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Weihnachten fällt aus - wegen is nich

romantische Komödie

von Anna Conradi (Autor:in) Adelina Zwaan (Autor:in)
315 Seiten

Zusammenfassung

Würziger Tannenduft, besinnliche Weihnachtslieder und hübsch verpackte Geschenke? Pustekuchen. Dieses Jahr hagelt es gemeine Streiche.

Gemma liebt Sascha, doch kurz vor Weihnachten verkrachen sie sich. Er will noch nicht an Familie denken und zögert, sie zu heiraten. Gemmas Freundin hat einen Plan, um das Blatt zu wenden. Sie soll in ein Ferienhaus an der idyllisch verschneiten Ostsee reisen. Alles scheint perfekt.
Einziger Haken: Der langhaarige Nachbar. Andauernd spielt er ihr fiese Streiche und ruiniert sogar ein romantisches Date zischen ihr und dem attraktiven Arne. Aber Gemma antwortet in der Sprache, die er versteht. Zumindest so lange, bis alles außer Kontrolle gerät ...

Eine winterliche Romanze mit Humor, Herz und Ostseeduft. Ein Fest der Liebe, voll mit Überraschungen und turbulenten Ereignissen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhalt

Weihnachten fällt aus - wegen is nich

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

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Bibliografie AZ Books

Über die Autorin

Impressum

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Weihnachten fällt aus - wegen is nich

Anna Conradi

 

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Kapitel 1

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Der besinnliche Anblick des herabrieselnden Schnees lässt mich einen Moment lang in vorfreudiger Stimmung verharren. Draußen vor dem Fenster meines Büros rieselt der Schnee. Meine Aufmerksamkeit wird unterbrochen, weil ich die dringende Textnachricht für meinen Freund verfasse.

Eifrig bemühe ich mich, den richtigen Ton zu treffen. Es misslingt. Lange beobachte ich das Treiben vor dem Fenster, wo der erste Schnee des Jahres die Bölschestraße in Berlin-Friedrichshagen bedeckt.

Leise rieselt der Schnee. Still und starr ruht der See. Weihnachtlich glänzet der Wald. Freue Dich, Christkind kommt bald … singe ich das berühmte Weihnachtslied.

In Gedanken. Mir ist danach.

Die Frage, die ich mir unentwegt stelle, ist die gleiche wie jedes Jahr: Wird der Schnee diesmal liegenbleiben und uns weiße Weihnachten bescheren? Die Aussicht darauf erfüllt mich mit Vorfreude. Ehe ich mich in den ganzen Wust an Vorbereitungen stürze, muss ich mich voll und ganz auf das heutige Beratungsgespräch konzentrieren.

»Was hat die gegnerische Partei auf unseren Scheiben vom dritten November geantwortet, Frau Donati?«, fragt mein Mandant ungeduldig, während er nervös mit den Fingernägeln auf die hochglanzpolierte Ahornplatte trommelt.

Die Geräuschkulisse, die durch das Klopfen meiner Mandanten entsteht, erinnert mich auf amüsante Weise an einen alten Vintage-Reklamefilm von Bonduelle. In dem Filmchen marschieren Maiskolben im Gleichschritt und singen begeistert ›Bonduelle ist das famose Zartgemüse aus der Dose‹, während sie sich über ihr kurzes Gemüseleben freuen. Die Vorstellung, wie das Zartgemüse im Gleichschritt in die Blechbüchse hüpft und in nur drei Sekunden konserviert wird, zaubert mir ein Schmunzeln ins Gesicht.

Oh, welch ein heimlicher Traum für jedes Zartgemüse!

Ich bin heute nicht bei der Sache. Erneut driften meine Gedanken ab. Dabei möchte ich mich voll und ganz auf mein Beratungsgespräch konzentrieren und dem Anliegen meines Mandanten gerecht werden.

Möge der Schnee liegen bleiben. Und wer weiß, vielleicht wird dieser Tag genauso denkwürdig wie der Tanz der Maiskolben im Vintage-Film.

In diesem Moment blicke ich auf mein Handy, das ich unter dem Konferenztisch halte. Ich hoffe inständig, dass mein Mandant es nicht bemerkt. Schnell beantworte ich die Nachricht und richte den Blick auf meinen Mandanten.

Mister Bradal ist extra aus England angereist, um an diesem wichtigen Gespräch teilzunehmen. Bei jedem Treffen staune ich über die makellose Maniküre meines schwerreichen Mandanten. Seine gepflegten Fingernägel sind bewundernswert. Bei seinem immensen Reichtum spielt ein ruinierter Nagel gewiss keine Rolle.

Ohne ihn unnötig warten zu lassen, lege ich mein Handy auf den Tisch. Ich atme tief durch, lese die Nachricht noch einmal durch.

»Non essere un idiota!«

Mehr gibt es nicht zu sagen. Abschicken. Zack, bumm, aus.

Der Bildschirm erlischt, die SMS ist auf dem Weg zu meinem Freund. Was er gleich liest, findet er bestimmt alles andere als amüsant. Ich habe ihm unmissverständlich mitgeteilt, dass er kein Idiot sein soll.

Nach fast sechs Jahren wilder Ehe weiß er nur zu gut, wie er mich mit einem einzigen Wimpernschlag zur Weißglut bringt. Aber in diesem Spiel bin ich ihm ebenbürtig. Bei uns fliegen regelmäßig die Fetzen.

Trotzdem lieben wir uns unglaublich. Und nein, damit meine ich nicht die harmlosen Streitereien, wie sie sich brave Deutsche vorstellen mögen. Bei uns geht es wie in Süditalien zu, der Heimat meiner Vorfahren. Bei uns wird laut gesprochen und wild gestikuliert. Süditaliener gelten zurecht als eifersüchtig, ungestüm und manchmal auch besitzergreifend.

Es mag unlogisch klingen, wie wir uns einerseits in den Haaren liegen und dennoch eine tiefe Zuneigung füreinander empfinden. Aber so sind wir. Ein temperamentvolles Völkchen. Deutsche denken oft, der Dritte Weltkrieg steht kurz bevor, wenn sie unsere hitzigen Diskussionen mitverfolgen, doch das Tamtam gehört einfach zu uns. Diese leidenschaftliche Liebe, zugleich von Hass und Zärtlichkeit erfüllt, ist unser Markenzeichen.

Ironischerweise bin ich in Deutschland geboren. Genauer gesagt in Berlin Treptow-Köpenick. Trotz deutscher Sozialisierung haben mir meine Eltern ihr süditalienische Temperament vererbt. Wen wunderts?

»Die Kanzlei Tischner & Brechtsteiner hat noch nicht geantwortet. Entspannen Sie sich gerne, Herr Bradal. Die Frist verstreicht erst morgen«, versuche ich den sichtlich ungeduldigen Mann zu beschwichtigen, der es gewohnt ist, umgehend Antworten zu erhalten.

»Morgen reise ich geschäftlich nach Bulgarien und möchte vorher unbedingt wissen, welche Strategie Sie vor Gericht verfolgen werden, Frau Anwältin. Ich brauche eine Antwort von denen, verdammt noch eins«, schnaubt er, leicht gereizt und anscheinend sehr besorgt um den Ausgang der Gerichtsverhandlung.

In Momenten, in den ich es mit schwierigen und reizbaren Klienten zu tun habe, greife ich gerne zu einer altbewährten Taktik. Ich klappe meine Aktenmappe aus edlem Hirschleder auf, runzle die Stirn und tue so, als würde ich wichtige Notizen auf das karierte Papier kritzeln.

Gesagt, getan. Mister Bradal hat keine Ahnung, was ich da schreibe, aber er glaubt, dass ich eifrig Details für seinen Fall festhalte. Natürlich habe ich alles Wichtige längst im Kopf und möchte ihn schnell beruhigen.

»Ja, das verstehe ich, Mister Bradal. Direkt nach unserer Besprechung werde ich meine Sekretärin anweisen, nachzuhaken. Nein, sagen Sie nichts. Mit ›nachhaken‹ meine ich, dass sie so lange Sturm klingelt, bis uns spätestens vor Büroschluss die Antwort in den Händen halten. Vertrauen Sie mir. Marie ist gut und hat so ihre Tricks auf Lager. Da staune ich jedes Mal. Möchten Sie noch einen Schluck Kaffee, bevor Sie aufbrechen?«

Die Spitze meines Kugelschreibers hämmert mehrmals auf das Papier, als hätte ich drei riesengroße Ausrufezeichen gesetzt. Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass diese Geste Wunder wirkt und selbst den wilden Hengst beruhigt. Oder anders ausgedrückt, den am lautesten schreienden Pavian.

Okay, okay, ich gebe zu, Mister Bradal ist kein Pavian. Herr im Himmel, das sollte eine Metapher sein.

»Oh, sehr gerne. Ihrer schmeckt einfach vorzüglich. Die Italiener verstehen eben etwas von Kaffee und der Liebe. Ihr Kaffee ist wirklich eine Sünde wert. In Form von zwei Stücken Zucker«, schwärmt Mister Bradal.

Ich schiebe den eleganten und avantgardistischen Konferenzsessel leicht nach hinten, als wäre er federleicht. Mit einem freundlichen Lächeln klappe ich die Aktenmappe zu und lese noch einmal das Wort durch, das ich zuvor dreimal und in fetten Großbuchstaben auf das Papier gekritzelt habe: Idiot.

Nun ja, es ist kein Geheimnis, wen ich damit meine. Jedenfalls nicht Mister Bradal. Gott bewahre. Er ist eigenwillig, ja. Aber andererseits ungemein sympathisch und trägt immer ein Lächeln auf den Lippen.

Gemächlich schlendere ich zur schmucken Minibar, die dem eher schlicht eingerichteten Konferenzraum eine besondere Note verleiht. Dort stehen zahlreiche Kaffeetassen und Gläser bereit, ergänzt durch kleine Flaschen Mineralwasser und leckere Knabbereien.

»Nun, ich werde es Ihnen verraten. In einem echten italienischen Kaffee darf eine bestimmte Zutat niemals fehlen. So sagt es zumindest meine hochverehrte Nona«, erkläre ich mit einem hinreißenden Lächeln, während ich zu ihm hinüberblicke.

Der charismatische Selfmade-Milliardär mit indischen Wurzeln lehnt sich bequem in den Sessel zurück. Während ich eine Tasse schnappe und sie geschickt unter den Zapfhahn stelle, bemerke ich in den verspiegelten Flächen der Kaffeemaschine, wie er seinen Oberkörper zur Seite biegt. Es sieht beinahe so aus, als würde er bei seiner sportlichen Dehnübung aus dem Sessel purzeln. Ausgiebig mustert er meine Waden.

»Und die wäre?«

Seine Stimme klingt, als würde er in einer Autopresse stecken, die langsam anfängt, seine Lungen zu zerquetschen. Ich schaue immer noch in die reflektierenden Teile der Maschine und amüsiere mich darüber, wie dieser kauzige Milliardär aus England sich zu einem ungewöhnlichen Mittagssport hingibt.

Ich habe seine Frau bei einem Empfang kennengelernt. Sie ist wie die meisten Inderinnen bildhübsch und eine echte Löwenmutter. Es bleibt mir ein Rätsel, warum sie sich mit der Rolle des Heimchens am Herd zufriedengibt, denn sie ist keineswegs dumm. Ganz im Gegenteil.

Der Sessel kippt bedrohlich zur rechten Seite. Ich muss ein Lachen unterdrücken. Schließlich will ich nicht riskieren, den Notarzt rufen zu müssen, nur weil Mister Bradal leichtfertig seine kostspielig versicherten Knochen lädiert.

»Amore«, hauche ich mit einem rauchigen Ton, statt mich umzudrehen.

Verträumt schließe ich meine Augen und verharre eine Weile. Erst dann drehe ich mich zum Besprechungstisch um. Nachdem ich die Augen wieder öffne, sitzt Mister Bradal vorbildlich und kerzengerade im Sessel und schmunzelt entzückend. Er wartet sehnsüchtig auf seinen italienischen Kaffee, den wir in Wahrheit von Tchibo in lieblos designten Großpackungen beziehen. Natürlich ohne die sagenumwobene Zutat ›Amore‹.

»Das klingt grundsätzlich simpel. Wie ich aber höre, stellen sich die Deutschen in der Liebe ein wenig ... wie sagt man auf Deutsch? Ich glaube es war: niveaulos. Stellen sie sich denn etwa nicht so niveaulos an, wie es sich in England erzählt wird?«, fragt er mit einem Hauch von Spott in der Stimme.

Ein breites Grinsen legt sich auf mein Gesicht, und ich kann ein ehrliches Lachen nicht unterdrücken. »Ja, das mag wohl stimmen. Ein bisschen plump geben sie sich manchmal, was die Liebe betrifft«, gebe ich erheitert zu, lehne mich in vornehmer Pose in meinen Sessel zurück und schlage meine Beine übereinander. »Aber wissen Sie, eigentlich finde ich die deutsche Liebe ganz und gar nicht niveaulos. Sie wirkt eher wie ein Blumenkasten ohne knallig bunte Blumen. Alles ist in einem harmonischen Ton gehalten. Sieht hübsch aus, aber irgendwie fehlt der Kontrast, der besondere Knall. Und wenn ich offen sprechen darf, auch der farbliche Höhepunkt für meinen süditalienischen Sehnerv.«

»Was das betrifft, müssen Sie einem Inder wirklich nichts erzählen«, kichert er. »Wir lieben knallige Farben, haben sie erfunden. Immerhin, die Deutschen sind verlässlich, pünktlich und sparsam. Das wiederum finde ich beeindruckend und frage mich, wie sie das hinbekommen. Puh, und es ein Leben lang durchhalten.«

Ich schmunzele und erkläre: »Mein Freund ist Deutscher. In dieser Hinsicht würde er Ihnen sicherlich einen Wecker oder einen Terminplaner empfehlen. Vielleicht sogar eine App, die nebenbei auch noch als Selbstoptimierungs-Tool fungiert. Ja, ja, Sie lachen darüber. Mein Freund ist aber noch so viel mehr als deutsches Bier, deutsches Vollkornbrot, deutsche Wurst und Pünktlichkeit. Ganz unter uns gesagt, ich würde ihn sonst ja gar nicht heiraten wollen, nicht wahr? Aber das möchte ich. Mit voller Überzeugung. Wenn er mich doch nur endlich fragen würde.«

»Oh, ja. Das deutsche Bier ist wirklich gut«, kichert er und übergeht meinen letzten Satz. »Aber jeden Tag Bier trinken? Ich weiß nicht. Es macht dick.«

Meine funkelnagelneuen Pumps wippen auf und ab, während ich in Gedanken einer drängenden privaten Angelegenheit nachhänge. Doch der charmante Belami lässt sich nichts entgehen und betrachtet ungeniert meine Waden, obwohl ich gerade erst meinem Beziehungsstatus erwähnt habe.

»Ich muss Ihnen jetzt ein gewagtes Kompliment machen, Frau Donati. Rot schmeichelt Ihrem Teint ungemein«, sagt er mit einem schelmischen Grinsen.

Überglücklich betrachte ich meine neueste Eroberung, den knallroten Rock. Rot ist meine Lieblingsfarbe. Die ganze Power, das Feuer, das Blut, die Macht und der Mut, die diese Farbe verkörpert, spiegeln sich in meinem Charakter wider.

Zudem bin ich überglücklich, dass ich diesen einzigartigen Rock in meiner Lieblingsboutique ergattert habe. Es gibt viel zu wenig Kleidungsstücke in solch auffälligen Statement-Farben. Und an jenem besonderen Tag, an dem ich ihn gekauft habe, gab es gleich doppelt Grund zur Freude. Es gab etwas zu feiern und war mit meiner Mutter unterwegs. Also habe ich trotz stolzem Preis zugegriffen und meine Mamma auf ein Glas Champagner eingeladen und ihr von meinem Karrieresprung erzählt.

Ab Januar bin ich Junior Partner. Normalerweise erreicht man diese Stufe erst nach sechs Jahren. Wenn überhaupt. Doch ich habe es in knapp fünf Jahren geschafft.

Meine Eltern haben viel geopfert, damit meine Brüder und ich studieren können. Meine Mutter und mein Vater sind in bitterarmen Verhältnissen in Süditalien aufgewachsen. Typisch für Süditalien. Karriereaussichten gibt es lediglich zwei. Entweder man geht zur Mafia oder lebt in bitterer Armut.

In Süditalien gilt die Familie als das wertvollste Gut im Leben eines Menschen. Wenn du nichts hast, dir nichts mehr geblieben ist und du vor Hunger den Kitt aus den Fenstern puhlst, kannst du immer auf deine Familie zählen. Das macht uns aus, das leben wir. Tag für Tag. Mit der Familie fühlen wir uns stark, sicher und geborgen.

»Sie sind zu liebenswürdig«, entgegne ich und stehe auf. Dabei glätte ich meine rote Bluse und meinen Rock. »Rot ist meine absolute Lieblingsfarbe. Genießen Sie Ihren Kaffee in aller Ruhe. In der Zwischenzeit werde ich meine Sekretärin instruieren und ... ach ja, ein dringendes Telefonat lässt sich nicht aufschieben. Bitte entschuldigen Sie mich. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Heimflug und viel Erfolg auf Ihrer Geschäftsreise nach Bolivien.«

Der Gentleman in Vollendung begleitet mich zur Tür und öffnet sie mit einem liebenswürdigen Lächeln. »Ich reise nach Bulgarien, nicht nach Bolivien.«

»Ach, wirklich? Nach Bulgarien? Na was, kann man denn in Bolivien etwa keine einträglichen Geschäfte abschließen?«

»Doch, doch. Schon, aber ich investiere aktuell in die bulgarische Wirtschaft. Ich kann nicht überall gleichzeitig agieren. Auf bald, liebe Frau Donati. Ich zähle auf Sie«, verabschiedet er sich mit einem Hauch von Geschäftigkeit in der Stimme.

Der Geschäftsmann in ihm, der die prompte Ablieferung seiner Arbeitsaufträge gewöhnt ist, deutet mit Zeige- und Mittelfinger auf mich. Ich gehe drei Schritte rückwärts, lege die flache Hand an die Stirn und salutiere militärisch korrekt. Mit einem frechen Lächeln wie Oskar drehe ich mich schneidig ab.

Im lichtdurchfluteten Vorzimmer sitzen drei Sekretärinnen der Kanzlei an ihren Arbeitsplätzen. Sie sorgen für einen reibungslosen Ablauf und sind stets zur Stelle.

»Kannst du mich bitte mit Sascha verbinden, Marie? Ach, und nach dem Telefonat klingle kurz bei mir durch. Wegen der Sache Bradal gegen Bleiermann AG & Co. KG muss ich dich so kurz vor Feierabend um einen dringenden Gefallen bitten. Hast du die Aufstellung der Quartalszahlen fertig, um die ich dich Anfang der Woche gebeten habe?«, frage ich eilig.

»Ja, die sind fertig und liegen chronologisch geordnet auf deinem Schreibtisch«, antwortet die bienenfleißige Marie.

»Wunderbar, ich danke dir. Ahh, Ina. Ich dachte, du bist längst zu Tisch gegangen.«

Ina, meine Freundin und Rechtsanwaltskollegin, die drei Büros weiter sitzt, stürmt abgehetzt auf mich zu. Ihr Kostüm sitzt perfekt und betont ihre schlanke Taille.

Sie wirkt eindrucksvoll. Hoch aufgeschossen umgibt sie eine entwaffnende Aura. Ihre Eleganz bezeichne ich gerne als atemberaubende. Blonde, weiche Haare fallen in zarten Locken um ihr hübsches Gesicht. Wunderschöne, leuchtende, hellblaue Augen blicken aufgeweckt in die Welt. Meistens umgibt sie eine duftige Wolke eines kostspieligen Parfüms. Ihr Lächeln allein könnte ganze Romane füllen. Männer liegen ihr reihenweise zu Füßen, jederzeit bereit, sich vor dieser Venus zu erniedrigen.

Vergeblich wohlgemerkt, denn sie ist seit einem Jahr verheiratet. Mit einem Mann, der sie anhimmelt, ihr treu ergeben ist, sich aber jahrelang nicht gezuckt hat, sie zu heiraten. Ja, echt. Er hatte panische Angst davor. Als würde damit sein lieb gewonnenes Leben enden.

Ist das nicht zum Schreien komisch?

Ina ist nicht nur meine beste Freundin und eine brillante Anwältin, sondern auch eine wahre Meisterin im Täuschen und Tricksen. Die gewiefte Frau hat diesen überzeugten Heiratsmuffel mit Trick siebzehn zum Traualtar gelotst. Und jetzt? Nun kann er es sich nicht mehr anders vorstellen.

Wenn ich sie zusammen besuche, schwebt er auf Wolke sieben, strahlend vor Glück, und nennt sie liebevoll ›meine Maus‹. Es ist einfach zu entzückend.

Und wisst ihr was? Ich muss es euch erzählen, wie Ina es angestellt hat, dass er ihr den Verlobungsring angeboten hat. Es war ein schlichtweg genialer Trick. Ein wahres Meisterstück. Hut ab vor ihrer Kreativität und List.

Ich schwöre, kein Ziegel ist auf dem anderen geblieben, als sie ihren Plan in die Tat umgesetzt hat. Und er wusste gar nicht wie ihm geschieht. Und dann, an einem wunderschönen Tag, funkelt plötzlich ein hübscher Verlobungsring an ihrem linken Ringfinger. So strahlend, dass selbst die Sterne am Nachthimmel vor Neid herabgeblickt und sich gefragt haben, was da unten auf der Erde eigentlich vor sich geht.

Knallgelber Neid keimt in mir auf, wenn ich die beiden heimlich beobachte. Klar, ich gönne meiner Freundin das lang ersehnte, hart erkämpfte Eheglück. Absolut. Ehrenwort. Ich hätte es nur auch gerne verheiratet. Wenigstens so ein bisschen. Einen kleinen Hauch wenigstens. Oder den Fuß in der Tür.

Aber nein, ich habe nicht einmal die Spitze meines großen Zehs in der Tür. Schnief, Rotz und Heul.

»Grüß dich, Gemma. Ich wollte mit dir zusammen essen und habe uns etwas Feines bestellt. Magst du einen frisch belegten Bagel?«, bietet Ina freundlich an und deutet auf ihre Bürotür.

»Oh, der Teig liegt immer viel zu schwer im Magen. Am Wochenende muss ich aber topfit sein. Der Weihnachts-Backmarathon bei meiner Mamma. Du weißt schon. Da darf niemand in der Familie schwänzen. Nicht einmal infolge grässlicher Bauchschmerzen. Dir sagen ihre Krokodilstränen doch etwas?«

»Ach, ja. Die leicht überdrehten, italienischen Mütter und ihr riesige Herzen«, spöttelt Ina lachend und verdreht gekonnt ihre Augen.

»Du sagst es. Ich hoffe ernsthaft, dass ich eines Tages die abgemilderte Variante für meine Kinder bin. Zumindest habe ich es mir fest vorgenommen. Komm mit in mein Büro. Ich telefoniere kurz mit Sascha, danach habe ich Zeit für einen kleinen Mittagsplausch.«

 

 

 

Kapitel 2

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Am anderen Ende der Leitung windet sich Sascha lang und breit aus der Affäre, was meinen süditalienischer Puls genetisch bedingt triggert und ins schier Unermessliche steigert. Er redet und redet um den heißen Brei herum, statt klipp und klar zu sagen, was aus seiner Sicht gegen unsere Heirat spricht.

Meine Güte. Mir reißt der ›Faden Geduld‹, wie meine innig geliebte Mamma zu sagen pflegt. Und wie wir alle wissen, haben italienische Mütter immer recht.

Egal, was kommt. Egal, worum es geht. Egal, wie alt das Kind ist. Mamma hat recht.

Basta Pasta.

Angesäuert platzt es aus mir heraus: »Ich habe die Backen gestrichen voll. Ich bin stinksauer. Ich verstehe dich nicht. Was hat sich plötzlich geändert? Ich dachte, wir sind uns einig?« Ich bin so aufgebracht, dass meine Worte förmlich heraussprudeln. »Wie bitte? Ich glaube es ja wohl nicht. Willst du mich auf den Arm nehmen? Nein, ich mache keine Witze. Ja, meine SMS war ernst gemeint. Und nein, ich kann darüber nicht lachen, denn ich komme mir inzwischen extrem verschaukelt vor. Wieso? Na, weil du immer … Ach, weißt du was. Mir reicht es. Nein, ich will nichts mehr hören und nicht weiter über dieses Thema diskutieren. Ich bin damit durch.«

Ina kichert vergnügt, lauscht meinem wütenden Telefonat ungeniert. Mein Ärger lässt mich ungewollt immer schriller werden. Wie zu erwarten stand, hat Sascha meine Textnachricht wenig amüsiert und wirft mir nun vor, unnötig Öl ins Feuer zu gießen.

Pah! Da kennt er mich aber schlecht.

Mein Herz hämmert. Wer hätte gedacht, dass ein vermeintlich belangloses Gespräch so dramatisch und humorvoll zugleich sein könnte? Nun stehen wir hier. Zwei Menschen, die sich lieben, sich aber in einem heftigen Disput befinden.

Was als fröhlicher Mittagsplausch geplant war, ist zu einer leidenschaftlichen Auseinandersetzung geworden. Das Schicksal liebt es offenbar, uns mit solchen ironischen und turbulenten Momenten zu überraschen. Während ich mich immer mehr in Rage rede, frage ich mich, wie dieser Streit wohl enden wird.

»Wieso redest du von selten dämlich und unnötig? Ich bin Italienerin und genau das ist unsere Spezialität. Wir können einfach perfekt Öl ins Feuer kippen und verbrennen uns nicht einmal ein klitzekleines Härchen dabei, capito?«, platzt es trotzig aus mir heraus und werfe einen ärgerlichen Blick zu meiner Freundin, die erneut kichert.

Ihre unbeirrbare gute Laune geht mir langsam auf den Zeiger. Ich bedecke die Sprechmuschel und zische in ihre Richtung: »Ich streite mich gerade mit Sascha. Was findest du daran so komisch?«

»Gemmalein, entweder hast du die Backen voll oder die Nase gestrichen voll …«, erklärt sie neunmalklug die deutsche Redewendung.

»Höre auf, mich ständig zu verbessern. Und nein, ich möchte mich nicht entscheiden. Ich nehme beides. Zusammen. Zusammen in einem Satz. Punkt.«

»Ausrufezeichen.«

»Meinetwegen auch mit Ausrufezeichen«, füge grummelnd hinzu. »Da bin ich wieder, Sascha. Ja, ja, ich habe gehört, was du gesagt hast. Und du hast mir deine Ansicht zu diesem Thema nicht zum ersten Mal erklärt. Aber ich komme nicht mehr mit und habe nun einmal die Backen gestrichen voll«, betone ich eindringlich.

»Entweder hast du die Backen voll oder die Nase gestrichen voll. Entscheide dich«, belehrt er mich gelangweilt klingend.

Das ist zu viel für mein ungestümes, mit Haut und Haaren liebendes Gemüt. Ich muss schwer schlucken. Und zwar die Enttäuschung runter. Was er mir heute sagt, trifft mich bis ins Mark. Es erschüttert mich.

Er kann sich noch nicht entscheiden und erbittet sich erneut Bedenkzeit. Ich fühle mich, als wäre ich in einem richtig abgedrehten Liebesfilm gelandet. Die Art von Film, den man normalerweise nur im Fernsehen sieht. Und genau wie in diesem schrägen Film öffnet sich der Himmel, als Sascha mir erst gestern Nacht tief in die Augen geschaut hat. Da habe ich es gespürt: Er liebt mich. Ganz ohne Zweifel. Kein Mensch könnte einen solchen Blick aufsetzen, wenn er nicht aus tiefsten Herzen lieben würde. Und dann kommt er näher, schiebt sanft meine verschwitzten Haare zur Seite, um mich zärtlich zu küssen. Es fühlt sich so intensiv an, dass es meinen Verstand raubt und meinen Willen brechen könnte. Es ist eine Liebe, wie ich sie noch bei keinem Mann erlebt habe. Mein Herz rast wild und gehört einzig und allein ihm.

Und heute will er mir weismachen, dass er anders empfindet, sich nicht für mich entscheiden kann? Das ist doch der Gipfel der Absurdität! Ich fühle mich elend und würde am liebsten im Erdboden versinken.

Mein Herz zerbricht.

»Ich habe mich schon vor Ewigkeiten für dich entschieden«, fauche ich in das Telefon. »Wenn du nicht einmal über meinen Vorschlag nachdenken willst, solltest du noch heute deine Sachen packen und ausziehen. Ich brauche nämlich Platz für einen Mann, der sich eine Zukunft mit mir vorstellen kann. Für immer und ohne Zweifel. Keinen, der sich ständig mit sinnlosen Ausreden rausredet. Verstehst du das?«

Seine Antwort klingt einfach nur absurd: »Mit dir kann man nicht ein vernünftiges Wort reden, wenn du dein Radio aufdrehst.«

Ach, jetzt ist also mein lautes Radio schuld an allem. Das ist ja wohl die dümmste Ausrede, die ich je gehört habe. Doch ich lasse mir nicht die Butter vom Brot nehmen, bleibe standhaft und lasse mich nicht von seinen faulen Ausreden beeindrucken. Ich werde für meine Liebe kämpfen und lasse mich nicht von diesem Filmset an Absurditäten abschrecken.

Es ist an der Zeit, die Hauptrolle in meinem eigenen Liebesfilm zu übernehmen. Und der wird ein Happy End haben, das verspreche ich mir selbst.

»Pack deine Sachen und verschwinde aus meinem Leben. Ich habe die Nase gestrichen voll.«

Oh, habe ich gerade gesagt: Happy End? Nichts für ungut, ich habe nur schnell das Drehbuch geändert. Quasi der Lage und meinem ungestümen Temperament angepasst.

Geräuschvoll knalle ich den Telefonhörer auf. Mein Kopf raucht buchstäblich vor Wut. Ich gebe es nicht gern zu, aber mir steigen Tränen in die Augen. Diese verfahrene Situation macht mich einfach wahnsinnig. Stinkwütend wäre eine Untertreibung. Warum zur Hölle will er mich plötzlich nicht heiraten und schiebt diese miesen Lügen vor, anstatt mir endlich einen Verlobungsring auf den Finger zu stecken?

Ich fühle mich wie der Vesuv höchstpersönlich, bereit, alles um mich herum in Flammen aufgehen zu lassen. Dieser verflixte, kartoffelfressende, unbelehrbare und sture Mann bringt mich mindestens dreimal am Tag zur Weißglut. Und trotzdem könnte ich ihn fünfmal täglich verführen.

Ja, das ist die Kehrseite der Medaille. Ich liebe ihn. Aber warum muss er alles so verdammt kompliziert machen? Sogar das Heiraten. Es ist zum Aus-der-Haut-fahren.

Ich zupfe zwei Tücher aus der versilberten Taschentuchbox. Eigentlich sind die meinen Mandanten vorbehalten. Doch heute brauche ich sie dringend selbst. Ich schnäuze kräftig hinein, um meine aufgestaute Wut zu lindern. Bei dem unerfreulichen Telefonat habe ich Mühe gehabt, nicht hemmungslos loszuheulen. Schließlich bin ich nicht aus Stein, auch wenn ich mich manchmal wie der Vesuv fühle und kilometerlange Lavaströme und Rauchsäulen spucke, die den Flugverkehr für Wochen lahmlegen könnten.

Die Wahrheit ist: Mit jedem Fluch und Notschrei versuche ich, meine überbordenden Emotionen zu verbergen. Aber das funktioniert nur für kurze Zeit. Ich kann meine süditalienischen Gene nicht leugnen. Meine Gefühle lassen sich nicht auf die lange Bank schieben. Dafür tanzen sie zu eindeutig im süditalienischen Takt.

»Das hat geklungen, als würde euer Haussegen kurz vor Weihnachten gewaltig schief hängen.«

Ina bemerkt diesen Umstand auf ihre eigene, direkte Art, als würde es um eine lieblose Scheidung gehen. Völlig gelassen kaut sie genüsslich an ihrem Honig-Senf-Bagel, pult den Eichblattsalat heraus und verspeist ihn zuerst. Diskret wischt sie sich die Senfsoße vom Kinn.

Ich lasse mich mit einem lauten Ach und Weh in den Ledersessel neben ihr fallen. Schnell schnäuze ich in mein Taschentuch, wische die Träne von meinem Unterlid und versuche mich zu sammeln, um von diesem katastrophal verlaufenden Telefonat zu berichten.

»Wieder dieselbe, ermüdende Geschichte. Ich kann nicht mehr, bin am Boden zerstört und weiß nicht, was ich mit diesem Mann machen soll. Was muss ich noch tun?«, schluchze ich verzweifelt und bemerke, wie sich mein Körper unter dem Stress schüttelt.

In einer Frauenzeitschrift habe ich gelesen, dass beim Weinen eine Menge Stresshormone ausgeschüttet werden. Angesichts meiner Tränen erscheint mir diese Theorie nur allzu logisch. Andernfalls würde ich regelrecht unter einer imaginären Flutwelle voll Hormongedöns ertrinken. Seither zelebriere ich mein Weinen fast schon und finde es erstaunlich, wie mein Körper mit Stress umgeht, um mich vor Schlimmerem zu bewahren.

»Ach, nein«, ruft Ina mitfühlend aus und legt ihren Bagel beiseite. »Nicht doch ausgerechnet vor Weihnachten. Das ist doch das Fest der Liebe.«

Schön wäre es. Die Situation wirkt grotesk, aber Inas Reaktion bringt mich trotz allem zum Lächeln. Es ist beruhigend, wie sie die Dinge auf den Punkt bringt, selbst wenn sie mit vollem Mund spricht.

»Doch, doch. Ausgerechnet vor Weihnachten dreht er voll auf und legt es darauf an, den Haussegen schief hängenzulassen. Als ob das nicht schon genug wäre, haben wir das Familienbacken bei meiner Mutter für dieses Wochenende geplant. Wie zur Hölle soll ich ihr diese Misere erklären? Sascha kommt nicht, weil er kneift? Es ist vorbei? Wenn meine Mutter das erfährt, flippt sie aus. Sie liebt ihn doch wie einen Sohn. Ich dachte immer, ich angle mir einen behäbigen Teutonen, der hochanständig seine Frau auf Händen trägt und nichts für Zoff übrighat. Dabei erweist er sich beinahe schlimmer als der eigensinnige Ätna.«

»Tja, meine Liebe. Das ist wohl das, was man landläufig einen folgenschweren Irrtum nennt. Nicht alle Deutschen sind temperamentlos. Also, was sagt er?«

Ina beißt einen gewaltigen Bissen ab und schaut mich erwartungsvoll aus ihren himmelblauen Augen an. Ihre Neugierde ist förmlich spürbar. Schon während meines Telefonats hat sie aufrecht im Sessel gesessen und gespannt jedem Wort gelauscht, das sie aufschnappen konnte.

Eine weitere Träne quillt über mein Unterlid. Unentwegt betrachte ich mein Taschentuch und zerknautsche es angestrengt. Meine Enttäuschung sitzt zu tief, als dass ich die harte Abfuhr, die ich gerade bekommen habe, mit einer banalen Ausrede entschuldigen könnte.

»Er fühlt sich noch immer nicht bereit, Nägel mit Köpfen zu machen, dabei wohnen schon zwei Jahre zusammen. Ursprünglich galten zwei Jahre Zusammenwohnen als Feuerprobe. So haben wir es damals abgemacht. Eben sagt er mir aber, dass er noch nicht an Kinder oder eine Familienkatze denken kann. Von Heiraten will er erst recht nichts wissen. Und weißt du, was das Schlimmste ist? Erst neulich hat er gemeint, dass er inzwischen all meine Verrücktheiten kennt und damit klarkommt. Das sind doch Nägel mit Köpfen, wenn ich mich nicht irre? Und gestern Nacht, da war er so sanftmütig wie eine Kuscheldecke. Jetzt redet er plötzlich völlig andersherum und ziert sich wie ein sturer, alter Maulesel, mir den Verlobungsring aufzustecken. Sind deutsche Männer so, wenn es um ›la Familia‹, geht, ja?«, frage ich und kämpfe mit den nachsickernden Tränen.

Ina streckt liebevoll ihren Arm aus und streichelt meinen Unterarm, um mich zu trösten. »Männer reagieren manchmal empfindlich, wenn eine Frau sie mit Eheplänen bedrängt. Und du bedrängst ihn extrem.«

Verwirrt entgegne ich: »Ich bedränge ihn? Extrem? Häh? Ähm, nein, tue ich überhaupt nicht.«

Ina hält gegen: »Ich sage es dir so, wie ich es sehe. Hm, ich kann mir gut vorstellen, dass Sascha Angst hat, die Kontrolle über seinen Heiratsantrag zu verlieren. Männer sind oft romantischer, als du denkst. Anstatt auf seine Ängste einzugehen, schmeißt du ihn vor Weihnachten aus der Wohnung und aus deinem Leben? Findest du das nicht ein wenig überzogen?«

Inas Worte treffen mich wie ein Schlag. Sie hat recht, vielleicht habe ich übertrieben. Aber diese ganze Situation tut so verdammt weh. Ich weiß einfach nicht mehr, wie ich damit umgehen soll.

Klar brennen bei mir schnell sämtliche Sicherungen durch. Das gebe ich zu. Allerdings bin ich keine Dahergelaufene, die sich ständig auf das nächste halbe Jahr vertrösten oder abweisen lässt. Wenn er mich nicht liebt, keine Familie mit mir gründen will, ist es eben vorbei. Da gibt es doch nichts weiter zu besprechen.

Außerdem beruhige ich mich immer schneller, als Sascha bis drei zählen kann. Manchmal muss ich einfach kurz Dampf ablassen, damit ich wieder klar denken kann. So wie der Vesuv eben.

Ehrlich gesagt glaube ich, dass meine Hormone dabei eine zentrale Rolle spielen. In manchen Augenblicken und in einem gewissen Alter werden sie massenhaft im Gehirn produziert. Glattweg kommt es zum Überschuss. Irgendwann müssen sie aus Hirn und Körper raus, das ist doch leicht nachvollziehbar, oder? Deshalb explodiere ich, die Substanzen verteilen sich gleichmäßig im ganzen Körper und ich fühle mich danach wohler.

»Er und seine halbseidenen Argumente bringen mich einfach nur auf die Palme. Da kann ich nicht klar denken und möchte am liebsten etwas zerstören. Und ja. Ich habe ihm gesagt, dass er seine Sachen packen und gehen soll. Wenn er mich nicht will, soll er verschwinden. Sofort.«

»Nein, nein, meine liebe Gemma. Ich denke eher, du möchtest deinen Dickschädel durchsetzen. Aber dazu hättest du dir wirklich einen phlegmatischen Teutonen angeln müssen, der zu allem Ja und Amen sagt. Eine derartige Beziehung wäre dir Temperamentbolzen andererseits zu einschläfernd. Mir kannst du nichts vormachen.«

Meine Freundin legt ein wissendes Lächeln auf und zieht abermals ein Salatblatt aus dem Bagel. Mit Kopf in den Nacken gelegt, fädelt sie ihn vorsichtig in den sperrangelweit offenstehenden Mund, was aussieht, als würde sie ellenlange Spaghetti futtern.

Sie kennt mich. Schließlich gestehe ich ihr meine geheimsten Geheimnisse und breite unbefangen mein Seelenleben vor ihr aus. Was, wenn nicht so eine tiefgreifende Freundschaft überlebt tosende Stürme und meterhohe Flutwellen? Vor allem mit einer temperamentvollen Knallbombe, wie mir.

»Am liebsten würde ich Weihnachten absagen«, murmele ich frustriert und auf dem Boden der Tatsachen angekommen.

Blödes Temperament aber auch. Es bringt mich manchmal echt in Schwierigkeiten.

»Dann habe ich mich nicht verhört«, murmelt Ina, die sich unzufrieden in ihrem Sessel regt.

Sie hat sich nicht verhört. Ich bin zu weit gegangen. Für eine Weile schweigen wir, in der ich blitzschnell alle Optionen durchgehe, die nach dem Gesagten übrigbleiben. Das sind nicht viele, um es mal ehrlich zu sagen.

Mist! Sascha ist mein Traummann. Gütig, zuvorkommend und ehrlich. Er beflügelt mich, regt meine Seele und die Sinne an und lässt mich auf flauschigen Wolken aus rosafarbener Watte einen gefühlvollen Walzer tanzen.

»Ach, ich bin so ein armer Tropf. Was mache ich denn jetzt nur? Er ist doch mein Traummann. Der, mit dem ich mir alles vorstellen konnte«, jammere ich herzerweichend.

Erneut streckt Ina ihre schmale Hand aus, auf dem ein wunderschöner Diamantring von ihrer großen Liebe erzählt. Dummerweise bin ich ein totaler Fan von solch romantischen Geschichten mit allem Drum und Dran. Möglichst in rosaroten Farben erzählt, allerliebst ausgeschmückt, mit viel Gefühl, Zuckerstreusel und am Ende mit einem Happy End zum Dahinschmelzen.

Ich seufze verdrossen. So ein Verlobungsring würde mir jetzt gut zu Gesicht stehen, aber mein Drama ist bei weitem nicht halb so romantisch wie Inas Love-Story. Das sind die Geschichten, die das Leben schreiben sollte. Nicht so ein Kokolores und ungereimtes Zeug, wie Sascha von sich gibt, wenn wir über eine gemeinsame Zukunft sprechen. Das fühlt sich falsch an.

Ich liebe ihn, will mit ihm alt werden und habe ihm gegenüber nie einen Hehl daraus gemacht. Doch anscheinend ist er nicht dazu bereit.

»Mich will keiner. Ich sehe mich schon alt, runzelig und verbittert allein und mit einem dazugehörigen Buckel an einem wackeligen Küchentisch sitzen. Nichts ist mit Enkeln, die an den Feiertagen das hübsch dekorierte Haus zum Leben erwecken. Kein Enkelkind wird später mit mir zu Weihnachten Plätzchen backen oder mich Nona nennen. Stattdessen werde ich mutterseelenallein aufs Totenbrett kommen. Niemand steht an meiner Grabstelle und trauert um mich. Basta Pasta! Da wird doch ein Kind in der Pfanne verrückt.«

Inas Bagel purzelt in die Verpackung, während sie entschlossen die Krümel von ihren Händen klopft und sich dann zu mir beugt. »Heißt das nicht aber: Da wird der Hund in der Pfanne verrückt, Gemmalein?«, korrigiert sie mich mütterlich.

Ständig korrigiert sie meine verkasumatuckelten Redewendungen. Das passiert vorzugsweise, wenn ich im Stress oder todmüde bin. Momentan bin ich beides.

»Mir egal, wie das heißt. Du weißt doch, was ich meine. Bitte stresse mich nicht auch noch, o.k.?«

Beschwichtigend wackelt meine Freundin mit dem Kopf und gibt mir damit zu verstehen, dass ich nicht schon wieder an die Decke fahren soll.

»Was ich dir damit sagen will, ist Folgendes: Erinnerst du dich noch, wie Frederick sich damals gescheut hat, mir den heiß begehrten Ring aufzusetzen? Ich habe nicht aufgegeben und im Hintergrund die Fäden gezogen. Mach das auch so, denn es wird höchste Zeit, dass du aktiv wirst. Aber sei bitte diskret und benimm dich nicht wie ein Elefant im Porzellanladen. Du siehst ja, was dabei rauskommt. Sascha nimmt sich alle Zeit der Welt, bis der Zeitpunkt für ihn passt. Er dehnt das Wort ›Zeit‹ nach seinem Gusto. Beruflich lässt du dir auch nicht die Butter von einer Gegenpartei vom Brot nehmen. Also, worauf wartest du?«

Ich richte mich auf. Das Leben kehrt zurück in meinen erschlafften, kraftlosen Körper. Meine Ohren sind gespitzt, sämtliche Sinne hellwach. Kochend heißes Adrenalin fließt mit Überschallgeschwindigkeit durch meine pulsierenden Venen. Ich bin so präsent, als ginge es vor Gericht um das riesige Milliardenvermögen meines Mandanten.

»Ja, Gemmalein. Ich sehe, du verstehst, worauf ich hinaus möchte. Freut mich zu sehen, wie bei dir die entsprechenden Kurbeln rattern. Männer brauchen in Liebesbeziehungen das Gefühl, dass sie die Hosen anhaben. Und dein Sascha zählt eindeutig zu der Sorte Mann, die es verunsichert, wenn eine Frau ihn ungestüm mit Heiratsplänen bedrängt. Weißt du was? Ich helfe dir, zu bekommen, was du willst. Und zwar auf subtile Art, bei der Sascha das Gefühl bekommt, er würde jede Entscheidung allein fällen. Aber, und das sage ich dir gleich: Dieser Plan funktioniert nur, wenn du dich zurücknimmst. Wie wäre es beispielsweise mit einem Rückzug auf Zeit? Zum Beispiel an die Ostsee. Ich sage nur meilenweit Ostseestrand, menschenleere Strände, ein für diese Jahreszeit typischer, frostklirrender Ostwind und himmlische Ruhe für alle, die allein sein wollen. Quasi für all jene ideal, die schwuppdiwupp von der Bildfläche verschwinden wollen. Soll ich bei den Besitzern nachfragen, ob das Ferienhaus für ein paar Tage anzumieten wäre?«

Die Idee klingt verlockend und das Funkeln in meinen Augen verrät meiner Freundin gewiss, dass sie mit ihrem Vorschlag genau ins Schwarze getroffen hat. Eine Auszeit an der Ostsee könnte tatsächlich das sein, was meine Beziehung zu Sascha wieder in die richtige Richtung lenkt.

Mit jedem Satz ihrer genialen und plausibel klingenden Taktik, werde ich immer mehr von ihrer bauernschlauen Art beeindruckt. Ei, ei, so eine clevere Maus ist sie also. Eine, die mir Schlachtpläne ausarbeitet, bei denen ich nur gewinnen kann.

Ich schmunzele bis zu den Ohren. »Schön weit weg?«

»Gewissermaßen am Arsch der Welt. Niemand wird dich dort finden. Nicht einmal die Cosa Nostra mit ihren besten Spürhunden, das garantiere ich dir. Und ich bin verschwiegen wie ein Grab, du verstehst?«

Theatralisch weitet sie ihre Augen, verschließt den Mund mit einem imaginären Reißverschluss und wartet geduldig auf meine Reaktion oder eine zuckende Wimper meinerseits. Je länger ich diese absolut ausgebuffte Frau betrachte, desto entspannter fühle ich mich.

Was sie vorschlägt, hat ein, zwei Aspekte, die nicht von der Hand zu weisen sind. Schließlich hat sie damals den Verlobungsring bekommen und kennt gewisse Stellschrauben.

»Klingt schön weit weg und nach einem richtig guten Schlachtplan.«

»In Ordnung. Weil du es bist, frage ich für nach, ob die Besitzer das Ferienhaus über Weihnachten vermieten. Ich lege ein gutes Wort für dich ein. Möchtest du wirklich bei so einem Schweinewetter allein an die Ostsee fahren?«

Die Vorstellung, allein bei frostigem Ostwind an der Ostsee zu sein, klingt nicht gerade verlockend. Aber wenn das der Schlüssel zu Saschas Herz ist, dann bin ich bereit, dieses Abenteuer anzugehen.

Mit einem zögerlichen Lächeln stimme ich zu. »Wie lange dauert es, bis du weißt, ob ich mich für ein paar Tage an diesem lauschigen Plätzchen verstecken kann? Am liebsten möchte ich jetzt sofort los. Ich meine abtauchen. Es schneit und der Stadtverkehr kollabiert jeden Augenblick, weil eine vorwitzige Schneeflocke hochkant auf der Straße steht. Will damit sagen: Ich mache mich sofort auf, nehme den direkten Weg zum Hauptbahnhof, schlottere wie ein Schlosshund und …«

»Man heult wie ein Schlosshund, Gemmalein.«

»Da kannst du mal sehen, wie mordsmäßig erbärmlich es mir nach diesem desaströsen Telefonat geht, dass ich wie ein Schlosshund schlottere, statt zu heulen. Außerdem nervt mich jetzt jeder noch so kleine Popel in der Nase. Ich schreie gleich tierisch laut los, weil mir alles langt, also falle mir bitte nicht auch noch auf den Wecker.«

»Man geht einem auf den Wecker. Fallen tut man einem auf die Nerven«, korrigiert Ina, als hätte ich sie nicht gewarnt, mein fragiles Nervenkostüm weiter zu strapazieren.

»Mir egal, ich nehme beides und du fällst mir auf die Nerven.«

»Heißt es nicht aber: Auf die Nerven gehen?«

»Das ist mir jetzt so was von sch…egal. Ich nehme beides und tauche bis Weihnachten unter.«

Ina lacht herzhaft und ihre Freude steckt mich an. Die Vorfreude auf die geplante Flucht an die Ostsee ist wie ein befreiender Windstoß, der die düsteren Wolken meiner Gefühle verweht. Der Gedanke, dem Weihnachtschaos zu entkommen und eine kleine Auszeit zu nehmen, macht mich mutig und entschlossen. Es ist beschlossene Sache. Ich verbringe Weihnachten zwischen Schneeflocken und Ostseewellen.

»Ich verspreche dir, dass ich alles tun werde, damit du deinem Plan folgen kannst und dabei nicht frieren musst wie ein abgehängter Eiszapfen.«

Ausgelassen lachen wir, bis es an der Bürotür klopft. Ah, ja, das ist bestimmt meine bienenfleißige Sekretärin, die vor Feierabend noch bei der gegnerischen Kanzlei gehörig Sturm klingeln muss.

»Komm rein, Marie.«

Sie steckt ihren Kopf durch den kleinen Türspalt. Ihre nimmermüden Augen huschen flink durch den ganzen Raum, bevor sie mich in der Sitzecke entdeckt. »Sascha hat eben angerufen. Er sagt, dass er auf deinen Rückruf wartet, weil euer Telefonat unterbrochen wurde.«

Von wegen unterbrochen. Ich habe aufgelegt. Jetzt verdreht er gehörig die Tatsachen und zeigt ganz nebenbei mit dem Finger auf mich.

Ein Blick zu meiner Freundin genügt. Ina weiß Bescheid. Sie kennt ihre Rolle aus dem Effeff. Mit Blick auf sie geheftet, gebe ich folgende Instruktion, um die Zeit für mich spielen zu lassen: »Ja«, antworte ich und streiche meinen knallroten Rock glatt. »Die Verbindung war heute leider Gottes miserabel. Ich habe ihn immer nur abgehackt verstanden. Falls er erneut anruft, richte ihm bitte von mir aus, dass ich mich liebend gerne bei ihm melde, sobald ich einen Augenblick Luft habe und die Hölle zufriert. Aber das kann dauern und er muss nicht extra auf mich warten. Ach, was mir noch einfällt. Hake bitte vor deinem wohlverdienten Wochenende bei der Kanzlei nach, die Tischner & Brechtsteiner vertritt, wann sie gedenken, uns die überfällige Antwort, zu liefern. Mister Bradal hat mich um eine Antwort vor seiner Bolivienreise gebeten. Kümmerst du dich darum?«

Marie nickt eifrig und notiert sich die Aufgabe. Dann blickt sie auf. »Er wollte aber nach Bulgarien fliegen, nicht nach Bolivien«, überlegt sie laut und scheint an ihrem Gedächtnis zu zweifeln. Oder an meinem. »Und, soll ich das Sascha eins zu eins ausrichten, wie du es eben gesagt hast? Auch das mit der Hölle?«

»Unbedingt, Marie, also richte es ihm bitte genauso aus.«

Ungeduldig wedele ich mit meiner Hand, damit sie pünktlich in den Feierabend kommt und nicht zu viel Zeit mit der unnötigen Diskussion vertrödelt. Schließlich habe ich Mister Bradal ein Versprechen gegeben und mit Ina ein, zwei oder drei Details meiner spontanen Ostseereise zu besprechen.

Ina und ich sehen uns an und prusten erneut los. Es fühlt sich gut an, sich nicht nur von den eigenen Gefühlen treiben zu lassen, sondern auch ein bisschen am Steuer des Lebens zu sitzen. Unsere kleine Taktik, die Antwort hinauszuzögern und Sascha ins Wartezimmer der Ungewissheit zu schicken, gibt mir das Gefühl, meine Schicksalskarten selbst zu mischen.

»Ach, Ina. Du bist einfach genial«, kichere ich und lache ausgelassen. »Ab heute bist du meine heimliche Königin der Verwegenheit.«

»Also, wir nehmen den Tarnnamen ›Projekt Mann unter die Haube‹. Mein Plan sieht folgendermaßen aus …«, setzt Ina mit gesenkter Stimme, leuchtenden Augen und einem schelmischen Lächeln auf den Lippen an. »Du tauchst bis Weihnachten unter. Derweil ziehe ich an der einen oder anderen Strippe, drücke ein zwei Knöpfe, drehe die Lautstärke voll auf und lasse die Puppen tanzen, damit du schnellstens unter die Haube kommst. Du entspannst dich, hast ein bisschen Spaß mit den Fischköppen und mischt dich dezent unter das Volk. Wie klingt das?«

»Wenn du mich fragst, klingt es sehr verlockend. Gib mir rasch einen Bagel, dann kann ich mich voll auf deinen mega-super-genialen Plan konzentrieren. Hi, hi. Projekt ›Mann unter die Haube‹. Wie kommst du nur immer auf solche Wortschöpfungen? So, jetzt lass hören.«

Ina schiebt mir einen Bagel zu. Genüsslich beiße ich hinein und lasse mir die weiteren Details ihres waghalsigen Vorhabens erläutern. Ihre Augen funkeln vor Begeisterung, und ich spüre, wie sich neue Energie in mir aufbaut. Wer weiß, mit ein bisschen Glück wird diese Reise unvergesslich und verändert mein Leben zudem für immer.

 

 

 

Kapitel 3

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Bahnhöfe erscheinen von Natur aus ungemütlich. Dieser Winter und vor allem der Bahnhof, vor dem ich ausharre, machen es noch schlimmer. Ich schlinge meine Arme um meinen frierenden Körper. Eine Wartehalle hat es hier früher gegeben, aber die würde heute nicht viel nützen. In ihr hat es wie Hechtsuppe gezogen, weshalb sie als Aufenthaltsort gemieden wurde.

Die dicken Schneeflocken des einsetzenden Schneeregens schmelzen schneller, als ich bis drei zählen kann. Jede einzelne spiegelt meine gedrückte Stimmung. Nach vier Stunden Zugfahrt sehne ich mich nur noch nach einer heißen Badewanne voller duftendem Schaum, in der ich meine müden Knochen entspannen kann.

Ich friere entsetzlich und ziehe mir den Wollschal noch tiefer ins Gesicht. Zum Glück habe ich dieses uralte Teil vorgestern in der hintersten Ecke meines Kleiderschranks entdeckt. Meine Nona wird sicherlich vor Freude in die Luft springen, wenn ich ihr erzähle, dass ich ihre wunderbare Handarbeit zu schätzen weiß und den Schal trage. Besonders, wenn ich betone, wie hervorragend ihr Strickhandwerk meinen Hals wärmt.

Immerhin den Hals. Mit der Seele verhält es meist komplizierter. Die ist nicht so leicht aufzuwärmen. Ich bin immer noch nicht über den Streit mit Sascha hinweg, obwohl der erste Ärger verraucht ist und Ina ihre Planungen auf ein konkretes Ziel fokussiert.

Keine einzige Textnachricht hat er mir geschrieben. Nicht einmal ein Smiley oder ein Zeichen, dass er mich vermisst. Der Schuft.

Meine Augen huschen über den Vorplatz. Ich stehe mitten auf dem flachen Land. Es duftet nach Salz und frischer Luft, die aus Richtung Osten her weht.

Familien schlendern zu ihren Autos, während sie fröhlich über ihre aufregenden Bahnreisen plaudern. Sie reiben sich ihre klammen Finger und steigen in die Fahrzeuge ein, um die wohlige Wärme im Inneren zu genießen. Glückliches Familienidyll. Es zwickt in meinem Herzen, darum wende ich meinen Blick ab.

In einer Parkverbotszone steht ein Pärchen, das sich kichernd und neckend an einem roten Mittelklassewagen lehnt. Ihre Verliebtheit ist so offensichtlich, dass es einem das Herz erwärmt. Sie können ihre Münder nicht voneinander lösen und gehen in ihrer Zuneigung vollkommen auf. Unwillkürlich erinnert mich ihr Anblick an Sascha - sein bezauberndes Lächeln, seine liebevollen Küsse.

Wieder schweife ich mit meinem Blick weiter, zumal die Erinnerung an ihn schmerzt. Ich suche nach etwas Unverfänglichem, um die elende Wartezeit zu überbrücken.

Es ist halt nicht zu ändern. Hilft ja auch alles nichts. Ich habe ihn aus meinem Leben geschmissen und jetzt muss ich mit dem Herzweh fertig werden.

Gleich neben dem roten, denkmalgeschützten Backsteingebäude tippelt eine Frau unruhig auf und ab. Ihr Kind trägt eine Wollmütze mit einem überdimensionierten Bommel. Ich frage mich, wie die Kleine dieses riesige, schwere Ding auf dem Kopf stemmt und welche Langzeitschäden dieser verschrobene Modetrend wohl verursacht.

Nervös blickt die Frau auf die Uhr, die unterhalb des Vordaches am kleinen Empfangsgebäude hängt. Als ob die Minuten dadurch schneller vergehen. Offensichtlich friert sie höllisch und wartet ungeduldig auf jemanden. Etwas, das uns verbindet, obwohl unsere Geschichten ganz unterschiedlich sein mögen.

Ich krame mein Handy aus der Handtasche und melde Ina meine Ankunft.

Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten. »Hier läuft alles nach Plan. Du wirst abgeholt. Ich habe alles arrangiert und arbeite bereits am nächsten Schachzug. Genau wie besprochen. Bleib stark und halte dich bitte zurück, dann wird alles gut, versprochen. Viel Glück und Küssi.«

»Super, danke und Küssi zurück.«

Läuft doch.

Ein Schauer durchfährt mich. Ich schalte ich den Bildschirm ab und verstaue das knallrote Handy in meine Handtasche.

Nützt ja alles nichts. Ich muss ihr vertrauen, ob ich will oder nicht. Immerhin hat ihr Plan damals funktioniert. Und sie ist die absolute Expertin, wenn es darum geht, Männer unter die Haube zu bringen. An ihrem Hochzeitstag hat sie vor Freude gestrahlt und das möchte ich auch.

Ach, wenn es nur endlich so weit wäre.

Unablässig wechsle ich mein Standbein, um mich warmzuhalten. Weil es nichts anderes zu tun gibt, schaue ich mich in dem norddeutschen Hansestädtchen um.

Viel ist hier nicht los. Ich stehe auf einem kleinen, baum- und schmucklosen Platz neben dem ehemaligen Haupteingang, der heute nur noch als Vorgebäude dient. Die frühere Unterführung wurde durch einen schmucken Arkadengang ersetzt, dessen Highlight ein Taxistand ist. Es gibt sage und schreibe Platz für zwei Taxis.

Auf der anderen Straßenseite stehen hell gestrichene Häuser im typisch hanseatischen Baustil neben roten Backsteinhäusern. Über den Dächern ragt, wenn auch im trüben Schneegestöber nur schemenhaft erkennbar, das mit Grünspan überzogene Kupferdach der St. Nikolaikirche empor.

Zwischen den dreistöckigen Wohnhäusern auf der anderen Straßenseite taucht plötzlich ein Mann auf. Er zieht den Kragen seines dunklen Wollmantels tief ins Gesicht und überquert den Fußgängerüberweg. Mit schweren Schritten geht er an dem kleinen Platz vorbei, an dem laut den Erzählungen der Einheimischen früher die Schwarztaxis auf Kundschaft gewartet haben.

Jeder Wartende fröstelt. Wir alle sehnen uns nach einem warmen, kuscheligen Fahrzeug. Oder noch besser, nach einem gemütlichen Zuhause. Ich auch.

Durch die Nacht-und-Nebel-Aktion trage ich völlig unpassende Kleidung. Die taugt höchstens für das Büro. Doch das Schlimmste daran ist: Weihnachten steht vor der Tür. Das Fest der Liebe.

Himmel, bei diesem Gedanken fließen die Tränen gleich wieder, so erbärmlich fühle ich mich. Und bei diesem Mistwetter heißt das leider, dass ich die Tränen nicht einfach mit einem Taschentuch abwischen kann. Nein, denn sofort würden sich Eiszapfen bilden, die ich problemlos abklopfen könnte, so kalt ist es. Sogar meine Nasenhaare gefrieren.

Schönes Wortspiel, denke ich. Albern kichere ich in mich hinein und sehe dabei bestimmt wie eine entflohene Geisteskranke aus. Hier stehe ich, in dünnen Büroklamotten, friere mir den Allerwertesten in der norddeutschen Pampa ab und lache mich über meinen eigenen, seltsamen Witz scheckig. Das alles nur, weil Sascha sich plötzlich zum Heiratsmuffel entwickelt.

Misstrauisch schaut mich die Frau an, die mit dem Kind unweit von mir entfernt wartet. Weil ich eigentümlich über meinen eigenen Witz gackere, geht sie sicherheitshalber ein paar Schritte weiter. Scheinbar bin ich ihr nicht geheuer. Na gut, dann geh eben. Von weiter hinten kannst du die große Uhr genauso gut sehen und glaubst dich sicher vor einer Verrückten.

Für einen Moment überlege ich ernsthaft, ob ich ihr hinterherlaufe und mich, mit einem schön verschrobenen Gesichtsausdruck, nach der Uhrzeit erkundige. Oh je, jetzt fängt mein frierender Oberkörper plötzlich vor Lachen an, zu hüpfen. Ich ziehe seltsame Blicke auf mich. Diesmal von dem hoch aufgeschossenen Mann, der über den Fußgängerweg huscht.

Echt jetzt mal, sein Wollmantel sieht verdammt kuschelig aus. Mit Sicherheit wärmt er besser als mein dünner Blouson mit dem Kragen aus Imitat von ... tja, was soll das überhaupt darstellen? Schafswolle? Sofarolle oder sind es nur ausrangierte, orangefarbene und piksende Sofakissen aus alten DDR-Restbeständen?

Wow, der war gut. Echt zum Brüllen. Zumal ich mitten in der ehemaligen Ostzone stehe. Entschuldigung, selbstverständlich und politisch korrekt ausgedrückt meine ich, dass ich in einem der neuen Bundesländer stehe. Genauer gesagt: Mecklenburg-Vorpommern. Die Einheimischen sagen Meeeklenburch. Nicht Mäcklenburg oder Mäcklenburch. Ganz einfach Meeeklenburch.

»Moin! Ich komme vom Ferienhaus Inselglück, um eine gewisse Frau … Häh?«

Da brat mir doch einer einen Storch!

Die volltönende Stimme haut mich glatt vom Hocker. Ich muss unbedingt wissen, wem diese Stimme gehört, und drehe mich um. Dem Klang nach müsste dieser Mann ein echter Traumprinz sein. Gutaussehend, elegant und warmherzig. Einer, der seine Frau auf Händen trägt.

Vor mir steht ein Mann. Der Punkt geht definitiv an mich, was bei dieser Stimmlage wirklich nicht schwer zu erraten gewesen ist. Der Mann ist riesig. Und damit meine ich wirklich riesig. Riesig im Sinne von hünenhaft.

Der Rest ist jedoch enttäuschend. Das gibt gleich drei Punkte Abzug wegen Irreführung und Vortäuschung falscher Tatsachen.

Verwirrt und unsicher glotz er mich an. Es wirkt, als würde er flüchten wollen, scheint aber nicht in der Lage zu sein, es zu tun. Kein einziges Wort kann er sich abringen.

Er trägt keine Mütze, was bei seinem leicht gelockten Wildwuchs sowieso albern aussehen würde. Ebendarum hat der Schnee leichtes Spiel und verfängt sich in den wild umherwachsenden Haaren. Unter der Schneedecke, die inzwischen von seinem Kopf auf den Wollmantel tropft, erahne ich mittelblonde Haare. Blass erstaunte Augen blitzen mich an, während er unmanierlich und geräuschvoll das die Nase hochzieht, was sonst hinaustropfen würde.

Also wirklich. Echt unappetitlich. Das gibt auf der Stelle einen weiteren Punkt Abzug.

»Signorina Donati, nicht Donna Häh«, erkläre ich stotternd und hoffe, er kennt den sprachlichen Unterschied zwischen Fräulein und Frau.

Die Dunkelheit bricht herein. Im Winter lässt sie nach fünfzehn Uhr nie lange auf sich warten. Meine Wangen lassen sich vor Kälte kaum bewegen, daher klingt meine schroffe Zurechtweisung eher wie ›Onati‹ anstatt ›Donati‹. Daneben fühle ich mich äußerst unsanft beim Possenreißen gestört. Ausgerechnet, und das ist der Witz an der Sache, von einer seltsam anmutenden Mischung aus Yeti und Reinhold Messner, der nach dreizehn Jahren Bergtour auf dem Mount Everest heimkehrt und inzwischen als verschollen gilt.

Und mal ganz nebenbei bemerkt: Es ist längst nicht mehr Morgen, sondern bereits früher Abend, obwohl ich jetzt nicht unbedingt Korinthen kacken will. Also, was zur Hölle soll dieses fade klingende ›Moin‹? Warum wünscht er kein zivilisiertes ›Guten Abend‹, ringt sich ein höfliches Lächeln ab oder zeigt sonstige Anflüge von Freude, mich zu sehen?

Der Wollyeti vor mir zieht erneut geräuschvoll und äußerst taktlos seinen Schnodder hoch und baut sich vor mir auf. Am liebsten würde ich fragen, ob er ein Taschentuch braucht. Was Papiertaschentücher betrifft, bin ich nämlich gut ausgestattet. Das liegt vor allem daran, dass ich eine Frau mit einer aufgeräumten Handtasche bin. Ja, ja, ich weiß. Selten, aber es gibt uns wirklich, und ich bin der lebende Beweis für diese verrückte These.

»Tach«, murrt er, ohne seine Beißerchen auseinanderzubekommen.

Verdammt, kann die ansonsten so großartige Natur nicht einfach das Dorf in der Kirche lassen und bei Männern alles gleichmäßig verteilen? Warum kann sie nicht eine angenehme Klangfärbung der Stimme mit einer passenden Statur, Humor und großartigem Aussehen kombinieren? Warum mischt sie dann nicht auch noch Eigenschaften wie: kinderlieb, treu und häuslich dazu. Scheinbar ist das eine Mischung, die es nur in der glühenden Fantasie romantischer und naiver Mädchen zu geben scheint.

»Nein, auch nicht Tach. Ich heiße Signorina Donati. Prego: Signorina D o n a t i, capito?«

»Tja, dann sind Se Fräulein Donati. Hab‘s verstanden.«

Gereizt antworte ich: »Ja, genau, ich bin Fräulein Donati. Und das von Kopf bis Fuß. Nebenbei bemerkt in voller Lebensgröße und Blüte ihres Lebens. Na, was sagen Sie nun?«

Ja, ja, ich weiß. Ich übertreibe zuweilen, aber der Blick, den er mir zuwirft, würde echt jeden auf die Palme bringen. Erst recht die absonderliche und einseitige Unterhaltung, die wir hier führen.

»Häh?«

Habe ich gerade Unterhaltung gesagt? Ich revidiere. Das männliche Exemplar vor mir lernt gerade erst sprechen. Zwangsläufig stockt der geistlose Plausch ab diesem Punkt.

»Ich meine: In persona«, erkläre ich gedehnt und lasse zur Verdeutlichung meine Finger an mir hinabgleiten. Offensichtlich ist er schwer von Begriff.

»Nehme ich auch. Komm Se mit!«

 

 

 

Kapitel 4

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Kaum gesagt, dreht er sich um und stapft davon. Dieser freche Lump fragt nicht einmal nach, ob ich in meinen Pumps friere oder seine Jacke leihen möchte. Oder … Ach, an etwas anderes will ich ehrlich gesagt gar nicht denken. Nicht bei so einer verlausten und verlotterten Gesamterscheinung.

Moment mal, da fällt mir ein, ich habe mich gar nicht nach seinem Namen erkundigt.

»Meine Freundin sagt, ich werde von einem überaus netten, jungen Mann abgeholt. Da erkundige ich mich vorsichtshalber, ob Sie Herr Stöver sind. Ich renne schließlich nicht mit jedem mit«, rufe ich hinterher. Andernfalls bleibt mir, ein Taxi zu nehmen, um wohlbehalten ins Warme zu kommen.

Sicher ist sicher und fragen wird doch wohl erlaubt sein. Ich stehe mir ja nicht stundenlang vor einem Bahnhof die Beine in den Bauch, um mir die schmale Haushaltskasse mit einem lasterhaften Nebenjob und speziellen Dienstleistungen aufzubessern. Und ganz sicher gehe ich nicht mit jedem x-Beliebigen mit, nur weil er mich gezielt anspricht.

Abrupt bleibt er stehen. »Wollen wir nun oder warten Se hier auf nen anderen, der sie aus eigenem Antrieb mitnimmt?«

Aus eigenem Antrieb? Hat der 'ne Hacke? Wie redet er mit mir?

Ohne weitere Erklärung dreht er sich um und atmet dabei einen Schwall mollig warmer Luft aus, dass mir ganz barbarisch kalt wird von dieser Überdosis an Körperwärme. Klingt absurd, aber es ist leider so. Am liebsten würde ich rührselig dreinblicken und ihn bitten, mir seinen Mantel zu leihen und seine blöde Art und sein Geschwafel für einen Moment zu vergessen.

So der Plan. Stattdessen platzt es aus mir heraus: »Ticken Sie noch richtig? Jeder anständige Mann würde mich freiwillig mitnehmen und bräuchte dafür keinen Antrieb. Da müssen Sie gar nicht so unverschämt glotzen, Sie ungehobelter Matrose.«

Mich nach dem Wollmantel zu erkundigen, klemme ich mir. Welche halbwegs gescheite Frau möchte, wenn auch leihweise, in eine verlauste Kutte schlüpfen, die vermutlich dreizehn Jahre Bergtour auf dem Mount Everest hinter sich hat?

Ich kann es nicht mehr hören, wenn meine Redewendungen ständig verbessert werden. Ina würde jetzt sicherlich betonen, dass eine Jacke keine Jahre auf dem Buckel haben kann. Aber wen interessiert das, schließlich habe ich andere Sorgen.

Einmal tief durchatmend, setzt der ungehobelte Bursche zum Linkskonter an und fährt sich dabei durch seinen struppigen Vollbart: »Hörn Se: Sind Se nun S i g n o r i n a D o n a ti? Wenn nich, bitte ich Se, mich nich mit Ihrem geschwafelten Firlefanz zu belästigen und sich an die Hacken eines anderen Mannes zu heften. Ich bin vergeben, hab nichts mit aufdringlichen Weibsbildern am Hut und keine Lust, die falsche Frau mitzunehmen.«

»Auf welche Frau ham Se denn Lust?«, erkundige ich mich pampig.

Demonstrativ richte ich mich auf. Was sein Beziehungsstatus betrifft, fällt mir ein Stein vom Herzen. Tatsache, mir fällt ein riesiger Felsbrocken von den Schultern.

Betreten schaut er mich an und ringt für wenige Momente um eine passende Antwort.

»Lassen wir das«, helfe ich aus der Patsche und wedele fahrig mit meinen eiskalten Fingern in der frostklirrenden Luft herum. Entweder versteht er meine Anspielung nicht oder ich spiele die Bordsteinschwalbe unterdurchschnittlich begabt. »Bringen Sie mich einfach zum Ferienhaus ›Inselglück‹. Mir ist eiskalt und ich bin garantiert die richtige Frau für Sie.«

Dieser Scherz kommt ebenfalls nicht besonders gut an, was ich unmissverständlich an seiner Nasenspitze ablese. Glück für mich, würde ich an dieser Stelle tollkühn behaupten, denn so ein Leben an der Seite eines Yetis wäre zweifellos problematisch.

Für das Leben in freier Wildbahn bin ich beileibe nicht geschaffen. Und was erst, wenn der vergebene, aber bäurische Zwillingsbruder von Nordwand-Reinhold auch keinen Bock auf Kinder und Familienkatze hat? Da stirbt sie Menschheit schneller aus, als seine Angebetete bis drei zählen kann.

»Wo steht nun Ihr Wagen, Herr Stöver?«, entschließe ich mich, zu fragen, statt die absurden Gedanken weiterzuverfolgen, die sich ausnahmslos um den Fortbestand der Yetis drehen.

Niemand braucht solche Bilder im Kopf, oder? Ich meine, es ist schon schräg, sich seine Mitmenschen bei der Fortpflanzung vorzustellen. Wie seltsam ist es dann erst, sich Yetis dabei vorzustellen? Ich muss ehrlich zugeben, dass ich keine Wissenschaftlerin bin, die sich besonders für dieses Thema interessiert. Aber gut. Bevor ich mich hier um Kopf und Kragen quatsche, zurück zum wortkargen Matrosen.

Wortlos wendet er sich ab und stapft den schmalen Bürgersteig entlang. Schnurstracks vorbei an einer Reihe dicht gedrängt stehender Wohnhäuser, in deren Fenster bunte Lichterketten und allerlei blinkende Weihnachtsdeko hängen.

Mit dem gemütlichkeitsspendenden und orangen Licht erhellen sie den stockdunklen Bürgersteig. Wobei … sie blinken für meinen Geschmack viel zu hektisch. Gerade so, als würden sie durch die Weihnachtszeit hetzen, damit der ganze Geschenke-Schnickschnack rasch ein Ende hat.

Vor drei Tagen habe ich beschlossen, toleranter zu werden. Warum nicht auch gegenüber hektisch blinkenden Weihnachtslichtern. Oder gegenüber maulfaulen, norddeutschen Zeitgenossen. Augenblicklich schließe ich alles in meinem Vorhaben ein, eine ruhigere, besonnenere und emotional entspannte Frau zu werden.

Eine, die bald heiratet.

Meinen vorgezogenen Silvesterschwur habe ich mehrmals vor mich hingemurmelt, nachdem ich die zehnte Tür an meinem kitschigen Adventskalender geöffnet habe. Ja, richtig gehört. Ich höre die biologische Uhr ticken, lasse ich mich aber dennoch hingerissen von den Adventskalendertüren mit Schokolade begeistern. Wie ein kleines ›Kiekindiewelt‹ stopfe ich mir genüsslich die Schokolade in den Mund und freue mir dabei ein zweites Loch in den … Jedenfalls drehe ich mich seltsam glucksend zu einem imaginären Walzertakt im Kreis und fühle mich völlig eins mit mir selbst.

Wo war ich stehen geblieben? Richtig, bei der Toleranz.

Ja, darüber gibt es nicht viel zu erzählen, deshalb lieber zurück zu meinen Schrullen. Die sind wirklich allererste Sahne. Das sagt sogar meine Mamma. Und genau daran erkennt man unmissverständlich, dass ich weit davon entfernt bin, erwachsen zu sein. Oder dass ich noch einen langen Weg vor mir habe.

Meine Nona hat da so eine Theorie: Jede Frau wird mit ihren Kindern erwachsen. Genau da versteckt sich der Hase im Pfeffer. Ich kann da gerne ein Beispiel bringen. Ich bin manchmal dermaßen kindisch, dass ich jede neu gekaufte Handtasche für etwa zwei Wochen mit ins Bett nehme und mit ihr schlafe, bevor sie ihrer Bestimmung folgt und mich ins Büro begleiten darf.

Ähm, ja … Ich muss zugeben, dass ich mich etwas unglücklich ausgedrückt habe. Ich meine natürlich, dass ich neben der Handtasche schlafe, nicht mit ihr. Oh, Mann! Jetzt habe ich sicherlich einige seltsame Bilder in euren Köpfen ausgelöst, oder?

Anderes Thema.

»Wo steht denn nun Ihr Wagen?«, erkundige ich mich und versuche krampfhaft, Schritt zu halten.

An dieser Stelle muss ich erwähnen, dass meine Worte kaum verständlich herausbringe, so abartig durchgefroren und taub fühlen sich meine Wangen inzwischen an. Selbst der kleine Bach, der normalerweise in einem gemauerten Flussbett plätschert, liegt zugefroren und schweigend da. Ehrlich gesagt, wundert es mich nicht sonderlich. Bei diesen eisigen Temperaturen würde ich an seiner Stelle das Plätschern auch lieber einstellen.

Schon allein aus Protest.

»Hallo, ich rede mit Ihnen«, versuche ich es erneut und zudem abgehetzt.

Mit ihm Schritt zu halten, gestaltet sich mindestens genauso mühsam wie ein gemeinsames Leben mit Sascha. Zumindest mit meinen Pumps und den darin frierenden Füßen.

Oder auch ohne?

Egal, zurück zum Thema.

»Mugu nu zeh eter.«

Hat er was gesagt? Kam das tatsächlich aus seiner Richtung? War es möglicherweise Yetisch, einer dieser mysteriösen Sprache, über die Forscher in aller Welt rätseln? Wenn ja, was möchte er mir mitteilen? Vor allem und, wie ich finde, essenziell an diesen Punkt unserer zart geknüpften Bande: Hat Google-Übersetzer Yetisch im Repertoire?

»Wie bitte?«, frage ich dementsprechend und lasse es in gewisser Weise ähnlich wie das klingen, was er nuschelt. Oh, Himmel! Hoffentlich denkt er nicht, dass ich ihn anbaggern und seine Sprache lernen möchte.

Er atmet kräftig aus und bleibt erneut stehen. Nur knapp entgehe ich einer Kollision und fühle mich wie die allerletzte Tollpatschkuh aus der sogenannten ›ersten Welt‹. Obwohl wir alles andere als vorkämpferisch oder besser sind. Ganz im Gegenteil, wir sind eher dem Untergang geweiht und auf dem besten Weg, das unberührte Habitat des wild lebenden Exemplars zu zerstören, das nun friedfertig versucht, mit mir zu kommunizieren.

»Mugu nu zeh eter, hi ma sak ie.«

Ich verstehe abermals Bahnhof. Er wendet sich ab. Glücklicherweise bekomme ich den Zipfel seines Mantels zu fassen. Mit einem kräftigen Ruck stoppe ich seinen Gang durch die Schneehölle, die hier im Himalaja bekanntermaßen sein Revier ist.

»Moment mal. Wir waren doch gerade bei ›Mugu nu zeh eter‹. ›Hi ma sak ie‹ kommt später dran. Schön eins nach dem anderen. Und Sie legen hier mal nicht so ein Tempo vor. Auch wenn Sie alle nasenlang mit Reinhold im Himalaja Verstecken spielen und dieses Affentempo gewohnt sind. Gottverhasst, ich wollte Sie nicht mit einem Aff…, ähm Primat…, ähm vergleichen. Tut mir leid. Bei uns in Berlin schneit es alle Jubeljahre und genau für eine halbe Stunde. Hochgegriffen. Verteufelt noch eins, rennen Sie also gefälligst nicht wie eine gesenkte Sau vor mir her und schauen mich tunlichst an, wenn Sie mit mir sprechen, Mensch. Oder Yeti. Oder Reinhold. Je nachdem, wie Ihre Mutter Sie genannt hat, verflixt noch eins.«

»Lillu öh löd? Zeh eter. Zeh eter undu ha mi ma euz eise ern ha«, keucht er auf mich herabsehend und erntet meinerseits einen verständnislosen Blick.

»Interessante Interpretation meiner Frage. Wo steht nun Ihr Wagen? Ich muss schnell ins Warme. Und Sie sollten dringend zum Barbier. Sie wissen schon …«, erkläre ich und fuchtele anschaulich mit meinem Zeigefinger vor seinem eingefrorenen Vollbart herum. »Es bilden sich die ersten Eiszapfen. Und? Sind Sie nun zufällig mit Reinhold verwandt? Nicht, nein? Tja, da hätte ich meinen Arsch verwettet. Ich meine … Sagen Sie mal: Wäre es für eine erfolgreiche Kommunikation zwischen uns nicht förderlicher, ihn abzurasieren? Wie können Sie sprechen, wenn dort überall Eiszapfen hängen? Hallo? Das ist ja nicht zu fassen.«

Anstatt zu antworten, dreht sich dieses hochinteressant nuschelnde Exemplar von einem Mann um und stapft über eine verschneite Straße. Selbstverständlich, ohne dabei nach rechts und links zu sehen.

Echt umgänglich, dieser verwilderte Naturbursche. Und außerdem bestens gelaunt, der Welt und seiner Mitmenschen so herzerwärmend gewogen und mitteilsam. Ich komme aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus und überlege, wie ich all das in einer knappen Textnachricht an Ina unterbringen kann.

Ich verziehe mein Gesicht zu einer Fratze. Jedenfalls an den Stellen, die noch nicht erfroren sind. Ich entscheide mich, vorerst keine weiteren Fragen zu seinem wild wuchernden und vereisten Vollbart zu stellen. Was das betrifft, scheint er empfindlich zu reagieren.

Was soll ich auch mit ihm reden? Er nuschelt ohnehin nur unverständliches Zeug. Oder vielleicht sagt er auch: »Zeh eter undu ha mi ma euzeise ern ha«. Wie auch immer. Ich erspare mir lieber die Übersetzung, weil ich bereits genug eigene Probleme mit mir herumschleppe.

Nun gut. Sei es drum. Ich bin nicht angereist, um mit solch einem Typen zarte Bande zu knüpfen. Nein, ich möchte mich über die Weihnachts- und Silvesterfeiertage einfach vor der Welt verstecken. Ich möchte die Tage verschlafen, ab und zu eine Träne aus dem Knopfloch quetschen, ohne ständig mitleidige Blicke von Freunden und Familie ertragen zu müssen, nur weil Sascha mich nicht heiraten will.

Kurz gesagt: Weihnachten kann mich dieses Jahr kreuzweise. So viel steht fest. Weihnachten fällt aus.

Wegen is nich.

 

 

 

Kapitel 5

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Im klapprigen Wagen sitzend, blende ich demonstrativ die klirrende Kälte aus. Das gelingt, weil Herr Yeti es anscheinend behaglich braucht. Obwohl, das Wort ›behaglich‹ eine falsche Vorstellung suggeriert.

Unter Milliarden Möglichkeiten und Typenklassen, die die Automobilindustrie heutzutage bietet, fährt er ausgerechnet einen knatternden Sachsenporsche. Möglicherweise hat der eine oder andere eine schwammige Vorstellung eines Porsches aus Sachsen, darum möchte ich mich diplomatisch ausdrücken: Es ist eine dieser Fünfjahresplan-Zweitaktlösungen der einfallsreichen, aber material- und innovationseingebremsten Automobil-Ingenieure der DDR.

Klingelt es jetzt?

Bestimmt, denn den Trabbi kennen die meisten. Doch weit gefehlt, denn Herr Yeti fährt den Vorläufer der bekannten und inzwischen kultigen Rennpappe. Das bedeutet im Klartext: Trabant 600 Kombi.

Für alle, denen das ebenfalls kein Begriff ist, sage ich nur Folgendes: Es ist eine rollende Plastikschüssel, dessen Mutter für einen Sommer eine folgenschwere Liaison mit einem Mini gehabt hat.

Im Ergebnis der heißen Sommerromanze sitze ich. Wahnsinn, oder? Laut, tuckernd und rasselnd keucht der Zweitakter über die Landstraße, als hätte er sich eine schlimme Lungenkrankheit eingefangen und kämpft nun mit einem hartnäckigen Husten. Ich schwöre, im Umkreis von drei Kilometern schrecken alle Vögel auf und flüchten panisch. Vermutlich glauben sie, eine Horde wild gewordener, plündernder und heiser schreienden Wikinger sucht das flache Land an der Küste heim.

Mein Herz kann sich nicht wirklich mit dem kargen Luxus des Sachsenporsches anfreunden. Ich weiß auch ehrlich gesagt nicht, wie man so etwas lieb gewinnen kann. Dafür braucht es gewiss einen Kennerblick, der mir eindeutig fehlt.

Oder man hat eine Schwäche für Oldtimer. Diese Schwäche habe ich bei mir noch nicht entdeckt.

Andere schon. Um ehrlich zu bleiben: massenhaft andere Schwächen.

Schweigsam schaue ich aus dem Beifahrerfenster. Trotz des Halbdunkels wirkt die Landschaft nebelverhangen, weil die dicken Flocken unerschütterlich aus den tiefhängenden Wolken rieseln. Außerhalb der Kleinstadt ist jeder Ast und jeder Grashalm eingefroren.

Der Schnee, der aus den Wolken rieselt, taut nicht zu einer undefinierbaren Substanz, wenn er den Boden erreicht. Immerhin, die unterschiedlichen Grautöne sind zauberhaft anzusehen. Bei diesem Anblick breitet sich in mir so etwas Ähnliches wie Winterstimmung aus. Alle Gedanken, die eben noch unentwegt um eine gewisse Angelegenheit gekreist sind, stehen still.

Mein struwweliger Fahrer schweigt ebenfalls. Kommt mir gelegen, denn ich habe sowieso keine Lust, mich über das trübe Wetter, den nächsten Wintersturm oder den anstehenden Weihnachtseinkauf zu unterhalten. Oder ihn zu beraten, was das beste Weihnachtsgeschenk für seine Frau Yeti wäre.

Freundlicherweise fährt er vorsichtig über die schneebefreite, aber schlierige Landstraße. Mag auch angehen, er es tut seiner alten Oldtimer-Möhre zuliebe, die sich furchtlos über den Asphalt quält.

Mein Chauffeur lebt scheinbar in völliger Symbiose mit dem uralten Plastikteil auf Rädern. Beide haben ihre besten Tage längst hinter sich. Allerdings kommt der besonnen fahrende Chauffeur wie ein kaltschnäuziger Modemuffel daher, wohingegen der Trabbi das reinste Energiebündel zu sein scheint.

Nachdem der Schnee aus den Haaren getropft ist, wird das volle Ausmaß seiner Verwahrlosung erkennbar. Er ist eindeutig von der Sorte Mensch, die mit Bier und etlichen Pizzakartons vor dem Fernseher hockt. Bestimmt stößt er unappetitlich nach einer Handvoll Chips auf, statt Sport im eigens eingerichteten Trainingsraum im Keller zu treiben, sich täglich zu rasieren und sich typgerechte Klamotten zu beschaffen.

Einzig erfreulich finde ich, dass er klare, hellblaue Augen hat, die angenehm anzuschauen sind. Offen gestanden ist es einzig dieser Umstand gewesen, der mich in seinen Oldtimer hat einsteigen lassen. Weniger die unfreundliche, beinahe feindselige Begrüßung, die mir noch jetzt die Kehle abschnürt.

Aber gut, es ist, wie es ist. Er hat eine Chance vertan. Und letztlich vertraue ich Ina, die hundertprozentig hinter der ganzen Sache steht.

Nie im Leben wäre ich aus eigenem Antrieb bei so einem eingestiegen. Nie im Leben hätte ich mich von so einem Typen durch die winterliche Gegend gondeln lassen. Und mich vollkommen dabei entspannt.

Na ja, ›vollkommen‹ klingt übertrieben, daher nenne ich es besser halbwegs entspannt. Aber auch nur, weil mich die schrottreife Kiste Meter um Meter ins Ferienhaus bringt, statt an beliebiger Stelle in einen abgelegenen Wald, wo der unrasierte Mann mir die riesigen Hände an den Hals legt, irre dreinblickt und zudrückt, als gäbe es kein Halten mehr …

Ich schiebe meine wilden Fantasien beiseite und denke lieber an das schnuckelige Ferienhaus. In dem erwartet mich im Laufe der nächsten Woche hoffentlich pure Erholung. Lediglich Essen, Trinken und Anfahrt gehen auf meine Kosten. Der mürrische Modemuffel neben mir passt auf das Haus auf, hat Ina erzählt und mir eindringlich geraten, ja nicht zu oft auf seine Dienste zurückzugreifen.

Gott, hat sie ihn mal in natura gesehen? Sicherlich nicht, denn dann hätte sie überhaupt nicht einmal ansatzweise gemeint, ich solle nicht in irgendeiner Form auf ihn zurückzugreifen. Aber gut, ich schweife schon wieder vom Thema ab.

Für mich ist es nachvollziehbar, dass ein Ferienhaus selbst im tiefsten und verschneiten Winter nicht unbeobachtet bleiben sollte. Falls ich mich nicht irre, können die meisten Fischer im Winter nichts in der Ostsee fangen. Sicher sind ihre Fangquoten schon im Spätsommer Geschichte. Da ist es schlüssig, dass sie sich in den Wintermonaten in einem Nebenerwerb verdingen. Leben und leben lassen, heißt es doch so schön.

Soweit ich von Ina erfahren habe, leben die Besitzer des Ferienhauses nicht unter armseligen Verhältnissen. Sie hat vollkommen andächtig geklungen, als sie mir telefonisch und ausschweifend erklärt hat, welche Vorzüge das luxuriöse Ferienhaus bietet. Sauna, Fitnessraum, Kamin und fünf Schlafzimmer.

Garantiert hätte sie gefragt, ob sie mitfahren darf, wenn sie beruflich nicht derart eingespannt und für die nächsten fünf Wochen verplant wäre und selbst für Weihnachten kaum Zeit findet. Aber ich hätte sie wiederum auch nicht gefragt, denn ich möchte allein sein. Ich möchte den sanft rieselnden Schnee am menschenleeren Ostseestrand genießen, kräftig Luft holen und Energie für die kommende Marschroute tanken.

Mich stört es nicht im Geringsten, dass die Farben hier im Norden ineinander übergehen und sich zeitweilig im Nebel vergessen. So ist das Leben und eines schönen Tages ist alles Geschichte. Aus die Maus.

Um mich abzulenken, schreibe ich Ina eine Textnachricht. Der Gedanke, ein paar Tage allein dort zu sein, sorgt für eine Mischung aus Nervenkitzel und Vorfreude. Gleichzeitig lässt mich der Humor nicht im Stich, denn ich kann mir lebhaft vorstellen, wie Ina reagieren würde, wenn sie den mürrischen Yeti und seinen klapprigen Trabant erleben würde.

»Hey, Ina. Der Abholservice war pünktlich. Ein Wunder, aber die Stimmung ist echt im Keller.«

»Mach dir darüber keine Sorgen, Gemmalein. Die Stimmung wird sich demnächst zum Besseren wenden, da bin ich mir sicher. Wie ist denn der Service?«

»Einfach nur lausig, zum Davonlaufen!«

»Na komm schon, lass dich davon nicht entmutigen. Wir wissen beide, wie du bist - eine echte Powerfrau. Aber halt dich bitte etwas zurück.«

»Du kennst mich doch. Na gut, ich werde versuchen, mich zusammenzureißen.«

»Eben darum, Gemmalein. So, ich muss Hannah von der Tagesmutter abholen. Wir hören voneinander, Küssi.«

Quietschend kommt unser Wagen zum Stehen. Ich blicke durch die Frontscheibe, auf der die uralten Scheibenwischer hektisch riesige Schneeflocken wegwischen. Ungläubig reibe ich mir die Augen, denn vor mir ragt ein gigantischer Neubau aus der norddeutschen Graslandschaft empor. Mitten im absoluten Nirgendwo.

Der mürrische Chauffeur öffnet das Tor per Fernbedienung und fährt den Wagen gemächlich die lange Auffahrt entlang. Entweder haben die Besitzer hier den Asphalt mit einer versteckten Bodenheizung ausgestattet oder sie haben tonnenweise Streusalz verstreut, sonst würde der Schnee niemals so blitzschnell verschwinden.

Vor der majestätischen Eingangstür des prächtigen Hauses mit dem überdimensionalen Eingangsbereich hält die ratternde Rennpappe. Die pompöse Front erinnert an ein Kapitol aus vergangenen römischen Zeiten, umrahmt von verschnörkelten Säulen.

»Echt trutschig«, murmele ich.

Mein Chauffeur zieht ruckartig die Handbremse an und wendet seinen Blick zu mir. »Da wären wir. Hier sind die Schlüssel.«

Ein Schlüsselbund landet auf meinem Oberschenkel. Mit einem frostigen Blick starrt er durch die Frontscheibe, als würde ich bei seiner täglichen Arbeit stören. Stundenlang die Auffahrt zu streuen oder wie jetzt?

Entsprechend betreten schaue ich drein. Ich schlucke schwer und fühle einen dicken Kloß in meiner Kehle. »Ich soll allein rein?«

»So war der Plan, oder etwa nicht?«

»Ja, schon«, stammele ich plötzlich unsicher und mühe mich ab, dass der Schlüsselbund nicht vom Oberschenkel rutscht.

»Na, dann. Ein schönes Leben noch«, knurrt er.

»Meine Freundin meint aber, dass Sie mir das Haus zeigen. Ich meine, wie die Technik, die Alarmanlage, das Gästezimmer und die automatischen Jalousien funktionieren. Alles, was ich eben für die Zeit meines Aufenthaltes wissen muss.«

Mürrisch und auf Yetisch fluchend, öffnet er die Fahrertür, die dabei genauso grausig quietscht wie die Maschine unter der Motorhaube des antiken Fahrgeräts. Mit einem flinken Schritt hievt er sich aus dem zerschlissenen Sitz, knallt die Tür mit einem lauten Knall zu und wartet finster dreinblickend an der Motorhaube. Anscheinend lässt er lieber weiterhin dicke Schneeflocken auf seine wilde Haarpracht rieseln, anstatt einer Dame wie mir höflich die Tür zu öffnen oder hilfsbereit die Hand zu reichen.

»Verdammter Hinterwäldler«, brumme ich leise und zähle bis zehn, um mir das ungehobelte Herausstrecken meiner Zunge zu verkneifen. Manche Leute sind wirklich komisch.

Mit versteinerter Miene mustert er mich. Unter seinem dichten Bartwuchs kann ich kaum eine Regung erkennen. Da bleiben nur die geraden Augenbrauen, die sich, ich möchte es vorsichtig ausdrücken, ganz arg zusammenziehen und dadurch die Haut an der Nasenwurzel mit tiefen Falten übersät.

Um ihn nicht weiter mit meiner Anwesenheit zu belästigen und seine wertvolle Zeit zu rauben, beeile ich mich, aus dem Auto zu steigen. Das gestaltet sich jedoch alles andere als elegant. Die Kälte steckt immer noch in meinen Knochen. Mittelelegant steige ich aus dem Wagen, als wäre ich eine schockgefrostete Gazelle.

Vorsichtig und mit kleinen Trippelschritten bahne ich mir meinen Weg zu ihm. Trotz seiner griesgrämigen Begrüßung versuche ich höflich zu lächeln und nicke ihm dankbar zu, obwohl es nichts zu danken gibt.

Himmel, ich bin unheimlich erleichtert, dass er seine Aufgabe so ernst nimmt und die Auffahrt akribisch vom Schnee befreit hat. Ehrlich gesagt, ich möchte gar nicht daran denken, wie ich mit meinen Pumps durch diesen zentimeterhohen Schnee tapsen müsste, weil er seine Aufgabe nicht so professionell erledigt hätte. Da wäre ein Ausrutschen vorprogrammiert.

»Hie Ühh.«

Fragend schaue ich ihn an und schüttele verunsichert meinen Kopf. »Was bedeutet Ühh? Kommen Sie. Sie müssen mir schon verständlich erklären, was Sie meinen. Ich meine, Sie müssen mir schon mit Händen und Füßen erklären, was Sie mir mitteilen wollen. Sonst wird das nix mit uns. Ich bitte um etwas mehr Einfallsreichtum bezüglich Ihrer Konversation. Andernfalls missverstehen wir uns unaufhörlich.«

Seine Hand streckt sich aus und winkt ungeduldig. »Le Üssel.«

»Ah, Sie meinen den Schlüssel. Verstehe. Üssel heißt also Schlüssel. Kein Ding, das kann ich mir kinderleicht merken und klingt auf Deutsch ähnlich. Ühh, ühh, Üssel, Üssel... Spreche ich es akzentfrei aus. Ja? Großartig. Da freue ich mich, dass ich heute mein erstes Wort Yetisch gelernt habe. Ühh, Üssel. Klingt witzig. Ach ja, noch etwas: In der nächsten Woche gehört mir dieser Üssel und ich möchte ihn dann zurück«, erinnere ich ihn vorsorglich, wobei ich insgeheim eher an sicherheitshalber denke.

Verächtlich schnaubt er, dreht sich um und geht zur Eingangstür, die er öffnet. Entschlossen folge ich ihm. Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen. Putzigerweise bin ich nach der schweigsamen Fahrt in ungewöhnlich zugänglicher Plauderlaune.

»Und Sie passen im Winter auf das Anwesen auf?«, horche ich ihn mehr oder weniger einfallsreich aus und trete in das angenehm warme Haus mit Fußbodenheizung und Klimaanlage.

Wow! Da brate mir doch einer noch einen Storch. Im Ferienhaus ist tatsächlich alles vom Feinsten.

»Ha, u im Ommer au.«

»Fischen Sie denn im Sommer nicht?«

Zweifelnd schaut er mich an, als hätte ich etwas Behämmertes gesagt. Er wirft den Üssel in die Höhe. Geschickt fange ich ihn. Eine Antwort bleibt er schuldig, durchquert die riesige Empfangshalle mit den kostbaren Vasen auf den antiken Kleinmöbeln und dem Marmorboden, der bestimmt aus einem noblen Steinbruch in Italien stammt.

Die liebe Ina hat keinesfalls übertrieben, als sie mir vom Haus vorgeschwärmt hat. Es sieht auf den ersten Blick einfach erstklassig und wahrhaft feudal aus. Ich wage kaum, einen Schritt zu setzen, denn das laute Klappern meiner Absätze hallt durch den gesamten Eingangsbereich. Etwas albern sieht es sicherlich aus, wie ich dem einsilbigen Mann auf Zehenspitzen folge.

Schließlich erreichen wir das Ende des imposanten Eingangsbereichs, und er deutet mit seinem rechten Arm auf einen Durchgang mit Rundbogen. »Das ist der gelbe Salon. Die Dame des Hauses nennt das Wohnzimmer so. Aber unter uns gesagt, hat sie sowieso nicht mehr alle Tassen im Schrank. Die Küche liegt übrigens am Ende des rechten Wohntrakts und die Schlafzimmer finden Se in der oberen Etage. Suchen Se sich eins aus. Bettwäsche habe ich im Esszimmer bereitgelegt. Das war’s mit der Führung. Ich muss. Hab zu noch tun.«

»Wie jetzt? Das war es?«

Gelangweilt schaut er an mir hinab. »Ja, oder wollten Se noch wat von mir?«

»Von Ihnen?«

Meine Stimme klingt schriller als beabsichtigt und hallt in der pompösen Eingangshalle etliche Male nach. Unweigerlich trete ich einen Schritt zurück.

Also echt jetzt. Was denkt er eigentlich von mir?

Mit ärgerlich zusammengezogenen Augenbrauen beugt er sich leicht vor. »Sind Se beknackt oder stellen Se sich nur dusselig an? Ich meine, ob Se noch was benötigen. Nicht, ob wir beide wild übereinander herfallen. Großschnauzen mag ich nicht leiden und kriege direkt Pusteln am Hinterteil, wenn ich es mir genau überlege. Und ich sagte ja bereits: Ich bin vergeben und habe noch zu tun. Wenn Se mich also entschuldigen wollen? Guten Abend.«

Er dreht sich um und verschwindet, ohne mir eine Chance zur Antwort zu lassen. Na, das war ja ein mehr als gelungener Empfang. Ich schüttle den Kopf und mache mich auf die Suche nach meinem gemütlichen Schlafzimmer. Hier gibt es garantiert mehr zu entdecken als nur grobklotzige, einsilbige Männer.

Einen Seufzer ausstoßend, schaue ich in die Richtung, in der der gelbe Salon liegt. Ich schaue mich in der modernen Küche um, die allerlei technischen Schnickschnack bietet. Danach erkunde ich das Haus auf eigene Faust.

Das Esszimmer grenzt nahtlos an die Küche. Bodentiefe Fenster bringen reichlich Licht hinein. Alles wirkt avantgardistisch und einladend. Der moderne Einrichtungsstil wurde knallhart durchgezogen.

Am feudalen Esstisch, der Platz für zwölf Personen bietet, bleibe ich stehen. Für einen Moment schließe ich die Augen und atme den frisch-würzigen Duft des Holzes ein, der kunstvoll die modernen Einrichtungselemente unterstreicht. Hier fühle ich mich wohl und schlendere in die Richtung, die mir als ›Gelber Salon‹ angepriesen wurde.

Doch als ich den Raum betrete, staune ich nicht schlecht. Er ist grün.

Dunkelgrün.

 

 

 

Kapitel 6

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Einen Tag später habe ich mich im Ferienhaus eingelebt. Nach wie vor ist es atemberaubend. Ich genieße die extravaganten Annehmlichkeiten, komme inzwischen mit der komplizierten Technik, dem kniffligen Hightech-Kühlschrank und der hochmodernen Alarmanlage klar.

Das Schlafzimmer, das ich mir auserkoren habe, ist ein wahres Paradies. Durch die hellen Farben der Einrichtung ist behaglich und zudem ungemein komfortabel. Als ich den Kleiderschrank öffne, offenbart sich mir eine Schatzkammer aus kuschlig weichen Strickwollpullovern, hübschen Strickjacken mit verlockendem Zopfmuster und in derselben Farbe gehaltenen Stricksocken. Es ist, als wäre dieser Kleiderschrank extra für mich gemacht. Jedes Teil sitzt perfekt und schmiegt sich wie maßgeschneidert an mich.

Die Eigentümer des Hauses sind nicht anwesend, und ich bin in großer Bedrängnis, da ich unvorbereitet von meinem Büro direkt zum Bahnhof gefahren bin. Daher beschließe ich, mir vorübergehend einige dieser Schätze auszuleihen. Selbstverständlich werde ich später neue Kleidung besorgen, sobald ich Zeit dafür finde.

Während ich die Garderobe im überdimensionierten Schrank kritisch inspiziere, halte ich verschiedene Kleiderbügel hoch. Jedes Mal, wenn mir ein Teil zusagt, probiere ich es an und betrachte mich ausgiebig im Spiegel.

Das geht schon eine halbe Stunde so.

Oh, wie wunderbar ich das finde. Es stellt sich heraus, dass die Dame des Hauses und ich dieselbe Kleidergröße haben. Es scheint, als hätte ich ein wahres Mode-Paradies entdeckt, was mich absolut begeistert. Die Teile sind nicht nur schön anzusehen, sondern passen auch perfekt zu meinem eigenen Stil.

Ein glückliches Lächeln huscht über mein Gesicht. Wie ich finde, ist es wirklich ein Glücksfall, denn es sind echt hübsche Teile dabei.

Und so verbringe ich die Zeit in diesem herrlichen Haus nicht nur mit dem Genuss der luxuriösen Annehmlichkeiten, sondern auch damit, in die Rolle der modebewussten Hausherrin zu schlüpfen. Wer hätte gedacht, dass ein Ferienhaus mir solch einen Modegenuss bieten könnte? Es ist fast so, als hätte das Schicksal beschlossen, mich mit dieser besonderen Erfahrung zu überraschen.

Aber das ist noch lange nicht alles. Die Unterwäsche-Schublade lässt mein Herz höherschlagen und katapultiert meine Fantasie in luftige Höhen. Was ich entdecke, lässt auf ein leidenschaftliches Liebesleben schließen.

Beispielsweise der schwarze Slip, der obenauf liegt. Es ist kein gewöhnlicher Slip und ich staune Bauklötze. Ich sehe ein schwarzes Meisterwerk aus feinstem Gewebe vor mir.

Als wenn das nicht genug wäre, schmückt ihn an einer höchst verführerischen Stelle am Po ein aufwendig gearbeitetes Herz aus edlem Spitzenstoff. An beiden Seiten ist das liebesbefeuernde Teil mithilfe von zwei niedlichen Bindebändern aus Seide ratzfatz von der Hüfte, sofern es zum hemmungslosen Geplänkel zwischen heiß Verliebten kommt. Die Hausherrin scheint eine wahre Künstlerin zu sein, wenn es darum geht, die Leidenschaft ihres Liebsten zu entfachen.

Grundgütiger, wo gibt es so etwas Aufreizendes bloß zu kaufen?

Aber Moment mal, das ist noch nicht alles. In der hintersten Ecke der Wäscheschublade erblicke ich eine geheimnisvolle Pappschachtel.

Meine Neugierde ist geweckt. Soll ich wagen, einen Blick hineinzuwerfen, oder springt mir etwas Unvorhergesehenes entgegen, sobald ich den Deckel lüfte? Egal, ich muss es wissen.

Gesagt, getan. Entschlossen öffne ich die Schachtel und bleibe wie angewurzelt stehen. Meine Stimme quittiert den Dienst. Was sich mir da präsentiert, ist jenseits aller Vorstellungskraft.

Vibratoren, Dildos – sogar welche für unterwegs, ferngesteuerte Liebeseier, Satisfyer in Hülle und Fülle und sogar Penisringe in den verrücktesten Ausführungen. Daneben erspähe ich Gegenstände, deren Namen und Funktion ich nur erahnen kann. Der Inhalt dieser Kiste verspricht ekstatische Höhenflüge und eine hemmungslose Reise in die Welt der Lust.

Mein Gott, diese Pappschachtel ist eine Eintrittskarte in das Paradies der Verlockung und Leidenschaft. Alles darin ruft förmlich nach sexuellen Eskapaden, die einen Mann um den Verstand bringen, eine ganze Armee an Nachkommen zeugen und ihn bis ins hohe Alter sesshaft zu machen.

Gedanklich verweile ich kurz bei meinem lila Seidenhöschen, das ich gerade trage. Gestern Abend habe ich es sorgfältig im Handwaschbecken gereinigt und über Nacht auf die warme Handtuchheizung im Badezimmer gelegt, damit ich es heute erneut anziehen kann. Verglichen mit den heimlich betrachteten Dingen wirkt es frigide und langweilig.

Vielleicht hätte Sascha sich für mehr erwärmen können, wenn ich eines dieser gewagten Spielzeuge eingesetzt hätte, anstatt mich auf romantische Abendessen bei Kerzenschein, zarte Küsse und unsere regelmäßigen Schäferstündchen zu verlassen. Nicht, dass Letzteres jemals Wünsche offengelassen hätte, aber wie sieht es bei ihm aus? Schließlich haben Männer auch tiefgründige Gefühle, so wie wir Frauen.

Zumindest einige von ihnen. Manchmal. Sagt Ina.

An Sascha zu denken, tut noch immer weh. Mit einem herzerweichenden Seufzer klappe ich den Deckel des Kartons zu, der voller aufregender Liebespielzeuge steckt. Ich möchte nicht mehr an ihn denken und verstaue den Karton. Kurz darauf steht er neben der teuren und kunstvoll gearbeiteten Unterwäsche, die darin reichlich vorhanden ist und alles andere in den Schatten stellt.

Sascha ist Geschichte. Die jüngsten Ereignisse lassen keinen anderen Schluss zu. Noch immer hat er nicht angerufen, mir keine Textnachricht geschrieben oder sonstdawie gezeigt, dass er den blöden Streit bedauert.

Ehrlich gesagt verstehe ich ihn nicht. Wir beide sind beruflich erfolgreich und könnten locker zehn Kindern eine grundstabile Zukunft bieten. Meine Eltern hingegen hatten es echt schwer, als sie als Auswanderer hier in Deutschland mit einem zerschlissenen Koffer angekommen sind. Sie waren mittellos, doch sie hatten große Träume für die Zukunft. Ihren Mut, ihre Entschlossenheit und wie sie die Familie trotz aller Widrigkeiten zusammengehalten haben, bewundere ich zutiefst.

Am liebsten würde ich meine innig geliebte Mamma anrufen und ihr mein Herz ausschütten. Aber Inas Plan lässt leider keinen Spielraum. Ich habe meiner Freundin fest versprochen, mich rigoros an ihn zu halten. Egal, wie sehr es mich auch quält und das Verlangen spüre, meine Mamma anzurufen.

Oder Sascha.

Ich weiß nicht genau, welche Strippen Ina im Hintergrund zieht. Keine Ahnung, ob ihr Plan am Ende gut ausgeht ... Es ist beinahe so, als würde ich in einem Drama gefangen sein, in dem ich nicht weiß, wie es weitergeht.

Diese trüben Gedanken bringen nichts, fahre mir durch das Haar, schließe den Kleiderschrank und betrachte mich im Wandspiegel. Im Großen und Ganzen sehe ich nicht übel aus. Als Tochter von Vollblut-Süditalienern glänzen meine glatten, mittellangen Haare in der Mittagssonne. Meine Haut hat im Hochsommer die Farbe einer vorzüglichen, Schweizer Vollmilchschokolade. Haselnussbraune Augen liegen unter sanft geschwungenen Augenbrauen und mein Mund lächelt von Natur aus. Ein unschätzbares Geschenk.

Nützt aber alles nichts. Obwohl Mutter Natur mich mit Anmut gesegnet hat, sitze ich hier, mutterselenallein. Trübsinnig und von Liebeskummer geplagt, nur mit den Klamotten am Leib, mit denen ich angereist bin.

Immerhin kann ich auf den prall gefüllten Kleiderschrank zurückgreifen. Unterwäsche und Schuhe kaufe ich heute ein. Meine Kreditkarte gibt es her. Das monatliche gesetzte Limit längst nicht erreicht, kann ich der Frauen allerliebstes Hobby teilen: Shopping.

Yeah!

Das bringt mich zurück zum einsam gelegenen Ferienhaus. Der Blick aus dem Badezimmerfenster lässt mich staunen. So abgelegen, wie ich es erwartet habe, ist es gar nicht. In der Nähe steht ein kleineres, aber charmantes Häuschen.

Es wirkt fast wie ein umgebauter alter Stall, strahlend weiß getüncht und mit einem Reetdach sowie neuen Fenstern mit blauen Fensterläden versehen. Ganz bezaubernd. Vom Ferienhaus führt ein kleiner Trampelpfad, zwischen eine vertrocknete Hecke entlang, direkt zur Tür des Nachbarhauses.

Wer wohnt dort wohl? Anscheinend gibt es hier noch mehr Überraschungen, als ich erwartet habe.

Ich freue mich, dass ich Nachbarn habe, mit denen ich bei einem Pott Tee gemütlich einen Klönschnack halten kann. Trotzdem. Himmel, wenn das mein Haus wäre, würde ich ansehnliche Fotos davon schießen, es auf allen gängigen Portalen für Vermietungen einstellen und im Sommer ordentlich Kasse machen.

Gähnend und hungrig schlurfe ich in die Küche. Ich stöbere in den Schränken nach etwas Essbarem für mein Frühstück. Allerdings vergeblich. Außer einer einsamen Packung Vollkorntoast, die ich im Tiefkühlschrank finde ist nichts da. Na gut, ich bin hungrig und nicht wählerisch, also breche ich die Scheiben auseinander und lasse sie im Toaster rösten. Das kann ein paar Minuten dauern, also nutze ich die Zeit, um mich umzusehen.

Ich muss sagen, mir fehlt hier stellenweise etwas Farbe an den Wänden. Alles wirkt so klinisch weiß. Das goldgelb geröstete Toastbrot schnellt aus dem Toaster, aber für einen dunkleren Ton drücke ich es erneut hinein und grüble weiter, welche Farbe an den Wänden eine wohltuende Veränderung bringen könnte.

Vielleicht ein zartes Rosa? Oder ein erfrischendes Grün? Oder doch lieber ein kräftiges, sonniges Gelb?

Erneut klackt der Toaster. Das trockene und dunkelbraun geröstete Toast tunke ich in den Früchtetee, den ich im Küchenschrank neben etlichen, ökologisch unsinnigen Kaffeekapseln gefunden habe. Mein Blick schweift geistesabwesend aus dem riesigen Küchenfenster hinaus.

Die Atmosphäre ist elektrisierend. Ich lasse mich von der zauberhaften Magie dieses Ortes verzaubern und schaue aus dem Terrassenfenster. Unweit des Hauses erstreckt sich die typische Dünenlandschaft, die tapfer den salzhaltigen Winden und den scharfen Winterstürmen trotzt.

Ach, wie gerne würde ich stundenlang durch diese malerische Kulisse streifen. Ich würde mich später gern in den Dünen verlieren, den Wind um die Nase wehen lassen und die Freiheit dieses Ortes in mich aufsaugen. Momentan fehlt mir dazu die passende Winterkleidung dafür. Sofern ich keine im Schrank finde, werde ich sie in der nächstgelegenen Ortschaft einkaufen.

Welch eine geniale Idee. Ich wische ein paar verirrte Krümel von der Tischplatte und schaue ein letztes Mal sehnsüchtig hinaus auf die Dünenlandschaft, die sich majestätisch vor dem Fenster erstreckt, bevor ich mich den weltlichen Dingen zuwende.

Dann entscheide ich mich, bei Ina anzurufen, um ihr zu berichten, dass ich die erste Nacht wie ein Grizzlybär im Winterschlaf geträumt habe. Das riesige Doppelbett ist einfach unglaublich bequem, der Platz großzügig, und die Luft duftet wunderbar salzig. Natürlich vermisse ich Sascha entsetzlich und werde mich bei ihr ausheulen.

Während ich mit meinem Handy in der Hand mit ihr plaudere, schlurfe ich von Zimmer zu Zimmer. Hier setze ich mich auf ein gemütliches Bett, dort auf einen bequemen Sessel und schließlich in einem Arbeitszimmer auf den Schreibtisch. Die Einsamkeit überfällt mich plötzlich wie ein dunkler Schatten.

»Stell dir vor. Hier gibt es ein Arbeitszimmer«, seufze ich schwer.

»Ich vermute, nur ein echtes Arbeitstier lässt sich so etwas Schräges einfallen«, kichert Ina.

»Nun ja, das muss wohl jeder für sich selbst entscheiden. Aber mir gefällt es hier wirklich gut, und ich habe nachher noch etwas Schönes vor«, verrate ich ihr mit einem geheimnisvollen Lächeln.

»Erzähl«, drängt sie neugierig.

»Shopping. Aber vorher überzeuge ich meine Eltern von dem Weihnachtsfest per Live-Schalte.«

»Wie abgesprochen. In Gedanken bin ich bei dir, aber bleibe bitte hart. Es muss sein«, verabschiedet sie sich, schwört, dass sie mich in Gedanken fest drückt und legt auf. Eine Weile bleibe ich auf dem Schreibtisch sitzen, von dem aus ich durch ein Fenster einen Blick auf die Einfahrt werfen kann.

Dort schaufelt Herr Yeti den frisch gefallenen Schnee zur Seite. Heute trägt er einen grauen, ausgeleierten Strickpullover und einen ollen, dunkelblauen Schal. Ständig wischt er sich Haarsträhnen aus dem Gesicht, anstatt ein Haargummi zu benutzen, um die wilden Zotteln zu bändigen.

Was für ein eigentümlicher Kerl. Immerhin scheint er gut bei Kräften zu sein. Mit dem schwer beladenen Schneeschieber macht er eine gute Figur. Zumindest, was die Haltungsnote angeht. Der Rest der optischen Erscheinung fällt noch immer durch.

Plötzlich fühle ich mich, als wäre ich Zeuge einer bizarren Szene. Mit dem Zeigefinger juckt er sich in der Nase und hält anschließend seine Hand auf Augenhöhe. Es dauert eine Millisekunde, bis mir klar wird, weshalb seine Hand nun gemächlich zum Mund wandert.

Er wird doch wohl nicht etwa …?

Nein, bitte, ich möchte das nicht mitansehen, vergebe schnell weitere drei Minuspunkte und wende angewidert meinen Blick ab. Pfui Deiwel. Um mich von dieser unangenehmen Beobachtung abzulenken, ziehe ich meine Mundwinkel abwechselnd in alle Richtungen und schaue mich im maskulin eingerichteten Arbeitszimmer um.

Auf dem Schreibtisch befinden sich nur wenige Dinge. Die aber liegen akkurat auf einer Schreibunterlage. Persönliche Gegenstände wie Fotos oder Erinnerungsstücke gibt es nicht. Unweigerlich muss ich an den Spielzeugkarton im Schlafzimmerschrank denken und stelle mir vor, wie der Hausherr wohl aussieht.

Mein Profiler-Instinkt sagt mir: Er ist ein geleckter Anzugträger, der eventuell herablassend lächelt, wenn er einen Raum betritt. Ein ordnungsliebender Pünktlichkeitsfanatiker, ein charakterloser Spießer. Zumindest kommt es so rüber. Das Alter schätze ich auf vierzig bis fünfzig.

Bestimmt hat Ina recht und das Arbeitstier ackert sogar an seinen freien Tagen in dieser Räuberhöhle, an dessen Wand Pfeil und Bogen, eine Armbrust und einige antike Schutzschilde aus Wikingerzeiten hängen. Gewiss arbeitet der Hausherr lieber rund um die Uhr, anstatt sich um Frau und Kinder zu kümmern und am Strand nach wunderhübsch gesprenkelten Muscheln zu suchen.

Andererseits könnte auch Folgendes in Betracht kommen: Er möchte seiner Familie einen gewissen Luxus bieten und geht daher wissentlich an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit. Das wäre ein lobenswerter Zug, was jedoch nicht darüber hinwegtröstet, dass er das rechte Maß aller Dinge noch nicht gefunden hat.

Folglich ist er kein schlechter Bursche. Allerdings einer, der sicherlich eines Tages schnallt, dass Familie über alles steht. Die Steinzeitmenschen haben auch keinen Laptop oder sprechende Kühlschränke gehabt, die Milch im Internet bestellen konnten. Dennoch haben sie Jahrtausende überlebt, sich erfolgreich vermehrt und viele unwirklich wirkende Ecken auf diesem blauen Planeten besiedelt.

Ich drücke die grüne Taste meines Handys, um mit meiner Mutter zu sprechen. Was Ina betrifft, werde ich es nicht erwähnen, denn sie hat mir so etwas Ähnliches wie einen Maulkorb verpasst, damit alle Strippen ausschließlich in ihren Händen liegen. Meine Mamma fehlt mir. Kaum ein Tag vergeht, an dem wir nicht miteinander telefonieren, daher wähle ich kurzerhand und verbotenerweise ihre Nummer.

»Gem, grüß dich, mein Schnuckelchen«, begrüßt sie mich fröhlich.

»Hallo Mamma. Störe ich?«, erkundige ich mich vorsichtig.

»Nein, aber ich muss nur kurz ein Auge auf die Orangenplätzchen werfen, die ich heute backe. Sie sind gleich fertig. Hm, wie sagenhaft sie duften. Ich bin gleich bei dir, Eli.«

Im Hintergrund plappert meine sechsjährige und zuckersüße Nichte Emilia, die alle nur Eli nennen. Vor meinem geistigen Auge sehe ich ihre langen, glatten und mittelblonden Haare, ihre niedliche Stupsnase und ihr zuckersüßes Lächeln. Der erste Milchzahn ist längst Geschichte und über Umwege zur Zahnfee gelangt, die freundlicherweise im Gegenzug drei Euro unter Elis Kopfkissen gelegt hat. Jetzt sieht Emilia ungemein drollig beim Lächeln aus.

Wie gesagt, sie ist wirklich zuckersüß.

Das imaginäre Bild meiner lächelnden Nichte zaubert mir ein Schmunzeln auf die Lippen. Ich kann es kaum erwarten, sie wiederzusehen und mit ihr herumzualbern. Die Vorfreude auf die gemeinsam verbrachte Zeit steigert sich von Minute zu Minute, während ich meine Mamma belangloses Zeugs erzähle.

Mein älterer Bruder, Elis Vater, behauptet immer, sie sähe aus, als hätte sie sich im Kindergarten mit einem fiesen Mafioso-Bambino gerauft und dabei ihre Beißerchen verloren. Wenn er das sagt, klopft er seiner erstgeborenen Tochter derart heftig auf die Schulter, dass die Kleine beinahe das Gleichgewicht verliert, aber dennoch heldenhaft lächelt. Ehrlich gesagt, benehmen sich manchmal alle in unserer Familie ein bisschen verschroben.

»Du hast also alle Hände voll zu tun?«, frage ich meine Mutter.

»Wir, Gem. Wir, denn Eli hilft fleißig bei der ersten Ladung Plätzchen. Du müsstest jetzt ihr Gesichtchen sehen. Alles ist voller Mehlstaub. Geh dich ruhig waschen, Mäuschen. Bis die Plätzchen aus dem Ofen kommen, hast du genügend Zeit. Danach probieren wir sie und du bekommst deinen Anteil in die mitgebrachte Keksdose«, erklärt sie enthusiastisch.

Himmel, meine Mutter redet, als würde sie eine Mafia-Beute gerecht unter den Dragnetta Mitgliedern aufteilen. Wenn sie in ihrem Restaurant so redet, rate ich ihr immer, solche Spielchen zu unterlassen, weil die Gäste es ständig falsch verstehen. Sie mag derlei Possen, ist unbelehrbar und möchte dauernd Vorurteile abbauen.

Geräuschvoll verlässt Eli die Küche und informiert meinen Vater lautstark über den aktuellen Stand der Dinge. Ihre Kinderstimme schallt durch das gesamte Haus, und ich kann mir lebhaft vorstellen, wie sie mit ihren begeisterten Worten meinem Vater ein Lächeln abringt.

»Sie wartet schon ungeduldig darauf, dass wir nachher die Verzierung anbringen. Ich glaube, das ist für sie das Schönste an der ganzen Weihnachtsbäckerei. Sie möchte dieses Jahr alles in Rot, Weiß, Grün bestreichen. Die Farben der italienischen Flagge. Du weißt schon: Tomate, Mozzarella, Basilikum. Ernsthaft, sie hat mich gefragt, warum ich den Zuckerguss geschmackstechnisch nicht anpasse. Gibt es sowas? Sie ist eine echte Italienerin und liebt Weihnachten«, schwärmt meine Mutter am Telefon.

Während ich ihr zuhöre, hänge ich versonnen meinen eigenen Gedanken nach. So langsam kommen mir ernsthaft Zweifel, ob ich Weihnachten wirklich absagen sollte. Ich habe es mir eisern, fest und wild entschlossen vorgenommen, aber jetzt, wo Ina sich so viel Mühe gibt, und extra für mich einen ausgeklügelten Plan schmiedet, fällt es mir schwer, die liebevollen Vorbereitungen meiner Familie so herzlos zu durchkreuzen.

»Du bist so still, Gem. Alles in Ordnung bei dir?«, reißt mich meine Mutter aus meinen Grübeleien.

»Mhhhmm«, murmele ich, schaue ziellos aus dem Fenster und bringe es nicht über das Herz, Weihnachten abzusagen.

»Was sagst du? Ich habe kein Wort verstanden.«

»Ich bin nur schrecklich müde.«

»Va bene? Warum? Schläfst du nachts denn nicht? Ah, oh … sag bloß, ihr arbeitet schweißgebadet und fieberhaft an Nachwuchs und habt deshalb keine Zeit, um zu schlafen? Wie schön, wie schön. Ich muss sagen, das freut mein Mutterherz, warte ich doch schon sehnsüchtig auf neue Enkelchen«, spekuliert sie vergnügt.

Unverdrossen schiebt Herr Yeti vor dem Fenster den Schnee zusammen. Geräuschvoll raschelt der Schneeschieber über den Asphalt, genau an dem Fenster vorbei. Sein gesummtes Lied ist weithin hörbar. Gelegentlich legt er sogar Tanzschritte ein, um die Routine zu überspielen.

Ich kann nicht anders als schmunzeln, denn der Anblick und seine Performanz sind einfach zu komisch. Wie es aussieht, benimmt er sich, als wäre er ein umjubelter Rockstar. Der Schneeschieber scheint sein imaginäres Mikrofon zu sein, das er wechselweise zum Mund zieht und in einer theatralischen Geste von sich wegschiebt.

So ein Döskopp.

»Du, ich muss. Ein Klient kommt gleich und ich muss zuvor noch etwas für das Gespräch recherchieren. Ich wollte dich nur kurz hören. Hab dich lieb. Aspetta un minuto, per favore«, sage ich und lege meine Hand auf die Muschel und zähle stumm bis drei. »Da bin ich wieder, Mamma. Mein Klient ist bereits da. Ich muss los. Bis dann.«

Sie kommt gar nicht dazu, zu antworten. Blitzschnell lege ich auf und ächze. Es ist mies, wie herzlos ich sie abwürge. Aber Plan ist Plan und der Typ vor dem Fenster nervt in extremo mit seinem unmusikalischen Gejaule.

Ich rutsche vom Schreibtisch und schlendere ins Badezimmer. Dort stehen massenhaft hochwertige Tuben und Tiegel auf einem blitzblank polierten Glasregal. Der Inhalt verspricht bei regelmäßiger Anwendung pure Schönheit. Auf jeden Fall beteuert das die Inhaltsangabe und die bildgewaltige Fernsehwerbung.

Ich drehe einige Deckel ab und schnuppere minutenlang an dem hochpreisigen Inhalt. Riecht ganz passabel, stelle ich fest. Insgesamt bin ich tief beeindruckt. Ich gebe zu, der Duft und die hochwertige Verpackung haben mich überzeugt. Da bin ich gern bereit, das eine oder andere Produkt auszuprobieren.

Doch dann wird mir klar, dass ich mich von der Faszination des Badezimmerregals ablenken lasse und mich auf das Wesentliche konzentrieren sollte. Die Zeit drängt und ich habe noch so viel zu erledigen. Nebenbei bemerkt: Nicht, dass ich es nötig hätte, meine Haut künstlich mit Hyaluron aufzupolstern, aber die vergangenen Tage sind strapaziös und nervenaufreibend verlaufen. Da kommt mir ein Luxus-Schönheitsprodukt gelegen, bei dem ich so angemessen entspannen kann.

Schon gut. Bevor es ein Geschrei gibt, stelle ich eines klar: Selbstverständlich ersetze ich die benutzen Tiegel. Bin doch kein Dieb.

Einstweilen merkt die Besitzerin bestimmt nicht, wenn ich eine ihrer hundert Tuben auf Herz und Nieren teste. In Gedanken stelle ich mir bildlich vor, wie die duftende, aber exquisite Gesichtsmaske meine Konturen strafft, die auserlesenen Inhaltsstoffe in jede Pore dringen, die es bitter nötig haben und begierig aufsaugen.

Doch Schreck!

Ausgerechnet die, die ich gegriffen habe, ohne daran zu riechen, stinkt bestialisch nach etwas Undefinierbarem. Und überhaupt, soll die Konsistenz so suppig sein und auf der Haut kleben?

Alles erinnert mich vage an Mayonnaise. Und, sofern ich nicht auf dem Holzweg bin, daneben an völlig überlagerte obendrein.

Im Nu beuge ich mich über das Waschbecken, rubbele und schrubbe mir hektisch die stinkende Paste. Besser gesagt schrubbe ich diese undefinierbare Substanz vom Gesicht, welches sich zu meinem Schrecken bereits krebsrot verfärbt.

Na prima, schon läuft die Nase. Blöde Allergie.

Meine hektischen Bemühungen machen die Situation nicht besser. Verzweifelt versuche ich, die stinkende Wundermaske so schnell wie möglich abzuwaschen.

Postwendend entkleide ich mich und steige flott in die Duschkabine, denn ich möchte mir möglichst schnell das Verderben aus dem Gesicht waschen. Andernfalls endet die Geschichte spätestens morgen in einem aufgedunsenen Gesicht und schrecklich juckenden Quaddeln. Das bedeutet konkret: ich kann mich nirgendwo blicken lassen.

Mein verzweifelter Versuch, mich zu entspannen und die Strapazen der letzten Tage hinter mir zu lassen, ist kläglich gescheitert. Da in diesem Fall nur die harte Tour hilft und ich schnellstmöglich Erlösung suche, greife ich zum Duschgel. Kurzerhand kippe ich mir einen ganzen Batzen auf die Haare, Gesicht und Dekolleté und schäume es auf.

Allein es schäumt nicht. Allein, es duftet nicht himmlisch. Eher stinkt es grauenhafter als die bis zur Unkenntlichkeit vergammelte Mayonnaise. Anscheinend hat jemand altes Frittenöl in die Tube getan.

Igitt!

Gift und Galle speiend, taste ich nach einem Handtuch, während mir das widerwärtige Frittenöl inzwischen den ganzen Körper hinab läuft und am Ende sogar den Boden der Dusche in eine spiegelglatte Rutschbahn verwandelt.

Das wirklich Dumme an diesem Umstand ist die Tatsache, dass ich eigentlich kalt duschen wollte, um die geschundene Gesichtshaut zu beruhigen. Jetzt muss ich das Wasser auf heiß stellen, um das widerwärtig stinkende Öl loszuwerden. Für meine empfindliche Gesichtshaut ist das natürlich eine absolute Tortur.

Japsend, keuchend und die bösartige Welt verwünschend, verlasse ich vorsichtig die Dusche, um nicht versehentlich auf den spiegelglatten Bodenfliesen auszurutschen. Verzweifelt durchsuche ich die Badezimmerschränke nach Duschgel. Seltsamerweise finde ich nur leere Verpackungen. Nicht mal Haarwaschmittel ist aufzutreiben.

Nichts. Niente.

»Verdammt noch mal! Was zur Hölle wird hier gespielt«, rufe ich frustriert aus und fluche weiter auf Italienisch: »Merda. Sta minhia.«

In meiner Not tapse ich vorsichtig, aber splitterfasernackt und grauenhaft stinkend, in die Küche, um Geschirrspülmittel zu holen. Natürlich nicht, ohne zuvor misstrauisch an der Flasche zu schnuppern. Sicherheitshalber.

Man weiß ja nie, was wirklich in der Verpackung steckt.

 

 

 

Kapitel 7

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Nach unzähligen Spülgängen mit Fit und Konsorten bin ich endlich fertig und blitzblank abgebürstet. Schnell flitze ich zum entzückenden Nachbarhaus mit dem hübschen Reetdach und den blauen Fensterläden.

In meinem Kopf lege ich mir passende Worte zurecht, denn ich möchte meine Nachbarn um eine kleine Portion Duschgel und um einen klitzekleinen Gefallen bitten. Außerdem suche ich dringend eine Mitfahrgelegenheit für meine Shopping-Tour heute und hoffe, sie hier zu finden.

Beherzt klopfe ich an die blau gestrichene Haustür mit dem bezaubernden Türkranz aus hölzernem Strandgut. Einen Schritt zurücktretend, richte ich den Wollmantel zurecht, den ich im Kleiderschrank gefunden habe. Ich straffe mich, als ich Schritte von drinnen höre.

Fantastisch. Jemand ist zu Hause.

In weniger als fünf Minuten werde ich wunderbar nach Wildblumenwiese duften, anstatt nach Bahnhofsimbiss zu müffeln. In meiner Vorstellung male ich mir in den prächtigsten Farben aus, wie ich wie ein frisch gepudertes Baby rieche, mit seidig weicher Haut und vital aussehenden Haaren, die sich unglaublich geschmeidig anfühlen und beeindruckend glänzen.

»Guten Morgen«, setze ich an, nachdem sich die Haustür öffnet, verstumme allerdings augenblicklich.

Vor mir steht der altfränkisch gekleidete Herr Yeti, der mich gestern Nachmittag hergefahren hat und lieber stundenlang die Auffahrt fegt, als mir die vertrackten technischen Details des Hauses zu erklären.

Bombastisch.

Ich wollte meinen Nachbarn auf Zeit bitten, mich in die nächstgelegene Ortschaft zu fahren, verzichte beim Anblick des finster dreinblickenden Modemuffels aber freiwillig. Es war eindeutig ein Fehler, an die Tür zu klopfen und zwei Gefallen erbitten zu wollen.

Statt eines halbwegs höflichen Morgengrußes schaut er mehrere Male an mir hinauf und hinab und kratzt sich ungeniert im Schritt. Der Typ ist derart bäh, dass mir unvermittelt die sonst so schlagfertigen Worte im Hals steckenbleiben.

Das kann doch echt nicht wahr sein. Gerade eben hat er sich noch einen glibberig grünen Kodder aus der Nase gezogen und heißhungrig angeschaut. Jetzt kratzt er sich ungeniert seinen Hängebeutel, als ob ihm die Welt gehört. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was er mit den armen Krabbelviechern anstellt, sollte er sie jemals aus seinem Intimurwald puhlen.

Boah! Ich muss mir dringend etwas Vergnügliches vorstellen, um diesen widerlichen Anblick auszublenden. Schnell denke ich an süße und schnuckelige Hundebabys, ganz possierlich und herzallerliebst mit ihren Knopfaugen und niedlichen Pfötchen. Ja, das hilft mir. Jetzt kann ich ihm wenigstens wieder in die Augen schauen, ohne mich vor Ekel zu übergeben, wenn ich an das Schicksal denke, das seinen tierischen Untermietern droht.

»Se müffeln etwas nach Frittenbude. Hat Ihnen jemand das schon einmal gesagt?«

Peng!

Das habe ich davon, dass ich dämlich glotzend vor ihm stehe und stundenlang an süße Hundebabys denken muss, um einen menschlich klingenden Ton von mir geben zu können, statt passenden Worten zu finden. Zeitgleich durchzuckt mich ein genialer Geistesblitz.

Der Gedanke ist mir bis eben absurd vorgekommen, scheint jetzt aber gar nicht so weit hergeholt zu sein. Der Rotznase vor mir steht ein breites Grinsen ins Gesicht geschrieben, was meine vage Vermutung mehr als bestätigt. Ist er es etwa gewesen, der diese widerliche Mayonnaise und das stinkende Frittenöl …?

Caca cazzo.

»Die Auffahrt ist voller Neuschnee, bestia«, presse ich unbeholfen hervor, obwohl ich vor lauter durcheinandergeratenen Gedanken kaum ein Wort über die Lippen bekomme. Zugegebenermaßen unerfreulich, wie ich leider Gottes zugeben muss. Ich kann es eindeutig an seiner Nasenspitze ablesen, dass mich dieser unsympathische Typ entweder schnell loswerden oder bis zur Weißglut bringen will.

Pah! Da hat er sich die Falsche ausgesucht.

»Aha«, erwidert er gelangweilt, hustet etwas Undefinierbares aus seinem Rachen und mustert misstrauisch die Auffahrt. Rotzt er den grüngelben Schnodderklumpen etwa in meiner Gegenwart aus? Oh, das ist einfach widerlich.

Glücklicherweise erspart er mir den grauslichen Anblick, fragt aber auch nicht, warum ich so früh am Morgen an seine Tür klopfe. Ich schüttele mich kurz und entscheide, nicht länger als nötig vor ebendieser zu verweilen.

Er reicht. Bleibe ich länger als drei Minuten, bekomme ich höchstwahrscheinlich keinen Bissen von meinem Mittagessen hinunter. Gewiss sehe ich in einer Tour diesen ungehobelten Menschen vor meinem geistigen Auge.

So, Schluss mit der Zeitverschwendung. Ich drehe mich auf den Absätzen um und mache mich schnell aus dem Staub. Diesem Typen gebe ich sicherlich keine Gelegenheit, meinen Tag zu verderben. Ungelenk tapse ich durch den knöcheltiefen Schnee auf dem kleinen, ungefegten Pfad zur Auffahrt zurück, weil er ausgerechnet an der hüfthohen Hecke nicht fegt.

»Und da komm Se extra mit Ihren knallrotem Nuttenschuhen her gezockelt, um mir das zu verkünden?«

Er war es. Ganz sicher, er war es.

Grenzenloser Zorn über den niederträchtigen Streich steigt auf. In Zeitlupe hebt sich meine rechte Hand. Weithin sichtbar streckt sich mein Mittelfinger in die Höhe.

Je näher ich dem Ferienhaus komme, desto weniger kann ich meinen Unmut unterdrücken. Ahnungslos klingele ich an der Tür des Nachbarn, um freundlich zu plaudern und höflich zu fragen, ob sie mir bitte ein paar Portionen Duschgel ausleihen können, da ich in der Stadt erst noch Kosmetik einkaufen muss. Dann passiert einem so etwas.

»Ham Se zu lange unter dem Assi-Toaster gelegen? Oder ist das in Ihrem Gesicht etwa die Schamröte einer Schwanenjungfrau, weil Se einen sexuell erregenden Hengst länger als zwei Minuten angesehen haben? Komm Se ruhig zurück. Ich stelle mich zur Verfügung, um Ihr komisches Hormon-Problemchen ratzfatz aus der Welt zu schaffen.«

»Sie sind ein hirnverbrannter Affenarsch. Animale, Bestia. Und sprechen Sie mich gefälligst erst wieder an, wenn ich das Wort an Sie richte, verstanden?«, entgegne ich wutschnaubend.

»Sonst was?«, provoziert er.

Atemlos schnaufend, zerre ich mein Handy aus der Handtasche und orte mich, dank des eingebauten, datenhungrigen Spions, der sich in der Fachsprache Fortschritt nennt. Gut, manche Menschen nennen ihn vertraulich Onkel Google. Ich fühle mich unbehaglich dabei. Mir käme das in etwa so vor, als wäre ich Messdiener, allein und pudelnackt mit dem Seelenhirten in dessen Ankleidezimmer.

»Hallo? Sonst was?«

»Sonst sorge ich persönlich dafür, dass Sie den Stuhl vor die Tür gesetzt bekommen«, knurre ich.

Er lacht schallend und knallt die Haustür zu.

Jetzt gilt es, schnell zu handeln. Per Zoom finde ich die Richtung heraus, in der das Provinzstädtchen liegt. Ich ignoriere sein gehässiges Lachen, das aus dem Haus dringt, und schaue mich um.

Blindlinks laufe ich los. Besser gesagt, stakse ich durch den matschigen Schnee, denn nach drei Metern frieren meine Füße ein. Logisch, weil ich nur meine knallroten Pumps trage. Aber das kann mich jetzt nicht aufhalten.

Ja, meine Füße frieren ganz schrecklich, das muss ich betonen. Aber egal. Dieser bäurische Klotz von einem Mann wird mich schon kennenlernen, sobald ich mich um meine dringendsten Bedürfnisse gekümmert habe. Und wenn ich mit ihm fertig bin, wird ihm dieses diabolische Gelächter von allein vergehen.

Ich besorge mir ohne seine Hilfe Shampoo und neues, duftendes Duschgel in der Drogerie und gehe anschließend ausgelassen shoppen. Ich möchte wirklich nicht auf seine bekloppt-peinliche Mitfahrgelegenheit aus einer längst vergessenen Epoche des Kalten Krieges angewiesen sein.

Ein ausgiebiger Spaziergang bereitet mir sowieso viel mehr Vergnügen, als mich im tiefsten Winter schnöde mit der klapprigen Rennpappe von einem Hausmeister vor der Drogerie absetzen zu lassen. Das kann schließlich jeder. Selbst ist die Frau.

Ich bin unabhängig und lasse mir von niemandem den Tag vermiesen. Jetzt werde ich den Tag genießen und mich von nichts und niemandem aufhalten lassen. Tschakka.

Das hoch motivierte Kriegsgebrüll verstummt jäh. Meine Finger wollen einfach nicht warm werden, selbst wenn ich sie kräftig zu Fäusten balle und fieberhaft hineinpuste. Gleichwohl setze ich meinen Weg unbeirrt fort, obwohl ein mehrere Kilometer langer Fußmarsch vor mir liegt.

Oh, bitte, lieber Herrgott. Oder lieber Weihnachtsmann. Wer auch immer von euch beiden Zeit hat und mir drei Sekunden ein Ohr leiht. Wenn es euch gibt, dann bitte ich euch inständig: Schenkt mir zu Weihnachten keine Geschenke, sondern schickt mir stattdessen ein Fahrzeug, dessen Heizung einwandfrei funktioniert. Und wenn es geht, dann schickt mir bitte eins, das mich nicht zum Gespött der Leute macht, weil es keinen Katalysator und verschlissene Sitze hat. Bitte schickt ein ganz normales, emissionsarmes Fahrzeug. Das wäre ein grandioses, vorgezogenes Weihnachtsgeschenk. Fröhliche Weihnachten, danke und Amen.

»Hallo? Nein, ich meinte doch kein Räumfahrzeug von der Stadtwirtschaft, wie das, das mit einem Wahnsinnstempo an mir vorbeirauscht. Hat das überhaupt einen Katalysator? Ja, Tatsache? Völlig unerheblich, denn so ein Fahrzeug meine ich jedenfalls nicht«, brülle ich mitten in der grauen und trüben Ackerlandschaft stehend. »Und nein, ich möchte an dieser Stelle nicht mit euch diskutieren und alle Fahrzeugtypen durchgehen, die es weltweit gibt. Nein, vergesst es. Bitte, bitte: Ich werde auch ganz brav sein, immer fein mein Mittag aufessen und fleißig aufräumen. Wie bitte? Das reicht euch nicht? Ach so, das habe ich beim letzten Mal auch schon geschworen. Hm, blöd. Gut, lasst mich einen Moment nachdenken … Wie wäre es damit: Außerdem lache ich dieses Jahr Sascha ausnahmsweise nicht aus, wenn er tagelang den splitterfasernackten Piepvogel für das Weihnachtsessen vorbereitet, den Tannenbaum schmückt und fortwährend von heimeligen Weihnachtsfeiertagen faselt. Ja, ja, schon gut. Ich verstehe ja, dass er den ganzen Zirkus ausschließlich deshalb veranstaltet, damit wir es an den Weihnachtsfeiertagen gemütlich haben. Ich bin schon still. Schickt ihr mir jetzt ein ganz normales Auto vorbei, bitte? Immerhin, wenigstens fahren die Räumfahrzeuge. Und solltet ihr euch trotz inbrünstigen Schwörens nicht erbarmen, strecke ich beim dritten Typ, dieser Bauart meine Hand aus. Erst dann bin ich nicht mäkelig. Aber erst dann.«

Frierend tippele ich nach besten Kräften auf der kilometerlangen Landstraße entlang, die schnurgeradeaus führt und sich am Horizont in verwaschenen Grautönen verliert. Unentwegt weiche ich den Bergen von zusammengeschobenem Schnee aus. Dabei brabble ich vor mich hin und stelle mir laut Dinge vor, die aufwärmen.

Oh, wie sehne ich mich nach einem richtig heißen Kachelofen, so wie den von meiner angebetete Nona, die einen im Wohnzimmer hat. Ei, diese Dinger wärmen grandios. Ich stelle mir warme Wollsocken vor, mit Schafswolle gefütterte Winterstiefel und ja, sogar ein gemütliches Wärmekissen kommt in meiner glühenden Fantasie vor.

Schönes Wortspiel: glühende Fantasie. Da kann ich mir ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen.

Nebenbei verfluche ich mich und mein verdammtes süditalienisches Temperament. Anstatt trotz der Kränkung höflich und meinen Vorsätzen treu zu bleiben, toleranter gegenüber den törichten Eigenarten meiner Mitmenschen zu werden, strecke ich meinen Mittelfinger in die Höhe.

Oh, Gem. Dieses Verhalten ist echt unterste Schublade und überaus vulgär, stelle ich erschreckt fest und weiche einem riesigen Haufen Schneematsch aus.

 

 

 

Kapitel 8

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Hupend bremst unmittelbar neben mir ein Fahrzeug scharf ab. Es schlittert zehn Meter über die rutschige Landstraße und bleibt knapp neben dem Straßengraben stehen.

Verflixt, den habe ich echt nicht kommen hören. Anderseits finde ich erfreulich, dass er da ist. Anscheinend hat entweder der gütige Herrgott oder der liebe Weihnachtsmann mein inbrünstiges Gebet erhört und schickt mir ein … Elektrofahrzeug.

Ernsthaft? Die sind doch gar nicht so astrein in ihrer Ökobilanz, wie die Automobil-Lobby und eine neunmal gescheite Ökotussi aus Schweden der Welt weismachen will.

Was? Nein, natürlich beschwere ich mich nicht. Ja, und die Öko-Tussi nehme ich auch zurück. Ich bin brav und arbeite an meinen Unzulänglichkeiten, ich schwöre, Wollte nur anmerken … Ist ja in Ordnung, ich halte meinen Rand. Ich freue mich wie Bolle, weil ihr mir das Elektroauto von Tesla in den Straßengraben stellt.

Ernsthaft.

Trotzdem rege ich mich minutenlang nicht. Beherzt ignoriere ich meine abfrierenden Extremitäten und die eisige Atemluft, die in meiner Nase alsbald Eiszapfen bildet. Zumindest, solange, bis ich eine Regung im Fahrzeug wahrnehme.

Erleichtert atme ich aus. Nicht auszurechnen, wie unbeholfen ich mich anstellen würde, mit erfrorenen Händen Erste Hilfe leisten zu müssen, während das Teufelsding in Flammen aufgeht. Man hört und liest ja so einiges in der Presse. Andererseits wärmt so ein unverhofftes Feuer die klammen Finger und Füße ungemein auf.

»Geht’s noch?«, schreit eine männliche, schrille Stimme und reißt mich aus der Fantasie des wärmenden Feuerchens.

Offensichtlich ist er aufgebracht, denn er brüllt seine Fassungslosigkeit in die Welt hinaus. Mein Herz rast in der Brust.

Jesus, sei gnädig mit deinen reumütigen, unzulänglichen Schäfchen, wie ich eines bin. Gottlob, der Fahrer lebt. Ich bekreuzige mich.

Gut, das steht ihm zu, zu brüllen, denn ich habe mich auch erschrocken. Gleichwohl, ich höre diesen ohrenbetäubenden Lärm bis hierher, obwohl Fenster und Türen des Wagens geschlossen sind.

Unverdrossen warte ich am Fahrbahnrand. Stocksteif stehe ich in der frostklirrenden Luft. Alsbald öffnet sich die Tür des Wagens. Ich hoffe, dass mir der Schreihals jetzt nicht gleich an die Gurgel springt. Und überlege, ob ich besser zum Sprint ansetze. Doch wohin?

In die Schneewüste? Ha, ha, ich lache später drüber. Wenn ich wieder im warmen Wohnzimmer stehe.

Ein Haarschopf samt Pudelmütze ist zu erkennen Ein Mann mustert mich mit einem anklagenden Blick und fragt nochmal: »Geht’s noch?«

Ja, das hat er bereits gefragt. Zum Glück blutet er nicht, soweit ich erkennen kann. Er liegt auch nicht zerquetscht, eingeklemmt oder schlimmeres im Straßengraben. Sollte heute tatsächlich mein Glückstag sein?

»Ich habe Sie echt nicht kommen hören, aber danke der Nachfrage«, rufe ich zögerlich. »Offen gesagt geht es nicht mehr lange, dann bin ich zu einem Eiszapfen gefroren und kann keinen Fuß vor den anderen setzen. Ich friere ganz schrecklich und war ebendaher in Gedanken an etwas Wärmendes, Kuschliges versunken. So E-Autos hört man halt schlecht kommen.«

Meine Worte stolpern aus meinem Mund, denn die Minusgrade haben meine Wangen inzwischen gefrieren lassen. Hoffentlich hat er überhaupt verstanden, was ich gesagt habe. Es herrscht eine gespenstische Stille und ich überlege angestrengt, ob ich meine Antwort sicherheitshalber wiederhole.

Bevor ich jedoch dazu komme, setzt er zum Sprechen an. »Oje, Sie frieren und ich Dummkopf beschwere mich, weil ich kurz scharf abbremsen muss. Dabei ist ja zum Glück nichts Dramatisches passiert. Um Gottes willen, was machen Sie denn bei so einer Kälte mitten auf der Landstraße?«

»Nun, was man halt im Allgemeinen auf einer Straße macht. Ich gehe«, antworte ich und versuche, meine Zähne vor Kälte nicht klappern zu lassen.

»Wohin?«, erkundigt er sich, steigt aus dem Auto und kommt soeben bei mir an.

Er ist ungefähr Anfang vierzig, stilvoll gekleidet und überragt mich um eine halbe Kopflänge. Heute ist mein Glückstag, denn Klangfarbe, Erscheinungsbild, Körpersprache und Auftreten wurden von Mutter Natur vollkommen gleichmäßig und wohlwollend verteilt.

Wow.

»Dorthin«, stammele ich und deute zum Horizont, weil mich der hinreißende Anblick glattweg umhaut. Sie wissen schon. Auf der Stelle haut es mich aus den Latschen und das Kind wird in der Pfanne verrückt.

Er ist der leibhaftige Eros. Nein, nicht Ramazzotti. Mal ehrlich, Eros Walter Luciano Ramazzotti Molina. Ich lache mich schief. Dieser selbstverliebte Schnulzenhengst ist etwas für näselnde Tussis aus dem Engadin. Der Schmusebarde sieht nicht großartig aus, sondern nur wie ein typisch italienischer Macho.

Findet selbst meine Nona.

Der Eros, der vor mir steht, ist ein stattlicher, junger, kraftstrotzender Mann mit dem schönsten Gesicht, den die Welt jemals gesehen hat. Was wiederum logisch ist, denn seine Mutter ist Aphrodite.

Fasziniert und ohne jegliches Versteckspiel mustere ich sein interessantes Gesicht mit den niedlichen Lachfalten. Doch er scheint es nicht zu bemerken, denn er betrachtet mich ebenso eingehend. Trotz meines krebsroten Gesichts, auf dem in punktgenau drei Stunden garantiert die ersten lästig juckenden Quaddeln erscheinen werden. Wenigstens kann ich jetzt noch locker schwindeln und behaupten, dass die Röte von der Winterkälte herrührt.

»Und von wo kommen Sie?«, fragt er und schaut sich um, als würden wir mitten auf einem belebten Marktplatz stehen, samt geschäftigen Treiben, unzähligen Cafés und etlichen Einkaufsmöglichkeiten.

»Von da hinten«, antworte ich und zeige in die Ferne, wo das Dach des Ferienhauses kaum auszumachen ist.

Der Tag startet grau und diesig, die Morgensonne lässt seit Stunden auf sich warten. Dunkle Wolken, die aus Osten über das Land ziehen, boykottieren mehr oder minder erfolgreich den Durchbruch der wärmenden Sonnenstrahlen.

Er grinst charmant. »Aha, von da hinten also.«

»Ja, von sehr weit hinten. Und so viel Weg liegt noch vor mir.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752138351
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (November)
Schlagworte
Winter wholesome weihnachtliche Komödie Romantik Winterroman Romance Beziehung Ostsee Urlaub Chick-Lit Liebesroman Liebe

Autoren

  • Anna Conradi (Autor:in)

  • Adelina Zwaan (Autor:in)

Anna Conradi (Pseudonym) lebt und arbeitet nach unzähligen Stationen im In- und Ausland heute in Leipzig. Neben dem Beruf ist das Schreiben ihre Berufung. Am liebsten über das Suchen und Finden, das Herzklopfen und Überwinden von Hindernissen.
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Titel: Weihnachten fällt aus - wegen is nich