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Das Haiku

Grundwissen - Vertiefungen - der Horizont

von Volker Friebel (Autor:in)
164 Seiten

Zusammenfassung

Ob Kochen, Küssen, Dichten: Wir lernen am besten durch Erfahrungen. Die Frische spontanen Ausdrucks von Haiku, ihre Gegenwärtigkeit, die unmittelbare Beschreibung dessen, was ist, das Ansprechen nicht nur des Verstands, sondern der Sinne ... Über hundert gute Beispiele dafür sind in dieses Buch aufgenommen. Der erste Teil stellt das Grundwissen zum Haiku vor, zeigt uns den Stand dieser Form der Dichtung, so wie sie sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten verfestigt hat. Es folgt ein kurzer geschichtlicher Überblick: Die Entwicklung des Haiku in Japan und sein Weg in die Welt werden skizziert. Verbindungen des Haiku mit anderen Künsten, mit Bildern und weiteren Formen der Literatur schließen sich an. Kapitel folgen, die sich als Vertiefungen bezeichnen lassen. Ich hoffe, dass sie geeignet sind, über ein bloßes Nachvollziehen hinauszutragen, dass sie also Wissen nicht einfach nur mehren, sondern auch in Frage stellen, relativieren - und darüber lebendig machen, dass sie zum neuen Lesen, zum genaueren Lesen, womöglich zum neuen Dichten inspirieren. Wissen und Inspiration - das wollen diese Seiten bieten. Wissen ist fest und tot, wenn es aufgeschrieben ist. Inspiration ist lebendig und fließt, schreibt alles Feste immer wieder um. Aus diesem Spannungsfeld blickt das Haiku uns an, blickt Dichtung uns an, und wir blicken vielleicht manchmal zurück.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

 

Ob Kochen, Küssen, Dichten: Wir lernen am besten durch Erfahrungen. Die Frische spontanen Ausdrucks von Haiku, ihre Gegenwärtigkeit, die unmittelbare Beschreibung dessen, was ist, das Ansprechen nicht nur des Verstands, sondern der Sinne ... Über hundert gute Beispiele dafür sind in dieses Buch aufgenommen. 

Der erste Teil stellt das Grundwissen zum Haiku vor, zeigt uns den Stand dieser Form der Dichtung, so wie sie sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten verfestigt hat. Es folgt ein kurzer geschichtlicher Überblick: Die Entwicklung des Haiku in Japan und sein Weg in die Welt werden skizziert. Verbindungen des Haiku mit anderen Künsten, mit Bildern und weiteren Formen der Literatur schließen sich an. 

Kapitel folgen, die sich als Vertiefungen bezeichnen lassen. Ich hoffe, dass sie geeignet sind, über ein bloßes Nachvollziehen hinauszutragen, dass sie also Wissen nicht einfach nur mehren, sondern auch in Frage stellen, relativieren – und darüber lebendig machen, dass sie zum neuen Lesen, zum genaueren Lesen, womöglich zum neuen Dichten inspirieren.

Dabei geht es auch um die Frage, was uns am Haiku so besonders anzieht. Diese Gedichtform hat sich die letzten Jahre und Jahrzehnte sehr gut verbreitet, ist inzwischen fast überall auf der Erde zu Hause. Weshalb? Einen Grund dafür sollte es geben, etwas am Haiku muss mit dem, wie sich die Gesellschaften der Erde entwickeln, zusammenklingen.

Eine Form wie das Haiku, Dichtung überhaupt, kann nicht einfach nach einem Anforderungsprofil erfüllt und auf einer Checkliste abgehakt werden, sondern es gilt sie zu leben. Zur Vertiefung der Frage „Was ist ein Haiku?“ gehört deshalb „Was ist Dichtung?“ dazu. Dieser Frage widmet sich der letzte Buchteil „Der Horizont“. 

Seit meiner Jugend beschäftige ich mich als Leser, als Autor, als Vortragender, als Herausgeber mit dem Haiku. Der Plan für ein Buch darüber steht schon Jahre auf meiner Agenda. Und jahrelang schreckte ich davor zurück. „Wenn schon, dann muss es ganz subjektiv sein“, meinte eine Stimme in mir. „Ganz subjektiv darf es nicht sein“, widersprach allerdings sofort eine andere, „das missachtet die Leser und ihre Erwartungen.“ Gut zu fühlen begann ich mich erst, als ich einen Aufbau fand, der beidem gerecht wird, der Vielschichtigkeit der Welt und des Haiku – und den Erwartungen des Lesers um Klarheit. 

Nach getaner Arbeit habe ich vielen Menschen Dank zu sagen, ganz besonders den Autoren der original deutschsprachigen Haiku für die Erlaubnis zur Verwendung ihrer Texte sowie meiner freundlich-unerbittlichen Lektorin Elisabeth Menrad für ihre unermüdlichen Anregungen, Sprache und Aussage noch einmal zu überdenken. 

Wissen und Inspiration – das wollen diese Seiten bieten. Wissen ist fest und tot, wenn es aufgeschrieben ist. Inspiration ist lebendig und fließt, schreibt alles Feste immer wieder um. Aus diesem Spannungsfeld blickt das Haiku uns an, blickt Dichtung uns an, und wir blicken vielleicht manchmal zurück. 

 

Volker Friebel 

 

 

Grundwissen

 

„Und wenn unter tausend Paaren auch nur eins ist, das sich liebt, so ist es nicht die Ausnahme, sondern die Regel: es gibt das Gesetz an“ (Peter Handke). 1  

Gesetze in der Dichtung, in der Kunst überhaupt, scheinen vor allem dazu da, sie zu brechen. Handkes kühne Behauptung sensibilisiert dafür, dass das, was wir suchen, wenn wir nach dem Wesen des Haiku suchen, in den einzelnen Texten auch fehlen kann – und trotzdem ist es das, worum es geht, worum sich die Dichtung dreht wie die Liebe. 

Wir werden uns dem Haiku am leichtesten nähern, wenn wir einzelne Texte betrachten und uns fragen, was sie im Kern ausmacht, was sie von anderen Texten abhebt und dem Haiku einen eigenen Namen verdient. 

Dazu wollen wir uns zunächst die wichtigsten Merkmale des Haiku an einem Beispiel vergegenwärtigen. 

 

Merkmale des Haiku

 

Stromausfall.

In der Wohnung des Nachbarn

spielt jemand Klavier. 2  

 

Am Text von Sigrid Baurmann lassen sich die wichtigsten Merkmale von Haiku gut nachvollziehen:

 

Kürze: Haiku sind kurze Gedichte. Meist werden sie in drei Zeilen geschrieben.

Gegenwärtigkeit: Haiku sind in der Zeit. Und zwar fast immer in der Gegenwart. Wenn andere Zeiten vorkommen, dann sind es Erinnerungen oder Zukunftsfantasien, die jemand in der Gegenwart hat. 

Konkretheit: Haiku stellen Sachverhalte oder Erlebtes nicht abstrakt, sondern konkret dar, für einen Leser miterlebbar, sinnlich erlebbar. 

Externe Orientierung: Haiku beschäftigen sich fast immer mit der äußeren Welt, weniger mit den Vorstellungen des Dichters. 

Offenheit: Mit dem Lesen des Textes sollte das Haiku noch nicht zu Ende sein. Ein Nachhall, etwas Ungesagtes, offen Gelassenes, weiter zu Dichtendes sollte bleiben. 

 

Endreime oder Überschriften gibt es beim Haiku nicht. 

 

Die nächsten Abschnitte behandeln diese Merkmale von Haiku näher. Die Kurzfassung der Merkmale ist jeweils noch einmal kursiv vorangestellt.. 

 

Kürze

 

Haiku sind kurze Gedichte. Meist werden sie in drei Zeilen geschrieben.

 

Die japanische Sprache basiert auf Lauteinheiten (Moren) gleicher Länge. Traditionelle japanische Haiku halten meist ein festes Schema von 17 solcher Lauteinheiten ein, geschrieben von oben nach unten in einer Spalte.

Im zwanzigsten Jahrhundert haben sich auch freie Formen entwickelt, die ohne eine feste Gliederung nach Lauten bestehen. Die Kürze blieb erhalten, sie ist auch bei der Übertragung ins Deutsche das wichtigste Merkmal.

Die japanische Zählung der Lauteinheiten lässt sich allerdings nicht einfach auf deutsche Silben übertragen, da letztere von wechselnder Länge sind und eine Silbe oft aus mehreren Moren besteht. Das Wort Tōkyō etwa besteht je nach Aussprache aus zwei oder drei Silben – aber aus vier Moren. So trägt eine japanische More im Durchschnitt weniger Inhalt als eine deutsche Silbe: 17 japanische Lauteinheiten entsprechen dem Inhalt von etwa 10 deutschen Silben. 3  

Nach verschiedenen Versuchen ein ähnlich festes Schema in europäischen Sprachen zu finden, werden heute Haiku in westlichen Ländern meistens in freien Versen geschrieben, fast immer dreizeilig, mit etwa 10 bis 17 Silben; die mittlere Zeile ist meistens die längste.

Die Kunst im Haiku besteht aber nicht darin, einen Text ganz kurz zu machen – sondern so kurz, dass er sich ohne Qualitätsverlust nicht weiter kürzen lässt. Dass das nicht einfach ist, thematisiert ein Haiku von Christof Blumentrath, bei dem wir einem Maler über die Schulter schauen: 

 

zu wenig

der letzte Pinselstrich

zu viel 4  

 

Zu wenig und zu viel lassen sich nicht an einer bestimmten Silbenzahl festmachen. Ein Haiku mit 19 Silben von Ingrid Kunschke:

 

Winterabend

mit kleinen Stichen kehrt es zurück,

das Lächeln der Puppe 5  

 

Wir sehen in eine gemütliche Stube. Eine Frau sitzt auf dem Sofa und repariert diese alte Puppe, vielleicht ihre eigene aus Kindestagen, vielleicht eine, die beim Spielen ihres Kindes gelitten hat.

Durch das Jahreszeitenwort „Winterabend“ atmet der Text eine selbstversunkene Ruhe aus und einen Frieden, den jedes veränderte Wort beeinträchtigen würde. Die nahe liegende Kürzung auf „Winternacht“ ließe zwar immer noch ein sehr gutes Haiku zurück, aber ein dunkleres. Ein Verzicht auf das „es“ bringt das Haiku in grammatikalische Schwierigkeiten oder verlangt eine ungünstige Umformung.

An diesem Text lässt sich nichts kürzen, ohne ihn zu verschlechtern, es ist ein sehr gutes Haiku – obwohl mit 19 Silben weit weg von den knapp über 10 deutschen Silben, die ein japanisches Haiku haben sollte und sogar noch über den 17 Silben, die als Obergrenze für Haiku in europäischen Sprachen üblich geworden sind.

 

Beispiel für ein sehr kurzes Haiku von Dietmar Tauchner:

 

ihre sms   fliederduft 6  

 

Einzeilig geschrieben – das entspricht der einen Spalte, in der japanische Haiku meist geschrieben werden. Mit einem Abstand zwischen den beiden Textblöcken. Ich sehe den Mann in sein Telefon schauen: Von der Liebsten kam gerade eine Textnachricht. Während er liest, nimmt er den Duft von Fliederblüten in der Umgebung wahr. Oder: Beim Lesen erinnert er den Flieder ihres Parfüms beim letzten Treffen.

Viel kürzer geht es nicht: acht Silben in gerade mal drei Wörtern. Aber nichts weiter ist nötig. Also sollte auch nichts weiter stehen. Klassischen japanischen Haiku dürfte dieser Text sogar näher sein als das ausgefeilte Haiku von Ingrid Kunschke, das dafür mehr die Tradition klassischer europäischer Dichtung wahrt.

Es ist unnötig, ein Bild in allen Einzelheiten zu beschreiben. Das geht sowieso nicht. Jedes Setzen eines Erlebnisses in Worte ist immer eine Reduktion, geht immer mit Verlusten und Unschärfen einher. Es geht darum, Worte so zu setzen, dass sich der Leser ein eigenes Bild aus ihnen entwickeln kann. Zu viele Worte können dem Leser den Aufbau eines Bildes sogar erschweren.

 

Gegenwärtigkeit

 

Haiku sind in der Zeit. Und zwar fast immer in der Gegenwart. Wenn andere Zeiten vorkommen, dann sind es Erinnerungen oder Zukunftsfantasien, die jemand in der Gegenwart hat. 

 

Traditionelle europäische Dichtung kann sich zwar auch im Augenblick ereignen, meist aber scheint sie in der Zeit zu schweben, etwas über der Zeit zu stehen, gleicht eher in Worten und manchmal Bildern gefassten Gedanken als einem erlebten Augenblick. Und einer Reise statt einem Augenblick, weil verschiedene Bilder aneinandergesetzt sind. Nicht so das Haiku. 

 

„Die ewig alten Geschichten“, 

schreit sie. 

Draußen fällt Schnee. 7  

 

Das Haiku von Marianne Kunz bietet den Augenblick unvermittelt, wie eine Fotografie oder ein Filmausschnitt. 

Das Vergangene ist auch da, als Erinnerung an alte Geschichten, aber ganz in der Gegenwart. 

Sehr wichtig in diesem Text ist der fallende Schnee. Auch, aber gar nicht in erster Linie dadurch, dass er die beiden ersten Zeilen atmosphärisch färbt. Vor allem dadurch, dass mit dem fallenden Schnee der Text einen Ort in der Zeit erhält: Es ist Winter. Das verstärkt im Text die Gegenwärtigkeit noch, die schon in der wörtlichen Rede aufscheint. 

Im traditionellen japanischen Haiku wurden fast immer Jahreszeitenwörter gesetzt. Das waren meist Wörter aus der Natur, wie eben Schnee oder Blüte oder Beere oder Blätterwirbel. Es konnten aber auch Wörter zu Festtagen sein, die im Jahreskreis verankert sind, auf Europa übertragen also etwa Weihnachtsbaum, Osterei, Lichterketten. Übersetzer japanischer Dichtung in europäische Sprachen nahmen Haiku über japanische Feiertage in ihre Sammlungen seltener auf, da diese erst erklärt werden mussten. So herrschte im Westen Jahrzehnte der Eindruck vor, das Haiku sei ein Naturgedicht. Das kann es, muss es aber nicht sein. Was es braucht, ist allerdings eine Verankerung in der Zeit. 

Jahreszeitenwörter gelten im Haiku nicht mehr als verbindlich. Geblieben ist aber der Kern davon, die Gegenwärtigkeit, die Verankerung in der Zeit. 

 

Diese Gegenwärtigkeit des Haiku ist eines seiner stärksten Merkmale. Und sie dürfte eben das sein, was das Haiku so anziehend und für uns hier und heute besonders interessant macht. 

In der Gegenwärtigkeit steckt Achtsamkeit, steckt eine Wertschätzung auch des Kleinen, Einfachen, eine Liebe zu den nächsten Dingen, die in der Dichtung des Haiku besonders geschätzt werden. 

In der Gegenwärtigkeit steckt die Besinnung auf das, was wirklich vorhanden ist, unter dem Rattern der Gedanken, unter dem Nebel der Vorstellungen, Träume, Fantasien, Erinnerungen. 

 

Konkretheit

 

Haiku stellen Sachverhalte oder Erlebtes nicht abstrakt, sondern konkret dar, für einen Leser miterlebbar, sinnlich erlebbar. 

 

Konkret meint sinnlich erfahrbar, beobachtbar, hörbar, fühlbar, schmeckbar. Ein Stuhl ist konkret, eine Rose ist konkret – die Liebe dagegen ist abstrakt. Konkret ist, wie sie sich in etwas sinnlich Erfahrbarem äußert, konkret ist die Umarmung, der Kuss, in den Augen das Leuchten. 

Konkret kann auch heißen: Auf einen Einzelfall bezogen. „Was meinst du konkret zu diesem Bericht?“ Wenn denn schon nichts oder wenig sinnlich Nachvollziehbares im Haiku steht, dann sollte es doch einen Einzelfall ansprechen, etwas, was sich im Raum und in der Zeit wirklich ereignet und nichts, was ich mir abstrakt aus Einzelfällen, die mir begegnen, zusammenreime. 

 

Zwischen Amselstrophen

die Tiefe.

Regen beginnt. 8  

 

Der Gesang von Amseln ist konkret erlebbar, auch der beginnende Regen. „Tiefe“ ist dagegen ein abstraktes Wort. Hier wird Tiefe allerdings konkret erfahrbar, als Stille, in die der Leser zwischen den Amselstrophen fällt, die die Tiefe des Raums sinnlich erfahrbar macht – was noch einmal verstärkt wird durch den beginnenden Regen. 

Eigentlich, so hatten wir gesagt, gilt es im Haiku als erstrebenswert, dass die mittlere Zeile die längste ist. Dieser Text ist ganz nebenbei ein Beispiel dafür, wie manchmal das Gegenteil einer Regel günstig sein kann: Nach der längeren ersten Zeile (sechs Silben) verlängert die besonders kurze zweite Zeile (drei Silben) unwillkürlich das Verweilen des Lesers in dieser Zeile. Der Leser ist irritiert, eine Leere entsteht – in die dann der Regen der dritten Zeile zu fallen beginnt. Genau so etwas will der Text darstellen – und so erweist sich die besonders kurze Zeile an Stelle der längsten in diesem Beispiel als lyrisch angemessen. 

Ein Haiku stellt das Erfahrene möglichst direkt dar und bleibt beim Erlebnis, dem Einzelfall, es formt kein allgemeingültiges Gesetz daraus. „Wenn es still wird, dann kannst du die vielen kleinen Geräusche der Welt hören.“ Das wäre eine allgemeine Aussage, dichterisch eine Sentenz. Das Amselstrophen-Haiku ist die konkrete, sinnliche Ausgestaltung dieses abstrakten Sachverhalts. 

 

Externe Orientierung

 

Haiku beschäftigen sich fast immer mit der äußeren Welt, weniger mit den Vorstellungen des Dichters. 

 

Die externe Orientierung folgt fast schon aus Gegenwärtigkeit und Konkretheit. Sie soll als eigener Punkt trotzdem besonders hervorgehoben werden. 

Das Haiku beschäftigt sich mit Bäumen, Häusern, Menschen, Amseln, Bergen, Tortenstücken, Gräsern, Straßenbahnen. Es beschäftigt sich weniger mit den Ansichten des Dichters über die Welt oder über sich selbst. 

Natürlich, auch der Dichter gehört zur Welt. Und er kann sich selbst beobachten, sich so im Text zu einem Beobachtbaren machen. Im Spiegel beispielsweise, mit Marita Bagdahn: 

 

Vor Omas altem

Kommodenspiegel – ich und

ich und ich und ich ... 9  

 

Auch wenn im Text die Dichterin gleich vier mal erscheint, so bleibt das Haiku doch ganz im Äußeren, Beobachtbaren, Nachvollziehbaren. Ist das Ich im Text überhaupt die Dichterin? „Omas Kommodenspiegel“ deutet eher auf ein Kind. Vielleicht ist es von einem beobachteten Kind aus geschrieben. Oder es ist eine Kindheitserinnerung.

Heißt „die äußere Welt“, dass Gefühle und Gedanken, die doch subjektiv sind, keinen Platz im Haiku haben? Warum muss ich beim „Kommodenspiegel“ dann lächeln, ja lachen? Gefühle werden im Haiku selten direkt benannt. Sie werden allerdings häufig durch das Geschilderte hervorgerufen.

 

U-Bahnstation

ein Schmetterling öffnet

einen Mädchenmund 10  

 

Das Haiku von Simone K. Busch zeigt das Staunen des Mädchens. Das Haiku benennt das Staunen nicht, sondern zeigt es unmittelbar: über den geöffneten Mund. „U-Bahnstation / ein Schmetterling / von einem Mädchen bestaunt“ wäre auch ein Haiku. Aber ein schwächeres. Gerade der direkte Ausdruck des Beobachteten macht die literarische Qualität dieses Textes aus.

Nicht nur Haiku, auch andere literarische Formen gewinnen durch eine solche direkte Herangehensweise meist, werden durch sie lebendiger. Im Haiku wird auf externe Orientierung mit direktem Ausdruck des Beobachteten aber ganz besonderen Wert gelegt.

 

Offenheit

 

Mit dem Lesen des Textes sollte das Haiku noch nicht zu Ende sein. Ein Nachhall, etwas Ungesagtes, offen Gelassenes, weiter zu Dichtendes sollte bleiben. 

 

Ein gutes Haiku ist nicht fertig, sondern geht weiter, wenn der Text zu Ende ist. Die Offenheit der Bilder, ihr Nachhall und der Verzicht des Verfassers auf Deutungen und Reflexionen, lassen den Leser weiterdenken, weitersinnen, mitdichten. Nicht unbedingt mit weiteren Worten, aber mit eigenen Assoziationen zu den gesetzten Worten. 

Andeutungen und das Spiel mit Assoziationen werden auch in anderen Gedichtformen geschätzt, in vielen Haiku haben sie einen besonderen Stellenwert. 

Im klassischen japanischen Haiku waren vor allem literarische Anspielungen auf frühere Gedichte wichtig. Im Deutschen ist das weit weniger üblich. Vielleicht, weil es bei uns keinen überschaubaren Literaturkanon mehr gibt. Und weil Zitate eher abfällig einem Bildungsbürgertum zugeordnet werden. 

Stattdessen wird mit dem Klang- und Bedeutungsfeld der Worte und Begriffe gespielt, mit ihrer Atmosphäre, den durch sie ausgelösten weiteren Worten, Bildern, Stimmungen. 

Oft wird auf Satzzeichen verzichtet, was Texte meist vager und damit offener für Interpretation macht. Oder es werden Worte nur lose gesetzt, grammatikalisch unverbunden, mit demselben Effekt. 

 

In der Ausstellung – 

das Kind malt ein Bild ab, 

die Sonne zuerst 11  

 

Das Haiku von Angelika Wienert beschäftigt den Leser dagegen über die Bedeutung ihrer feinen Beobachtung. Warum malt das Kind die Sonne zuerst ab? Was sagt das über Ausstellung und Kind? Unterscheidet sich das Kunstverständnis von Erwachsenen und Kindern? Wie und weshalb? 

Natürlich, inwieweit sich jemand von einem Text zum eigenen Dichten und Denken inspiriert fühlt und inwieweit nicht, hängt von den Vorerfahrungen des Lesers ab, von seinen eigenen existenziellen Fragen, ganz banal auch von seiner momentanen Stimmung und der Umgebung, in der er liest. Bei allen Unterschieden zwischen den Menschen: Haiku mit größerer Offenheit provozieren eine intensivere Beschäftigung des Lesers mit ihnen – so lange die Offenheit nicht so groß wird, dass das Haiku beliebig wirkt, zu wenig Ansatzpunkte für eine Beschäftigung bietet. 

Nicht alle Haiku sind offen. Auch Witz und Wortspiel werden von vielen Haiku-Freunden gern geschrieben und gelesen. Fast immer hat sich der witzige Text nach dem Lesen und Lachen aber erschöpft. Das darf sein. An das Wesen des Haiku rühren aber eher offen gehaltene Texte. 

 

Was es nicht gibt

 

Endreime werden im Haiku nicht verwendet. Das liegt zum einen an der Herkunft des Haiku. Im Japanischen haben Reime sprachbedingt wenig ästhetischen Reiz. Alle japanischen Wörter enden auf einen der Vokale a, e, i, o, u oder auf die More n. Da es betonte und unbetonte Silben wie bei uns im Japanischen nicht gibt, bedeutet das, dass sich sehr viel reimt und der Reim daher keinen besonderen Reiz ausübt. So sind Übersetzungen japanischer Haiku reimlos. Und von unserer eigenen Sprache aus betrachtet: Bei so kurzen Gedichten bekämen Reime ein zu großes Gewicht, sie würden den Text ersticken. 

Von vielen Autoren gern verwendet werden dagegen Assonanzen (Anklänge, Halbreime, wie Maus und grau), auch mal Binnenreime (Reime nicht von Zeilenende zu Zeilenende, sondern innerhalb der Zeilen) sowie Alliterationen (Stabreime, gleiche Anfangslaute, wie Wind und Wolke). Die Frage ist immer, ob der Klang das Bild unterstützt oder ob er es zu dessen Ungunsten dominiert und damit verstellt. 

In Maßen eingesetzt sind solche Klangtechniken eine Bereicherung. Reime sind es nicht.

 

Verbindliche Zeilenzahl: Haiku werden im Westen manchmal als Dreizeiler bezeichnet. Zwar bietet sich die Aufteilung auf drei Zeilen bei vielen Haiku satztechnisch an. Zum Wesen des Haiku gehört sie aber nicht. 

„Der Haiku als ,Dreizeiler‘ ist eine reine Erfindung des Westens.“ Und: „Der Haiku, der vermeintliche Dreizeiler, ist in seiner ursprünglich intendierten Gestalt ein Einzeiler.“ So Arata Takeda 12 . Eigentlich ein Einspalter, denn in Japan wird in Spalten geschrieben.

Gegen Einzeiler als Haiku in unserer Sprache lässt sich also nichts einwenden. Außer, dass Einzeiligkeit bei den meisten Haiku des Buchformats wegen unpraktisch ist. Auch Zweizeiler lassen sich gut begründen, mit Rückgriff auf die beiden Gegenstände oder Sachverhalte, die im Haiku meist gegeneinander gestellt werden.

Vierzeiler machen das kurze Gedicht schon fast unübersichtlich, sie sind deshalb sehr selten.

Haiku als Dreizeiler zu schreiben, ist am praktischsten. Verbindlich ist diese Zeilenzahl aber nicht.

 

Titel oder Überschriften sind nicht gebräuchlich, sie würden den knappen Text zu sehr dominieren. In japanischen Haiku-Büchern kommen manchmal vor oder nach dem Haiku kurze Erläuterungen etwa zum Entstehungsort vor. 

 

 

Die wichtigsten Merkmale des Haiku sind beschrieben. Damit ist das Wesen dieser Form von Dichtung umrissen. 

Aber das Buch endet hier nicht. 

Zunächst folgt noch eine kurze Geschichte des Haiku, dann einige Abschnitte zu Verbindungen des Haiku mit anderen Formen der Dichtung und der Kunst. 

Eine Darstellung des Bestehenden reicht aber nicht aus. Die tiefere Auseinandersetzung mit dem Dargestellten sollte das Haiku lebendig werden lassen. Dichtung ist vor allem Kreativität, nicht bloße Bestandsaufnahme. Dem stellen sich die anschließenden Vertiefungen und der Blick zum Horizont. 

 

Kleine Geschichte des Haiku

 

Japan

 

Die Geschichte des Haiku beginnt im japanischen Mittelalter. 13 Es entwickelte sich aus dem damals sehr verbreiteten Kettengedicht heraus, das meist in geselliger Runde nach einem festgelegten Regelapparat von verschiedenen Dichtern zusammen verfasst wurde. Der erste Teil eines Kettengedichts, er wird „Hokku“ genannt, entspricht dem, was wir heute ein Haiku nennen. Dieser erste Teil wurde meist vom Leiter der Dichtrunde vorgegeben. Beispiel für ein Hokku aus späterer Zeit, verfasst von Yosa Buson (1716-1783): 

 

Die Päonie – 

abgefallene Blütenblätter, 

zwei, drei aufeinander ... 

 

Das auf diesen Eingangsvers aufbauende Kasen (ein 36-teiliges Kettengedicht) 14 dichtete Buson zusammen mit nur einem anderen Dichter, seinem Schüler Taika Kitō (1741-1789). Dieser ergänzte als zweiten Teil: 

 

Am Zwanzigsten im Deutzienmonat, 

bei fahlem Mondlicht ganz früh ... 

 

Ebenfalls Kitō als dritten Teil: 

 

Ein alter Mann, 

vornehm hüstelnd: Er geht wohl 

das Tor öffnen ... 

 

Grundprinzip der japanischen Kettendichtung: Der erste Teil gibt etwas vor, der zweite Teil bezieht sich darauf, der dritte Teil bezieht sich auf den zweiten Teil – nicht aber auf den ersten Teil, von dem er einen deutlichen Abstand haben sollte. Und so geht es weiter. Zudem gibt es für die verschiedenen folgenden Teile Vorgaben zum Inhalt – und es sollen keine Wiederholungen vorkommen: Jedes Glied eines Kettengedichts ist so ein einzigartiger Teil der vielfältigen Welt und nur durch seine direkten Nachbarn eingebunden ins Ganze. 

Wesentlich für den Aufbau der Verse eines Kettengedichts war das klassische Waka, das japanische Gedicht, im Unterschied zu den damals in Japan bevorzugten chinesischen Gedichtformen. Ein Waka besteht aus Folgen von fünf und sieben Lauteinheiten (Moren). Die heute bekannteste Form eines Waka ist das Tanka, mit fünf, sieben, fünf, sieben, sieben Lauteinheiten, zusammen also 31. In europäischen Sprachen wird das Tanka fünfzeilig geschrieben, im Japanischen kann das anders sein. 

Dem Hokku entsprechen die ersten drei „Zeilen“ des Tanka, seinem ersten Anschluss die „Zeilen“ vier und fünf. 

Bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts erschien das Hokku als eigenständige Dichtform. Es wurde auch als Einzeldichtung Hokku genannt – oder Haikai – oder ausführlicher: Haikai no Hokku. Denn „Haikai Renga“ hieß die Art des Kettendichtens, die sich damals durchgesetzt hatte, und Hokku nannte man das erste Glied darin. Breiter bekannt wurde die neue Dichtform des Hokku oder Haikai aber erst im 17. Jahrhundert, in der Edo-Zeit, durch die sogenannte Teimon-Schule von Matsunaga Teitoku (1571-1653) und die Danrin-Schule von Nishiyama Sōin (1605-1668), in beiden Schulen eher als Scherzgedicht. Ein bekanntes Beispiel aus dieser frühen Zeit: 

 

Fliegt die gefallene 

Blüte zurück an den Zweig? 

Ein Schmetterling! 15  

 

Der entscheidende Schritt hin zu ernsthafter Literatur gelang unter Matsuo Bashō (1644-1694). Nach seiner Umsiedlung von Kyōto nach Edo (das heutige Tōkyō) im Jahre 1672 etablierte er sich dort als Lehrer von Kettengedicht und Hokku. Wohl im Jahre 1682 nimmt er den Künstlernamen Bashō an, das heißt „Bananenstaude“, nach der „Hütte zur Bananenstaude“ in der er etwas außerhalb der Stadt lebte. Bislang einer von vielen, die nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten suchen, wird er langsam bekannter. Immer wieder ist er auf Reisen durch das ganze Land unterwegs, meist zu Fuß, und verbreitet seine Art zu dichten. Eine dieser Reisen beschreibt sein bekanntestes Einzelwerk, das Reisetagebuch Oku no hosomichi („Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland“). Er veröffentlichte Sammlungen von Hokku mit seinen Schülern. 

Von Bashō sind nur rund tausend Hokku überliefert, er gilt für die Ausbreitung und den Gehalt der Hokku-Dichtung aber als überragend. Das liegt auch an seinen Schülern, von denen einige ganz herausragende Dichter waren und seine Art des Dichtens weiter trugen. Bashō setzte manchen seiner Schüler im Hokku über sich selbst und beanspruchte für sich nur die Meisterschaft im Kettengedicht. Takarai Kikaku (1661-1707), einer dieser großen Schüler, gab die Zahl der Anhänger zum Zeitpunkt von Bashōs Tod mit 2.000 Menschen an, im ganzen Land verstreut. Zwei Beispiele für Bashōs Hokku: 

 

Stille! 

Der Zikadenlärm dringt 

in den Stein. 16  

 

Vollmond. 

Die ganze Nacht ging ich 

rund um den Teich. 17  

 

Nach Jahrzehnten der Stagnation trat mit Yosa Buson (1716-1783) wieder ein überragender Hokku-Dichter auf. Zudem gilt er als einer der bedeutendsten japanischen Maler. Seine Hokku sind denn auch besonders bildhaft. Ein Beispiel: 

 

Schlafender Mönch. 

Sein Arm leuchtet weiß 

in den Frühlingsabend. 18  

 

Kobayashi Issa (1763-1827) ist der bis heute vielleicht volkstümlichste Hokku-Dichter. Er war Sohn eines Bauern, wurde mit 14 Jahren als Dienstbote in die Hauptstadt geschickt, kehrte nach dem Tod des Vaters zurück, war immer arm. Sein Buch Ora ga haru („Mein Frühling“) erzählt sehr persönlich in Prosa und Hokku, auch mit viel Humor, von seinem Leben. Ein Beispiel, geschrieben nach dem Tod seiner geliebten kleinen Tochter: 

 

Unsere Welt, 

ja, flüchtig wie Tau ... 

Und dennoch, dennoch! 19  

 

Inspirierende Zeiten des Aufbruchs mit großen Hokku-Dichtern werden immer wieder abgelöst von Zeiten der Stagnation und des Niedergangs. Um das Jahr 1900 setzte sich mit Masaoka Shiki (1867-1902) die letzte große Erneuerungsbewegung des Hokku durch. Shiki lehnte das Kettengedicht ab, griff den inzwischen wie einen Gott verehrten Bashō an und reformierte das Hokku, gab ihm auch einen neuen Namen, nämlich Haiku. Mit seinem Begriff „Shasei“, das bedeutet etwa: „Skizzieren nach der Natur“, betonte er, angeregt durch europäische Einflüsse, den Realismus im Haiku. Ein Beispiel: 

 

In der Kneipe 

wird wieder laut gestritten. 

Verschleierter Mond. 20  

 

Nach dem Tod Shikis fächert sich die neue Bewegung auf, zunächst unter den beiden wichtigsten Schülern Shikis. Takahama Kyoshi (1874-1959) verfolgt eine wieder eher konservative Richtung, Kawahigashi Hekigotō (1873-1937) dagegen eine noch radikalere Richtung mit Aufgabe auch der Morenzahl und des Jahreszeitenworts. 

Seitdem bestehen im japanischen Haiku konservative und avantgardistische Strömungen nebeneinander. Die Popularität des Haiku ist unverändert groß. Als Beispiel soll nur noch ein Außenseiter aufgeführt werden, der wandernde Zen-Mönch Taneda Santōka (1882-1940): 

 

Auch in den alten Bettelnapf 

prasselt der Regen. 21  

 

Die Welt

 

Im ersten europäischen Haiku-Kongress, 2005 veranstaltet von der Deutschen Haiku-Gesellschaft in Bad Nauheim, stellte eine Reihe von Vertretern europäischer Haiku-Gesellschaften Situation und Geschichte dieses Gedichts in ihren Ländern vor. 22 Danach dürfte das erste veröffentlichte Haiku eines Europäers von einem Niederländer stammen, Hendrik Doeff (1777-1835), der in Nagasaki arbeitete. 

Angekommen in Europa ist das Haiku aber erst Anfang des 20. Jahrhunderts. Vorreiter war Frankreich, wo ab dem Jahr 1903 Haiku geschrieben werden. Ein erstes europäisches Buch nur mit Haiku erschien folgerichtig in Frankreich, alle Haiku darin stammen von einer Bootsfahrt dreier Freunde auf der Seine und ihren Seitenkanälen im Jahre 1905. 23  

Auch deutschsprachige Dichter wurden zunächst von französischen Veröffentlichungen angeregt sowie durch zeitgleich erscheinende Anthologien japanischer Dichtung auf Deutsch, so etwa Rainer Maria Rilke, der sich mit der Gedichtform auseinandersetzte und selbst drei Haiku schrieb. 24 Das einzige deutschsprachige davon, in einem Brief übermittelt: 

 

Kleine Motten taumeln schauernd quer aus dem Buchs; 

sie sterben heute Abend und werden nie wissen, 

daß es nicht Frühling war. 

 

Deutlich näher am Haiku einer seiner französischen Versuche (das ist vielleicht sein allerletztes Gedicht): 

 

Entre ses vingt fards  

elle cherche un pot plein:  

devenu pierre.  

 

Übersetzt etwa: Zwischen ihren zwanzig Schminktiegeln / sucht sie nach einem vollen Topf: / zu Stein geworden. 

 

Die ersten deutschsprachigen Haiku wurden wohl von Hans Kanzius während eines Japanaufenthalts 1914 bis 1920 geschrieben. Weiter haben Franz Blei (1925) und Yvan Goll (1926 und 1927) Haiku veröffentlicht. 

In andere europäische Länder fand das Haiku erst später. Auch in Frankreich und Deutschland gibt es keine kontinuierliche Entwicklung, sondern, vor allem um den zweiten Weltkrieg, Zeiten von Stagnation und Vergessen. Bekannter wurde das Haiku bei uns erst ab 1962 mit der Buchveröffentlichung „Haiku“ der Österreicherin Imma von Bodmershof (1895-1982), die als erste eigenständige Haiku-Autorin deutscher Sprache gilt. 

Viel für das Haiku und die japanischen Gedichtformen getan hat Carl Heinz Kurz (1920-1993), ein Schriftsteller, der auf seinen Reisen in Japan dessen Dichtung kennenlernte, in seinem weitläufigen Freundeskreis verbreitete und als Herausgeber zahlreiche Anthologien mit Haiku und Kettengedichten deutschsprachiger Autoren veröffentlichte. Er regte die Gründung der Deutschen Haiku-Gesellschaft an, die 1988 mit der ersten Präsidentin Margret Buerschaper (1937-2016) zustande kam und die mit ihrer Vierteljahresschrift bis heute eine wesentliche Quelle der Auseinandersetzung um das deutschsprachige Haiku geblieben ist. Mit Entwicklung des Netzes traten um die Jahrtausendwende daneben Online-Foren auf, wegweisend war das 2003 bereits wieder geschlossene HaikuHaiku.de von Hans-Peter Kraus 25 , dem im selben Jahr Haiku-heute.de nachfolgte. 

In die englischspachige Welt gelangte das Haiku 1910 durch eine Anthologie, die von den Imagisten, einer literarischen Strömung zwischen 1910 und 1917, aufgegriffen wurde. 26 Zu diesen Dichtern gehörten James Joyce, D.H. Lawrence, Ezra Pound, Carl Sandburg und William Carlos Williams. Sie nahmen aber eher Elemente von Haiku in eigene Dichtung auf, als dass sie Haiku schrieben. Als Haiku am bekanntesten geworden ist ein Text von Ezra Pound: 

 

The apparition of these faces in the crowd; 

Petals, on a wet black bough. 

 

Das Erscheinen dieser Gesichter in der Menge; 

Blütenblätter auf einem nassen schwarzen Zweig. 

 

Nach dem zweiten Weltkrieg wurde in den USA das Haiku durch ein erwachtes Interesse an der japanischen Literatur neu erweckt. Die vierbändige Anthologie japanischer Haiku mit Kommentaren von R.H. Blyth (erschienen 1949-1952) wurde wegweisend – auch für die Behauptung eines engen Bezugs des Haiku zum Zen. Unter den Schriftstellern der zum Zen-Buddhismus hingezogenen Beat-Bewegung waren Haiku populär, so bei Allen Ginsberg, Gary Snyder und Jack Kerouac. Sommerkamp gibt in ihrer Dissertation (1984) Beispiele dafür, wie Allen Ginsberg Haiku in Gedichte und Jack Kerouac Haiku in sein Prosabuch „Dharma bums“ eingebaut haben. Beide schrieben auch einzelne eigenständige Haiku. Jack Kerouac hatte die Veröffentlichung eines Haiku-Buchs geplant. Seit damals gibt es eine ununterbrochene Reihe von Haiku-Publikationen in der englischsprachigen Welt, die allerdings andere Wege gingen als die Beat-Dichter in ihren Texten. 

In Südamerika, Afrika und den asiatischen Ländern außerhalb Japans trat das Haiku erst später auf. Inzwischen ist es in wohl fast allen Kulturen der Welt vertreten. In vielen Ländern gibt es nationale Haiku-Gesellschaften, außerdem sind mehrere internationale Haiku-Vereinigungen aktiv. 

 

 

Haiku und ...

 

Die drei ersten Teile dieses Kapitels beschreiben die Verbindungen von Haiku mit anderen Künsten, die zu feststehenden eigenen Kunstformen geführt haben: Haibun, Kettengedicht, Haiga. Außerdem können Haiku mit Musik unterlegt, sie können gesungen, sie können in Filme eingebettet sein, sie können getanzt werden (John Neumeier inszenierte Haiku als Ballett). 27  

Der vierte Teil des Kapitels will auf die Verbindung von Haiku und anderer Lyrik aufmerksam machen.

Im Anschluss geht es um die Praxis von Haiku-Spaziergängen und das Besuchen und Bedichten bekannter Orte.

 

Prosa: Haibun

 

haibun bedeutet heute zunächst im weiteren Sinn ganz allgemein die von haikai-Dichtern verfasste Prosa“, schreibt der Japanologe Ekkehard May in der Einführung seiner Ausgabe der Haibun Bashōs. Und fügt gleich hinzu, dass „die japanische Literaturwissenschaft heute aus praktischen Erwägungen unter haibun im engeren Sinn nur die betrachtende, reflektierende Kunstprosa unter Ausschluss der Reiseschilderung“ versteht, „die ein eigenes Genre bildet“. 28 Bashōs berühmtestes Werk „Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland“ zählt als Reiseschilderung damit also nicht als Haibun im engeren, aber doch im weiteren Sinne. 

Wir können auf diese nicht immer einfach zu ziehende Grenzziehung aber verzichten und sagen: Haibun ist lyrische Prosa von Haiku-Dichtern.

Haiku-Prosa gab es schon vor Bashōs Zeiten. Auch der Meister selbst hat sich damit beschäftigt. Von den Versuchen seiner Schüler war er allerdings nicht sehr angetan, ließ den Plan einer Anthologie deshalb wieder fallen. 

Bashōs Schüler Morikawa Kyoriku (1656-1715) gab eine erste große Sammlung mit Haibun heraus, 116 Texte von 28 Autoren. 

Auch andere bekannte Haiku-Autoren haben Prosa hinterlassen, so etwa Issa mit den Büchern „Die letzten Tage meines Vaters“ (in Tagebuch-Form) und dem besonders berührenden „Mein Frühling“.

Meist sind in die Prosa Haiku eingebettet. Es kann auch ganze Sequenzen von Haiku geben, denen nur ein kurzer Prosa-Text voran- oder nachgestellt ist. Umgekehrt können Haiku in Haibun sogar ganz fehlen.

Jede Art Text kann als Haibun betrachtet werden. Manche Autoren möchten für die Einordnung als Haibun das Attribut Haiku-artig. Aber was heißt das? Haiku können sich stark unterscheiden.

Schaut man sich eine größere Anzahl von in Deutsch geschriebenen Haibun an, folgt meist auf einen kurzen Prosatext ein Haiku, das den Prosa-Inhalt auf den Punkt bringt oder zuspitzt oder vertieft, manchmal durch eine zusätzliche Information kippen lässt, eine Wendung in den Text bringt. Im Haiku etwas aufzugreifen, das auch in der Prosa genannt wurde, ist weniger reizvoll. Ansonsten ist eine besondere Ästhetik des Haibun schwer fassbar, die Arbeiten der einzelnen Autoren unterscheiden sich stark.

Themen sind fast immer eigene reale Erlebnisse, aus dem Alltag gegriffen, kleine Beobachtungen, selten Schicksalsstunden, fast nie offensichtlich erfundene Geschehnisse oder abenteuerliche Geschichten.

Die Prosa entspricht damit gut der Thematik und Auffassung von Haiku, gibt aber mehr Raum.

Ein eigenes kleines Beispiel dazu:

 

Kettengedicht: Tan-Renga

 

Je nach Länge der Glieder werden in Japan verschiedene Formen von Kettengedichten unterschieden. Das früher sehr beliebte Kasen besteht aus 36 Gliedern. Kürzeste Form eines Kettengedichts nach japanischer Tradition ist das zweigliedrige Tan-Renga. 29  

Mit ihm hat das Kettengedicht überhaupt erst begonnen. Das erste Tan-Renga wurde veröffentlicht in der ersten großen japanischen Gedichtanthologie Man’yōshū („Sammlung der zehntausend Blätter“, um das Jahr 759 erschienen), die in 20 Bänden die japanische Lyrik etwa der Jahre 600 bis 750 darstellt. Das liegt deutlich vor der Zeit des Haiku. 

 

Das erste Glied eines Tan-Renga, der Oberstollen, besteht aus einer Folge von 5, 7 und wieder 5 Moren, das zweite aus einer Folge von 7 und noch einmal 7 Moren. Heute werden Tan-Renga bei uns meist in freien Versen als 5-Zeiler geschrieben, mit nicht mehr als 17 Silben für den Dreizeiler und nicht mehr als 14 Silben für den Zweiteiler, also insgesamt 31 Silben – möglichst weniger. 

Das Versmaß entspricht damit der Form eines klassischen Tanka. Beim Tan-Renga haben allerdings der Drei- und der folgende Zweizeiler zwei verschiedene Autoren. Ein Autor gibt den Oberstollen vor, der andere ergänzt ihn mit dem Unterstollen zum fertigen Gedicht. 

Zentral im Tan-Renga ist die Verbindung zwischen den beiden Teilen. Meist wird vom zweiten Teil ein Wort aus dem ersten Teil aufgegriffen und daraus ein eigener Vers entwickelt, ohne dieses Wort direkt zu wiederholen. Aus dem Wort „Mond“ im ersten Teil könnte der zweite Teil auf „Sternennacht“ kommen. 

Dabei müssen beide Teile nicht am selben Ort oder zur selben Zeit spielen, die Verbindung kann sich ganz auf diese zwei Begriffe beschränken, die beiden Teile müssen auch thematisch nichts miteinander zu tun haben. Derart lose verbundene Texte wirken allerdings meist gekünstelt, miteinander inhaltlich verbundene Teile entsprechen besser unserer Ästhetik. 

 

Mainacht – 

die Nachtigall schlägt hoch 

bis in den Hals 

 

Geknickte Rohre im Schilf, 

wo gestern das Boot lag.  

 

Gerd Börner / Volker Friebel 30  

 

Das Beispiel zeigt, dass im Idealfall beide Teile als selbstständige Gedichte betrachtet werden können, dass durch ihre Zusammenstellung sich aber ein neues Bild ergibt, das so in keinem der beiden enthalten ist. 

Wo mag das aus der verborgenen Anlegestelle im Schilf entschwundene Boot nun sein? Dem ersten Teil nachsinnend, sehe ich es unterm Vollmond auf dem Waldweiher, mit einem Liebespaar. 

Der Zweiteiler nimmt in diesem Beispiel nicht ein bestimmtes Wort aus dem Dreizeiler auf, sondern seine Atmosphäre. Und führt sie weiter. 

 

Ob Tan-Renga, ob Kettengedichte überhaupt literarisch überzeugen können, ist umstritten. Im alten Japan war das Kettengedicht ein gesellschaftliches Ereignis, viele Haikai-Dichter beteiligten sich rege an Gemeinschaftsdichtungen. Der große Reformator und Namensgeber des Haiku, Shiki, hat sie allerdings als literarisch wertlos abgelehnt. 

Jedenfalls sind Kettengedichte ein Angebot zur Begegnung. Und sicher fördert es die eigene Sensibilität, sich auf andere Dichter einzulassen, mit ihnen gemeinsam zu dichten. 

Ein weiteres Beispiel: 

 

unter altem Laub

leere Schneckenhäuser

was war und was wird ...

 

aus den Ruinen

der Klang einer Flöte

 

Brigitte ten Brink / Ruth Karoline Mieger31  

 

Die Zeichen der Vergänglichkeit im Dreizeiler werden vom Zweizeiler mit dem Wort „Ruinen“ aufgenommen. Und die Frage nach dem „was wird“ beantwortet der Klang einer Flöte. 

Nicht, dass der zweite Teil immer eine Beantwortung des ersten sein muss oder sollte. Er kann den ersten Teil auch in Frage stellen. Wichtig ist, dass es eine Beziehung gibt, nicht dass diese immer in einer bestimmten Art und Weise gestaltet ist. 

Titel oder Überschriften sind wie beim Haiku nicht gebräuchlich. 

Üblicherweise wird zwischen Ober- und Unterstollen ein Abstand gesetzt. Die beiden Verfasser stehen unter dem Text. Das ist aber nicht verbindlich. 

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783960390305
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Oktober)
Schlagworte
Lyrik Kurzgedichte Lehrbuch Kurzlyrik Tan-Renga Gedichte Haiku Haiga Haibun

Autor

  • Volker Friebel (Autor:in)

Volker Friebel wurde an einem Schneesonntag gegen Ende des Jahres 1956 in Holzgerlingen geboren. Nach Wanderjahren Studium der Psychologie und Promotion. Tätig als Schriftsteller, Ausbildungsleiter, Bildermacher und Musiker. Eigene Haiku entstehen seit 1980 und füllen einige Bücher. 2005-2013 Schriftführer der Deutschen Haiku-Gesellschaft. Gründer und Betreiber der Netzpräsenz Haiku heute. Herausgeber des Haiku-Jahrbuchs. Er lebt in Tübingen.
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Titel: Das Haiku