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INSELgelb

(INSELfarbe 3)

von Stina Jensen (Autor:in)
290 Seiten
Reihe: INSELfarben-Reihe, Band 3

Zusammenfassung

Ein Roman, magisch wie ein Regenbogen über dem Meer.

»Du wirst dich wohl nie ändern« - mit diesen Worten verlässt Josh Claire, nachdem sie ihn bitter enttäuscht hat. Ihr bleibt nur eine Hoffnung, sein Herz zurückzuerobern: Sie muss nach Island reisen und dort nach seinen Wurzeln suchen, schließlich war das immer sein größter Traum. Gleich nach ihrer Ankunft geht jedoch alles schief, und Claires Mission scheint zum Scheitern verurteilt. Erst als sie unerwartet Hilfe von Kristjan erhält, dem wortkargen Sohn einer Schafzüchterin, fasst sie neuen Mut. Gemeinsam begeben sie sich auf eine aufregende Reise über die faszinierende Insel, auf der Claire fast ihre Mission vergisst. Doch dann erhält sie überraschend Nachricht von Josh ...

Die Romane der INSELfarben- und GIPFELfarben-Reihe sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.

Die chronologische Reihenfolge der Romane: Inselblau (Svea, Langeoog und Mallorca), Inselgrün (Wiebke, Irland), Inselgelb (Claire, Island), Inselpink (Ida, Mallorca), Inselgold (Amanda, Rügen), Gipfelblau (Annika, Zermatt), Gipfelgold (Mona, Bad Gastein), Gipfelrot (Valerie, Schottland), Inseltürkis (Terry, Sardinien), Inselrot (Sandra, Sylt), Gipfelpink (Susa, Teneriffa), Inselhimmelblau (Svea, Langeoog), Gipfelglühen (Sebastian, Allgäu)

Außerdem: »Plätzchen, Tee und Winterwünsche«, »Misteln, Schnee und Winterwunder«, »Sterne, Zimt und Winterträume«, »Muscheln, Gold und Winterglück«, »Vanille, Punsch und Winterzauber«, »Mondschein, Flan und Winterherzen«, »Engel, Blues und Winterfunkeln«, »Sommertraum mit Happy End«, »Stürmisch verliebt«

Spannung und Gefühl vor bedrückender Küstenkulisse. Die Levke-Sönkamp-Reihe – Privatermittlerin mit stolperndem Herzen: Möwentrauer, Möwenschuld, Möwenzorn

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum

Erstausgabe: März 2017

© Stina Jensen

Robert-Bosch-Straße 48

61184 Karben

info@stina-jensen.de

www.stina-jensen.de

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung der Verfasserin urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werkes sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten zu existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Lektorat und Korrektorat: Ricarda Oertel www.lektorat-oertel.de

Covergestaltung © Traumstoff Buchdesign traumstoff.at.vu

Covermotiv © zhang kan shutterstock.com

Das gesamte Programm von Stina Jensen findest du hier.

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Über die Autorin

STINA JENSEN schreibt Insel- und Gipfelromane, romantische Komödien und Krimis. Sie liebt das Reisen und saugt neue Umgebungen in sich auf wie ein Schwamm.

Meist kommen dabei wie von selbst die Figuren in ihren Kopf und ringen dort um die Hauptrolle in ihrem nächsten Roman. Wenn sie nicht verreist, lebt die Autorin mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt am Main.

Stina Jensen

Das Buch

Du wirst dich wohl nie ändern« – mit diesen Worten verlässt Josh Claire, nachdem sie ihn bitter enttäuscht hat. Ihr bleibt nur eine Hoffnung, sein Herz zurückzuerobern: Sie muss nach Island reisen und dort nach seinen Wurzeln suchen, schließlich war das immer sein größter Traum. Gleich nach ihrer Ankunft geht jedoch alles schief, und Claires Mission scheint zum Scheitern verurteilt.

Erst als sie unerwartet Hilfe von Kristján erhält, dem Sohn einer Schafzüchterin, fasst sie neuen Mut. Gemeinsam begeben sie sich auf eine aufregende Reise über die faszinierende Insel, auf der Claire fast ihre Mission vergisst.

Doch dann erhält sie überraschend Nachricht von Josh ...

Ein Roman, magisch wie ein Regenbogen über dem Meer.

PROLOG

Bitte spann mich doch nicht so auf die Folter, Josh«, flehte ich und setzte den Blinker. »Was sind das denn nun für Neuigkeiten, von denen du mir erzählen willst? Seit Tagen tust du so geheimnisvoll!«

Joshs Stimme tönte über die Freisprechanlage: »Du wirst es schon noch früh genug erfahren. Hauptsache, du donnerst dich nachher ein bisschen auf, wenn ich dich ausführe.« Er lachte. »Also so, dass sie uns reinlassen.«

»Meinst du etwa ein Abendkleid?«, fragte ich und fuhr auf den Supermarktparkplatz. Josh und ich hatten uns vor einigen Wochen darauf geeinigt, dass ich für die Einkäufe und er für die Sauberkeit in unserem Apartment zuständig war – seither gab es weniger Knatsch. Mit Aufräumen hatte ich es noch nie. Genauso wenig wie mit festlichen Kleidern.

»Ich meine zumindest etwas, bei dem sie davon ausgehen, dass wir einen festen Wohnsitz haben«, fügte er hinzu.

Ich verdrehte die Augen und sah auf meine grüne löchrige Leggings. Darüber trug ich Hotpants aus rotem Samt und ein vergilbtes T-Shirt. Meine blondierten Haare hielt ich normalerweise fransig kurz geschnitten, knetete sie am liebsten ordentlich durch, sodass es aussah, als sei ich gerade erst aus dem Bett gestiegen (eigentlich unfair, bei dem Aufwand, den ich dafür betrieb), und Josh liebte das. Er war Leadsänger in einer Band, trug einen kurzen Bart und das dunkle Haar zu einem zierlichen Dutt gebunden – bei Frauen hingegen stand er auf Kurzhaarschnitte. Vermutlich würde er sich daher nicht besonders über meine Typveränderung freuen, der ich mich heute unterzogen hatte: Ich hatte mir Extensions machen lassen. Mein Haar reichte mir nun in blonden Rastazöpfchen über die Schultern – die Prozedur hatte Stunden gedauert. Im Normalfall hätte ich das natürlich nie getan, doch es war die Voraussetzung für die tolle Einnahmequelle gewesen, die ich aufgetan hatte. Josh wusste noch nichts davon. Üblicherweise übernahm ich Rollen in Werbespots, in denen »unangepasste Frauen« spießige Dinge taten: Einen Bausparvertrag abschließen zum Beispiel. Oder Kaffee mit Vanillearoma trinken. Einmal hatte ich einen Auftritt in einem Musikvideo von Eminem. Ich bekam danach jede Menge Zuschriften von Typen, die mit mir ausgehen wollten, und Eminem lud mich auf einen Kaffee ein – das Foto von unserem Starbucksbesuch landete in einer Zeitschrift, die uns ein Verhältnis andichtete. Na ja. Josh fand das glücklicherweise zum Piepen und freute sich für mich, dass ich danach noch mehr Werbeangebote bekam. Jedenfalls war das alles ziemlich harmlos. Nicht so eine Herausforderung wie die Sache, für die man mich jetzt engagiert hatte. Josh würde jubeln. Allein, wenn ich an das viele Geld dachte, das wir dadurch …

»Bist du noch dran?«, fragte mein Freund.

Erschrocken lachte ich auf, ihn hatte ich über meine Gedanken fast vergessen. Heute Abend würde ich jedenfalls neben der Präsentation meiner neuen Frisur eine ziemliche Bombe platzen lassen. Aber natürlich erst nach seinen Neuigkeiten.

»Ich werde dir klamottenmäßig keine Schande machen«, versprach ich, presste das Handy ans Ohr und stieg aus dem Wagen. »Soll ich besser noch mein Piercing und die Tattoos entfernen?«, erkundigte ich mich scherzhaft. Ich trug einen klitzekleinen Ring in der linken Augenbraue, auf meinen Unterarmen tummelten sich mystische Wesen.

»Gott bewahre, dann müsste ich das ja auch. Das gebügelte Hemd, in das ich mich schwingen werde, reicht mir.«

Ich lachte auf. »Ein Hemd? Langsam bekomme ich Angst.«

»Keine Sorge, du weißt, ich werde niemals heiraten, dazu steckt zu viel Wikingerblut in mir.«

Ich grinste. Josh erwähnte gern, dass er isländische Wurzeln hatte. Dabei lebte seine Familie seit mehreren Generationen in Kalifornien. »Dann ist es ja gut.«

»Um sieben, ja?«, bat er. »Sei pünktlich.«

»Ja, ja«, versprach ich. »Um sieben im Hilton.«

»Ich liebe dich«, flüsterte Josh. Seine Stimme klang unendlich warm. Kaum zu glauben für so einen coolen Typen wie ihn.

»Ich liebe dich auch.«

Nach einer kurzen Verabschiedung schlug ich die Tür meines Wagens zu und versenkte das Handy in meiner Tasche. Dann lief ich eilig zu den Einkaufswagen, um kurz darauf in Richtung Eingang des Ralphs Supermarket zu kurven. Ich liebte es, Anlauf zu nehmen und dann ein Stück damit zu fahren. Heute klackerten Zöpfchen auf meinen Schultern. Ein lustiges, neues Gefühl.

Natürlich war ich neugierig darauf, womit Josh mich überraschen wollte, wenn wir uns heute Abend nach seiner Bandprobe im San Diego Hilton am Harbor Drive trafen, um unanständig schick essen zu gehen. Es war unser zweiter Jahrestag, und er tat seit Wochen geheimnisvoll. Noch viel weniger konnte ich es aber abwarten, meine Neuigkeiten zu verkünden. Auf sein Gesicht freute ich mich jetzt schon!

1

EIN JAHR SPÄTER

Darf ich Ihnen noch etwas bringen?«

Verständnislos sah ich in die Augen der ganz in Pink gekleideten Stewardess und versuchte, mich auf ihre Worte zu konzentrieren. Seitdem ich vor einer halben Stunde wach geworden war, hatte ich aus dem Fenster gestarrt und so lange den unter uns liegenden, endlosen Ozean fixiert, bis meine Augen zu tränen begannen. Vielleicht sah ich durstig aus? Dabei konnte ich weder essen noch trinken vor Aufregung. Die Sandwiches auf den beiden Flügen von San Diego mit Zwischenstopp in New York hatte ich auch abgelehnt. Wenn ich aufgeregt war, bekam ich einfach nichts runter.

Ich schüttelte den Kopf. »Danke.«

Neben mir saß ein Mann, dessen Kleidung nach Mottenkugeln roch. Vermutlich war der rote Wollpullover, den er trug, länger nicht im Einsatz gewesen. Er hielt eine Kamera in seinem Arm, als wiege er ein Baby. Die Frau neben ihm war seit unserem Start abwechselnd in einen Roman vertieft oder sie schlief – dabei platzierte sie das Buch auf ihrer Brust und faltete darüber die Hände wie zum Gebet. Mit diesen beiden schweigsamen Sitznachbarn erging es mir wesentlich besser als den armen Menschen ein paar Reihen weiter vorn, die von mehreren Kleinkindern umringt zu sein schienen. Eines von ihnen hatte selbst mich mit einem Schreianfall aus dem Schlaf geholt. Aber nicht nur das Kind hatte geschrien, sondern auch ein Mann, der offenbar irgendetwas von ihm abbekommen hatte. Ich tippte auf Erbrochenes.

Ich wandte wieder den Kopf und sah aus dem Fenster, merkte, wie mir schon wieder die Augen zufielen. Hoffentlich waren wir bald da. Das letzte Mal, dass ich so weit geflogen war, war eineinhalb Jahre her. Keine lange Zeit. Doch seit meinem Trip nach Irland war so viel geschehen.

»Besuchen Sie jemanden in Island?«, schreckte mich der Mann neben mir aus meinen Gedanken. Nach unserem Start hatte ich jeglichen Smalltalk unterbunden, indem ich mir Kopfhörerstöpsel in die Ohren stopfte und war darüber immer wieder eingedöst. Mir war auch jetzt nicht nach einem Schwätzchen, das erfahrungsgemäß darauf hinauslief, dass mein Gesprächspartner sich nach der Narbe in meinem Gesicht erkundigte, die sich quer über meine Augenbraue zog und damit genau die Stelle touchierte, an der ich früher ein Piercing getragen hatte. Eilig antwortete ich: »Nur Sightseeing.«

Er nickte verständig und tippte sich an die Brust. »Ich bin Fotograf und hoffe auf spektakuläre Bilder. Vier Wochen Island. Das werden mehrere tausend Fotos.«

Ich nickte anerkennend und sah wieder aus dem Fenster. Josh fotografierte auch gern. Wäre er nicht Musiker geworden, hätte er eine Karriere als Fotograf machen können. Er hätte diese Reise geliebt. Wäre vor Freude ausgeflippt neben mir auf dem Sitz und hätte wahrscheinlich noch im Flugzeug einen Song über diesen Trip getextet. Aber er war nicht mitgekommen.

»Und wie lange bleiben Sie?«

Anscheinend verstand der Typ keine Körpersprache. Was konnte es Deutlicheres geben als eine kalte Schulter?

»Hören Sie«, sagte ich und bemühte mich um einen höflichen Tonfall, »ich bin furchtbar müde und mir ist nicht nach reden.«

Seine Mundwinkel wanderten nach unten, ein wenig erinnerte er an das beleidigte Gesicht eines Donald Trump. Überhaupt sah er ihm ähnlich. Aber der flog wohl kaum Economy. Außerdem trennten sie einige Jahre.

Ich langte nach einer splissigen Strähne meines schulterlangen Haares und knetete sie zwischen den Fingern. Die Extensions trug ich schon lange nicht mehr. Aber schneiden lassen hatte ich mir das Haar auch nicht. So kam es, dass die Spitzen meines nachwachsenden, hellbraunen Haares noch immer blond waren. Es sah ein bisschen gescheckt aus, aber es hätte mir nicht gleichgültiger sein können. Josh hätte bestimmt irgendetwas Neckendes dazu zu sagen gehabt, doch nach unserer Verabredung im Hilton war er aus meinem Leben verschwunden. Seine Sachen aus unserer gemeinsamen Wohnung hatten seine Eltern abgeholt. Seither chatteten sie ab und zu mit Mom und erkundigten sich nach mir.

Jedenfalls trug ich inzwischen auch keine löchrigen Leggings mehr oder Hotpants, die gerade so meinen Po bedeckten, keine Rüschenblusen zu Nietenstiefeln, auch kein bauchfreies Shirt zum Minirock. Ich war auf Jeans und T-Shirts umgestiegen, die Tattoos auf meinen Armen wirkten so deplatziert wie auf der makellosen Haut eines Kleinkindes. Doch in mein altes Ich konnte ich nicht zurück. Nicht ohne Josh.

Der Typ neben mir tippte mich an. Er deutete zum Fenster. »Ist das Island?«

Am Horizont war ein Streifen Land aufgetaucht. Eben leuchteten die Anschnallzeichen über unseren Köpfen auf.

»Davon ist wohl auszugehen«, sagte ich und hob die Schultern.

Der Flughafen schien im Nirgendwo zu liegen. Außer der Landebahn inmitten der hellgrünen Weite neben dem Meer war nichts zu entdecken. Hellgrün und Blau – Mamas Lieblingsfarben. Sofort tauchte ihr besorgtes Gesicht, das sie in den Tagen vor meiner Abreise überhaupt nicht mehr absetzen wollte, vor meinem geistigen Auge auf. Sie hielt diese Reise für viel zu früh für meine »Verfassung«. Und den Grund dafür, dass ich dieses Abenteuer antrat, »haarsträubend«. Dabei war dieser Trip meine letzte Chance. Wenn ich Josh meine Liebe bewies, indem ich für ihn auf dieser Insel nach seinen Wurzeln suchte, würde er vielleicht zu mir zurückkehren. Versuchen musste ich es.

Der Mann neben mir räusperte sich und stupste mich in die Seite.

»Ja?«, fragte ich und bemühte mich, nicht die Augen zu verdrehen.

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, ein Foto zu knipsen?«, fragte er und reichte mir sein Handy. Die Profikamera auf seinem Schoß schien er mir nicht anvertrauen zu wollen. »Fürs digitale Fotoalbum.« Er deutete nach draußen. »Vom Landeanflug.«

Ich nahm das Handy und hielt es vor die Scheibe. Ein Streifen Tragfläche war nicht zu vermeiden. Der pinkfarbene Werbeslogan der Fluggesellschaft gab dem Ganzen die nötige Würze.

Mein Sitznachbar war anderer Meinung, als ich ihm das Smartphone zurückgab. »Ein bisschen blauer Himmel wäre klasse«, bat er und reichte mir noch einmal das Gerät.

»Kein Problem«, erwiderte ich. »Geht klar.«

Ich wählte die Diagonale. So bekam er etwas Himmel und etwas Land. Josh hätte das gefallen.

Abermals blickte mein Nachbar aufs Display und nickte halbwegs zufrieden. »Okay, danke.«

Nun klappte auch die Frau neben ihm das Buch zu und steckte es in ihre Tasche, die sie ordnungsgemäß unter dem Vordersitz verstaute. Dann lächelte sie uns zu und sagte: »Da wären wir.«

Mein Sitznachbar schloss die Augen und krallte sich an seiner Kamera fest – seine Knöchel traten weiß hervor.

Ich lächelte in mich hinein. Vorm Sterben hatte ich keine Angst mehr. Es hatte Momente gegeben, da hatte ich mir nichts mehr gewünscht als das.

2

Die Größe des Flughafengebäudes war im Gegensatz zu denen, die ich aus den USA kannte, überschaubar. Hier herrschte nicht dieses Kommen und Gehen, dieses Aneinandervorbeihetzen und sich Anrempeln, hier telefonierte niemand hektisch mit einem Geschäftspartner – um genau zu sein, hatte ich noch niemals so wenige Menschen an einem Flughafen gesehen. Es schien, als sei unsere Maschine als einzige hier gelandet, und nun schritten alle gesittet wie eine Herde Zebras auf dem Weg zur Wasserstelle in Richtung Gepäckausgabe. Ich kam gut voran – in San Diego und New York war ich kurz davor gewesen, einen Service in Anspruch zu nehmen, der Leute wie mich, die nicht so gut zu Fuß waren, über den Airport beförderte: Meine Hüfte machte mir bei längeren Strecken noch immer erheblich zu schaffen, besonders, wenn ich lange gesessen hatte. Doch bisher war ich für solche Dinge zu stolz gewesen und hatte es alleine geschafft. Erwartungsvoll starrte ich auf die Stelle, an der das Förderband die Gepäckstücke ausspuckte – als Kind hatte ich mir immer vorgestellt, dahinter verberge sich das Maul eines Drachen, dem übel geworden war.

Als Joshs Gitarre zum Vorschein kam, humpelte ich an das Band und nahm sie vorsichtig herunter, kurz darauf meinen Koffer. Beides lud ich auf einen Gepäckwagen und gelangte nach wenigen Gehminuten durch die Korridore zum Ausgang – vorbei an ein paar Restaurants und Klamottenläden, deren Auslagen selbst jetzt im isländischen Frühling bunte Wollpullover schmückten.

In der Eingangshalle warf ich einen Blick nach draußen auf den Parkplatz vor dem Gebäude und hielt nach Bussen mit der Aufschrift Flybus Ausschau. Fünfzig Minuten dauerte die Fahrt nach Reykjavík, genügend Zeit, um noch ein bisschen die Augen zu schließen – diese Info sowie das Busticket hatte ich von der Stewardess erhalten. Ich plante jedoch nicht, noch einmal zu schlafen, sondern wollte die Landschaft dieses fremden Landes bewundern, in dem ich die nächsten zwei Wochen verbringen würde.

Als ich ins Freie trat, wehte mir überraschend kühle Morgenluft entgegen, und ich zog meine Jacke enger. Ich kannte mich mit den Jahreszeiten auf dieser Insel nicht gut aus, doch hatte ich bei meinen Recherchen nicht gelesen, im Mai begänne die heißeste Zeit des Jahres?

»Na, auch schon hier?« Mit diesen Worten tauchte der Mann, der neben mir im Flieger gesessen hatte, an meiner Seite auf und musterte mich. Vermutlich hatte er bereits beim Ausstieg aus dem Flugzeug bemerkt, dass ich das Bein nachzog. Jetzt begutachtete er auch endlich eingehend die Narbe auf meiner Augenbraue. Was ist der denn passiert?, las ich seine Gedanken.

»Wissen Sie, welchen Bus wir nehmen müssen?«, fragte ich und wich seinem Blick aus. Er hatte ebenfalls ein Busticket bei der Stewardess gekauft.

Er deutete auf eine Reihe Reisebusse in einiger Entfernung. »Die Flybusse stehen dort drüben.«

Ich nickte und setzte mich in Bewegung.

»Soll ich Ihnen mit dem Gepäck behilflich sein?«, fragte er. »Den Wagen müssen Sie hier stehen lassen.«

Damit hatte er natürlich recht. Ich legte den Kopf schräg und sagte höflich – eine Eigenschaft, die mit der »Wesensveränderung«, die Mom mir seit den Ereignissen vor einem Jahr attestiert hatte, einherging –: »Ich komme wirklich gut alleine klar. Aber riesigen Dank für Ihre Hilfsbereitschaft.«

Mit diesen Worten nahm ich Joshs Gitarrenkasten und meinen Koffer vom Wagen. Die Gitarre hängte ich mir über die Schulter, den Rollkoffer zog ich hinter mir her.

Der Mann ging an mir vorbei, offenbar hatte ich ihn trotz aller Höflichkeit gekränkt. Wie alt mochte er sein? Mindestens zwanzig Jahre älter als ich. Sah ich aus, als ob ich mit einem Mittvierziger anbändeln würde, nur weil ich nicht gut zu Fuß war?

Im Bus angekommen, ließ ich mich mit Joshs Instrument im Arm auf den ersten freien Sitz hinter dem Fahrer fallen. Wir warteten auf weitere zusteigende Fahrgäste, ehe es endlich losging und der Bus vom Parkplatz rollte. Er bog auf eine Landstraße ein – die einzige Straße weit und breit.

Ich sah aus dem Fenster und betrachtete die endlos scheinende Weite. Nun war ich also hier. Wieder erfasste mich eine leise Aufregung: Wie würde ich mich fühlen, wenn ich in zwei Wochen zurückkehrte? Was würde ich erreicht haben? Würde ich die Gitarre noch immer bei mir tragen oder sie jemandem übergeben haben? Und wo würde ich die Menschen finden, die ich suchte? Auf den Internetbildern hatte die Insel gar nicht so klein ausgesehen. Allerdings war ich bis zu meiner Abreise gar nicht in der Lage gewesen, mich intensiver damit zu beschäftigen. Ich hatte bis zur letzten Minute gehofft, Josh würde sich bei mir melden und wir würden die Reise wie geplant gemeinsam antreten. Doch das war nicht geschehen.

Ich sah aus dem Fenster über sattgrüne Wiesen hinweg, die sich bis zum Meer hinstreckten, und auf denen Gehöfte wie wahllos hingeworfene Spielsteine lagen, dazwischen Ansiedlungen mehrerer Häuser – doch nichts schien einer Ordnung zu folgen. Der Zustand der Gebäude überraschte mich. Ich hatte farbenfroh gestrichene Bauten erwartet, etwas, das man gemeinhin als »skandinavisch« bezeichnete, auch wenn ich dort noch nie gewesen war. Diese Behausungen hier wirkten trostlos. Weißgestrichene, mit Wellblech beschlagene Häuser. Die Dächer ebenfalls aus weißem Metall. Dazwischen kein Baum und kein Strauch. Wo war denn die legendäre atemberaubende Landschaft?

Erschöpft schloss ich die Augen. Allein der Gang vom Flugzeug zum Bus war anstrengend gewesen. Würde ich es schaffen herumzureisen, wenn ich in Reykjavík nicht fand, was ich suchte? Es gab nicht einmal Bahnverkehr auf der Insel, hatte Mom gewarnt, die – das war zumindest mein Verdacht – nur danach zu googeln schien, was auf meiner Reise beschwerlich werden könnte. Auch keine Fernbusse, wie wir sie kennen, nur solche, die auf einer Ringstraße an der Küste entlang hielten, und die lediglich für Zelttouristen und Menschen, die gut zu Fuß sind, geeignet wären. Zudem war sie strikt dagegen, dass ich Auto fuhr, meinte, es sei noch zu früh – auch wenn ich fand, dass es langsam Zeit wurde, wieder damit anzufangen. Moms Warnungen hatten mich jedenfalls nicht von meiner Mission abbringen können. Ich musste diese Davidssons finden, deren Urahne den seltsamen Vornamen Eyvindur trug, wie Josh mir einmal erzählt hatte.

»Was willst du von diesen armen Leuten?«, hatte Mom gefragt. »Es wird sie kaum beeindrucken, dass jemand in Amerika ihren Nachnamen trägt. Stell dir vor, hier stünde plötzlich so jemand vor der Tür. Den würde ich zum Teufel schicken!« Mom schickte rasch Leute zum Teufel. Zum Beispiel meinen Dad, als er ein paar Probleme bekam und öfter zu tief ins Glas schaute.

Aber Josh hatte vor unserem schrecklichen letzten Abend unbedingt hierher gewollt. Es war seine Überraschung für mich gewesen: eine Reise nach Island. Er hatte mir das Land seiner Urahnen zeigen wollen, hatte gehofft, dass es noch Davidssons aus seiner Linie gab.

Insgeheim vermutete ich, dass er nebenbei hatte feststellen wollen, ob seine musikalische Ader vielleicht von hier stammte. In seiner direkten Linie der amerikanischen Vorfahren gab es nämlich keinen einzigen Angehörigen mit Rhythmus im Blut. Möglicherweise hatte er gedacht, hier einen Seelenverwandten zu finden. Er suchte immer nach neuen Einflüssen für seine Musik, hatte sogar einen Song geschrieben, der so ganz anders klang als das, was er sonst komponierte: Isländisch womöglich. Anything can happen hieß das Lied. Vielleicht war der Titel ein gutes Omen? Jedenfalls musste ich die Spurensuche für ihn übernehmen. Vielleicht kehrte er dann zu mir zurück?

»Recherchiere doch erst mal im Internet«, hatte Mom vorgeschlagen. Doch das würde Josh bestimmt nicht gelten lassen. Nein, ich wollte diesen Davidssons persönlich Joshs Song vorspielen. Es war das einzige Musikstück, das ich spielen konnte – ich hatte monatelang mit Lance, einem von Joshs Bandmitgliedern, dafür geübt.

Was Mom am allerwenigsten verstanden hatte, war die Tatsache, dass ich für diese »Schnapsidee« in meinem Leben feststeckte und »einfach nicht in die Realität zurück« fand. Darüber hinaus hatte ich auch noch eine Einladung zu Wiebke nach Mallorca sausen lassen. Meine deutsche Freundin, die ich während meiner und Joshs Reise nach Irland kennengelernt hatte, heiratete bald auf dieser Mittelmeerinsel, auf der sie mit ihrem Freund lebte. Sie erwarteten ein Baby und waren voller Vorfreude. Zu viel Freude für mich – doch das hatte ich weder Wiebke noch Mom gestanden.

Als ich zu mir kam, rüttelte jemand an meiner Schulter.

»Wir sind da, junge Frau«, raunte der Fahrer und sah mich aufmunternd an. »Sie müssen aussteigen.«

Ich schluckte und rappelte mich auf die Füße, reckte die steifen Glieder, griff nach der auf den Boden gerutschten Gitarre. Mist. Ich hatte doch aus dem Fenster schauen wollen. Die fremde Landschaft bewundern, jedes noch so kleine Detail dieses Landes in mich aufsaugen, um Josh davon berichten zu können. Noch während des Aussteigens stellte ich fest, dass dieser Busbahnhof ebenso wie der Flughafen einsam dalag. Nur ein paar wenige Häuser befanden sich in der Nähe. Nach Innenstadt sah es hier nicht gerade aus.

»Ist es weit bis in die City?«, fragte ich und hielt das Instrument umklammert, während der Mann mir meinen Koffer aus dem Laderaum reichte.

Der Fahrer deutete an dem vor uns liegenden Gebäude vorbei und sagte: »Zehn bis fünfzehn Minuten zu Fuß, Sie können den Hinweisschildern folgen. Oder Sie lassen sich fahren: Bushaltestellen und einen Taxistand finden Sie gleich hinter dem Gebäude.«

Ich überquerte den mit Schotter bedeckten Parkplatz in die Richtung, in die der Mann gezeigt hatte. Mein Rollkoffer holperte schwerfällig über den knirschenden Kies, sodass ich glaubte, die Rollen würden jeden Moment schlappmachen. Doch daran, ihn zu tragen, war nicht zu denken – ich hatte schon so die größte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Meine Hüfte schmerzte wieder fürchterlich.

Schon von weitem erkannte ich meinen Sitznachbarn aus dem Flugzeug. Er schien unschlüssig, ob er ein Taxi oder den Bus nehmen sollte, sah zwischen beiden Haltestellen hin und her. Vielleicht konnte er sich wie ich kein Taxi leisten. Mein Reisebudget war knapp kalkuliert. Ich hatte ewig keinen Job angenommen, hatte stattdessen unentwegt Joshs Song auf der Gitarre geübt. Außerdem lag ich mit all meinen Handicaps nicht mehr ganz im Beuteschema der Produzenten. Und die Einnahmequelle, von der ich geglaubt hatte, dass Josh sich darüber freuen würde – nun, man konnte mich nach allem, was geschehen war, wenigstens nicht wegen Vertragsbruchs verklagen

Schwer atmend wollte ich an dem Typen vorbeilaufen, um zur Bushaltestelle zu gelangen.

»Sie wollen auch in die City?«, fragte er.

Ich nickte.

Er streckte mir die Hand entgegen. »Gregory übrigens. Sag einfach Greg zu mir.«

»Claire.«

Ob ihm schon mal jemand gesagt hatte, dass …

»Ich weiß, ich sehe aus wie Donald Trump. Das ist ein echtes Problem. Die Leute begegnen mir mit einer gewissen Skepsis.«

Ich grinste. »Tut mir leid, dass es so offensichtlich war.«

»Dafür siehst du aus wie Natalie Portman.«

Das hatte ich auch schon öfter gehört. »Danke«, sagte ich, obwohl das jedes Mal total unangebracht war.

»Wo musst du hin?«

Ich kramte in meiner Tasche nach dem Papier, das Mom mir gegeben hatte. Sie hatte mir angeboten, ein Zimmer für mich zu buchen, nachdem sie bemerkt hatte, dass ich nicht von meinem Plan abzubringen war, aber schon in Tränen ausbrach, wenn ich auf den Hotelportalen eingab, Alleinreisende zu sein. Sie fand ein Bett in einem Viererzimmer in einem Hotel namens Flex für mich – auf dem Papier stand die Adresse, dabei ein kleiner Lageplan. Es lag ganz nah am Hafen.

»Skúlagata. Es gibt in der Nähe eine Bushaltestelle.«

Mein Gegenüber blickte auf den Zettel und nickte. »Das würde bei mir auch passen.« Während wir zur Haltestelle liefen, sagte er: »Dass du da noch ein Zimmer bekommen hast, ist ja super. Ich hab dort schon vor Wochen angefragt und sie waren voll. Jetzt übernachte ich viel teurer. Aber ist ja sonst nichts mehr zu kriegen.«

»Nicht? Ist Reykjavík so begehrt?«

Er warf mir einen vielsagenden Blick zu. »Wir stehen kurz vorm isländischen Sommer. Absolute Hochsaison. Du bekommst auf der ganzen Insel kein Zimmer mehr. Also jedenfalls kein bezahlbares. Das Land ist berstend voll mit tausenden von Touristen. Island boomt seit Jahren, besonders seit der Fußballeuropameisterschaft; die kommen mit dem Hotelbau nicht hinterher.«

»Wow.« Der Zusammenhang war mir nicht geläufig.

»Wann hast du dein Flugticket gekauft?«, wollte er wissen. »War doch bestimmt auch sauteuer.«

»Ich … es war ein Geschenk.« Mom hatte die Kosten für das Ticket übernommen und mir sogar noch etwas Geld geliehen. Nach allem, was wir die letzten Monate durchgemacht hatten, hätte sie mir wahrscheinlich auch eine Reise zum Mond finanziert, in der Hoffnung, mich beim Anblick des Planeten Erde ein einziges Mal lächeln zu sehen.

Greg deutete auf einen herannahenden Bus. »Das müsste unserer sein. Fährt ins Stadtzentrum.«

Nachdenklich betrachtete ich den Bus und dachte an meinen Trip nach Irland. Damals stand ich mit Wiebke an einer Bushaltestelle, und der Bus brauste an uns vorbei, weil wir dem Fahrer kein Zeichen gegeben hatten. Ob das hier auch so war? Vorsichtshalber reckte ich meinen Arm auf die Straße. Greg musterte mich neugierig. »Das ist kein Taxi«, sagte er. »Der nimmt alle mit.«

Ich verdrehte die Augen und griff nach meinem Koffer, als der Bus neben uns zum Stehen kam. Viele Fahrgäste waren nicht darin. Warum auch, an einem Sonntagmorgen?

»Fahren Sie in die City?«, fragte ich vorsichtshalber, bevor ich einstieg.

Der Busfahrer nickte und bat mich um vierhundertvierzig Kronen. Glücklicherweise trug ich ein ganzes Bündel der Währung in meinem Portemonnaie, und ich blätterte ihm einen Fünfhunderter hin. Das Wechselgeld steckte ich in meine Jackentasche.

Greg verstaute unsere Koffer und Joshs Gitarre in einer Bank und dirigierte mich in die davor. Dann quetschte er sich neben mich. Nötig wäre das nicht gewesen, bei all diesen freien Plätzen. Ich nahm die Kopfhörer und mein Handy aus meiner Handtasche, dann stellte ich sie zwischen meinen Füßen ab – neben mir blieb kein Platz mehr.

Ohrstöpsel rein, Musik an. Eben fiel dem Typen der Deckel seines Kameraobjektivs auf den Boden. Bei dem Versuch, es aufzuheben, nahm er noch mehr Platz ein. Endlich, er hatte er es geschafft, das Ding zutage zu fördern.

Als er wieder gerade saß, deutete er aus dem Fenster und rief: »Siehst du das Plakat? Das ist die berühmteste Sängerin Islands.«

Ich schielte zu dem Anschlag und fasste die ungewöhnlich geschminkten Augen der Frau ins Auge. Wie war ihr Name? Björk.

»Und die ist sehr bekannt?«, fragte ich.

Er nickte nachdrücklich. »Aber ja. Weltbekannt.«

Möglicherweise hatte Josh ihren Namen schon einmal erwähnt, allerdings tat er sich schwer mit der Aussprache von Umlauten. Mir ging es nicht anders.

»Björk«, blökte Greg auch schon übertrieben, als erwarte er, dass ich ihm nachsprach.

Ich zwang mich zu einem dankbaren Lächeln.

Einmal tief einatmen. Und wieder aus.

In Momenten wie diesen, wenn Mitmenschen mir auf die Nerven gingen, vermisste ich Josh so entsetzlich, dass es körperlich wehtat. Die Leute sagten immer, ich sei noch jung, erst fünfundzwanzig, und das ganze Leben läge noch vor mir – doch so fühlte es sich einfach nicht an. Es fühlte sich viel eher an, als läge es hinter mir. Weil ich nie zu schätzen gewusst hatte, welch saumäßiges Glück ich gehabt hatte, als ich Josh kennenlernte. Diesen Typen, der mir flatterhaftem Wesen so viel Halt gab, dass ich es gerade noch aushielt. Doch mit der Zeit hatte ich nach immer mehr Nähe verlangt und mich immer öfter darüber beschwert, dass er zu wenig Zeit für mich hatte; hatte Angst gehabt, er könnte sich in eines seiner Groupies verlieben und mir den Laufpass geben, weil ich mich niemals darum bemühte, ihm zu gefallen. Dass ihm genau das an mir gefiel, begriff ich erst auf unserem Trip nach Irland – danach waren wir zusammengezogen, und ich hatte mit ihm die beste Zeit meines Lebens verbracht. Ich vertraute ihm. Darauf, dass er mich liebte, darauf, dass er mich nie verlassen würde, so wie Dad es getan hatte. Sicher, Mom hatte es meinem Vater nicht leicht gemacht. Aber weshalb hatte er es akzeptiert, von ihr fortgeschickt zu werden? Obwohl es mich gab! Jahrelang glaubte ich, es sei alles meine Schuld gewesen, hatte, um es wiedergutzumachen, immer wieder Typen aufgegabelt, die ein Alkohol- oder sonstiges Problem hatten, in der irrigen Annahme, ich könnte sie retten. Ich hielt mich mit allen möglichen Jobs über Wasser, statt etwas »Anständiges« zu tun, weil ich mir und diesen Kerlen beweisen wollte, dass man auch ohne geradlinigen Lebenslauf für sich selbst sorgen konnte.

Josh ließ mich machen; jedenfalls bis zu jenem Abend vor einem Jahr. Schon länger hatte er mich gedrängt, mich am College einzuschreiben und Kurse in Social work zu belegen, einen Abschluss als Sozialarbeiterin zu erreichen, weil mir das lag. Ja, es lag mir. Aber ich war es jahrelang gewohnt gewesen, genau das Gegenteil von dem zu tun, was andere von mir erwarteten, sodass ich von vornherein jeden Vorschlag, der an mich herangetragen wurde, ausschlug, war er auch noch so klug.

Warum nur hatte ich nicht auf Josh gehört? Stattdessen sagte ich bei dieser Produktion zu, von der ich dachte, sie fände seine Anerkennung. Wie dumm von mir. Wie schrecklich naiv. Und als wäre das nicht genug, hatte ich auch noch sein Leben zerstört. Würde er jemals wieder mit mir sprechen? Diese Möglichkeit hielt ich für aussichtslos, es sei denn, er erfuhr, dass ich für ihn in Island gewesen war. Das würde ihn doch umstimmen müssen?

Mom hielt das anscheinend nicht für wahrscheinlich. Sie unternahm etliche Anläufe, mit mir über Josh zu reden. Darüber, dass manche Dinge »einfach nicht zu ändern« seien. Doch das konnte ich nicht akzeptieren. Wenn ich diese Hoffnung aufgab – welche hatte ich dann noch im Leben?

»Wir sind da«, sagte Greg und tippte mich an. Glücklicherweise hatte er die kurze Fahrt über geschwiegen, wenn er auch andauernd fotografiert hatte – vorzugsweise an mir vorbei, wobei er noch näher zu mir heranrückte, als ohnehin schon. Aber jetzt würden sich unsere Wege endlich trennen.

Wir hielten in einer schmalen Einkaufsstraße, die Gebäude einstöckig und farbig gestrichen. Es sah einladend, wenn auch verlassen aus – die Schaufenster der Geschäfte lagen im Dunkeln. Das würde sich sicher bald ändern; die Uhren am Flughafen hatten halb sieben gezeigt.

Ich schob mich nach Greg aus dem Sitz, klaubte die Handtasche vom Boden und stieg hinter meinem Begleiter aus dem Bus. Draußen angekommen sah ich auf den Hotelplan. Die See und der Hafen – und damit meine Unterkunft – lagen ganz nah. Wie sehr ich mich auf ein Bett freute!

Nachdem der Bus weitergefahren war, gaben wir uns die Hand.

»Ich könnte mitkommen und dir mit deinem Gepäck helfen«, bot Greg an. »Wäre kein Ding.«

»Mein Koffer hat Rollen und die Gitarre hänge ich mir über.«

Er lächelte wissend und deutete auf mein Bein. »Du solltest es nicht übertreiben.« Er kramte in der Innentasche seiner Jacke und reichte mir kurz darauf eine Karte. »Falls es mal irgendwelche Probleme geben sollte … ich habe hier ein paar Kontakte, die immer mit guten Ratschlägen zur Seite stehen.«

Achtlos nahm ich die Karte entgegen und steckte sie in meine Jackentasche. »Vielen Dank für deine Hilfe, aber ab hier schaffe ich es wirklich alleine.«

Er nickte. »Na dann. Alles Gute.«

»Gute Reise, Greg.«

Endlich ließ er mich allein.

3

Nach fünf Minuten Fußweg, der mir schwerer fiel, als ich mir eingestehen wollte, fand ich das Flex. Das Gebäude erinnerte an eine alte Fabrik, Fischkonserven vielleicht, möglicherweise auch Eingemachtes. Eine breite Treppe führte zum Eingang mit Drehtür. Schwer atmend kam ich oben an und schleppte zuerst den Gitarrenkasten, dann den Koffer hinein.

Die Empfangshalle war im Retrostil gehalten: Ein heller Linoleumboden, graue Betonwände, eine senfgelbe Sitzgruppe davor, darüber der Fotodruck einer Stadt am Meer – vermutlich Reykjavík – in kräftigen Farben.

Hinter der Rezeption aus dunklem Holz unterhielt sich eine blonde Frau, der ein dicker geflochtener Zopf über die Schulter fiel, mit einem Gast. Sie trug eine gelbe Uniform, die mit dem Farbton der Sitzgelegenheiten harmonierte. Die Lobby ging in eine Bar über, mehrere Tische standen wie zufällig verteilt – offenbar der Frühstücksraum. Hinter der Bar presste ein Mann Orangen aus. Die Frau am Empfang war ungefähr in meinem Alter. Der Gast, mit dem sie sprach, lehnte mit den Unterarmen auf dem Tresen, seine Stimme klang unfreundlich. Vielleicht war er doch kein Gast. Die Art und Weise, wie das Mädchen nun die Arme verschränkte, sprach für etwas Privates.

Sie versuchte sich an einem Lächeln in meine Richtung, bemerkte mit einem Wimpernschlag mein Hinken und meine vernarbte Braue. Dann blieb ihr Blick an dem Gitarrenkasten über meiner Schulter hängen.

»Guten Morgen«, begrüßte sie mich auf Englisch, »womit kann ich Ihnen behilflich sein?« An ihrer Brusttasche prangte ein Schild mit der Aufschrift You’re talking to Ida.

»Claire Gallagher«, stellte ich mich vor, »meine Mutter hat für mich reserviert. Amanda Gallagher heißt sie.« Ich schob ihr den Computerausdruck hin.

Ida sah zuerst auf den Zettel und dann auf den Bildschirm ihres Computers. »Mal sehen …«, murmelte sie.

Ihr Englisch, so viel ich bisher davon gehört hatte, war exzellent. Keine Spur von einem Akzent.

Sie scrollte über den Monitor, dann warf sie noch einmal einen Blick auf meinen Zettel und schob ihn zu mir zurück. Ihre Miene verhieß nichts Gutes.

»Wir haben leider keine Reservierung auf Ihren Namen vorliegen«, sagte sie prompt und hob bedauernd die Schultern. Dann tippte sie auf das Papier. »Es gibt zwar einen E-Mail-Wechsel zwischen uns und Ihrer Mutter. Sie hatte ein Zimmer angefragt. Aber nicht gebucht. Das hier ist nur ein Ausdruck unseres Impressums.« Sie sah mich entschuldigend an.

»Das kann nicht sein«, entfuhr es mir. Mom hatte mich doch noch vorgewarnt, das Bad befände sich auf dem Flur und ich müsse mir mit drei anderen weiblichen Gästen das Zimmer teilen. Wie hatte sie denn diese Details wissen können? Genau das fragte ich mein Gegenüber.

»Vielleicht hat sie angerufen und diese Information erhalten«, vermutete Ida. »Aber das Entscheidende fehlt eben. Wir haben nicht mit Ihnen gerechnet. So leid es mir tut.«

Ich hatte Mom nicht einmal nach einer Bestätigung gefragt, ihr einfach vertraut. Wie hatte ihr ein solcher Fehler passieren können? Sie war doch ein Profi, arbeitete seit Jahren als Sekretärin.

Oder hatte ich mich im Hotelnamen geirrt?

»Gibt es womöglich noch ein anderes Hotel dieses Namens?«, fragte ich.

Ida schüttelte den Kopf. »Das wäre mir neu.«

»Gut«, sagte ich fest, um meine Unsicherheit zu verbergen, »aber Sie haben doch sicher noch ein Bett frei? Wenigstens für eine Nacht? Ich kann mir ja dann morgen etwas anderes suchen.«

Überraschend schaltete sich der Mann zu meiner Linken ein: »Verstehen Sie Ihre eigene Sprache nicht?«, fragte er ungeduldig. »Es gibt kein Zimmer.«

Ehe ich etwas entgegnen konnte, sagte das Mädchen etwas auf Isländisch zu ihm. Dann wandte sie sich wieder mir zu: »Wir haben wirklich kein einziges freies Bett. Und woanders eines zu bekommen dürfte schwierig werden.«

»Sie meinen, alle Hotels sind ausgebucht?«, hakte ich nach.

»Nein, nein. Es gibt bestimmt noch Zimmer. Die sind nur nicht ganz billig.«

»Und was ist mit privat?«, fragte ich ratlos. Es gab einschlägige Portale. Womöglich würde es mit etwas Mühe verbunden sein, aber ich hatte ja den ganzen Tag Zeit. Vielleicht gab es hier einen Computer für die Gäste. Ich würde in aller Ruhe …

»Ich würde gern mit meiner Freundin weiterreden, wenn es Sie nicht allzu sehr stört«, sagte der Mann jetzt.

Ida legte ihm die Hand auf den Arm. »Bitte geh heim, Gunni«, bat sie auf Englisch und redete dann in ihrer Sprache weiter.

Während sie sprach, warf er mir einen spöttischen Blick zu.

»Nein, ich warte«, entgegnete er. »Ich habe Zeit.«

»Das Problem mit den freien Zimmern ist«, fuhr Ida bewundernswert geduldig fort, »dass neben den Touristen auch jede Menge ausländische Studenten die Stadt bevölkern und somit auch die Privatzimmer restlos ausgebucht sind. Sie bräuchten schon jede Menge Glück …«

Anscheinend schätzte sie mein Glückspotenzial nicht besonders hoch ein. Niedergeschlagen sah ich sie an, doch dann fiel mir etwas ein: Mom hatte mich doch sogar nach meinen Kreditkartendaten gefragt? Eilig wühlte ich in meiner Tasche, um Ida die Karte zu reichen. Bestimmt lag ein Missverständnis vor. Falscher Name, aber richtige Kreditkartennummer – oder so etwas in der Art. Hektisch durchforstete ich noch einmal meinen Beutel, bis ich den Inhalt schließlich auf den Tresen kippte. Wo war denn bloß mein Portemonnaie? Fassungslos starrte ich auf das Sammelsurium aus Quittungen, Tampons und Kaugummipapier. Was fehlte, war meine Geldbörse. Und damit mein Geld, meine Kreditkarte, meine Papiere.

Auf einmal war mir speiübel. Wieder wühlte ich in meiner Tasche.

»Das darf doch nicht …«, murmelte ich und kämpfte gegen die aufsteigende Panik an. War das ein Déjà-vu? In Irland war mir mein Portemonnaie gestohlen worden. Hier verlor ich es? Es musste im Bus liegen! Herausgefallen, als ich meinen Beutel auf dem Boden abstellte. Ich Rindvieh!

»Hören Sie«, sagte ich zu Ida, »ich habe offenbar meine Geldbörse im Bus verloren. Könnten Sie vielleicht bei der Busgesellschaft für mich anrufen? Es müsste sie ja jemand gefunden haben!«

Der Mann, den Ida Gunni genannt hatte, lachte auf. »Das wird ja immer besser. Ist das hier versteckte Kamera?«

Ich blitzte ihn zornig an und schob den Unterkiefer vor. Ida hingegen ignorierte ihn weiterhin.

»Welche Strecke sind Sie denn gefahren?«, wollte sie wissen.

»Vom Busbahnhof ins Zentrum.«

Sie scrollte wieder mit der Maus über den Bildschirm, klickte ein paarmal hin und her. Dann wählte sie eine Nummer und sprach kurz darauf in dieser seltsam klingenden Sprache in den Hörer. Dann fragte sie mich: »Um wie viel Uhr hielt der Bus, sagten Sie?«

»Es muss vor etwa einer halben Stunde gewesen sein.«

Ida sprach weiter, dann sagte sie zu mir: »Ich soll Ihre Telefonnummer hinterlassen. Man ruft Sie an, falls sich etwas findet. Bis jetzt gab es noch keine Meldung.«

Eilig kritzelte ich die Ziffernreihe auf einen Block, und Ida gab sie an die Busgesellschaft weiter.

Als sie auflegte, sah sie mich aufmunternd an. »Vielleicht hat noch niemand Ihre Geldbörse bemerkt, es ist ja auch noch früh, und sonntags ist um diese Zeit in den Bussen wenig los. Bestimmt meldet sich der Fahrer bald, es wird jetzt an alle gemeldet.«

Ich nickte und versuchte, die Panik abzuschütteln, die mich erfasste. Nicht auszudenken, wenn ich mein Geld und meine Papiere nicht wiederbekam.

»Danke, dass Sie für mich angerufen haben«, bemühte ich mich, Ruhe zu bewahren. »Bestimmt haben Sie recht und es findet sich ganz schnell.« Ich betrachtete verstohlen ihren Freund, der eben mit den Fingern auf den Tresen trommelte, wagte mich trotzdem, sie noch einmal um etwas zu bitten: »Könnten Sie vielleicht versuchen, mir bei der Zimmersuche zu helfen?«

Gunni neben mir schnaubte und verdrehte die Augen.

Ida würdigte ihn keines Blickes. »Am besten, Sie gehen zu einer der Touristeninformationen. Die erste liegt zehn Minuten von hier und hat bereits geöffnet.« Sie deutete nach draußen und machte eine abbiegende Handbewegung. »Links die Straße hinunter, dann die zweite rechts. Schon sind Sie dort.«

»Das mache ich«, sagte ich und nickte.

Eben trat eine Gruppe Jugendlicher aus dem Fahrstuhl und bewegte sich auf die Tische im Frühstücksraum zu. Die Jungs und Mädchen lachten unbeschwert, es gab ein Gerangel um freie Plätze. Neidvoll sah ich sie an. Sie wirkten so ausgelassen und unkompliziert. Vielleicht würden sie mir erlauben, in ihrem Zimmer zu schlafen? Ich könnte eine Luftmatratze besorgen. Viel brauchte ich doch gar nicht. Sollte ich sie einfach ansprechen?

Bist du noch ganz gescheit? Das sind Freunde, die brauchen kein Anhängsel.

Das war vermutlich eher Moms Stimme statt meiner. Aber recht hatte sie trotzdem.

»Darf ich mich mal setzen?«, bat ich Ida matt und wankte zu der senfgelben Sitzgruppe. Gleich würde ich zur Touristeninformation gehen. Nur mal ein kleines Päuschen.

»Möchten Sie vielleicht einen Kaffee auf diesen Schreck?«, fragte Ida, und Gunni sagte etwas auf Isländisch, tippte sich an die Stirn.

Sie zeigte ihm die kalte Schulter und sah mich fragend an.

Ich hauchte ein »Oh ja, furchtbar gern« und ließ mich in einen der bequemen Sessel fallen. So verlassen hatte ich mich seit Wochen nicht gefühlt. Vor meiner Abreise hatte ich mich mit meiner Vorfreude beschäftigt. War so voller Hoffnung hierher gekommen. Und jetzt das. Was für ein Fehlstart.

Als der Barmann mir einen Milchkaffee brachte, lächelte ich ihn dankbar an und nahm einen Schluck. Die Milch schmeckte anders als zu Hause. Ich fügte zwei Löffel Zucker hinzu, dann trank ich abermals. Schon besser.

Ida und Gunni diskutierten wieder. Das Mädchen sah irgendwie in die Enge gedrängt aus. Und unglücklich. Vermutlich wusste sie nicht, wie sie ihn ohne großes Tamtam aus dem Hotel befördern sollte. Er schien sehr hartnäckig zu sein. Eben griff er über den Tresen hinweg nach ihrem Arm. Dann stürmte er nach einem kurzen Wortgefecht aus der Drehtür.

Ich lehnte mich in den Sitz zurück und schloss die Augen. Dachte an mein riesiges Pech.

Was würdest du tun, Josh?

Er hätte sicher kein Problem damit gehabt, ein Zelt zu kaufen und sich die nächsten vierzehn Tage auf verschiedenen Campingplätzen einzurichten. Bestimmt gab es hier solche Zelte, die sich durch einen Springmechanismus selbst aufbauten. Mit so einem Teil könnte ich über die Insel trampen. Oder mit einem dieser Ringbusse fahren. Einen Schlafsack würde ich besorgen, eine Isomatte und einen Rucksack. Aber mehr nicht. Meinen Kofferinhalt würde ich in den Rucksack umschichten. Die Gitarre in einem Schließfach unterstellen. Noch stand beides verloren am Empfang herum. Ob meine Hüfte für Rucksacktourismus geeignet war oder nicht – darauf konnte ich möglicherweise keine Rücksicht nehmen.

Nachdem ich den Kaffee ausgetrunken hatte, bat ich Ida, noch einmal beim Busunternehmen durchzuklingeln – doch mein Portemonnaie war noch immer nicht aufgetaucht.

»Aber der Busfahrer ist informiert?«, versicherte ich mich.

Sie lachte. »Natürlich.«

Inzwischen hatten neue Gäste die Lobby betreten und bewegten sich zum Frühstücksraum. Der Duft nach frischgebackenen Brötchen, Wurst und Käse stieg mir in die Nase. Mein Magen knurrte. Ich griff in meine Jackentasche. Reichte das Wechselgeld aus dem Bus, um mir etwas zu kaufen? Zum Essen würde das Flex mich sicher nicht einladen. Zumindest traute ich mich nicht, sie auch noch darum zu bitten.

Ganz abgesehen davon hatte ich andere Dinge zu tun.

»Darf ich mein Gepäck hier unterstellen, bis ich wieder zurück bin?«, bat ich Ida und deutete auf den Koffer und Joshs Gitarre.

»Kein Problem.«

»Dann mache ich mich jetzt mal auf den Weg zum Tourismusbüro«, erklärte ich, und sie nickte mir zu.

»Viel Erfolg.«

4

Als ich nach draußen trat und die Stufen nach unten nahm, blendete mich die Sonne. Die kühle Luft roch auf eine erfrischende Art nach Meer, wie ich sie von zu Hause nicht kannte. Meine Augen tränten vor Müdigkeit, als ich in die Straßen einbog, die Ida mir genannt hatte. Zum Glück war es wirklich nicht weit, doch meine Zuversicht schwand mit jedem Meter, den ich mich der Touristeninformation näherte. Ich besaß keine Papiere und keine Kreditkarte. Wie sollten die denn etwas für mich buchen? Dann kam mir eine Idee: Ich könnte mir Geld schicken lassen. Blitzüberweisung hieß das doch? Eilig tippte ich eine Nachricht an Mom, sagte ihr, dass ich wohlbehalten in Island eingetroffen sei und sie sich bitte telefonisch bei mir melden solle, sobald sie wach sei. Weshalb ich so dringend mit ihr sprechen musste, sagte ich ihr besser persönlich.

Atemlos lief ich weiter, versuchte, das Stechen in meiner Hüfte zu ignorieren.

Eben geriet die Touristeninformation in mein Blickfeld, und ich versenkte die Hände in den Jackentaschen, ertastete dabei Gregs Karte, die er mir bei unserer Verabschiedung übergeben hatte. Ich holte sie hervor und drehte das Papier nachdenklich zwischen den Fingern, dann steckte ich es wieder weg. So verzweifelt konnte ich gar nicht sein, dass ich ihn um Hilfe bitten würde.

Ich war die einzige Besucherin. Hinter dem Tresen des mit Prospektwänden und Trekking-Accessoires geschmückten Innenraums der Touristeninformation stand ein Typ mit blauer Schirmmütze, deren Front ein weißes, geschwungenes i zierte. Er war in einen Ordner vertieft.

»Hallo«, sagte ich und trat an den Schalter.

Er sah auf. »Hi.«

Verlegen schilderte ich ihm mein Anliegen und schloss mit den Worten: »Sie müssen mir also so schnell wie möglich helfen – das Geld wird meine Mutter schicken, sobald sie wach ist.«

»Das ist aber tricky.«

Ich sah ihn fragend an.

»So viel kann ich zumindest schon mal sagen«, begann er, »in Reykjavík bekommen Sie wirklich kein Zimmer mehr, noch nicht mal ein teures. Aber wenn wir ein bisschen außerhalb gehen, könnten wir Glück haben. Es gibt vielleicht noch das ein oder andere freie Sommerhaus.«

»Was muss ich mir darunter vorstellen?«

»Das sind Holzhäuser, meist mehrere beieinander. Unsere Landsleute verbringen dort gern ihre Wochenenden, wenn sie mal aus der Stadt rauswollen.«

Die »Stadt« war nun wirklich überschaubar klein, soweit ich das beurteilen konnte. Geradezu ländlich. Wie wurde einem die zu viel?

»Sie meinen, ich soll ein ganzes Holzhaus mieten? Oder meinen Sie ein Zimmer darin?«, vergewisserte ich mich.

»Das ganze Haus. Die haben meist vier oder sechs Betten.«

»Aber die brauche ich doch gar nicht.«

Er hob die Schultern. »Eine andere Möglichkeit wird es nicht geben.«

»Und … wie weit sind die von hier entfernt?«

»Kommt ganz darauf an.« Er tippte auf seinen Monitor. »Wir müssten eine Anfrage starten, das dauert nicht lange. Aber zwanzig, dreißig Kilometer werden Sie schon rausmüssen.«

»Fahren dort Busse hin?«

Er lachte. »Nein, Sie brauchen dann am besten einen Mietwagen. Da müsste noch was zu kriegen sein.«

Hm. Das konnte ich natürlich. Allerdings befand sich mein Führerschein im Portemonnaie. Außerdem hatte ich seit einem Jahr kein Auto gesteuert. Jetzt und hier meine erste Fahrt zu unternehmen, war mir eigentlich zu heikel.

»Und was würde das alles kosten?«, erkundigte ich mich dennoch.

»Grob geschätzt: fünfunddreißigtausend am Tag für das Haus, fünftausend für das Auto.«

»Also vierzigtausend am Tag?«

Er nickte. »Ungefähr.«

»Wie viel ist das denn in Dollars?«, fragte ich vorsichtig. Das Zimmer, von dem ich geglaubt hatte, dass Mom es für mich reserviert hatte, hätte vierzig Dollar am Tag gekostet. Das wäre erschwinglich gewesen.

Der Mann gab etwas in seine Maske ein und sagte dann: »In Dollars sind das etwa dreihundertfünfzig.«

Ich lachte ungläubig. »Am Tag?«

»Ja.«

»Das kann wohl nicht stimmen«, erwiderte ich verblüfft.

»Ich befürchte doch. Das ist sogar noch recht günstig.«

»Hören Sie«, entgegnete ich, »zu diesem Preis bekomme ich vermutlich eine Suite im Ritz. Dafür brauche ich nicht aus der Stadt raus.«

»Wir haben keine Nobelhotels. Wir sind eher bodenständig. Und selbst die teuersten Hotels sind, wie ich bereits sagte, ausgebucht.«

Ich atmete tief durch. »Dann vielleicht eine Privatunterkunft? Wie sieht es damit aus?«

Er hob bedauernd die Schultern. »Es ist nichts frei.«

»Wofür haben Sie denn eigentlich geöffnet?«, fragte ich ratlos. »Dann können Sie doch gleich schließen.«

Er lachte. »Tagestouren können Sie jederzeit buchen, dafür sind wir da. Die Kapazität ist riesig. Mit den Hotels ist man nicht ganz so schnell. Aber es werden viele neue gebaut. Wenn Sie nächstes Jahr noch einmal wiederkommen, haben Sie sicherlich mehr Glück.«

Ich verabschiedete mich mit einem Dank und trat kurz darauf zurück auf die Straße, starrte ins gleißende Sonnenlicht.

Ich war aufgeschmissen.

»Es muss doch Privatleute geben, die noch ein Zimmer frei haben«, sagte ich wenig später anklagend zu Ida im Flex, nachdem ich der hübschen Rezeptionistin die Situation geschildert hatte. Dieser armen Person musste ich mit meinen verzweifelten Fragen vorkommen wie eine Klette.

Sie erschien jedoch gar nicht genervt, sondern verzog mitfühlend den Mund. »Diese Leute gibt es bestimmt. Aber wenn die den Raum nicht gemeldet haben … wie soll dann irgendwer davon erfahren?«

»Ich könnte Menschen auf der Straße ansprechen«, flüsterte ich hilflos.

»Besser nicht.«

Sie reckte mir die Hand hin. »Ich bin übrigens Ida.«

Ich lächelte und erwiderte ihren Händedruck. »Claire. Schön, dich kennenzulernen, Ida.« Dann sah ich sie verzweifelt an. »Was soll ich denn nur tun?«

War meine Reise etwa zu Ende, ehe sie überhaupt begonnen hatte? Ich konnte schlecht unter freiem Himmel schlafen.

Sie hob bedauernd die Schultern.

Mit einem Mal fiel mir Greg wieder ein. Er war nur allzu bereit gewesen, mir zu helfen, wenn es ein Problem gab. Und es gab eines. Ich tastete nach seiner Karte in meiner Jackentasche und zog sie hervor. Gregory Lipton, Fotograf. Vielleicht konnten die Leute, die er hier kannte, mir tatsächlich unter die Arme greifen?

Zuerst versuchte ich noch einmal, Mom zu erreichen, doch es klingelte ins Leere. Was nicht verwunderlich war, immerhin war es in San Diego erst zwei Uhr morgens. Wir hatten vereinbart, dass ich mich im Laufe des Tages bei ihr melden würde, dann, wenn sie aufstand, damit sie nicht stundenlang auf meinen Anruf warten müsste. Apropos Warten. Auf die Blitzüberweisung würde ich ebenfalls warten müssen. Würde das Geld überhaupt heute noch hier eintreffen, an einem Sonntag? Was, wenn nicht? Wieder rieb ich mir die übermüdeten Augen. Ich hätte wirklich alles für ein Bett gegeben. Oder zumindest für ein weiches Kopfkissen.

Verlegen sah ich Ida an und tippte auf Gregs Karte. »Da war dieser Typ im Flieger. Vielleicht kann er mir helfen«, sagte ich.

»Wer ist das?«

»Ein Fotograf.«

Auf ihrem Gesicht machte sich Erleichterung breit. »Hat er ein Haus gemietet und noch ein Zimmer frei?«

»Ich glaube nicht, aber er sagte mir, ich könnte mich bei ihm melden, falls ich mal Hilfe brauche.« Ich zeigte auf meine Hüfte. »Ich glaube, er hielt mich nicht für besonders beweglich.«

Sie nickte.

Noch einmal betrachtete ich die Karte. Vielleicht war in seinem Hotel noch etwas zu kriegen? Die Erlösung – zumindest die Notlösung – war möglicherweise nur ein Telefonat entfernt. Ich gähnte. Also gut.

»Hi. Dies ist der Anschluss von Gregory Lipton. Ich bin momentan nicht erreichbar, bitte hinterlassen Sie mir eine Nachricht nach dem Ton.«

Verdammt.

»Hallo, hier ist Claire Gallagher«, sagte ich. »Wäre toll, wenn du mich zurückrufen könntest. Ich habe … also … ich bin hier in diesem Flex Hotel und habe leider ein kleines Problem mit dem Zimmer. Könntest du dich vielleicht bei mir melden? Danke.« Dann legte ich auf.

»Ist er nicht dran gegangen?«

Ich schüttelte den Kopf und steuerte auf die Sessel zu. »Am besten, ich warte solange hier.«

Ida nickte mir aufmunternd zu. »Willst du etwas frühstücken?«, fragte sie und deutete zum Frühstücksbereich.

Es roch noch immer nach Eiern mit Speck, und mein Magen knurrte vernehmlich.

»Wenn ich darf?«, antwortete ich. »Ich müsste allerdings später zahlen. Im Moment habe ich nur ein paar Münzen bei mir.«

»Kein Problem.« Ida winkte ab. »Du bist eingeladen.«

Erleichtert dankte ich ihr und setzte mich an einen freien Tisch, wählte mich, während ich auf das Essen wartete, ins WLAN ein, durchforstete selbst noch einmal die verschiedenen Hotelplattformen nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Doch überall bekam ich dieselbe Meldung:

Für den von Ihnen genannten Zeitraum stehen uns keine Angebote zur Verfügung.

Schließlich setzte ich mich zurück auf meinen Platz in der Lobby und checkte abermals mein Smartphone – doch weder Mom noch Greg hatten sich gemeldet. Müdigkeit übermannte mich wieder, und ich schloss die Augen. Nur mal an Josh denken, um mich zu motivieren, nicht aufzugeben. Denn ich war in der Tat kurz davor.

JOSH

An dem Abend, als Josh und ich uns zum ersten Mal begegneten, spielte er mit seiner Band im 4th & B downtown San Diego im Gaslamp Quarter. Er übte dort für den Auftritt in einer Castingshow. Dass er damit nur wenige Monate später seinen Durchbruch haben sollte, konnten weder er noch ich zu diesem Zeitpunkt ahnen. Obwohl ich sofort von seiner Stimme und seinem Spiel gefangen war. Ich konnte nicht anders, als ihn anzustarren. Er spielte mit einer solchen Leidenschaft, dass sein Gesicht dabei aussah, als hätte er Schmerzen. Dass auch ich ihm gefiel, bemerkte ich sofort. Die Art, wie er meine Blicke erwiderte. Ich passte nicht in das Schema der blonden Kalifornierinnen – seit meiner Zeit als Cheerleaderin (eine kurze Phase des verzweifelten Versuchs, mich anzupassen) hatte ich mir meine Tattoos stechen lassen; ich trug außerdem mein Haar struppig kurz geschnitten und zu hell blondiert, um es als »shiny« zu bezeichnen, meine Kleider stammten aus dem Secondhand-Laden, aus dem, wie Mom zu sagen pflegte, die junge Madonna ihren Stil gehabt haben musste. Ich mochte Spitze und löchrige Strumpfhosen in Kombination mit edlem Samt. Manche Teile nähte ich um, ich mochte es tailliert – die Natur hatte mich nicht mit einer Wespentaille gesegnet, doch mit Kleidung war das gut zu kaschieren. (Inzwischen hatte ich diese Probleme nicht mehr, ich war, wenn man Mom Glauben schenken sollte, unterernährt, fast schon ein Fall für die WHO.)

Josh liebte an mir, dass man mich nicht in eine Schublade einordnen konnte, wie er sagte. Und dass ich mich für die Menschen einsetzte, mit denen es das Schicksal nicht gut gemeint hatte.

Auch Josh konnte ich helfen, auch, wenn er natürlich nicht »bedürftig« war, so wie viele andere, um die ich mich kümmerte. Als er seinen ersten Plattenvertrag angeboten bekam, unterschrieb er diesen in seiner Euphorie blind, ohne ihn prüfen zu lassen, und er wurde prompt übers Ohr gehauen. Ich verschaffte ihm über meinen Onkel, Moms Bruder Richard, der bei einem Radiosender arbeitete, Kontakte zu Menschen, die Joshs Kopf aus der Schlinge zogen. Doch mein Freund war ein unabhängiger Typ; die Sache veranlasste ihn nicht dazu, mir zu verfallen – falls ich das erwartet hatte, war ich jedenfalls schief gewickelt. Eine Zeit lang nahm ich ihm das übel, wollte, dass er mich eroberte. Es brauchte eine Weile, bis ich kapierte, dass nur eine Beziehung auf Augenhöhe mir guttat. Wenn ich auch bis zum Ende nicht begriffen hatte, dass Augenhöhe keineswegs bedeutet, Entscheidungen zu treffen, ohne den Rat des anderen anzuhören. Und genau das hatte ich getan. Bei keinem meiner Jobs hatte ich ihn um Rat gefragt – was er mir schon einige Male zuvor angekreidet hatte. Aber dass er mir wegen dieser neuen Sache so böse sein könnte, wie an jenem Abend im Hilton, damit hatte ich nicht gerechnet. Wie sehr mein Vorhaben ihn entsetzte, verstand ich erst in dem Moment, als er nach seinem Autoschlüssel griff und sagte: »Du wirst dich wohl nie ändern.«

5

Schau an, hab ich’s mir doch gedacht«, schreckte eine Stimme mich aus meinem Dämmerzustand. Ich hob den Kopf und sah direkt in Gregs kleine Augen.

»Ich hab manchmal so ein Feeling, ich weiß nicht, woher das kommt, aber dann seh ich den Leuten einfach an, dass sie in Schwierigkeiten geraten könnten. Ich hab ein kurzes Nickerchen gemacht, daher konnte ich nicht gleich reagieren«, sagte er entschuldigend und zog mich, ehe ich mich’s versah, auf die Füße. »Was gibt’s denn für Probleme mit dem Zimmer? Ist es dreckig?«

Ich schüttelte den Kopf und schilderte ihm in knappen Sätzen meine Lage.

»Ui, verdammt«, sagte er und blies die Wangen auf. »Was für eine Scheiße.«

»Obendrein hab ich noch meine Geldbörse verloren. Kannst du dir vorstellen, wie es mir gerade geht? Ich bin total durch den Wind.«

Er schnalzte mit der Zunge. »Du Arme. Na, dann schau ich doch mal, was ich für dich tun kann.« Er sah sich suchend um. »Wo ist dein Gepäck?«

Ich deutete zum Empfang und sagte: »Toll, dass du so schnell gekommen bist.«

»Für mich ist das eine Selbstverständlichkeit«, entgegnete er, während wir gemeinsam zu Ida gingen, die gerade ein Pärchen eincheckte. Voller Neid betrachtete ich die beiden Trekkingtouristen. Sie konnten sich glücklich schätzen, dass sie so schlau gewesen waren, bei der Reservierung alles richtig zu machen.

Schnell warf ich einen Blick auf mein Handy, doch Mom hatte sich noch immer nicht gemeldet.

»Es ist wirklich nett von dir, dass du mir helfen willst«, sagte ich noch einmal zu Greg und gähnte herzhaft. »Ich bin mit meinem Latein am Ende.«

Ida lief um den Tresen herum, als sie mit den Neuankömmlingen fertig war, und übergab mir Koffer und Gitarrenkasten. Mir entging nicht, dass sie Greg musterte.

»Ist das der Mann?«, raunte sie mir zu.

Ich nickte.

»Ist der verwandt mit … Du weißt schon?«

Ich kicherte. »Nein.«

Sie sah mich nachdenklich an. »Also … mir ist da eben noch eine Möglichkeit eingefallen, wo ich dich eventuell unterbringen könnte. Es wäre eine sehr einfache Unterkunft und auch außerhalb, aber …« Sie schielte zu Greg, der am Ausgang auf mich wartete. »Nur, falls er dir doch nicht helfen kann.«

Schade, dass Ida ihren Kontakt nicht vor einer halben Stunde aus dem Hut gezaubert hatte. Dann hätte ich Greg nicht um Hilfe bitten müssen. Aber jetzt wäre es zu unhöflich gewesen, ihn wieder fortzuschicken.

»Das ist lieb von dir«, sagte ich daher nur. »Aber ich hoffe wirklich, dass ich dich nicht noch einmal belästigen muss.«

Auf unserem Weg zu Gregs Hotel zog er meinen Koffer, und ich ging mit dem Gitarrenkasten neben ihm her. Die Läden der hübschen Einkaufsstraßen hatten inzwischen geöffnet. Normalerweise hätte mir das alles sehr gefallen: Neben Souvenirläden, die mit ihrer Auswahl an Schlüsselanhängern in Form von Wikinger-Helmen, wollenen Schäfchen oder Papageitauchern überzuquellen schienen, gab es auch Kunstgalerien, deren Ausstellungen farbenfrohe Aquarelle zeigten, sowie Geschäfte mit Produkten aus heimischer Wolle. Bei nächster Gelegenheit – wenn ich wieder etwas wacher und besser zu Fuß war, und vor allem liquide – würde ich mir all das in Ruhe ansehen. Ich nahm wir vor, Mom eines dieser Bilder mitzubringen. Sie liebte solche Malereien. Miguel, Wiebkes Verlobter, hatte auch eines für sie gemalt: sie und ich auf Moms Terrasse. Unter dem Tisch zu unseren Füßen lief eine Maus. Moms Albtraum. Sie hatte sehr gelacht, als Josh und ich ihr das zum Geburtstag schenkten.

»Da wären wir«, riss Greg mich aus meinen Gedanken und kam vor einer Drehtür zum Stehen. Im Inneren erkannte ich die warme Beleuchtung eines Empfangstresens und eine Lobby mit Ledersesseln. Es sah gediegen aus.

»Ich habe Ihnen ja schon von meiner Freundin hier erzählt«, sagte Greg zu einem jungen Mann in dunkelblauem Anzug an der Rezeption. »Sie wird vorübergehend bei mir wohnen.«

»Ähm«, widersprach ich und sah ihn fragend an. Er hatte doch gesagt, er hätte Kontakte auf der Insel. Die könnte man doch zuerst einmal fragen. Oder auch … »Sie haben nicht zufällig noch ein Einzelzimmer frei?«, fragte ich den Rezeptionisten schnell. Dann wandte ich mich an Greg: »Oder bewohnst du eine Suite?« Möglich war alles.

Er schüttelte den Kopf. »Mein Bett ist riesig, darin verliere ich mich – genau genommen ist das Zimmer eigentlich ein Doppelzimmer.«

Stirnrunzelnd sah ich ihn an. »Das ist wirklich sehr nett von dir, aber falls etwas anderes frei wäre, würde ich sehr gern …«

»Leider sind wir voll belegt«, nahm der Empfangsherr mir die letzte Hoffnung.

Greg hob die Schultern, sagte »Siehst du« und machte sich auf den Weg zum Fahrstuhl. »Jetzt bringen wir erst mal deine Sachen nach oben.«

Ich eilte ihm hinterher. »Aber du hattest gesagt, du kennst in Island ein paar Leute. Die könnten wir doch zuerst einmal fragen.«

»Heute?« Er warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Die sind doch jetzt unterwegs – das sind Fotografen, die Touristen die verstecktesten Plätze zeigen – heute kann ich die gar nicht erreichen.«

»Aber bei dir im Bett … das ist mir unangenehm«, erklärte ich auf unserer Fahrt ins zweite Stockwerk.

Er hob die Schultern. »Was hast du erwartet? Dass ich eine Bleibe für dich aus dem Ärmel schütteln kann? Warte bis morgen, dann fragen wir meine Kollegen.«

Der Aufzug hielt und öffnete seine Türen.

»Aber heute Abend werden sie nicht arbeiten, oder?«, fragte ich, während wir ausstiegen und blaugrau gemusterten Teppichboden betraten, der unsere Stimmen dämpfte.

Greg sah mich stirnrunzelnd an. »Ich werde nicht über dich herfallen, verstehst du?« Er deutete in den noch offenen Fahrstuhl. »Wenn du möchtest, geh wieder zurück. Vielleicht darfst du im Flex in der Lobby übernachten.«

Ich war zu weit gegangen. Er meinte es nur gut, und ich dachte nur daran, dass es mir unangenehm war. Viel unerfreulicher wäre es jedoch gewesen, gar keine Bleibe zu haben.

»Entschuldige bitte«, sagte ich und berührte ihn am Arm. »Ich bin total übermüdet. Ich schlafe gleich im Stehen ein.«

»Siehst du. Wie gut, dass ich dir meine Karte gegeben habe«, erwiderte er und wandte sich nach links den Flur entlang.

»Mach du einfach das, was du geplant hattest«, plapperte ich weiter, als wir vor seiner Tür zum Stehen kamen, »ich würde mich gern erstmal ausschlafen.« Wenn er mich allein ließe, das wäre prima. Dann würde ich ganz entspannt …

»Ich habe heute nichts vor. Erst ab morgen bin ich verplant.«

Stockend betrat ich hinter ihm das Zimmer. Ein King-Size-Bett mit einem glänzenden Satinüberwurf beherrschte den Raum.

Greg stellte meinen Koffer an der Seite ab, ich platzierte zögernd den Gitarrenkasten daneben.

Ich zog meinen Parka aus und hängte ihn an die Garderobe. Ich trug noch immer das weiße T-Shirt, mit dem ich aus den USA gestartet war. Auf der Brust stand in pinkfarbenen Lettern, die ich selbst mit einem Textilstift darauf geschrieben hatte: I’m no Barbie. Das Loch im Knie meiner Hüftjeans hatte ich mit einem Aufnäher versehen, wie sie normalerweise auf Kinderhosen angebracht wurden. Er zeigte Elmo aus der Sesamstraße. Ich wusste, dass ich ein seltsames Bild abgab, Mom hatte es mir oft genug gesagt. Sie meinte, seit meinem Unfall sähe ich aus wie eine falsch zusammengesetzte Puppe – da sei ihr mein Lotterstil von früher fast lieber gewesen. Da hätte man wenigstens gesehen, dass ich mir bei meinem Outfit etwas gedacht hatte. Sie war manchmal sehr direkt.

»Willst du was trinken?«, fragte Greg und goss mir ein Glas Wasser aus einer Karaffe ein. »Du siehst ganz verdurstet aus.«

Das war ich tatsächlich. Mit drei langen Schlucken trank ich den Becher leer und stellte ihn auf dem Nachttisch ab.

Greg deutete aufs Bett. »Leg dich ruhig hin. In spätestens zwei Stunden wecke ich dich, damit du nicht zu viel schläfst. In Ordnung?«

Die Matratze sah verlockend aus. Wahrscheinlich würde es keine zwei Minuten dauern, ehe ich eingeschlafen war.

Ich übergab ihm mein Handy. »Falls meine Mutter sich meldet … oder die Busgesellschaft wegen meines Portemonnaies … sagst du mir bitte Bescheid? Ich werde vom Klingeln nicht immer wach.«

Er nickte und nahm es entgegen. »Kein Thema.«

Erschöpft streifte ich die Schuhe von den Füßen, schlug den Überwurf zurück und kletterte unter die Bettdecke. Sie roch nach Hotelwaschmittel. So unendlich sauber und Vertrauen einflößend.

Greg nickte mir einladend zu und legte mein Handy auf einem Couchtisch ab. Daneben machte er es sich auf einem Sessel bequem. »Schlaf schön.«

Ich schloss die Augen, kuschelte mich auf die Seite, so wie ich es immer tat und versuchte den Gedanken an Greg auszublenden. Ich konnte nun wirklich nicht von ihm verlangen, sein eigenes Zimmer zu verlassen, nur, weil ich darin schlief.

»Du siehst so süß aus, wenn du träumst«, flüsterte Josh und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Die langen Haare stehen dir gut. Du siehst aus wie eine Elfe, weißt du das?«

Das Objektiv seiner Kamera surrte leise beim Scharfstellen. Dann machte es Klick. Eine ganze Reihe Klicks.

»Warum hast du dich die ganze Zeit nicht gemeldet?«, fragte ich und spürte Tränen in mir aufsteigen. »Ich hab dich so schrecklich vermisst.«

Der Versuch, die Augen zu öffnen, misslang, dabei wollte ich ihn so gerne ansehen. In seine warmen Augen blicken, die Grübchen unter seinem Bart mit dem Finger nachfahren, seinen Körper berühren.

»Ich konnte dir nicht verzeihen«, sagte er.

»Hätte ich gewusst, dass es dich so sehr kränkt, hätte ich es nie getan, ich …«

Wieder klickte die Kamera. Wenn er sie nur endlich beiseitelegen und zu mir kommen würde. Mich halten und nie wieder loslassen. Ich streckte die Arme nach ihm aus, kurz darauf hörte ich ein Geräusch, das mich an einen Reißverschluss erinnerte. Dann ein Rascheln.

Ich blinzelte und setzte mich ruckartig auf.

Wo war ich?

»Na, gut geschlafen?«, vernahm ich eine Stimme. Sie gehörte nicht zu Josh. Vor Enttäuschung überfiel mich schlagartig Trauer, wie immer nach solchen Träumen.

Auf einmal fiel mir wieder ein, in welcher Tinte ich saß.

Stirnrunzelnd öffnete ich die Augen. »Hast du fotografiert?«, fragte ich. »Da war so ein Geräusch.«

Greg deutete zum Fenster, an dem die Gardine beiseitegeschoben war. »Von hier aus sieht man den Hafen sehr gut. Und es war gerade so schönes Licht.« Er tippte auf seine Armbanduhr. »Du hast genau zwei Stunden geschlafen.«

»Du hättest ruhig nach draußen gehen können«, sagte ich, reckte die Glieder und schob die Beine aus dem Bett. Der Traum hing noch immer an mir, Josh war noch immer präsent. Ich träumte oft von ihm. Manchmal hatten wir im Traum Sex. Sex mit Josh war so unbeschreiblich gut gewesen. Peinlich berührt warf ich Greg einen Blick zu. Hoffentlich hatte ich mich benommen.

»Hat sich irgendwer wegen meines Portemonnaies gemeldet?«, fragte ich. »Oder meine Mutter?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich hätte dich doch geweckt.«

Unglücklich hob ich die Schultern. Ich musste wohl doch zur Botschaft. Und Mom anrufen, sie um Geld bitten – inzwischen war sie vielleicht wach und ging ans Telefon.

Schwankend versuchte ich aufzustehen, musste mich dabei am Bettrahmen festhalten.

»Brauchst du Hilfe?«, fragte Greg.

»Nein, nein.«

Warum fühlte ich mich so benommen? Als hätte ich einen Kater. Es wurde Zeit, dass ich an die frische Luft kam.

Greg schien denselben Gedanken zu hegen. Er wedelte in Richtung Fenster. »Wollen wir ein wenig die Stadt erkunden? Etwas essen gehen?« Er grinste. »Ich lade dich selbstverständlich ein.«

Hungrig war ich schon. Aber … »Ich rufe zuerst noch mal bei der Busgesellschaft an. Vielleicht wurde die Info nicht weitergegeben, dass man mich informieren soll, falls jemand meine Geldbörse findet.«

Greg sah mich an, als hielte er das für übertrieben.

»Hast du die Nummer von denen?«, fragte er zweifelnd.

Meine Schultern sanken. »Ach nein, die hab ich ja gar nicht. Ida vom Flex hatte mit denen telefoniert.«

Greg klickte sich durch sein Smartphone, schließlich wählte er einen Anschluss. Nach einer Weile nahm jemand ab, und er schilderte, was geschehen war, sagte dann: »Außen rot. Das Innenfutter ist grün.«

Als er aufgelegt hatte, starrte ich ihn an. »Woher weißt du, welche Farbe mein Portemonnaie hat?«, fragte ich verdutzt.

Ich nahm ein kurzes Flackern in seinen Augen wahr. »Ich war doch dabei, als du das Busticket bezahlt hast.«

»Da warst du längst im Bus«, widersprach ich. »Du kannst es nicht gesehen haben.«

»Ich habe es eben gesehen«, sagte er geheimnisvoll. »Für solche Details habe ich als Fotograf ein Auge, das bekommst du gar nicht mit.«

Mir stieg die Hitze ins Gesicht. Ein Verdacht, der die ganze Zeit unter der Oberfläche gelauert hatte, verstärkte sich: Irgendetwas führte Greg im Schilde. Sicher, er hatte auf keinen Fall wissen können, dass die Buchung meines Hotelzimmers fehlschlagen würde. Aber dass ich in Schwierigkeiten geriet, wenn ich weder Geld noch Papiere besaß, hatte er sich denken können. Verzweifelt rang ich nach Worten. Wenn ich ihn jetzt brüskierte, gelangte ich nie und nimmer an meinen Geldbeutel. Dann kam ich um den Gang zur Botschaft nicht herum – ich wäre die nächsten Tage mit Organisatorischem beschäftigt statt mit meiner Mission. Und eben in meinem Traum war Josh mir so nah gewesen. Seine Berührung, die sich so echt angefühlt hatte.

Und das Klicken der Kamera so realistisch. Ich musste …

Entsetzt starrte ich Greg an.

Die Polizei. Ich musste die Polizei rufen!

Oder sah ich nur Gespenster? Ging meine Fantasie mit mir durch? Typen, die junge Frauen aufs Zimmer lockten und ihnen K.-o.-Tropfen verabreichten? Das gab es doch nur in schlechten Filmen.

»Gib mir einfach mein Portemonnaie zurück, und ich vergesse das Ganze«, flüsterte ich.

Greg starrte mich verblüfft an. »Ich habe deinen Geldbeutel nicht. Spinnst du?«

»Ich werde die Polizei rufen und dich anzeigen«, überging ich seinen Einwand. Plötzlich war ich mir meiner Sache sehr sicher. »Auf deiner Kamera werden Fotos von mir zu finden sein, nehme ich an – und glaub nicht, dass du die einfach löschen kannst, die Spurensicherung findet alles wieder.«

Mein letzter Satz ging völlig ins Blaue hinein, aber in Gregs Gesicht konnte ich lesen wie in einem Buch.

»Ich werde behaupten, dass du mich angefasst hast«, setzte ich noch einen drauf, um seine Verunsicherung zu vergrößern. Zwar hatte Greg nicht mit mir geschlafen, da war ich mir sicher. Das hätte sich anders angefühlt. Nicht einmal meine Kleidung war verrutscht. Aber vielleicht hatte ihn mein Anblick in seinem Bett angetörnt? Wer wusste denn, was er getan hatte, während ich schlief?

Und richtig: Meine Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Ohne ein weiteres Wort ging Greg zum Kleiderschrank und zog seinen Koffer herunter, legte ihn neben mich aufs Bett. Als er ihn öffnete, sah ich meine Börse darin. Sie war verschlossen.

Mit rasendem Herzen griff ich danach. Es war noch alles da. Sogar das Bargeld.

»Warum hast du mich bestohlen?«, fragte ich, noch immer fassungslos.

»Weil ich dich wiedersehen wollte.«

Ich tippte mir an die Stirn. »Du bist doch total krank.«

Er klappte den Koffer wieder zu und legte ihn zurück auf den Schrank.

»Freiwillig hättest du dich jedenfalls nicht mit mir getroffen«, sagte er, als rechtfertigte das seine Tat.

Ich atmete tief durch und begann, meine Schuhe anzuziehen. Nichts wie raus hier. Bevor er sich einfallen ließ, mich hier festzuhalten. Diesem Typen traute ich mittlerweile alles zu. Besser, ich gab ihm nicht einmal eine Antwort.

Eine Minute später war ich mit meinem Gepäck aus der Tür. Greg hatte sich keinen Millimeter von der Stelle bewegt. Schweißgebadet betrat ich den Fahrstuhl.

Natürlich hätte ich zur Polizei gehen können. Aber ich wusste, was folgen würde: Untersuchungen. Befragungen. Ich kannte genügend Mädels, denen es so ergangen war. Und später lautete das Ergebnis: Keine Beweise.

Vielleicht war es bei den Fotos geblieben. Allein bei dem Gedanken, dass er sich Bilder von mir wieder und wieder anschauen konnte, rauschte das Blut in meinen Ohren. Mir war inzwischen so übel, dass ich glaubte, jeden Moment umzukippen.

6

Atemlos kam ich im Flex an. Meine Hüfte schmerzte entsetzlich. Unterwegs war meine Sorge immer größer geworden, Ida könnte vielleicht schon ihre Schicht beendet haben, und ich müsste dem nächsten Mitarbeiter meine Situation erklären. Dieser Einfall, nach Island zu reisen, war eine Schnapsidee gewesen. Ich hätte zu Hause in Ruhe überlegen sollen, wie ich Josh zurückgewinnen konnte. Und nicht hier, in diesem Land, in dem ich dem nächstbesten Perversen in die Arme gelaufen war!

Glücklicherweise war Ida noch im Hotel. Sie sah mir mit hochgezogenen Augenbrauen entgegen.

»Was ist passiert?«, fragte sie. »Du bist ja leichenblass.«

Ich schilderte ihr die Situation in kurzen Sätzen, und sie sagte: »Den musst du anzeigen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin ja selbst schuld. Was gehe ich auch mit diesem Typen aufs Zimmer?«

»Es ist nicht deine Schuld! Ich kann nicht glauben, dass du das sagst!«

Ich verbarg mein Gesicht in den Händen. Dann sah ich auf. »Könntest du mir helfen, einen Rückflug zu buchen? Ich will wieder nach Hause.«

Eine Gruppe junger Männer mit Rucksäcken und Rollkoffern im Schlepptau betrat eben unter großem Hallo das Hotel und bewegte sich auf uns zu. Offenbar Spanier – ich sprach selbst ein paar Worte, das blieb nicht aus, wenn man in San Diego lebte. Allerdings war ich weit davon entfernt, es fließend draufzuhaben. Im Gegensatz zu Ida, die sich nach einem »Rühr dich nicht von der Stelle, bin gleich wieder da« den neuen Hotelgästen zuwandte und ihnen in perfektem Spanisch Rede und Antwort stand. Schließlich händigte sie ihnen die Zimmerschlüssel aus und nahm ihre Komplimente mit einem bezaubernden Lächeln entgegen. Während die Jungs sich endlich zum Fahrstuhl bewegten, erwähnte einer von ihnen, wie sehr er sich auf den Golden Circle freue. Und dass Island jetzt schon das beste Land sei, das er je bereist hätte.

Nun, die Geschmäcker waren verschieden.

Als die Fünf im Aufzug verschwunden waren, sagte Ida: »Jetzt kümmere ich mich endlich um dich.«

Sie telefonierte eine Weile in dieser seltsamen Sprache. Dabei zwinkerte sie mir aufmunternd zu. Anscheinend hatte ich Glück mit dem Rückflug. Gott sei Dank. Bald war dieser Albtraum vorüber.

Als sie aufgelegt hatte, legte Ida eine Hand auf meinen Arm. »Es ist alles geregelt«, erklärte sie.

»Ich bin dir so dankbar«, entgegnete ich erleichtert.

Doch zu meiner Überraschung sagte sie: »Du kannst bei einer Verwandten von mir schlafen.«

»Was?«

Ida nickte. »Askja hat ein Gehöft außerhalb Reykjavíks. Eine Handvoll Schafe, sie war früher Schafzüchterin. Die Landschaft dort wird dir gefallen.«

»Was soll ich auf einem Bauernhof? Ich werde Depressionen bekommen. Und meinen Freund bringt es auch nicht zurück!«

Sie sah mich fragend an.

Ich winkte ab. »Ach, egal. Ich bin jedenfalls nicht wegen der hübschen Gegend hier. Ich hatte … ich möchte einfach nur noch nach Hause!«

Ida tätschelte mir den Arm. »Heute noch zurückzufliegen wäre wirklich verrückt. Du fährst jetzt zu Askja und morgen sieht die Welt schon ganz anders aus. Du kannst die nächsten vierzehn Tage bei ihr wohnen, hat sie gesagt. Und wenn du früher gehen möchtest oder länger bleiben willst, ist das auch kein Problem.«

Flehend sah ich sie an. »Bitte buch einen Rückflug.« Ich öffnete meinen Beutel und übergab ihr meinen Pass und meine Kreditkarte.

Sie schüttelte den Kopf »Bitte schlag das jetzt nicht aus. Wo du doch schon mal hier bist. Gut, du hast ein bisschen Pech gehabt, aber gib unserem Land noch eine Chance. Wenn du in drei Tagen immer noch abreisen willst, helfe ich dir. Einverstanden?«

Mir war auf einmal danach, mich vor Lachen auszuschütten. Wahrscheinlich wurde ich hysterisch. Was mir alles hätte passieren können! Vielleicht war Greg sogar ein Serienkiller.

Ida tätschelte erneut meinen Arm, als könnte sie meine Gedanken lesen. »Askja kocht die leckerste Lammsuppe und backt den saftigsten Karottenkuchen, den du je gegessen hast. Danach bleibst du für immer.«

Mein Lachen verstärkte sich. »Du lockst mich mit Suppe und Kuchen?« Ich gackerte. »Super. Und lass mich raten: Ich schlafe im Schafstall.«

Ida lachte. »Die Schafe schlafen im Freien.«

In diesem Moment fiel mir das Gespräch mit dem Mitarbeiter des Touristenbüros wieder ein, der mir gepfefferte Preise genannt hatte.

»Was kostet mich denn der Spaß mit Kost und Logis?«, fragte ich zweifelnd.

»Darüber haben wir nicht gesprochen. Es wird aber nicht viel sein. Wenn ihr euch sympathisch seid, wovon ich ausgehe« – Ida deutete auf die Tattoos an meinen Unterarmen – »dann wird sie einen kleinen Unkostenbeitrag nehmen, mehr nicht.«

»Ist Askja tätowiert?«, fragte ich.

Ida schüttelte lachend den Kopf. »Sie spricht mit den Elfen. Um ihr Gehöft herum wimmelt es nur so von diesen Kerlchen, wenn man Askja Glauben schenkt.«

»Sie hat Kontakt zu Elfen?«

Mom hatte mir vor meiner Abreise erzählt, dass es in Island sogar einen Elfenminister gäbe. Vielleicht hatte sie über diese Recherche vergessen, die Reservierung des Hotelzimmers zu bestätigen, jedenfalls hatte sie sich köstlich amüsiert. Ich hatte seither gar nicht mehr an ihre Bemerkung gedacht, die sie allein deswegen gemacht hatte, weil sie mich schon seit meiner Kindheit damit aufzog, dass ich an »unsichtbare kleine Kerlchen« glaubte. Als ich ein kleines Mädchen war, besaß ich mehrere verborgene Begleiter. Sie halfen mir, wenn ich traurig war, weil Dad fort war, oder sie setzten mein Gehirn in Gang, wenn ich bei einer Matheaufgabe feststeckte. Natürlich war ich nicht verrückt genug gewesen, wirklich an sie zu glauben. Aber Kraft gaben sie mir trotzdem, wenn ich sie brauchte. Vielleicht hätte ich sie rufen sollen, als Josh mich verlassen hatte. Aber eigentlich verdiente ich ihre Hilfe gar nicht.

»Askja ist ein bisschen verschroben, aber völlig harmlos«, beantwortete Ida meine Frage. »Du wirst sie lieben. Wenn sie dir von den Elfen erzählt, schalte einfach auf Durchzug.«

Sprachlos sah ich sie an. Ich würde ganz gewiss nicht auf Durchzug schalten. So viel war sicher.

Ida arrangierte ein Taxi, das mich eine Viertelstunde später abholte.

»Das wird nicht ganz billig, ist aber die einzige Möglichkeit für dich, zu Askja zu gelangen«, sagte sie mit Blick auf mein Bein. »Ein Mietwagen kommt wohl nicht in Frage?«

Ich hob die Schultern. »Das wäre mir jetzt zu aufwendig. Taxi ist schon okay.«

Inzwischen hatte ich endlich mit Mom telefoniert. Sie hatte nicht fassen können, dass sie versäumt hatte, die Reservierung des Flex‘ zu bestätigen und meine Kreditkartendaten zu hinterlegen. Bald hatte sie die entsprechende E-Mail in ihren Entwürfen gefunden. »Irgendetwas« musste sie abgelenkt haben. Vermutlich ich.

Dass ich zwischenzeitlich mit dem Gedanken gespielt hatte, sofort nach Hause zurückzukehren, und auch die Sache mit Greg, erwähnte ich lieber nicht. Sie hätte sich nur noch mehr aufgeregt. Stattdessen schien sie nur allzu bereit, für die Zusatzkosten wie die Taxifahrt aufzukommen. Die Vorstellung, ich müsste die Nacht in einem Zelt verbringen – die derzeit einzige Alternative zu Askjas Gehöft – kam für Mom natürlich nicht in Frage.

Reykjavík war winzig. Im Nu war das Taxi aus der Stadt und wir befanden uns auf einer Schnellstraße. Der Verkehr war übersichtlich – kein Vergleich zu dem in San Diego. Und zum ersten Mal zeigte sich das Land von seiner schönen Seite – vielleicht war die Strecke vom Flughafen nicht eben die attraktivste gewesen. Die Weite dieses Landes war atemberaubend. Gedanklich versuchte ich Worte dafür zu finden, die ich verwenden wollte, wenn ich Josh eines Tages von dieser Reise erzählen würde.

Es war alles sehr grün – allerdings nicht so, wie ich es von Irland kannte. Keine Laubwälder, keine endlosen Hecken, keine saftig grünen Wiesen. Nein, kilometerweites moosiges Grasland in einem verzaubernden Hellgrün überzog das Land, bis es auf steil in den Himmel aufragende Felsen stieß, deren Ebenen ebenfalls grasbewachsen waren. Das Grün wies Schattierungen auf, die ich noch nie gesehen hatte – als leuchtete die Erde von innen. Ein Wasserfall fiel tosend in die Tiefe, wenige Meter weiter ein zweiter. Es hatte zu regnen begonnen, und über den Horizont spannte sich ein Regenbogen. Mit beiden Händen fasste ich mir an die Brust und stieß ein bewunderndes »Wow« aus. Das Land … wirkte … prähistorisch. Es hätte mich nicht überrascht, eine Herde grasender Dinosaurier vor der Kulisse der steilen Felsformationen zu entdecken. Oder eine Hobbitsiedlung. Stattdessen grasten jede Menge Schafe auf den Wiesen.

»Gibt es hier Bären?«, fragte ich meinen Fahrer. Falls es welche gab, hatten sie sicher ihre Freude.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Es gibt sehr wenige Tiere auf Island. Ponys. Schafe. Füchse. Kaninchen. Und Unmengen Vögel natürlich. Das war’s.«

»Nicht einmal Rehe?«, erkundigte ich mich verblüfft.

Er sah mich im Rückspiegel an. »Es ist nicht erlaubt, Lebewesen ein- oder auszuführen. Die Füchse und Kaninchen haben wir nur hier, weil irgendwer sie eingeschmuggelt hat.«

»Ach so.« Ich sah wieder nach draußen. »Aber es gibt doch sicher jede Menge Schlangen und Frösche?«

Wieder ein Blick in den Rückspiegel. »Nicht einmal Ameisen.«

»Wie bitte?«

Er lachte. »Richtig gehört.«

Kein Wunder, dass sich hier angeblich Elfen tummelten. Die Menschen mussten sich ja etwas überlegen. Wenn schon keine Tiere zu finden waren, dann wenigstens fantastische Wesen. Ausreichend Platz war vorhanden.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739376370
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (März)
Schlagworte
romantisch Liebesroman Meer Inselroman Abenteuer Romantik Reisen Liebe Urlaub Island

Autor

  • Stina Jensen (Autor:in)

STINA JENSEN schreibt Insel- und Gipfelromane, romantische Komödien und Krimis. Sie liebt das Reisen und saugt neue Umgebungen in sich auf wie ein Schwamm. Meist kommen dabei wie von selbst die Figuren in ihren Kopf und ringen dort um die Hauptrolle in ihrem nächsten Roman. Wenn sie nicht verreist, lebt die Autorin mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt am Main.
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Titel: INSELgelb