennen, worauf Siegbald deutete. Dann nickte er.

„Meine Sehkraft ist leider auch nicht mehr das, was sie mal war“, entschuldigte er sich. „Aber meine Frau hat bessere Augen als ich. Sie meinte, da steht ‚Die Fleischfresser-Liga‘ - was auch immer das sein mag.“

Siegbald nickte nachdenklich. Als er sich dessen bewusst wurde, hörte er damit auf. Schließlich schüttelte er den Kopf. „Aber das ergibt doch überhaupt keinen Sinn. Was ist diese Fleischfresser-Liga? Warum soll ich auf einmal König sein? Und wie kommt Ihr überhaupt darauf, dass ich gemeint bin. Vielleicht gibt es ja noch einen anderen Siegbald in Aequipondium.“

König Robert zuckte mit den Schultern. „Ich verstehe es auch nicht. Und dass sie mich einen Tyrannen nennen, finde ich ausgesprochen verletzend. Ihr seid auch nicht unbedingt meine erste Wahl, aber die anderen Kandidaten haben abgelehnt. Und es lässt sich nicht leugnen, dass Ihr es in den letzten Monaten zu einiger Bekanntheit gebracht habt. Ich muss also davon ausgehen, dass tatsächlich Ihr gemeint seid. Dass Ihr selbst auch nichts davon wusstet, ist bedauerlich, lässt sich aber nicht ändern.“

Er zögerte einen Moment, während dem er Siegbald nachdenklich musterte. Schließlich seufzte er und griff in die Tasche seines Bauernkittels.

„Wie dem auch sei. Am besten, wir bringen es einfach hinter uns.“ Er zog ein etwas verbogenes Gebilde aus Golddraht und kostbaren Steinen hervor und schob es über den Tisch. „Bitte sehr“, sagte er.

Fassungslos starrte Siegbald auf den Tisch. „Aber das ist Eure Krone, Majestät. Ihr wollt mir doch nicht allen Ernstes Eure Krone übergeben. Noch dazu lediglich aufgrund eines dummen Briefes.“

König Robert brachte ein trauriges Lächeln zustande. „Doch, Herr Sockenloch. Genau das habe ich vor. – Wenn Ihr die Wahrheit wissen wollt, ich hatte ohnehin überlegt abzudanken. Mehr Zeit für meine Familie und für die Gemüsezucht. Ihr seid so gut als mein Nachfolger geeignet, wie jeder andere. Vermutlich sogar besser als die meisten. Und wenn es der Wunsch des Volkes oder vielmehr der Aufständischen ist, wieso nicht?“

„Aber das könnt Ihr nicht machen!“ protestierte Siegbald.

Auf einmal wurde das Gesicht des Königs ernst und strahlte beinahe vor royaler Autorität. „Ich kann und ich werde“, verkündete er fest. „Meiner Familie habe ich es bereits gesagt. Bitte gebt meiner Frau und meiner Tochter Amelia noch ein paar Tage Zeit zum Packen. Ich fürchte, insbesondere bei meiner Tochter wird es wohl noch einige Tränen geben, ehe Ihr Eure königlichen Gemächer im Schloss beziehen könnt.“

Stumm betrachtete Siegbald die Krone, die immer noch auf dem Tisch lag. „Und das war es jetzt? Einfach so?“ brachte er schließlich hervor.

Der ehemalige König Robert, der nun wieder einfach Herr Robert König aus Bremen sein wollte, machte eine ungeduldige Handbewegung. „Natürlich nicht einfach so. Ihr bekommt auch noch eine Urkunde, den Schlüssel zur Schatzkammer und so weiter.“

Siegbald sah ihn ungläubig an. „Das ist alles?“

Der König blickte ihn an. „Achso. Ihr meint, wegen der Krönung? Das ist eigentlich nicht nötig. Ich habe nachgelesen. Es ist tatsächlich ganz problemlos möglich, dass ich meine Abdankung unterzeichne und Euch zu meinem Nachfolger ernenne. Wenn Ihr es wollt, könnt Ihr natürlich auch eine Krönungszeremonie haben. Aber Krönungen sind recht teuer und wenn Ihr Euch selbst einen Gefallen tun wollt, solltet Ihr darauf verzichten. Die Schatzkammern sind fast erschöpft.“

Trotz der Absurdität des Ganzen, begriff Siegbald langsam, dass es dem König ernst war. Natürlich konnte alles noch immer irgendein grausamer Scherz sein. Aber wie es aussah, wollte König Robert (Robert König korrigierte sich Siegbald rasch) tatsächlich ihn, Siegbald Odin Sockenloch, zum König von Aequipondium machen. Vollkommen ohne sein Zutun breitete sich ein ungläubiges Grinsen in Siegbalds Gesicht aus. König Siegbald. Seine Majestät Siegbald I, König von Aequipondium. War das nicht der Traum eines jeden Entdeckers: in einem fremden Land zum König ausgerufen zu werden? Und wenn er schon König wurde, sollte er dann nicht auch eine ordentliche Krönungszeremonie bekommen? Schließlich wurde man nur einmal im Leben ein König.

Während Siegbald überlegte, hatte ihn Robert König nicht aus den Augen gelassen. Jetzt nickte er zufrieden. „Ich sehe, Ihr akzeptiert es langsam.“

„Aber…“ Siegbald überlegte, wie er die nächste Frage höflich formulieren konnte. „Aber es gibt doch jede Menge Gold in Aequipondium. Wie kann die Krone da arm sein?“

Robert zuckte mit den Schultern. „Ihr solltet es doch inzwischen wissen, Gold ist hier nicht sonderlich wertvoll. Es stört die Magie.“

„Aber…“ Tief im Hinterkopf des Entdeckers meldete sich ein Gedanke und spiegelte sich in Form eines goldgierigen Glitzerns in Siegbalds Augen wider.

Der Alte musterte ihn nachdenklich. Dann nickte er traurig. „Ihr glaubt, jetzt könnt Ihr nach Europa zurückkehren. Noch dazu als reicher Mann. Nun, vielleicht habt Ihr recht. Es ist Eure Entscheidung. Schließlich seid Ihr jetzt der König. Aber bedenkt, was Ihr Euren Freunden damit antut.“

Mühsam erhob er sich und ging zur Tür. „Nun, ich denke, ich habe Euch lange genug aufgehalten, Euer Majestät. Ich bin sicher, Herr Heinzel oder auch Dr. Fry werden Euch weiterhelfen, solltet Ihr Fragen zum Schloss und zum Königreich haben. Ich werde mich inzwischen wieder meiner Karottenzucht widmen. Wenn Ihr mich wohl entschuldigen würdet.“

Mit der Türklinge in der Hand blieb er noch einmal stehen.

„Ein Rat noch. Ihr solltet befehlen, die Bauarbeiten im hinteren Garten abzubrechen. Ich gehe zumindest davon aus, dass das dortige Projekt für Euch nicht von besonderem Interesse ist.“

Mit diesen Worten verließ Robert König die Hütte und ließ einen vor Erstaunen immer noch sprachlosen Entdecker zurück.

 

 

Der neue König

Als Siegbald am nächsten Morgen in einem Zimmer in Schloss Oberzahnstein erwachte, glaubte er, alles nur geträumt zu haben. Er wusste natürlich noch, dass der Riese Herr Heinzel ihn gebeten hatte, den König aufzusuchen. Aber das seltsame Gespräch über die Aufständischen, Kreaturenkarotten und die Abdankung König Roberts musste ein Traum gewesen sein, der wohl auf seinen Met-Rausch vom Vorabend oder wohl eher vom Abend davor zurückzuführen war.

Doch dann erblickte er die aus Golddraht gefertigte Königskrone, die neben dem Wasserkrug auf dem Waschtisch lag, und erinnerte sich. Man hatte ihn informiert, dass er, bis die Familie des ehemaligen Königs aus dem Schloss ausgezogen war, das Zimmer haben könne, das er bei seiner ersten Ankunft im Schloss bewohnt hatte. Außerdem wollte Dr. Fry, der große Aequipondium-Forscher und Freund König Roberts, ihm baldmöglichst diverse Dokumente und anderes Wichtige vorlegen. Siegbald, der nach der Reise von Landsby zum Zahnstein und dem Gespräch mit König Robert vollkommen erschöpft gewesen war, hatte aber einfach um eine Kleinigkeit zu essen gebeten und sich daraufhin zurückgezogen.

Nun, am nächsten Morgen, war es Zeit sich der neuen Realität zu stellen. Ob er jetzt wirklich König von Aequipondium war? Und was bedeutete es überhaupt, ein König zu sein?

Das Erste, was ihm einfiel, war: einem König erfüllen seine Untertanen jeden Wunsch. Und er hatte einen Wunsch. Der Entdecker läutete nach einem Diener.

Ein schrumpeliges grünhäutiges Männchen erschien, zweifellos ein alter Goblin, und fragte nach seinem Begehr.

„Sehr wohl, Majestät“, war alles, was er antwortete, als Siegbald seinen Wunsch geäußert hatte. Der frischgebackene Monarch war ein wenig beschämt, ob des Aufwands, den er dem kleinen Männlein machte.

Dennoch gab es weder Zögern, noch die zynischen Bemerkungen, die er von seinem eigenen ehemaligen Diener kannte, nur prompten Gehorsam. Gar nicht schlecht, das Leben als König, fand Siegbald.

Bald schleppte Herr Heinzel einen verzierten kupfernen Badezuber in sein Zimmer und kurz darauf kam eine nicht enden wollende Kette von Goblins, die heißes Wasser in den Zuber schütteten. Als der Zuber voll war, erschien das Männchen, das nach seinem Begehr gefragt hatte. Es trug ein Handtuch, einen Morgenmantel und eine langstielige Bürste in den Armen und bot an, ihm den Rücken zu schrubben und ihn zu rasieren.

Obwohl Siegbald die Aufmerksamkeit genoss, wollte er doch lieber allein sein, während er badete. Nur so hatte er genügend Muße, sich ein paar Gedanken über sein neues Dasein als König zu machen. Also schickte er den Goblin wieder hinaus.

Vorsichtig ließ er sich ins heiße Wasser sinken. Während die Dampfschwaden gemächlich durch seine Kammer waberten, ließ auch er seine Gedanken treiben.

Was mochte es bedeuten, König von Aequipondium zu sein?, überlegte er. Er versuchte, sich an alles zu erinnern, was er über Könige so wusste.

Obwohl er als Botschafter des Königs von Preußen unterwegs war, war er Friedrich dem Großen nie persönlich begegnet und auch sonst hielt sich seine Erfahrung ziemlich in Grenzen. Also was wusste er?

Könige mussten ihre Tochter einem Prinzen zum Mann geben und diesem dann das halbe Königreich vermachen. Nein, das traf ihn wohl nicht. Immerhin hatte er keine Tochter. Zumindest keine, von der er wusste. Also weiter.

Könige waren reich. Bei diesem Gedanken musste Siegbald lächeln. Er war zwar nicht gerade aus armem Hause, aber Geld wie Heu hatte er trotzdem nie gehabt. Und so schlimm, wie König Robert ihm gestern weißmachen wollte, war die Lage sicher nicht. Was gab es noch?

Könige mussten in den Krieg ziehen, um ihr Königreich zu verteidigen und zu vergrößern. Siegbald fuhr sich nachdenklich mit der Badebürste über den großen Zeh. König Robert war nicht in den Krieg gezogen. Genaugenommen wusste Siegbald nicht einmal, ob es in Aequipondium Soldaten gab. Und wer wäre überhaupt der Feind? Die nächsten Inseln? Wahrscheinlich sollte er auch das Thema Krieg für später aufheben.

Könige waren angesehene Leute, vor denen sich alle anderen verneigten. Siegbald schloss die Augen und stellte sich vor, wie der bunt zusammengewürfelte Aequipondische Hofstaat sich vor ihm verneigte. Dann dachte er an seinen älteren Bruder, der zu Hause in Meißen die Miedermanufaktur seines Vaters leitete, und an seinen Freund Horst von Knobelsdorff, der über Siegbalds Idee gelacht hatte, ein Entdecker zu werden. Ja, es wäre schön, wenn diese beiden einen Kniefall vor ihm machen müssten. Einen Augenblick kämpfte Siegbalds Fantasie mit dem Gedanken an König Friedrich den Großen. Immerhin war Siegbald als Botschafter des preußischen Königs nach Aequipondium gekommen. Musste er, der König von Aequipondium, einen Kniefall vor Friedrich II machen? Aequipondium war schließlich ein ganzer Kontinent, nicht nur ein Land. Noch dazu gab es in Aequipondium sicher Unmengen Gold. Andererseits bestand die Bevölkerung Preußens aus zivilisierten Menschen, nicht aus Hexen, sprechenden Tieren und Schiffbrüchigen. Schließlich begnügte sich Siegbald damit, in Gedanken dem preußischen König die Hand zu reichen. Als Gleichgestellte sozusagen, von König zu König.

Zufrieden mit seiner Lösung plätscherte Siegbald eine Weile mit dem seifigen Wasser. Dann wandte er sich wieder seiner Betrachtung königlicher Eigenschaften zu.

Könige waren weise und gerecht. Nun, das sollte kein Problem sein: Bisher hatte noch nie jemand die Weisheit von ihm, Siegbald Odin Sockenloch, in Zweifel gezogen. Außer seinem Freund Horst vielleicht und seinem Leibdiener Johannes. Egal. Er würde es ihnen einfach zukünftig verbieten. Denn auch das gehörte zu den Vorrechten von Königen: sie machten Gesetze. Deshalb kamen sie auch nie damit in Konflikt: sie richteten es sich einfach so, dass sie immer im Recht waren.

Siegbald zögerte. Es gab dieses Gesetz, dass niemand Aequipondium verlassen dürfe. Nur so konnte die Existenz des Kontinents geheim gehalten werden. Jetzt, da er König war, konnte er es aufheben. Er könnte ein Schiff bauen lassen und in die Heimat fahren.

Der Gedanke an Europa jagte ihm einen freudigen Schauder über den Rücken. Gleichzeitig bildete sich ein Kloß in seiner Magengegend. Es wäre schön, endlich seine Heimat wiederzusehen. Andererseits würde er seine Freunde und vermutlich auch Theolinde zurücklassen müssen. Obwohl die Hexe einmal gesagt hatte, dass sie bereit wäre, ihn zu begleiten.

Beim Gedanken an Theolinde fuhr Siegbald so plötzlich auf, dass Wasser über den Rand des Badezubers schwappte und den Dielenboden und die kostbaren Teppiche durchnässte. Theolinde wusste ja noch gar nicht, dass er jetzt König war. Rasch kletterte er aus der Wanne und warf sich den Morgenmantel über. Dann läutete er nach dem Diener. Während er darauf wartete, dass der alte Goblin erschien, begann er sich anzuziehen.

„Rasch, ich brauche Feder und Papier. Und einen Boten“, befahl er, sobald er das Knarren der Tür hinter sich hörte, jedoch ohne sich umzudrehen. Gleichzeitig versuchte er, auch sein anderes Bein in das richtige Hosenbein zu stecken.

„Sehr wohl, Herr Sockenloch“, antwortete Johannes, der offenbar in der Zwischenzeit die Rolle des königlichen Dieners übernommen hatte.

Überrascht fuhr Siegbald herum, verlor das Gleichgewicht und wäre um ein Haar in den Badezuber gefallen. Doch stattdessen versetzte sein Sturz dem Bad lediglich einen Stoß. Das Wasser schwappte heraus, um zuerst den am Boden liegenden Entdecker und danach ein weiteres Mal den Teppich zu tränken.

„Johannes! Was machst du denn hier?“ fragte der neue König, während ihm sein ehemaliger Leibdiener wieder auf die Beine half.

„Eine Nachricht von Fräulein Taubenfuß erreichte mich. Sie bat mich, Euch davor zu bewahren, etwas Dummes anzustellen.“

Obwohl auch Johannes schon seit Monaten mit Theolinde gut bekannt war, verfiel er noch immer in sein steifes Dienstbotengehabe und die förmliche Anrede, wenn er in Sorge war.

„Theolinde hat dich geschickt?“ fragte Siegbald ungläubig. „Woher wusste sie, wo ich bin? Und hat sie wirklich gesagt, du sollst mich davor bewahren, etwas Dummes anzustellen?“

Johannes nahm ihm die nasse Hose ab und reichte ihm stattdessen den Morgenmantel.

„Offenbar hat Herr König ihr bereits einen Boten gesandt, während Herr Heinzel noch auf dem Weg zu Euch war. Und sie wiederum schickte mir eine Botschaft, um mich zu bitten, zu Euch ins Schloss zu kommen, um Euch vorläufig wieder als Leibdiener zu unterstützen.“

„Und mich davor zu bewahren, etwas Dummes anzustellen“, ergänzte Siegbald säuerlich.

Johannes hob eine Augenbraue. „Tatsächlich drückte sie nur ihren Wunsch aus, Euch mit Euren neuen Aufgaben nicht allein zu wissen. Doch ich bin sicher, sie hat genau das gemeint, was ich gesagt habe.“

Siegbald brummte. Er war Johannes‘ Respektlosigkeit hinreichend gewöhnt und auch, wenn er sich wünschte, Theolinde wäre bei ihm, war er ehrlich erleichtert, wenigstens Johannes zu sehen.

„Wie hat sie dich überhaupt so schnell benachrichtigen können?“ fragte er, nachdem Johannes sein Haar mit einem frischen Handtuch trockengerieben hatte.

„Oh, das. Sie hat eine Nachricht geschrieben und sie diesem Nagetier gegeben. Lars. Er war zufällig in ihrer Nähe. Warum, weiß ich nicht. Aber offenbar plant er, sich gemeinsam mit dem geflügelten Hasen als fliegender Bote zu betätigen. Er wartet übrigens unten, falls Ihr noch eine Nachricht für Fräulein Taubenfuß habt.“

„Er ist ein Auswanderlemming“, korrigierte Siegbald automatisch. Immerhin war Lars ein Freund, mit dem er schon viele Abenteuer bestanden hatte. „Und der Hase ist ein Wolpertinger“, setzte er hinzu. Das seltsame Mischwesen hatte er vor einigen Wochen im Arbeitszimmer des Zauberers Pertussi entdeckt und Lars hatte sofort Freundschaft mit der Kreatur geschlossen.

Inzwischen war er wieder vollständig bekleidet, und fühlte sich bereit für Neues, auch wenn ein Großteil seiner Kammer noch immer von einem See aus seifigem Wasser bedeckt war. Einige Seifenblasen schwebten langsam durch den Raum, bevor sie an den Ecken und Kanten der Einrichtung platzten.

„Lars wartet unten?“ fragte Siegbald, nachdem er eine Weile mit abwesendem Gesichtsausdruck auf die Überschwemmung geblickt hatte.

Johannes bejahte.

„Dann lass mir bitte Feder und Papier bringen. Und kümmere dich darum, dass hier aufgeräumt wird.“

Johannes quittierte den überschwemmten Boden mit einer erhobenen Augenbraue. Wortlos zog er sich zurück, um die entsprechenden Anweisungen zu geben.

Kurz darauf traf das Schreibzeug ein. Gleichzeitig machte sich eine Gruppe Goblins daran, den pitschnassen Teppich einzurollen und zum Trocknen hinunter in die gut beheizte Küche zu bringen.

 

 

Das Gewicht der Krone

Zwei Tage waren vergangen und der Teppich war beinahe wieder trocken. Obwohl es bisher keine Krönungsfeier gegeben hatte, wussten natürlich alle im Schloss, dass König Robert die Amtsgeschäfte an Siegbald übergeben hatte. Die meisten der Höflinge und Diener behandelten ihn daher mit höflichem Respekt, aber einer Art Vorsicht, die davon zu zeugen schien, dass sie König Siegbald keineswegs für eine dauerhafte Einrichtung hielten. Dentella, die ehemalige Königin, verhielt sich ausnehmend freundlich. Aber Amelia, die beinahe achtzehn und nun auf einmal keine Prinzessin mehr war, warf ihm giftige und vorwurfsvolle Blicke zu, wann immer er ihr über den Weg lief.

Von Theolinde hatte er nichts Neues gehört, aber da er wusste, dass sie das magische Zentrum besuchte, war er zumindest nicht überrascht. Ihr Rat fehlte ihm trotzdem, denn heute fand die zweiwöchentliche Audienz statt, seine erste Prüfung als frischgebackener Monarch. Gern hätte er seine erste Audienz erst später, zum Beispiel nach der Krönungszeremonie abgehalten. Aber eine kurze Nachricht von Robert König machte deutlich, dass der ehemalige Monarch keine Absicht hatte, sich weiter um irgendetwas zu kümmern. Zumindest waren gewöhnlich nicht mehr als zwölf Gäste zu dem Termin geladen, sodass Siegbald sich nicht vor dem gesamten Hofstaat zum Narren machen musste.

Als das traditionelle Audienz-Dinner endlich vorüber war, ließ sich Siegbald in seiner Kammer erschöpft aufs Bett fallen. Wie hatte König Robert das nur ausgehalten? Nicht nur die unzähligen, geschmacklich zweifelhaften Riesengemüsegerichte, die während des Essens serviert wurden, auch die Audienzthemen waren alles andere als anregend.

Zwerggemüse. Scharf angebraten, knackig, intensiv und abwechslungsreich. Und dazu einen Braten. Das wären die Wünsche des Königs gewesen. Doch stattdessen musste er sich um Weiderechte kümmern, um die Anerkennung neuer Riesengemüse-Sorten und Proteste über die Absage des diesjährigen Riesengemüsewettbewerbs. Eine Lappalie hatte die andere gejagt. Alle wollten sie, dass Siegbald ihre vollkommen banalen Probleme löste. Besonders grotesk war der Fall einer Riesen-Zucchini-Pflanze:

Ein Bauer hatte sie in seinem Garten gesetzt. Während der folgenden Monate hatte die Pflanze den Gartenzaun überklettert und Wurzeln in den Komposthaufen seines Nachbarn getrieben. Dank dieses zusätzlichen Düngers hatte sie mehrere rekordverdächtige Früchte hervorgebracht. Doch als wäre ein Streit um die Riesenzucchini nicht genug, kam es noch schlimmer. Die Kinder eines weiteren Nachbarn hatten sich in den Garten geschlichen und die Größte der Früchte gestohlen. Dann hatten sie sie ausgehöhlt, um sie als Kanu zu verwenden und beim Zucchini-Kanu-Wettrennen der Wichtel anzutreten. Doch soweit kam es gar nicht. Bereits bei der ersten Probefahrt kenterten sie und wären um ein Haar ertrunken. Und nun sollte Siegbald für alle Beteiligten eine gerechte Strafe finden: Für den ersten Bauern, weil er ungesichert lebensgefährliche Zucchini gezüchtet hatte, den Zweiten, wegen des offensichtlich illegalen Zusatzes von Düngemitteln und das Anfüttern der Pflanze, wie es der erste Bauer bezeichnete, und gegen den Dritten wegen Diebstahls.

„Schneidet sie in zwei“, hatte der verzweifelte Siegbald schließlich gerufen, während die drei Bauern auf ihn und ihre jeweiligen Gegner einbrüllten. Leider kein besonders Salomonisches Urteil, hätte Johannes die Situation nicht gerettet.

„Was seine Majestät meint, ist, schneidet sie klein. Kocht einen Zucchini-Eintopf aus den Früchten der fraglichen Pflanze und esst ihn gemeinsam auf. Dies soll euch lehren, Frieden zu halten und Gutes miteinander zu teilen.“

Siegbald hatte enthusiastisch, ähm, würdevoll dazu genickt. „So meinte ich es.“

Den Gesichtern der Bauern nach, war dies eine wahrhaft furchtbare Strafe: Es würde Wochen dauern, bis sie alle Zucchini aufgegessen hatten. Nun, zumindest würde es ihnen eine Lehre sein, ihren König nicht mit derartigen Lappalien zu belästigen.

Wortlos hatte Johannes ihm eine Tasse heißer Schokolade neben das Bett gestellt und sich in eine Ecke des Zimmers zurückgezogen, wo er bereit war, falls der König ihn noch benötigte.

„Bist du noch da?“ fragte Siegbald ohne den Kopf aus den Kissen zu erheben.

„Ja, Herr Sockenloch“, kam die Antwort und Johannes trat näher heran, sodass Siegbald ihn sehen konnte, ohne sich bewegen zu müssen.

„Ist es immer so schlimm? Was glaubst du?“

„Die Audienz?“ Johannes schien zu überlegen. „Das glaube ich nicht. Vermutlich wollten einige nur prüfen, wie Ihr auf ihre Wünsche reagiert.“

„Und wie war ich?“

„Wie von einem Herrscher zu erwarten: weise und gerecht.“

Siegbald bewunderte die Art und Weise, mit der Johannes derartige Lügen ohne das geringste verräterische Muskelzucken herausbrachte. Und dank ihm gelang Siegbald jetzt sogar ein schwaches Grinsen. „Lügner. Aber ich danke dir. Du hast mich da drinnen gerettet.“

Er setzte sich auf und griff nach seinem Kakao. Dann seufzte er.

„War das für heute alles oder muss ich als König heute noch andere Aufgaben wahrnehmen?“ fragte er. Nicht nur Siegbald hörte, wie jämmerlich er dabei klang.

Johannes räusperte sich. „Die anderen Dinge können sicherlich warten“, befand er.

Noch einmal seufzte Siegbald. „Lass einfach hören. Wieviel schlimmer kann es nach dieser Audienz denn noch kommen?“

Sein Diener neigte den Kopf. „Wie Ihr wünscht. – Zum Ersten: Eure Post. Es gab einen Brief von den Aufständischen.“

Siegbald runzelte die Stirn. „Einen Brief an mich? Warum weiß ich noch nichts davon?“

„Es ist so Usus“, antwortete Johannes glatt.

„Usus?“

Johannes seufzte, als müsste Siegbald das eigentlich wissen. „Es ist üblich, dass Euer Sekretär die Post öffnet und sie Euch bei passender Gelegenheit vorlegt. Da Ihr keinen Sekretär ernannt habt, habe ich mir die Freiheit genommen, diese Aufgabe zu erfüllen. Aber aufgrund Eurer anderen Verpflichtungen hatte ich noch keine Gelegenheit, mit Euch über die Post zu sprechen.“

„Achso. Danke.“

„Nicht, dass ich für die Aufgabe bezahlt oder sonst irgendwie entlohnt werden würde“, setzte Johannes trocken hinzu.

Siegbald seufzte. „Du kannst dir meines ewigen Dankes gewiss sein.“

Johannes blickte ihn ungerührt an.

„Und natürlich wirst du auch entlohnt. Wie wäre es mit einer offiziellen Ernennung zum königlichen Kämmerer?“

Johannes hob eine Augenbraue. „Bin ich das nicht längst?“

„Dann eben Oberkämmerer. Wie wäre das? Königlicher Oberkämmerer Johannes … wie ist eigentlich dein Familienname?“

Siegbald runzelte die Stirn. Tatsächlich kannte er Johannes nun schon seit vielen Jahren, denn er war bereits daheim in Preußen sein Diener gewesen. Doch dies war das erste Mal, dass er daran dachte, ihn nach dem Namen seiner Familie zu fragen.

Johannes seufzte leidgeprüft. „Erinnert mich daran: Warum diene ich Euch?“

Die Antwort „weil ich dein König bin“, kam jetzt wohl nicht infrage, dachte Siegbald.

„Weil Theolinde dich gebeten hat?“ fragte er versuchsweise.

Johannes seufzte ergeben. „So ist es wohl.“

Stille breitete sich in der Kammer von König Siegbald aus. Schließlich brach der Entdecker das Schweigen.

„Also was wollen diese Aufständischen denn und weiß schon irgendwer, wer die überhaupt sind?“

Rasch holte Johannes ein Schreiben aus einem kleinen Schrank, der beim Fenster stand.

„Sie gratulieren Euch zum neuen Amt und hoffen, dass Ihr ihre Forderungen bereitwilliger umsetzen werdet, als Euer Vorgänger. Sie fordern ein Verbot der Riesengemüsezucht und dass es ab sofort jedem freisteht, dreimal in der Woche Fleisch zu essen. Zu diesem Zweck soll auf jedem Bauernmarkt künftig auch Fleisch angeboten werden. Unterzeichnet ist das Schreiben mit Fleischfresser-Liga.“

Siegbald schüttelte ratlos den Kopf. „Das mit dem Riesengemüse verstehe ich ja. Aber ist es wirklich verboten Fleisch zu essen? Ich dachte, es ging immer nur darum, nicht versehentlich einen Mord an einem denkenden Wesen zu begehen.“

Johannes nickte. „Ich habe mich informiert. So ist die aktuelle Gesetzeslage. Es ist nicht verboten, wird jedoch nicht gern gesehen.“

Tatsächlich war es so, dass im Schloss und auch in den meisten aequipondischen Familien, die Siegbald kennengelernt hatte, ausschließlich fleischlos gekocht wurde. Obwohl die aequipondische Küche recht abwechslungsreich sein konnte, führte die Beliebtheit der Riesengemüsezucht oft dazu, dass in der Erntezeit ein gewisser Überfluss bestand und es so mitunter eine Woche lang Riesenkohlrabigerichte gab. Trotzdem löste der Gedanke an Hähnchenschenkel oder Rinderragout bei den meisten Einwohnern keinen Appetit, sondern ein kaltes Grausen aus. Das lag daran, dass Hühner und Kühe Persönlichkeiten waren, Freunde, Nachbarn oder, wie im Schloss, das Küchenpersonal.

Siegbald kannte auch die beiden Küchenhühner Kerstin und Gertrude. Er war sicher, sie würden niemals ihre Verwandten aus dem Stamm der Korukoru oder ein anderes Tier zubereiten. Wobei er sich bei Kerstin nicht ganz so sicher war, denn er hatte den Verdacht, dass sie sich für was Besseres hielt, als ihre Verwandten aus dem aequipondischen Dschungel.

„Weißt du eigentlich, wer bei diesem merkwürdigen Verein dahintersteckt? Wer sind die?“

Johannes zögerte. „Es heißt, sie sind eine Vereinigung von Individuen, die Euch als Vorbild sehen. Die Fleischesser fühlen sich schon seit vielen Jahren als die Opfer der Riesengemüsekultur. Und Ihr, der bekanntermaßen auf seinen Abenteuern Heckenschweine, Lemminge und Krokodile verzehrte und sich auch nicht scheute, einen Eisdrachen zu erlegen, seid sozusagen ihr Held.“

Ein wenig schuldbewusst dachte Siegbald an die Küchenhühner und an das Omelette, das er unbedacht bei seiner ersten Ankunft im Königspalast bestellt hat.

„Wirklich? Und weißt du, wer sie sind? Kennst du die Mitglieder?“

Wieder zögerte sein Diener. „Nein. Offenbar ist es eine Art Geheimbund. Selbst das, was ich Euch bereits gesagt habe, basiert auf nichts als Hörensagen.“

Siegbald seufzte enttäuscht. „Also gut. Und wo soll ich auf einmal Fleisch für diese Fleischfresser-Liga herzaubern?“

„Ihr könntet verlautbaren lassen, dass Ihr die Forderungen prüft, aber zur besseren Einschätzung des Bedarfs gern einige Mitglieder der Fleischfresser-Liga sprechen würdet. Das sollte Euch zumindest etwas Zeit verschaffen.“

Siegbald nickte erleichtert. „Das ist eine hervorragende Idee. Tu das bitte. – Was gibt es sonst noch?“

Johannes zögerte.

„Heraus damit.“

„Es sind die Handwerker. Sie wollen bezahlt werden. Immerhin arbeiten sie nun schon beinahe zwei Monate ohne Lohn.“

Siegbald runzelte verwirrt die Stirn. „Warum bezahlst du sie dann nicht einfach? Ich habe dir doch den Schlüssel für die Schatzkammer gegeben. Und woran arbeiten sie überhaupt?“

Johannes musterte seinen Herrn mit undurchdringlichem Blick. „Die Schatzkammer ist leer“, sagte er. „Das Königshaus ist quasi pleite.“

„Was?“ Siegbald starrte ihn an. „Aber ich bin der König. Und alle Könige sind reich.“

Johannes schüttelte den Kopf. „Ihr leider nicht, Herr Sockenloch. Aber zumindest ist dies für Euch ja keine neue Situation.“

Hier musste Siegbald seinem Diener leider recht geben. Bereits zu Hause war er regelmäßig mit finanziellen Schwierigkeiten konfrontiert gewesen, die sich unter anderem so ausgewirkt hatten, dass Johannes oft monatelang auf seinen Lohn warten musste.

„Deshalb war er also so einfach bereit abzudanken“, murmelte Siegbald durch seine zusammengepressten Kiefer.

Schon seit seinem Gespräch mit Dr. Fry, dem Aequipondium-Forscher hatte er ein seltsames Gefühl gehabt. Fry wirkte amüsiert und ein wenig erleichtert, als er hörte, dass Siegbald der neue König sei. „Besser Ihr, als ich“, war sein Kommentar, als er Siegbald einige der Papiere übergab, die Robert König ihm versprochen hatte. Doch auf Siegbalds Bitte um eine Erklärung hatte er nur den Kopf geschüttelt. Auch auf Fry’s weitere Unterstützung konnte Siegbald nicht hoffen, denn der Forscher hatte sich sofort nach Übergabe der Dokumente in ein neues Projekt gestürzt und das Schloss verlassen.

Siegbald schloss kurz die Augen. Zumindest war Geldmangel ein Thema mit dem er sich auskannte.

„Bitte sag Pertussi, dass ich ihn sehen will“, wandte er sich an Johannes.

Pertussi war Schreiber auf dem britischen Schiff Centurion gewesen, ehe er über Bord gespült worden war und in Aequipondium eine eher unrühmliche Karriere als Zauberer begonnen hatte. Zuletzt hatte er sich unter Aufsicht des von Dr. William Fry im Schloss befunden und Siegbald hoffte, den ehemaligen Schreiber als Buchhalter gewinnen zu können. Ob er dazu taugte, blieb abzuwarten. Doch Siegbald wusste zumindest, dass Pertussi über ein phänomenales Gedächtnis verfügte und fähig war, auch komplizierte Probleme allein mit Hilfe dürftiger Aufzeichnungen zu lösen. Eigentlich erstaunlich, dass sich der frühere Zauberer nun als nützlich erweisen konnte.

„Bitte vertröste auch die Handwerker und sage ihnen, ich werde mich bald um ihre Löhne kümmern“, forderte er Johannes noch auf. „War das jetzt endlich alles?“

„Nur eines noch: Der Comte de La Pérouse bittet um eine private Audienz.“

Siegbald stöhnte und ließ sich auf den Rücken fallen. Der Comte. Er hatte schon damit gerechnet, von dem französischen Entdecker zu hören. Immerhin hatten sie einmal versucht, gemeinsam von Aequipondium zu fliehen. Sicher wollte La Pérouse ihn bitten, ein neues Schiff bauen zu dürfen. Dabei wusste Siegbald selbst noch nicht, ob und wie er nach Europa reisen konnte. Und dann war da auch noch die Frage, wer in Europa als Entdecker von Aequipondium gelten würde. Nein, den Comte wollte er heute ganz bestimmt nicht mehr sehen.

„Sag ihm“, Siegbald überlegte. „Sag ihm, ich sei indisponiert und werde mich bei ihm melden.“

Er kam sich schäbig vor, seinen Diener mit dieser Auskunft wegzuschicken. Doch andererseits: wozu war er König, wenn es nicht wenigstens ab und an nach seinem Willen ging.

Johannes nickte wortlos und ließ Siegbald allein.

 

 

 

Guter Rat

Siegbald saß gemeinsam mit Pertussi über den königlichen Haushaltsausgaben, als Theolinde die Zimmertür aufriss.

„Das ist doch wohl nicht dein Ernst“, platzte sie heraus, noch ehe sie ganz zur Tür herein war.

Die Hexe war eine eindrucksvolle Erscheinung, besonders, wenn sie so aufgebracht war wie gerade jetzt. Mit ihren über zwei Metern Körperhöhe war sie sogar größer als Siegbald. Und die breiten Schultern und das lange, zu einem Zopf geflochtene, rote Haar ließen sie wie eine Kriegerkönigin oder eine Walküre erscheinen. Dabei war sie, obwohl sie auf Reisen und bei der Arbeit mit Drachen Männerkleidung bevorzugte, durchaus fraulich gebaut und wer sie kannte, wusste, dass sie keiner Kreatur etwas antun würde, wenn es sich nicht ausgerechnet um einen Drachenjäger oder eine andere verachtenswerte Person handelte.

Trotz ihres beeindruckenden Auftritts wollte der alte Schreiber sich von dieser Unterbrechung nicht aufhalten lassen. „Ihr seht also, das geringe Einkommen aus dem Verkauf von Riesengemüse und deren Samen ist unser größter Posten auf der Haben-Seite“, beendete er seine Ausführungen.

Siegbald, der inzwischen seit zwei Tagen mit Pertussi über den Finanzen des Königreichs brütete, sprang auf. Bei dieser Arbeit war er für jede Unterbrechung dankbar. Dass es ausgerechnet die Hexe war, die ihn unterbrach, war ihm jedoch besonders willkommen.

„Hallo Theolinde. Ich bin so froh, dass du da bist.“ Siegbald strahlte.

„Wir können natürlich beginnen, neue Münzen zu prägen“, fuhr Pertussi fort, ohne sich irritieren zu lassen. „Und Euer Profil wird sich sicherlich ausgezeichnet darauf machen. Aber, wenn Ihr mir diese Bemerkung erlaubt, ohne ein echtes Einkommen der Krone, zum Beispiel in Form von Steuern, wird dies auf Dauer zum Wertverfall führen.“

„Ja, danke, Herr Pertussi. Vielleicht können wir morgen damit weitermachen.“ Ungeduldig winkte er den alten Schreiber aus dem Raum.

Theolinde hatte die ganze Zeit über mit in die Hüften gestemmten Armen neben der Tür gestanden, auch wenn der Ausdruck der Entrüstung bereits aus ihrem Gesicht verschwand. Als sich die Tür hinter dem alten Schreiber schloss, ließ sie sich von Siegbald in die Arme nehmen. Trotzdem vergaß sie nicht, was sie hergeführt hatte.

„Du willst doch nicht wirklich die Forderungen dieser Fleischfresser erfüllen?“ wiederholte sie. Aber es klang nur noch nach einer Frage. Der vorwurfsvolle Ton war verschwunden.

Eine Weile beobachtete sie Siegbald, der sich schwer auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch hatte fallen lassen und jetzt sein Gesicht in die Hände legte und sich leise stöhnend die Schläfen massierte. Schließlich ließ sie sich auf dem Stuhl nieder, auf dem zuvor noch Pertussi gesessen hatte.

„Was ist denn los?“ fragte sie besorgt. „Ich dachte, du bist jetzt der König und lässt es dir hier gut gehen. Ich hatte angenommen, du liegst gemütlich im Badezuber, während Johannes die ganze Arbeit macht.“

Siegbald hob das Gesicht aus den Händen und warf ihr ein gequältes Lächeln zu. „Ja. So hatte ich mir das eigentlich auch gedacht.“

„Aber?“

Der Entdecker breitete hilflos die Arme aus. „Es gibt so viel zu tun. Dauernd will jemand etwas von mir. Ich soll Streit schlichten, den Wünschen meiner Untertanen zuhören, irgendwelche Arbeiter bezahlen… Dabei hab ich doch keine Ahnung, wie ich das alles schaffen soll. Selbst mit Johannes Hilfe.“ Mit einer fahrigen Handbewegung deutete er auf die Papierstapel auf dem Tisch. „Die Schatzkammer ist leer, wusstest du das? Dabei wusste ich nicht einmal, dass es in Aequipondium überhaupt so etwas wie richtiges Geld gibt. Bisher bin ich immer gut ohne Bares über die Runden gekommen. Aber das geht jetzt natürlich nicht mehr. Meine eigene Krönungszeremonie habe ich schon aus Kostengründen gestrichen. Und dann sind da die Forderungen dieser Fleischfresser-Liga…“ Er zuckte hilflos mit den Schultern. „Ich wollte doch nur etwas Zeit gewinnen.“

Er richtete einen bettelnden Blick auf die Hexe.

„Hilf mir. Ich weiß langsam nicht mehr weiter.“

Theolinde zupfte nachdenklich am Ende ihres langen roten Zopfes. „Verstehe.“

Dann sprang sie auf, um nach einem Diener zu läuten. „Was du jetzt erstmal brauchst, ist eine Pause. Und etwas Ordentliches zu Essen. – Ich habe ein paar unserer Freunde mitgebracht. Das wird dich sicher aufmuntern. Und vielleicht fällt uns zusammen etwas ein, wie wir dir helfen können.“

Siegbald warf ihr einen unsicheren Blick zu. „Aber keiner darf irgendetwas verlangen. Einverstanden?“

„Einverstanden.“

Johannes erschien und Theolinde bat ihn, für eine ausgiebige Mahlzeit zu sorgen. Außerdem lud sie ihn ein, sich beim Essen zu ihnen zu gesellen.

Nicht lange darauf saßen Siegbald, Theolinde, Johannes und ihre Freunde im kleinen Esszimmer des Schlosses beim Dinner. Erleichtert stellte der Entdecker fest, dass tatsächlich weder der Comte noch irgendwelche Höflinge anwesend waren. Lediglich der alte Wikinger Gunnar, Caesar, der Chameleopard und seine alte Freundin, die Dächsin Augusta Zwiebel, saßen mit ihnen am Tisch.

Augusta war, wie immer, ruhig und zurückhaltend und Gunnar und Caesar waren vollauf zufrieden, sich immer größere Portionen der verschiedenen Gemüsegerichte auf ihre Teller zu türmen. Erst nach dem Dessert brachte Theolinde langsam das Tischgespräch wieder auf Siegbalds Probleme.

Der Entdecker hatte erzählt, wie es dazu gekommen war, dass er nun offizieller König von Aequipondium war. Inzwischen fiel es ihm deutlich leichter, nachzuvollziehen, warum Robert König einfach abgedankt hatte.

„Ich habe gedacht, als König bekomme ich Anerkennung, ein Luxusleben und so. Wenn ich gewusst hätte, dass es so viel Arbeit bedeutet, hätte ich darauf verzichtet“, stellte er fest.

Caesar brummte zustimmend. Siegbald hatte einmal mehr den Eindruck, der dickliche Chameleopard lebte, um zu essen und zu schlafen. Eine Vorstellung, mit der sich auch der Entdecker durchaus anfreunden könnte. Wie bei allen Chameleoparden passte sich Caesars Fell automatisch der Farbe seiner Umgebung an. Wenn er es sich in Theolindes Haus auf dem Sofa bequem machte, war er nur dann von einem flauschigen Sofakissen zu unterscheiden, wenn im Traum seine Schwanzspitze zuckte oder er träge ein Auge öffnete. Oder wenn man sich versehentlich auf ihn setzte. Auch jetzt war hauptsächlich sein geöffnetes Maul zu erkennen, während er sich eine weitere Portion Kürbisschnitzel einverleibte. Siegbald vermutete, dass Theolinde ihn mit der Aussicht auf großzügige Mahlzeiten hergelockt hatte. Wahrscheinlich mit dem Ziel, ihre eigene Speisekammer etwas zu schonen.

Warum die Hexe den greisen Gunnar mitgeschleppt hatte, obwohl der ein Holzbein hatte und eigentlich daheim beim Ofen sitzen sollte, war ihm hingegen unklar. Dennoch er freute sich, denn er mochte den alten Halunken, der ihm so einiges über den Umgang mit Schwertern und den Kampf gegen Drachen beigebracht hatte.

„Also bei uns Wikingern hättest keine Chance gehabt, König zu werden“, stellte Gunnar fest, nachdem er damit fertig war, sich Essensresten zwischen seinen wenigen verbliebenen Zähnen hervorzupuhlen. „Bei uns zählen nur Kampfgeist und echtes Talent. Und die hast du einfach nicht. Selbst ich könnt dich heute noch mit Leichtigkeit schlagen.“ Um seinem Satz Nachdruck zu verleihen, polterte der greise Gunnar mit seinem Holzbein gegen den Tisch.

„Jaja.“ Siegbald nickte vage. Es war unwahrscheinlich, dass der greise Wikinger ihn im Kampf besiegen konnte. Andererseits hatte Siegbald alles, was er über den Schwertkampf wusste, von ihm gelernt. Es auf einen Streit ankommen zu lassen, war trotzdem zwecklos. Immerhin war er bereits der König Aequipondiums.

Und genaugenommen war er somit auch König der hier lebenden Wikinger. Also hatte Gunnar unrecht. Er konnte König der Wikinger werden, stellte Siegbald amüsiert fest. Dennoch hütete er sich, Gunnar darauf hinzuweisen.

„Und wenn ich einfach abdanke? Dann wäre doch alles wie früher.“ Der Entdecker sprach eine Überlegung aus, die schon seit Tagen in seinen Gedanken darum kämpfte, endlich gehört zu werden.

Schweigen breitete sich am Tisch aus, während jeder versuchte, sich vorzustellen, was dann geschehen mochte.

Augusta schüttelte als erste den Kopf. „Was dann Fleischfressern tun? Und was werden mit Lucy?“

Siegbald runzelte verwirrt die Stirn. „Mit welcher Lucy?“

Die Dächsin blickte ihn an und legte den Kopf schief. „Lucy ist Schattenelefant in Schlossbrunnen“, erklärte sie, als hätte Siegbald das eigentlich wissen müssen.

„Du willst sagen, die Elefantenstatue in dem Brunnen hat einen Namen?“ fragte Siegbald.

Augusta schüttelte den Kopf.

„Also meinst du, das ist tatsächlich ein echter Elefant?“

Die Dächsin nickte.

„Ich dachte immer, du willst mich nur auf den Arm nehmen.“

Immer wieder hatten Augusta und auch Theolinde ihm von den Schattenelefanten erzählt, scheuen Tieren, die, wenn sie sich in die Nähe von Dörfern wagten, sich als Statuen oder Brunnenfiguren tarnten, sobald sich jemand näherte. Auf den Hinterbeinen stehend oder in anderen mehr oder weniger eleganten Haltungen, warteten sie reglos, bis die Gefahr vorüber war. Aber auch, wenn Siegbald schon in einigen Dörfern Aequipondiums Elefantenbrunnen und andere seltsame Statuen gesehen hatte, hielt er es für ausgeschlossen, dass es sich dabei tatsächlich um lebende Tiere handeln könnte.

„Elefanten sind schließlich keine Trolle“, sagte er laut und an niemand besonderen gerichtet.

Dann zog er die Augenbrauen zusammen, während er versuchte, sich ‚Lucy‘, die Statue im Schlossbrunnen, vorzustellen. Es stimmte, er hatte schon so manches Mal das Gefühl gehabt, dass die Brunnenstatue nicht an jedem Tag gleich aussah. Dass zum Beispiel das Bein, auf dem sie stand, am Vortag ein anderes war. Trotzdem klang die Behauptung, dass es sich um einen echten Elefanten handle, der lediglich zur Tarnung auf einem Hinterbein im Brunnen stand, mehr als unwahrscheinlich. Immerhin gab es diesen Elefantenbrunnen sicher schon seit Jahren.

„Wenn die Statue ein richtiger Elefant ist, warum läuft sie dann nicht einfach weg? Ich denke, diese Schattenelefanten sind so scheu?“

Augusta schüttelte den Kopf. „Lucy schon ganz lange im Brunnen wohnt. Gärtner ihr jeden Tag Futter bringt und wegmacht Dünger.“

„Dünger?“ fragte Siegbald verwirrt. Dann riss er die Augen auf, als ihm dämmerte, was die Dächsin meinte. „Ach den Dünger. Ich verstehe.“

In Wirklichkeit war ihm Lucy im Moment vollkommen gleich. Er würde sich sicher nicht von einem alten Elefanten davon abhalten lassen, die Königswürde niederzulegen.

„Wozu braucht Lucy denn einen König?“ fragte er. „Der Gärtner kann sich ja weiter um sie kümmern. Er könnte sie auch mit in sein eigenes Dorf nehmen, wenn er nicht im Schloss bleiben will.“

Augusta legte skeptisch den Kopf schief. „Und die Fleischfresser?“

Siegbald zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Du glaubst doch nicht etwa, die vergreifen sich an einem zähen alten Elefanten?“

Die Dächsin schüttelte den Kopf. „Aber vielleicht andere Leute. Die Korukoru oder das Kuhvolk.“

Dass jemand die großen hühnerartigen Vögel vom Volk der Korukoru abschlachtete, war tatsächlich nicht auszuschließen. Und das Kuhvolk… bevor Siegbald nach dem Wohnort und den Gewohnheiten dieses Kuhvolks fragen konnte, setzte sie nach:

„Gibt viele Schiffbrüchige in Aequipondium. Nicht alle Leben und Leute achten so wie du. Und kennen und mögen Geschmack von Fleisch.“

Auch Theolinde stimmte ihr zu. „Wenn du einfach abdankst, wer kümmert sich dann darum, dass Aequipondium geheim bleibt? Und wenn es dann nicht mehr unentdeckt ist, wie verhindern wir, dass europäische Händler aus Geldgier die letzten Drachen und die feuerspeienden Einhörner abschlachten? Nein. Du kannst Aequipondium nicht einfach sich selbst überlassen.“

Siegbald schwieg. Die Argumente seiner Freunde konnte er nicht ignorieren, aber er wollte diese ganze Verantwortung einfach nicht. Er hatte es satt, König zu sein.

„Euer Vater wäre sicherlich beeindruckt, wenn er Euch jetzt sehen könnte“, stellte Johannes trocken fest.

„Meinst du?“

Johannes nickte. „Ganz sicher sogar. Immerhin hat Herr Sockenloch sein Leben lang hart gearbeitet, um es zu etwas zu bringen. Euch hingegen fällt die Königswürde quasi in den Schoß und nach weniger als einer Woche seid Ihr ihrer überdrüssig.“

„Danke für den Hinweis“, brummte Siegbald.

Sein Leibdiener wusste ganz genau, dass die fehlende Anerkennung durch seinen Vater eine von Siegbalds großen Kümmernissen war. Ihn auf diese Weise und vor seinen Freunden daran zu erinnern, fand Siegbald ziemlich gemein.

„Du meinst also, ich sollte es noch eine Weile als König versuchen?“ fragte er.

Johannes schüttelte den Kopf. „Das habe ich nicht gesagt.“

„Was hast du dann gemeint? Ich kann ja schlecht meinen Vater als König von Aequipondium einsetzen, auch wenn er zweifellos viel besser geeignet wäre.“

„Warum denn nicht?“ Theolinde ignorierte Siegbalds vor Zynismus triefenden Tonfall. „Ich meine natürlich nicht, dass du die Königswürde an deinen Vater abgeben sollst. Aber vielleicht gibt es einen anderen geeigneten Kandidaten.“

Siegbald kratzte sich nachdenklich den Kopf. „Das wäre zumindest besser, als einfach abzudanken, und das Land sich selbst zu überlassen, oder?“

Theolinde nickte aufmunternd, und auch Augusta schien diese Lösung gut zu finden.

„Und an wen hättest du dabei gedacht?“ fragte Gunnar neugierig. „Ich meine, wer außer dir wäre schon dumm genug, sich so eine Aufgabe aufhalsen zu lassen?“

Siegbald warf ihm einen giftigen Blick zu. Dann blickte er nachdenklich in die Runde. Schließlich blieb sein Blick an Theolinde hängen.

„Wie wäre es mit dir? – Ich meine natürlich nicht, dass du dumm bist.“ Er warf Gunnar noch einen bösen Blick zu. „Im Gegenteil. Du bist die klügste Person, die ich kenne, und du wärst bestimmt eine hervorragende Königin.“

Doch sofort schüttelte Theolinde den Kopf. „Das geht nicht.“

„Aber alle respektieren dich.“ Fürchten wäre in einigen Fällen der passendere Ausdruck gewesen, schoss es Siegbald durch den Kopf.

Erneut schüttelte sie den Kopf. „Es ist lieb von dir, dass du mir das zutraust, aber du verstehst nicht. Hexen dürfen in Aequipondium nicht Königin werden. Das gäbe ihnen zu viel Macht. Und ehe du darüber nachdenkst, Neidhart zu fragen: Druiden auch nicht.“

Bei der Erwähnung des Oberdruiden, verdrehte Gunnar ganz automatisch die Augen und auch die anderen warfen sich Blicke zu.

„Ist ja gut. Ich mag Neidhart zwar, aber für sonderlich talentiert halte ich ihn nicht.“

Der Oberdruide hatte einst behauptet, eine wichtige Prophezeiung über Siegbald gemacht zu haben. Doch selbst, wenn man von den dürftigen Schüttelreimen absah, in die er sie verpackt hatte, war sie alles andere als zutreffend gewesen. Er konnte ein recht umgänglicher Mann sein, wenn man von seinem ständigen Streit mit Oberhexe Amalberga absah, aber als König war er sicher nicht geeignet.

„Aber wer käme denn sonst infrage?“ Siegbald wandte sich hilflos an die Hexe.

„Prinzessin Amelia jedenfalls nicht“, stellte Theolinde fest. Sofort nickten die Köpfe der Runde wieder. Amelia war die Tochter des Königs und mit ihren fast achtzehn Jahren noch recht launisch und verantwortungslos.

„Wir brauchen jemanden, dem wir vertrauen können“, überlegte Theolinde laut. „Er muss das Leben und die Gerechtigkeit achten, den Frieden wahren und bereit sein, Aequipondium vor Entdeckern und Eindringlingen zu schützen.“

„La Pérouse? Knut Knopfloch?“ schlug Siegbald die erstbesten Namen vor, die ihm in den Sinn kamen.

Theolinde schüttelte den Kopf. La Pérouse war, wie Siegbald, ein europäischer Entdecker, der sicher sofort die Heimreise antreten würde, wenn er die Möglichkeit dazu hatte. Und er würde Aequipondium dem französischen König unterstellen. Knut war ein Zwerg. Obwohl er die Achtung der Kleinen Gemeinde, also von Zwergen, Wichteln und Goblins besaß, blickten die Menschen nicht nur physisch auf ihn herab. Außerdem war er ein Künstler und hatte sicher kein Interesse an der Verwaltung eines Königreichs.

„Es muss doch jemanden geben!“ Langsam klang Siegbald verzweifelt. „Wollt ihr es nicht versuchen?“ wandte er sich an seine Freunde.

Augusta, Gunnar und Caesar antworteten synchron mit einem sofortigen energischen Kopfschütteln. Selbst Johannes hob abwehrend die Hände.

„Lieber ich in Wald bei Würmern und Käfern wohnen“, setzte Augusta mit Nachdruck hinzu.

„Na danke für eure Hilfe“, gab Siegbald sarkastisch zurück.

Während der Entdecker sich die Haare raufte, zog Caesar sich Siegbalds angefangenes Dessert über den Tisch. „Damit es nicht verdirbt“, erklärte der Chameleopard zufrieden kauend.

„Wie wäre es mit Dr. Fry?“ fragte Theolinde. Der Aequipondium Forscher kannte die Bedürfnisse des Landes und war bei allen geachtet. Doch Siegbald schüttelte betrübt den Kopf.

„Fry hat schon abgelehnt, ehe König Robert überhaupt die Idee hatte, mir die Krone aufzudrücken. Nicht mal für den Posten des Schatzkanzlers konnte ich ihn gewinnen.“

Wieder senkte sich Stille über die Runde. Nur Caesar polterte mit der fast leeren Dessertschüssel über den Tisch, während er versuchte, auch noch die letzten Reste darin aufzuschlecken.

„Dann zwingen wir Prinzessin Amelia eben, so viele Frösche zu küssen, bis sich einer davon in einen Prinzen verwandelt“, schlug Siegbald schließlich vor.

Theolinde schüttelte den Kopf. „Besser nicht.“

Siegbald lachte. „Das war ein Scherz.“

Doch das ernste Gesicht der Hexe zeigte, dass sie es offenbar keineswegs für einen Grund zur Erheiterung hielt.

„Was hast du denn?“ fragte er.

Doch die Hexe hob nur abwehrend die Hände und schüttelte den Kopf. „Ein andermal, bitte.“

Siegbald zuckte mit den Schultern.

Wieder senkte sich eine nachdenkliche Stille über den Tisch. Caesar hatte das Dessert endlich aufgegeben und kroch auf der Suche nach weiteren Resten unter den Tisch. Gunnar schnarchte leise. Sein Kopf lag auf dem Tisch und der Ellbogen auf einem Teller.

„Wie wäre mit Artus?“ schlug Augusta schließlich vor.

Theolindes Augen leuchteten auf. „Das ist eine gute Idee. König Artus wäre sicher der Richtige. Jedenfalls, wenn wir ihn überreden können, nochmals als König zu regieren.“

Siegbald legte skeptisch den Kopf schief. Er hatte gehört, dass der legendäre König und einige Ritter seiner Tafelrunde sich irgendwo auf Aequipondium aufhielten. Wie sie aus dem Britannien des fünften Jahrhunderts in den Südpazifik des modernen achtzehnten Jahrhunderts gekommen sein mochten, darüber wollte Siegbald lieber nicht spekulieren. Auch verstand er nicht, warum legendäre Helden wie Artus in Aequipondium ein scheinbar unbegrenzt langes Leben hatten, während ‚normalen‘ Menschen keine außergewöhnliche Lebensspanne vergönnt war. Zum Glück spielte das im Moment keine Rolle für ihn. Wichtiger war, dass Artus vor mehr als zwanzig Jahren die Königswürde an König Robert übergeben hatte und nun angeblich im Ruhestand war. Ob er wirklich noch lebte? Und ob er sich überzeugen lassen würde, nochmals den Thron zu besteigen?

Andererseits: welche Wahl hatte der Entdecker denn? Wenn er nicht selbst König bleiben wollte, brauchte er einen Ersatz und der inzwischen sicher greise Artus war wohl seine beste Option.

„Also gut. Ich rede mit Artus“, legte Siegbald fest.

Theolinde nickte erleichtert.

 

 

 

Reisevorbereitung

Eine kurze Umfrage bei den Schlossbediensteten ergab, dass ein Gespräch mit Artus wohl schwerer zu bewerkstelligen war, als Siegbald es sich gedacht hatte.

„Er lebt jetzt inkognito“, verkündete Oberdruide Neidhart fröhlich. „Keiner weiß, wo er ist und was er so tut.“

„Und Merlin weiß auch nichts?“ fragte Siegbald.

„Merlin? Ich kenne keinen Merlin. Ist das einer der Zwerge?“

Siegbald hob überrascht die Brauen. „Wirklich nicht? Ich dachte, wo doch Artus in Aequipondium weilt, dass auch Merlin, der große Zauberer und Druide…“

„Also wirklich“, unterbrach Neidhart ihn vorwurfsvoll. „Ich dachte, du meinst eine richtige Person. Dieser Merlin ist selbstverständlich nicht real. Der ist eine reine Sagengestalt. Wie Ihr glauben konntet, dass ein solches Märchen wahr sein kann, ist mir schleierhaft.“

„Ein Märchen. Selbstverständlich“, murmelte Siegbald, der insgeheim begonnen hatte, jede noch so unwahrscheinliche Legende für möglich zu halten.

Trotzdem blieb es eine Tatsache: keiner im Schloss kannte Artus Aufenthaltsort. Es würde Siegbald also nichts übrigbleiben, als in den Dörfern nach ihm zu fragen.

Am Morgen nach dieser ernüchternden Erkenntnis verabschiedete sich Theolinde. Siegbald hatte gehofft, dass sie ihn bei der Suche nach Artus begleiten würde. Sie hatten in den letzten Wochen viel zu wenig Zeit für einander gehabt. Insgeheim hatte er außerdem gehofft, sie würde ihm helfen, Artus zu überzeugen.

Doch die Hexe schüttelte den Kopf. Sie müsse wieder zurück zur Burg in der magischen Mitte, erklärte sie. Dort hatte Pertussi nach seiner Zeit als Zauberer eine Sammlung wundersamer Kreaturen und Chimären zurückgelassen, die die Hexe mit Unterstützung einiger Freunde betreute. In den nächsten Tagen stand bei einer der Kreaturen eine Geburt an.

„Erinnerst du dich an Pertussis Minotauren?“ fragte sie.

Siegbald nickte. Fehlgeschlagene Zauberexperimente hatten zu einer Vielfalt an Mischwesen zwischen Menschen und Kühen geführt.

„Kira bekommt Nachwuchs“, erklärte die Hexe nun. „Nur leider wissen wir nicht, ob es ein Kälbchen, ein Baby oder irgendetwas dazwischen werden wird. Deshalb muss ich dabei sein, um notfalls einzugreifen.“

Siegbald seufzte.

„Aber ich lasse dir Gunnar und Caesar hier. Sie können dich begleiten und außerdem deine königlichen Leibwächter sein.“

Der Entdecker hob skeptisch eine Augenbraue. „Besonders repräsentativ sind ein einbeiniger Greis und ein fetter Raubkater aber nicht gerade. Glaubst du nicht, ich bin ohne sie besser dran?“

Die Hexe zögerte. „Vielleicht“, gab sie zu. „Aber ich will nicht, dass du einsam bist. Außerdem haben sich die beiden in der letzten Zeit so seltsam benommen, dass ich dachte, es tut ihnen gut, mal für einige Zeit aus dem Dolchwald rauszukommen und etwas von der Welt zu sehen.“

Siegbald grinste schief. „Gib es zu: du möchtest, dass ich für die beiden das Kindermädchen spiele, so lange du keine Zeit hast.“

Theolinde zwinkerte. „Gut möglich. Aber Gunnar hat sich in seiner Jugend überall in Aequipondium rumgetrieben. Vielleicht ist er ja tatsächlich nützlich.“

„Hast du sonst noch irgendwelche hilfreichen Ideen?“

Sie nickte. „Tatsächlich, ja. Ich habe nachgedacht. Meine Freundin Osrun kann dir vielleicht helfen. Sie bedient im „Trog und Zuber“. Das ist eine ziemlich bekannte Taverne in einem kleinen Weiler südlich der Käseberge. Ritter Lancelot zählt dort zu den Stammgästen. Ich war selbst noch nie dort, aber ich bin sicher, Gunnar kennt den Ort. Dort könntest du mit deiner Suche beginnen.“

Siegbald nickte.

Es folgte eine lange und innige Umarmung, aus der Siegbald sie am liebsten nie wieder losgelassen hätte. Doch schließlich machte sich Theolinde sanft von ihm los und schwang sich auf ihren Besen.

„Pass auf dich auf“, rief sie ihm zu. „Und wenn du mich brauchst, schick Lars mit einer Nachricht.“

Sie winkte ein letztes Mal, dann flog sie davon. Der Entdecker blieb einsam und ziemlich deprimiert zurück.

„Aber ich brauche dich doch immer“, sagte er leise.

Ehe Siegbald ins Innere des Schlosses zurückkehren konnte, lief er dem Comte de La Pérouse geradewegs in die Arme. Wie immer war der französische Aristokrat in einen makellosen Justaucorps gekleidet und tadellos frisiert. Selbst jetzt, wo er König war, löste die unbeschwerte Grazie des Franzosen ein wenig Neid in Siegbald aus. Ihm selbst gelang in der unbequemen Staatsrobe nie, entspannt zu bleiben und deshalb trug er lieber seinen alten, schon etwas abgetragenen Rock. Ein Umstand, der ihn nun neben dem gutgekleideten Comte ziemlich die Laune verdarb.

„Sockenloch, welch ein Zufall, dass ich Euch hier treffe. Ich wollte gerade zu Euch“, begrüßte der Comte ihn.

Siegbald nickte höflich. Er wurde aber das Gefühl nicht los, dass es sich keineswegs um einen Zufall handelte. Tatsächlich hatte La Pérouse bereits seit Tagen erfolglos um ein Gespräch gebeten. Siegbald hatte deswegen zwar ein schlechtes Gewissen, immerhin war der Comte nicht nur sein Konkurrent als Entdecker, sondern vor allem auch ein Freund, aber er hatte einfach nicht die Zeit gehabt, um über das Anliegen des Franzosen nachzudenken. Und da war es auch schon.

„Ich bin sicher, Ihr wisst, weswegen ich Euch aufgesucht habe“, begann La Pérouse.

Siegbald nickte müde, doch der Comte ließ sich davon nicht aufhalten.

„Es geht um unser aller Heimkehr nach Europa“, begann er. „Nun, da Ihr König von Aequipondium seid, steht es Euch frei, unsere Abreise zu ermöglichen und natürlich auch, selbst heimzukehren.“

„Jean François, ich…“ Siegbald zögerte.

Der Franzose blickte ihm prüfend ins Gesicht. „Ihr wollt doch auch heimkehren, zu Eurer Familie und Euren Freunden. Nicht wahr?“

„Ja, natürlich“, antwortete Siegbald ganz automatisch. „Aber…“

„Aber was?“ Ein sehnsuchtsvoller, ja verzweifelter Ausdruck war in das Gesicht des Franzosen getreten. „Ich vermisse meine Familie“, sagte er leise.

Siegbald seufzte. Natürlich wollte auch er irgendwann zurück nach Europa. Aber er wollte als ruhmreicher Entdecker heimkehren, nicht als „Mitentdecker“ und er scheute sich, seinem Freund, der sicher den selben Traum hegte, das zu sagen. Außerdem wollte er, dass Theolinde ihn begleitete, und er hatte in den Wirren der letzten Tage keine Gelegenheit gehabt, mit ihr darüber zu reden. Und zuletzt sorgte er sich, dass Robert König recht behalten könnte: Was würde wohl passieren, wenn die Welt von der Existenz Aequipondiums erfuhr? Würden gierige Häscher kommen und alle magischen Kreaturen und sogar Freunde von ihm, wie die Dächsin Augusta, einfach einfangen, um sie in den Wunderkabinetten Europas auszustellen? Siegbald wusste, dass die europäischen Monarchen und auch andere reiche Männer, die sich davon einen Ruf als gebildete Herren erhofften, praktisch jede Summe für die exotischen Exponate zahlten, die ihre Wunderkammern füllten. Ob die Objekte echt waren und wie sie in den Besitz des jeweiligen Händlers gekommen waren, war dabei unerheblich, solange sie nur exotisch und selten genug waren. Und Aequipondium bot eine Fülle exotischer und seltener Kreaturen.

Doch all das waren Siegbalds Sorgen, Sorgen des Königs. Und nichts davon wollte er mit dem Comte diskutieren, ganz besonders nicht jetzt, wo Theolinde fort war. Also was sollte er dem Franzosen sagen, der schon viel länger als Siegbald in Aequipondium gestrandet war?

Schließlich zwang sich Siegbald zu lächeln. „Vielleicht könntet Ihr anfangen, ein Schiff zu bauen“, schlug er vor. „Aber tut es abseits der Siedlungen und wenigstens eine Meile von der Küste entfernt. Ich will noch nicht, dass jemand davon erfährt.“

La Pérouse lächelte dankbar. Dann wurde seine Miene besorgt. „Und wie lassen wir das Schiff zu Wasser, wenn es so weit vom Meer entfernt ist?“

„Ich werde mir etwas überlegen“, versprach Siegbald.

„Vielleicht kann wieder eure Drachenfreundin helfen“, schlug der Comte vor.

Siegbald lächelte unverbindlich. „Möglicherweise.“

Zufrieden, sein Ziel erreicht zu haben, verabschiedete sich der Franzose.

Als er außer Sicht war, seufzte Siegbald. Er musste wirklich weg aus dem Schloss und von diesen ständigen schwierigen Entscheidungen. Zumindest hatte er etwas Zeit gewonnen, denn ohne seine Hilfe würden die Franzosen das Schiff sicher nicht zu Wasser lassen können. Und dass der Comte ihn hinterging und versuchte, ohne ihn zu verschwinden, daran glaubte er nicht. La Pérouse war ein Ehrenmann. Außerdem hatten sie zusammen schon zu viel zusammen erlebt.

Am nächsten Tag ließ Siegbald schließlich Johannes als seinen Statthalter im Schloss zurück.

„Eine durchaus angemessene Aufgabe für einen königlichen Oberkämmerer“, hatte sein Leibdiener trocken bemerkt.

Sie vereinbarten, dass Johannes ihn benachrichtigen würde, wenn die Anwesenheit des Königs gänzlich unabdingbar war. Im Übrigen wollten sie sein Verschwinden und insbesondere den Grund seiner Reise weitgehend geheim halten. Während Siegbald auf der Suche nach Artus war, sollte Johannes weitere Nachforschungen zur geheimnisvollen Fleischfresser-Liga anstellen. Bis auf gelegentliche Schreiben, die plötzlich und wie aus dem Nichts im Schloss auftauchten, war bisher nichts herauszufinden gewesen. Jetzt wollten sie es mit Hilfe des Riesen Herr Heinzel bei den Wikingern in Landsby versuchen, die sich bei Siegbalds letztem Besuch so seltsam verhalten hatten. Auch Gunnar hatte Siegbald befragt. Doch der hatte ihn nur offen aus seinen graublauen Augen angeschaut und behauptet, noch nie von der Fleischfresser-Liga gehört zu haben.

Schließlich schnürte der Entdecker sein Reisebündel und brach gemeinsam mit Caesar und Gunnar auf, um Theolindes Freundin Osrun zu besuchen.

 

Trog und Zuber

Siegbald und Gunnar folgten Osrun durch den dämmerigen Schankraum des „Trog und Zuber“. Dahinter, wie ein pelziger aber doch recht deutlicher Schatten, folgte der Chameleopard. Es war voll und laut. Ein betrunkener Gast, der ohne sich umzudrehen versuchte, seine fettigen Hände an Caesars Pelz abzuwischen, zog schnell den Arm zurück, als er das tiefe Grollen des Chameleoparden direkt hinter seinem Kopf vernahm.

Theolinde hatte recht behalten. Gunnar kannte tatsächlich die Taverne, in der ihre Freundin arbeitete, und hatte sie ohne Umwege hergeführt. Auch Osrun, die Freundin der Hexe, hatten sie leicht gefunden, da die Schankmaid bei vielen bekannt und beliebt war. Das Ansinnen der drei, Ritter Lancelot nach Artus zu befragen, hielt sie jedoch für keine gute Idee.

„Wenn er anschließend schlechte Laune hat, zahlt ihr aber die Schäden“, murmelte sie missmutig.

Trotzdem ließ sie sich schließlich überreden, Siegbald und seine Freunde zu dem Ritter zu bringen, wenn auch nur, um ihrer alten Freundin Theolinde Taubenfuß willen.

Osrun hob die Platte mit den Speisen, die sie trug, hoch über ihren Kopf, als die Gruppe einen Tisch umrundete, an dem eine Hühnerschar eilig einen Brei aus Körnern aus einer großen Schüssel pickte. Trotzdem erntete die Schankmaid einige böse Blicke, denn die Speisen, die sie trug, verströmten einen deutlichen Fleischgeruch. Rasch führte sie die drei weiter, bis ganz nach hinten im Raum.

Dort, an einem Tisch nur für sich allein, saß der wohl fetteste Mann, den Siegbald je zu Gesicht bekommen hatte. Er saß wie ein breitgelaufener Pfannkuchen auf einer stabilen Holzbank, den Rücken gegen die Wand gelehnt. Sein Alter und auch seine tatsächliche Größe waren schwer zu schätzen, aber er mochte wohl fünfzig sein. Sein hellbraunes Haar wurde stellenweise schon etwas spärlich und das schwabbelige Kinn war von einem Ziegenbart und einigen unregelmäßigen Stoppeln bedeckt, so als hätte er sich bereits seit Tagen nicht mehr ordentlich rasiert.

Als Osrun am Tisch des Dicken ankam, stellte sie die große Platte mit den Speisen auf den Tisch.

„Besuch für dich, Lance“, blaffte sie.

Osrun ging, ohne Siegbald und seine Kameraden vorzustellen. Überrascht blickte Siegbald der Schankmaid nach. Er hatte gedacht, die wohl mehr als ein Dutzend gebratener Vögel darauf seien für eine ganze Gruppe hungriger Gäste bestimmt. Dass sie nur für einen bestimmt waren und dass dieser Vielfraß ausgerechnet Lancelot sein sollte, irritierte ihn. Inzwischen zog der Dicke die Platte zu sich und begann zu essen, ohne sich um die drei Gestalten zu kümmern, die wie Treibgut einer sich zurückziehenden Flut vor seinem Tisch stehengeblieben waren.

Einige Augenblicke lang beobachteten Siegbald, Gunnar und Caesar den Esser. Dann gab sich der Entdecker einen Ruck.

„Seid Ihr Sir Lancelot?“ fragte er. Die Unsicherheit war in seiner Frage deutlich zu hören.

Der Dicke ließ den gebratenen Vogel, an dem er gerade geknabbert hatte, sinken und betrachtete Siegbald nachdenklich. Dann erwiderte er in einer unwahrscheinlich hohen Mädchenstimme: „Aber mein Herr, erkennt Ihr mich denn gar nicht? Ich bin Rapunzel. Seht nur mein schönes langes Haar.“

Der Mann bewegte seinen Kopf, als wolle er eine imaginäre Mähne ausschütteln, dann blickte er mit klimpernden Augenlidern zu Siegbald auf und spitzte die Lippen zu einem Kussmund.

Dem Entdecker klappte vor Überraschung die Kinnlade herunter. Als der Dicke sah, dass er den Fremden erfolgreich zum Schweigen gebracht hatte, grinste er zufrieden und widmete sich wieder seinem Essen.

„Es ist nur, Fräulein Osrun sagte, Ihr …“ stotterte Siegbald verunsichert.

„Jaja, Osrun sagte… Ich habe gehört, was Osrun sagte“, unterbrach der Dicke ihn ungehalten. Diesmal sprach er mit einer normalen tiefen Männerstimme. Er musterte Siegbald einen Moment, so als überlege er eine weitere Ausrede, doch dann zuckte er nur mit seinen gewaltigen Schultern. „Ja, ich bin’s. Und jetzt verschwindet.“

Damit wandte der Dicke sich wieder seinem Essen zu.

Unsicher blickte Siegbald zu Gunnar. Doch der greise Wikinger zuckte nur mit den Schultern. Caesar beobachtete währenddessen fasziniert, wie Lancelot einen weiteren Bissen fettigen Vogelfleischs von dem Braten in seiner Hand nahm.

„Also, Herr Lancelot, ich bin hier, um Euch zu fragen…“ begann Siegbald erneut.

„Ob ich wirklich der Ritter der berühmten Tafelrunde war?“ unterbrach Lancelot ihn schroff. „Wie so ein fetter alter Sack jemals in eine Ritterrüstung gepasst hat? Und ob sie einen Kran gebraucht haben, um mich auf mein armes Pferd zu hieven? Ist es das, was Ihr wissen wollt?“

Der Dicke warf dem Entdecker einen feindseligen Blick zu.

Siegbald runzelte die Stirn. „Eigentlich nicht“, sagte er zögernd.

Doch die Fragen von Lancelot ließen tatsächlich unwillkürlich Bilder vor seinem inneren Auge entstehen. Wie mochte dieser Klops wirklich jemals in eine eiserne Rüstung gepasst haben? Mussten seine Knappen sie in endloser Tortur enger schnüren, wie das Korsett einer Dame, während diverse Fettwülste abwechselnd durch die verschiedenen Nähte drückten? Oder hatte er eine Rüstung gehabt, die seinen ganzen, gewaltigen Körper bedeckte und ihn aussehen ließ, wie eine menschliche Kanonenkugel?

Lancelot musste zumindest einen Teil seiner Gedanken in seinem Gesicht gelesen haben, denn er schüttelte angewidert den Kopf.

„Ist Euch in den Sinn gekommen, dass ich früher möglicherweise nicht ganz so … stattlich gewesen bin? Dass ich jung, schlank und fit war. Fitter übrigens, als Ihr“, bemerkte der Dicke und deutete mit einem Vogelschenkel auf Siegbalds Mitte.

Unwillkürlich senkte der Entdecker den Blick auf seinen eigenen Bauch, der in den letzten Monaten tatsächlich wieder um einiges fülliger geworden war. Lange würde es nicht mehr dauern, dann musste er sich weitere Hosen und einen neuen Rock fertigen lassen.

„Ähm“, machte Siegbald und runzelte verwirrt die Stirn.

Schließlich gab ihm Gunnar mit seinem spitzen Ellbogen einen Stoß in die Seite und Siegbald erinnerte sich wieder daran, warum sie hier waren.

„Nein. Wir, also ich wollte Euch fragen, ob Ihr uns… mir sagen könnt, wo ich König Artus finde.“

Lancelot blickte immer noch genauso feindselig.

„Und Ihr nehmt an, ich kennen seinen Aufenthaltsort, weil…?“

Er ließ die Frage unheilvoll im Raum hängen.

„Na, Ihr seid doch ein Ritter der Tafelrunde, ähm, gewesen. Und ein guter Freund von Artus seid Ihr doch auch, oder nicht? Da dachte ich eben…“

„Da dachtet Ihr eben…“ Lancelot ließ diese vor Sarkasmus triefenden Worte einige Sekunden nachhallen. Dann richtete er anklagend einen Vogelflügel, den er in seinen Wurstfingern hielt, auf den Entdecker. „Kennt Ihr überhaupt meine Geschichte? Habt Ihr auch nur eine Ahnung, was ich durchmachen musste? – Ganz sicher nicht. Sonst hättet Ihr nicht die unglaubliche Frechheit besessen, einfach hier aufzutauchen und ausgerechnet mich nach Artus zu fragen.“

Siegbald schüttelte den Kopf. „Tut mir leid“, sagte er kleinlaut und wollte sich schon zum Gehen wenden. Doch Lancelot war im Moment ihre einzige Spur. Siegbald hatte keine Ahnung, an wen er sich sonst wenden konnte. Wenn es also einen Weg gab, den fetten Ritter zur Kooperation zu gewinnen, mussten sie ihn nutzen. Mit einem Seufzen riss er sich zusammen, zog einen Schemel heran und setzte sich Lancelot gegenüber.

„Vielleicht könntet Ihr sie mir erzählen, Eure Geschichte“, schlug er vor.

Wohl überrascht von so viel Frechheit, ließ der Dicke den Braten sinken und betrachtete sein Gegenüber misstrauisch. „Wollt Ihr das wirklich hören?“ fragte er nach einiger Zeit.

Siegbald versuchte gewinnend zu lächeln und gleichzeitig interessiert und aufmunternd zu erscheinen. „Ich bin übrigens Siegbald. Vielleicht habt Ihr schon von mir gehört. Ich bin Entdecker. Und das sind meine Freunde Gunnar und Caesar.“

Dass er außerdem der König von Aequipondium war, verschwieg er. Irgendwie hatte er nicht das Gefühl, dass ihm dies bei Lancelot weiterhelfen würde.

 

 

Lancelots Geschichte

Lancelot runzelte die Stirn, als er den seltsamen Kerl wie einen Idioten grinsen sah. Schließlich seufzte er. Er hatte keine Ahnung, wer der Kerl war, aber es spielte auch keine Rolle. Es war viele Jahre her, seit sich jemand für ihn interessiert hatte und offenbar musste er dieser Tage nehmen, was kam. Notfalls eben auch einen Idioten, einen einbeinigen Greis und seine übergroße Miezekatze.

„Also gut. Ich erzähl‘s Euch. Aber macht Euch auf eine traurige Geschichte gefasst.“

Lancelot schob die Platte mit den gebratenen Vögeln beiseite und zog seinen Krug dichter, während auch Siegbalds Begleiter am Tisch platznahmen.

„Entschuldigung, aber esst Ihr das noch?“ schnurrte der Chameleopard eben, als Lancelot mit seiner Geschichte beginnen wollte.

Irritiert schüttelte er den Kopf. Sofort begannen der Greis und der Kater gierig über die gebratenen Vögel herzufallen.

„Euren Worten entnehme ich, dass Ihr bereits einiges über König Artus und seine Tafelrunde wisst“, begann Lancelot.

Siegbald nickte.

„Dann sind Euch sicher auch einige meiner Abenteuer bekannt. Und Ihr wisst auch von Guinevere.“

„Sagt, was ist das eigentlich? Das schmeckt wirklich gut“, unterbrach der Greis ihn und winkte mit einem der gebratenen Vögel.

Sein Kamerad runzelte die Stirn. „Wie kommt ihr überhaupt dazu, Fleisch zu essen? Was wohl Theolinde dazu sagen würde, wenn sie davon wüsste?“

Trotz des vorwurfsvollen Tons, nahm Lancelot an, dass der Mann selbst gern bei den Speisen zugelangt hätte. Der Greis schien derselben Meinung zu sein, denn er grinste seinen Begleiter herausfordernd an.

„Sag’s ihr doch. Außerdem hast du selbst schon Heckenschweine und anderes verdrückt.“

Dann wandte er sich wieder Lancelot zu. „Was sagtet Ihr gleich, wie diese Speise heißt?“

Lancelot runzelte verärgert die Stirn. „Das sind Karottenspechte. Die Bauern fangen sie, weil sie Löcher in ihre Riesenkarotten hacken und Osruns Mutter kennt das beste Rezept, um sie zuzubereiten. War‘s das?“

Der Alte nickte. Zumindest sah der Greis etwas betreten drein, als er Lancelots genervten Tonfall bemerkte. Lancelot wandte sich wieder an seinen Zuhörer. Wie war gleich dessen Name? Siegbald, glaubte er sich zu erinnern.

Doch noch ehe Lancelot mit seiner Geschichte fortfahren konnte, fragte dieser Siegbald: „Sagt, habt Ihr zufällig einmal von der Fleischfresser-Liga gehört?“

„Von der was?“

„Der Fleischfresser-Liga.“ Siegbald warf einen vielsagenden Blick auf die Platte mit den Karottenspechten, während seine Begleiter einen heimlichen Blick austauschten und die Augen verdrehten.

„Nein. Nie gehört“, brummte Lancelot ungehalten.

Wohl um den alten Ritter zu besänftigen, brachte Siegbald das Thema rasch wieder auf Lancelots Geschichte zurück.

„Ihr hattet eine Liebesbeziehung mit der Frau des Königs, nicht wahr? Und das hat schließlich zu Krieg und zu Artus Tod geführt.“ Nachdem er dies verkündet hatte, runzelte Siegbald verwirrt die Stirn. Offenbar war ihm aufgefallen, dass er gerade auf der Suche nach dem toten Artus war. Doch wie wollte er jemanden finden, von dem er wusste, dass er längst tot war?

Bei dem Wort „Liebesbeziehung“ presste Lancelot unwillig den Mund zusammen.

„Wir liebten einander“, korrigierte er Siegbald. „Und wenn Ihr selbst einmal so geliebt hättet, würdet Ihr mich nicht dafür verurteilen.“

Siegbald öffnete den Mund, wohl um etwas zu sagen. Jedoch schien er es sich dann anders überlegt zu haben, denn er schloss den Mund wieder und nickte nur.

„Wie Ihr wahrscheinlich wisst, erfuhr König Artus schließlich von unserer Liebe“, fuhr Lancelot fort. In den Augen, die im Schatten der Fettwülste kaum erkennbar waren, stand nun Traurigkeit. „Es tat mir unendlich weh, meinen Freund und König so zu hintergehen. Doch meine Liebe zu Guinevere war stärker. Wäre es doch auch die ihre zu mir gewesen. – Es kam, wie es kommen musste. Es gab Streit und Krieg und schließlich die Schlacht mit Mordred, bei der Artus fiel. So jedenfalls berichtete man es mir, als ich schließlich vom Kontinent nach Britannien zurückkehrte.“

„Also ist Artus wirklich tot?“ fragte Siegbald besorgt. „Aber ich hörte, dass er vor dreißig Jahren noch als König über Aequipondium regierte.“

Lancelot nickte bedächtig. „Ihr habt recht, Artus war nicht tot. Auch wenn es mich viele Jahre kostete, das selbst zu erkennen. – Artus war schwer verwundet worden, ehe er zur Insel Avalon gebracht wurde. Ob er wirklich starb, war außerhalb Avalons nicht in Erfahrung zu bringen. Aber viele, so auch Guinevere und ich, nahmen es an. Guinevere verließ mich bald darauf, um Buße zu tun und Nonne zu werden. Und da stand ich nun: allein, ohne meinen Freund und König und ohne meine geliebte Guinevere.“

Lancelot nahm einen tiefen Zug aus seinem Krug und blickte dann melancholisch auf dessen Grund. Er schwieg so lange, dass Siegbald begann unruhig zu werden. Er glaubte wohl, der Ritter habe ihn vergessen. Doch schließlich fuhr Lancelot fort.

„Viele glaubten, dass ich aus Reue Mönch wurde und bis zum Ende meiner Tage als Eremit im Wald lebte. Aber in Wahrheit suchte ich mein verlorenes Glück hier.“ Mit einer Bewegung seines Kinns deutete er auf den Krug. „Irgendwann stellte ich fest, dass weder Wein noch Bier mir mein Glück zurückgeben konnten. Erst die Vergebung von Artus könnte mir helfen, einen Neuanfang zu wagen. – Doch Artus war tot. So erzählte man sich zumindest. In Wahrheit hatte keiner seine Leiche gesehen, denn er war ja nach Avalon gebracht worden. Vielleicht lebte er sogar noch. Eines nachts - ich muss zugeben, ich hatte wohl mehr als üblich getrunken - verfiel ich auf den Gedanken, Artus auf Avalon zu besuchen. Ich schämte mich, ihm unter die Augen zu treten, denn ich hatte ihn im Stich gelassen. Aber wenn er noch lebte, wollte ich ihn um Vergebung bitten. Wenn nicht, sollte mir die Herrin vom See eine Buße auferlegen. So oder so würde ich endlich frei sein.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752138344
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Fantasyabenteuer Tierfantasy Hexen Funny Fantasy Zwerge Entdeckungsreisen Artus Funtasy Fantasymärchen Ritter Historisch Fantasy Abenteuer Reise Urban Fantasy

Autor

  • Ima Ahorn (Autor:in)

Ima Ahorn verschlang schon als Kind Abenteuerromane, Märchen und Geschichten über Entdecker. Sie bedauerte, dass die Zeit der großen Entdeckungen vorüber ist. Als sie erwachsen wurde, folgten bei ihr Abitur, Studium und ein Job in der IT ganz traditionell aufeinander. Für Entdeckungen und Abenteuer blieben da nur historische Romane, Fantasy und Urlaubsreisen. ...bis sie den großen Schritt wagte: Sie hat gekündigt, um Europa zu bereisen und um Schriftstellerin zu werden.
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Titel: Aequipondium: Ein neuer König