Lade Inhalt...

Atlantis - Botschaft

von Harald Braem (Autor:in)
271 Seiten

Zusammenfassung

Auf Malta findet die Archäologin Eleonore Zammit in einem unterirdischen Labyrinth uralte Papyrusrollen. Sie sind mit ägyptischen Hieroglyphen bemalt und stammen offenbar von Atlantis. Eleonore Zammit und ein Team von Wissenschaftlern versuchen auf unterschiedliche Weise, den Inhalt der Papyri zu entschlüsseln. Welche Rolle spielt dabei der Ägypter Dr. Salek? Und warum ist der Journalist Danielo Mostar hinter einem geheimnisvollen Suchtrupp her, der das Gelände durchforscht? Schauplätze des Romans sind die magisch-mystischen Orte der Megalithkultur, u. a. Stonehenge, die Bretagne, Irland, und die Inseln und Küsten des Mittelmeers. Er schildert den Untergang des Atlantischen Reiches. Ein fantastisches Roadmovie zur See durch die Welt vor dreieinhalbtausend Jahren.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Harald Braem

 

 

Die Atlantis-Botschaft

 

 

Historischer Fantasy-Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

 

www.elveaverlag.de

Kontakt: elvea@outlook.de

 

© ELVEA 2020

Chemnitz/Deutschland

 

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk darf, auch teilweise,

nur mit Genehmigung des Verlages

weitergegeben werden.

 

Autor: Harald Braem

 

Titelbilder: Mikhail Dudarev

Dmytro Tolokonov

Małgorzata Duvendack

Covergestaltung/Grafik: ELVEA

 

Layout: Uwe Köhl

Projektleitung

www.bookunit.de

 

Der Autor

 

 

 

Harald Braem, geboren 1944 in Berlin, war Professor für Kommunikation und Design an der Fachhochschule Wiesbaden und lebt heute in Nierstein am Rhein und auf der Kanareninsel La Palma.

Jüngste Veröffentlichung: ›Die abenteuerlichen Reisen des Juan G.‹ im Elvea Verlag 2020.

 

Weitere Informationen: www.haraldbraem.de

 

 

 

1

Malta, in einem Höhlensystem unterhalb von La Valletta


Es ist warm, staubig und bedrückend eng hier unten. Die Luft scheint zu stehen. Im Schein der Stirnlampe tanzen winzige Partikel vor den Augen. Zweimal hat sie sich bereits beim Hineinkriechen an der niedrigen Decke gestoßen. Sie hasst Schutzhelme, weil sie darunter immer so schwitzt und sich wie eine Astronautin vorkommt. Sie nimmt lieber mal kleinere Kratzer und Schrammen in Kauf. Das gehört nun einmal zu ihrem Beruf. Aber diesmal sind es nicht die blöden Stöße an die Decke. Ihre Migräne scheint wieder im Anmarsch zu sein. Und das ausgerechnet jetzt, in dieser klaustrophobischen Situation … Sie kennt die Vorzeichen genau: zunehmender Druck im Schädel, der mitunter schwindelig macht. Dann das erste, unerwartete Stechen, nur in der linken Kopfhälfte, ein Schmerz, der, wie der Stich des Tentakels einer giftigen Feuerqualle, in ihr Bewusstsein greift. Dumpf, von hinten kommend, wie ein greller Blitz nach vorn durch bis zur Nasenwurzel. Zum Glück hat sie ihre Tabletten dabei. Sie trägt sie immer bei sich, in der rechten Außentasche ihrer Cargohose, und manchmal helfen sie wirklich. Aber sie muss sich vorsehen. Sie ist schließlich nicht mehr die Jüngste.


Eleonore, oder besser, Dr. Eleonore Zammit, ist siebzig und emeritierte Professorin der Università ta' Malta in Valletta. Sie ist klein, dünn, um nicht zu sagen spindeldürr, von zäher Konstitution. Kurz geschnittene, drahtige graue Haare umrahmen ein kantiges Gesicht. Sie ist solo, hat in ihrem Leben keine länger anhaltenden Liebesbeziehungen erlebt und dieses Thema irgendwann entschlossen ad acta gelegt. Sie hat auch keine Kinder; ihre Kinder sind die Bücher, die sie zur rätselhaften Tempelkultur ihrer Vorfahren schrieb. Viele Bände, die im hintersten Winkel des archäologischen Fachbereichs, wo man ihr ein winziges Studierzimmer samt Schreibtisch und Computer überlassen hat, die halbe Schrankwand füllen. Forschen und Schreiben, das ist ihr Leben, Feldforschung draußen und das Verfassen, Korrigieren, Überarbeiten tausender Manuskriptseiten in der muffigen Abstellkammer, die, wegen der düsteren Atmosphäre, die in jedem Winkel des Raumes hockt, außer ihr niemand zu betreten wagt.


Eleonore ist ein Arbeitstier, sie hat sich in all den Jahren kaum eine Pause geschweige denn einen sinnlosen Urlaub gegönnt. Wenn sie erst einmal einem Gedanken oder Hinweis auf der Spur ist, ist sie nicht mehr zu bremsen. Das bekommt ihr gut. Bis auf die unregelmäßig auftretenden Migräneattacken ist sie einigermaßen gesund und in der Regel hellwach (abgesehen von einzelnen Phasen, in denen sie etwas zu viel dem Rotwein zuneigt). Sie denkt nur in Projekten, Epochen und Zeitfenstern. Living on the magic line nennt sie diesen Zustand, der sie ohne Drogen und Stimmungsaufheller glücklich macht. Und diese Entdeckung hier, tief unter den belebten Häusern und Straßen der Stadt, wo nur die Stille der Ewigkeit herrscht, hat sie von Anfang an euphorisch gemacht.


Vor einem Jahr fing alles ganz harmlos an: Zuerst stürzte ein verlassenes, baufälliges Haus ein, das abgerissen werden sollte, um Platz für neuen Wohnraum zu schaffen (die Bevölkerung Maltas wächst, Wohnungen in der Stadt werden knapp, und die Mieten steigen in astronomische Höhen). Dann legte der Baggerführer einen verborgenen Eingang im Kellergewölbe frei. Da gerade Semesterferien waren und niemand Zeit und Lust hatte, sich darin stören zu lassen, wurde Eleonore beauftragt, dort nach dem Rechten zu sehen.

»Die alte Professorin hat immer Zeit«, hatte der Direktor geäußert, »die kann das mal machen.«

Und so war sie mit dem Taxi zur Baustelle gefahren, hatte sich tagelang mit mürrischen Bauarbeitern durch Schutt und Trümmer gewühlt und schließlich den Eingang zu einem Höhlensystem gefunden, dessen Ausmaße viel größer waren als Anfangs gedacht. In einem hinteren, halb verschütteten Winkel fand sie die Tongefäße, schräg aneinander geschichtet wie in einem Warenlager. Sie waren mit Lehmklumpen versiegelt und zum größten Teil noch gut erhalten. Als sie mit ihrem Schweizer Offiziersmesser (ein Utensil, das sich stets in der linken Außentasche ihrer Cargohose befand) das Lehmsiegel eines bereits rissig zersprungenen Gefäßes aufschnitt und vorsichtig ein paar größere Scherben entfernte, fiel ihr sofort der Inhalt auf: Es waren Papyrusblätter, eng aneinander gerollt, vielleicht an vielen Stellen zusammengebacken, aber auf den ersten Blick hin in einem erstaunlich heilen Zustand.


Eleonore erinnert sich immer wieder an diesen Moment, obgleich er bereits ein Jahr zurückliegt, selbst in ihren Träumen erlebt sie die Szene real, als würde es gerade passieren. Ihr Herz klopft wild, ihre Hände zittern leicht, und die Gedanken in ihrem Kopf beginnen zu wirbeln. Instinktiv fühlt sie, dass sie soeben dabei ist, die größte Entdeckung ihres Lebens zu machen. Spektakulärer noch als der Sensationsfund damals von Hal-Saflieni, wo man vor vielen Jahrzehnten die schlafende Dame im Hypogäum fand. Eine kleine Tonfigur mit unglaublich dicken Körperteilen, die als sleeping lady in kurzer Zeit zu Weltruhm gelangte.


Eleonore Zammit kommt mittlerweile alles wie ein Traum vor. Was macht sie hier unten noch weiter im Labyrinth, wo manche Decken gefährlich bröckelig wirken und in keiner Weise vorschriftsmäßig abgesichert sind? Was sucht sie? Müsste sie nicht eigentlich längst wieder im Yachthafen von Gzira sein, auf dem Hausboot, das dem Computerteam derzeit als Labor und Unterkunft dient?

Aber sie hat ja den Stick dabei, ihren Laptop in der Nähe, eine Etage höher, wo sie zwischen Schuttbergen an einem Campingtisch ihr provisorisches Büro eingerichtet hat, um permanent online zu sein. Sie weiß, dass inzwischen mehrere Versionen der bisher übersetzten Papyrusschriften existieren. Wie bei den Rollen von Qumran. Eine, die sich streng wissenschaftlich an identifizierbaren Bildzeichen und daraus ableitbaren Bedeutungszusammenhängen orientiert, und eine andere, die frei assoziierend auf vergleichbare Algorithmen setzt. Und eine, die mehr auf Eleonores Fantasie und Erzählfreude beruht. So jedenfalls versteht sie den Text, würde ihn nach ihrem Gefühl so interpretieren. Diese Version hat sie auf ihrem Stick gespeichert. Vorerst hält sie sie noch geheim. Außerdem arbeitet sie noch ständig daran. Immer und immer wieder liest sie den Text, in den Pausen und den Nächten, in denen sie wenig Schlaf findet, ergänzt, verbessert, formuliert um und schmückt ihn an bestimmten Stellen nach bestem Wissen und Gewissen aus.


Eleonore Zammit wischt sich den Schweiß von der Stirn, kriecht rückwärts wie ein Wurm aus dem Erdloch, richtet sich mit einem Stöhnen auf. Einen Moment lang steht sie mit geschlossenen Augen leicht schwankend da. Sie wartet auf den Schmerztentakel. Nichts. Nur ein Druck im Schädel, eine leichte Benommenheit. Sie öffnet die Augen und beginnt den Aufstieg über die Leiter aus Metall. Unendlich langsam, mit der Geschwindigkeit eines Chamäleons, klettert sie Stufe um Stufe nach oben. Als sie den Arbeitstisch und den Schemel davor erreicht hat, schiebt sie den Stick ein …

Was für ein Glück, denkt sie, was für ein Glück, dass ausgerechnet dieses alte Haus eingestürzt ist und dass ich als erste informiert worden bin … Mittlerweile liebt sie die Ruine. Sie ist ihr Zuhause geworden. Der Bildschirm leuchtet auf. Sie beugt sich vor, um ohne Brille lesen zu können …

Es ist ein Papyrustext, den sie in mühsamer Kleinarbeit entziffert hat. (Es gibt da noch eine andere, fürchterlich schlecht erhaltene Rolle, die momentan nur aus winzigen Schnipseln besteht, welche sie schon seit vielen Tagen und Nächten auf dem Bildschirm hin- und herschiebt, um einen logischen Zusammenhang zu finden. Doch um den geht es momentan nicht.) Alle anderen Rollen sind inzwischen übersetzt und in die richtige Reihenfolge gebracht und nummeriert, behaupten jedenfalls die Kollegen aus dem Team. Sie ist anderer Meinung. Bei dieser hier muss es sich um die vorletzte Papyrusrolle handeln, davon ist sie fest überzeugt, obwohl die anderen Experten im Team sie für die Nummer eins halten:

 

2


Ich, Mazdanuzi, Sohn des Merlin von Karnak und der weisen Meri vom Klan der Eulen im geliebten Armorika, Gesandter der Meere, Eingeweihter dritten Grades und Botschafter von Atlantis, ich stehe mit leeren Händen hier, weil ich das Siegel des Hochkönigs beim großen Beben auf der Insel Minos verlor.


Ich richte meine Rede auch nicht wie sonst an Adlige, Generäle und Hohepriester, sondern nur an meinen Diener Haremtab, damit er ein letztes Protokoll anfertigt.


Ich, Mazdanuzi, bin Augenzeuge geworden vom Untergang unseres Reiches, ich sah das Imperium wanken, bersten und sinken, die einst so stolze und gefürchtete Großmacht der Meere, Inseln und Küsten im Erdkreis. Ich spüre das Land unter mir beben und bin schutzlos ausgeliefert, weil wir kein Schiff besitzen, nicht einmal ein winziges Schilfboot mit Segel, um zu entkommen. Wohin auch sollten wir uns wenden?


Nun, in der Stunde der größten Not, vertraue ich das gesamte Wissen meinem Schreibsekretär an, der mir treu ergeben und ein gebildeter Mensch ist. Haremtab stammt aus der Nilprovinz des Falken-Klans, beherrscht beide Sprachen fließend, unsere und die der dunkelhäutigen Ureinwohner, und versteht es, sie in den Zeichen der geheimen Schrift mit raschen Pinselstrichen auf Papyrus zu malen. Ich hoffe, dass er alles umsetzt, was ich ihm sage, dass er die Bilder gut darstellen wird, auch komplexe Gedankengänge und Schilderungen in Hieroglyphen bannt. Vor allem aber hoffe ich, dass er so schnell schreiben kann, wie ich spreche. Ich habe keine andere Wahl, ich muss es auf diese Weise versuchen, denn es bleibt nur noch wenig Zeit, um über alles, was von Belang sein könnte, genau zu berichten. Diese Niederschrift wird wahrscheinlich meine letzte Botschaft sein …


Unaufhaltsam versinkt Atlantis in den Fluten des Meeres, unter Asche und Lava, in Feuer und Sturm, als hätten sich alle Elemente gleichzeitig gegen uns verschworen. Die Gewalten der Natur, die wir so kühn herausforderten, um sie in unsere Dienste zu zwingen, sie erheben sich nun auf furchtbare Weise.


Die letzten Jahre wurden von Katastrophen erschüttert. Die Vulkane Etna und Thera auf den Inseln im Meer der Mitte barsten auseinander, ebenso der mächtige Hermon an der waldreichen Küste nördlich der Nilprovinz, die vom Klan des Phoenix besiedelt wird. Die Berge spien giftige Nebel aus und sandten Feuer, die alles Leben im weiten Umkreis verbrannten. Mancherorts erblickte ich Stätten des Grauens, vernichtete Tempel und Städte, die vormals als berühmte Zentren des Handels galten. Dort strichen Schakale auf der Suche nach Beute herum, die sie reichlich im Leichenfeld fanden, Seuchen bringende Wesen der Unterwelt, sie dienen dem Tod.


Nichts mehr gewahrte ich von den Palästen, den befestigten Häfen, den Schiffen, der großen Flotte, die bisher Garant unseres Wohlstands waren. Das Meer indes sah ich wütend kochen und Wellen sich hoch zu Bergen wölben. Mehrfach entkam ich nur knapp dem Tod, bis endlich unser Schiff an den Klippen dieser Insel zerschellte, die den Namen Malta trägt, was in der alten Sprache Nabel der Welt bedeutet. Einzig Haremtab und ich blieben von der Besatzung am Leben.


Wir fanden Malta verlassen vor, die Insel der hundert Tempel, und nirgends Anzeichen von Kampf. Das wundert uns sehr, denn es muss ein großes Volk gewesen sein, das am Nabel der Welt lebte, nach meiner Schätzung mehrere tausend Menschen umfassend. Allesamt sind sie weg, wie vom Erdboden verschluckt. Doch ihre Tempel, die sie mit riesigen Steinquadern erbauten, stehen unversehrt, und in den heiligen Stätten unter der Erde ruhen nur die Gebeine der Vorfahren sorgsam bestattet. Also müssen sie wohl Schiffe gebaut haben, Schilf in Massen geschnitten, viele große Boote mit Seitenrudern und Segeln. Sie verschwanden alle auf einen Schlag und ließen keinerlei Nachricht zurück. Wie sollten sie auch ahnen, dass unser Schiff an den Klippen zerschellte? Vielleicht sind sie in dem Toben des aufgewühlten Meeres entkommen. Falls nicht, dann werden Haremtab und ich wohl die letzten Menschen in weitem Umkreis sein. Eine Vorstellung, die mir Unbehagen bereitet und die ich deshalb von mir dränge. Nein, es wird, es muss Überlebende geben! An sie ist die letzte Botschaft gerichtet.


Ich kann nur über das berichten, was ich mit eigenen Augen sah und mit meinen Ohren hörte, was ich an Schrecknissen fühlte und nie mehr vergessen kann, denn es hat sich tief in mein Herz eingebrannt. Auch in meinen Träumen erlebe ich noch einmal das Unheil, so dass ich vermeide zu schlafen, obgleich ich unendlich müde bin. Das viele Wissen belastet mich schwer. Ich weiß: Mächtiger als die Götter sind die Feuer der Vulkane und die Macht des Meeres. Das haben wir schon immer geahnt und aus diesem Grunde Pyramiden gebaut. Auf den meisten Inseln im Meer der Mitte, auf Minos, Thera, am Fuße des Hermon, selbst auf den glücklichen Inseln der ewigen Jugend. In Armorika beobachteten wir von den Pyramiden aus den Himmel und die Meere und kontrollierten die Seefahrt, ebenso auf der Grünen Insel, in Dana, Wasa und Avalon. Auch am Ufer des Nils wurde, wie ich bei meinen Reisen feststellen konnte, in der südlichen Provinz von General Osiris eine Pyramide gebaut, obwohl dort weder Vulkane noch Meer sind, sondern nur endlose Wüste. Wir spähten zum nächtlichen Himmel, um Karten für die Seefahrt zu zeichnen, wir schufen einen Kalender, teilten die Zeit ein und lebten danach, wir kannten den ewigen Rhythmus der Meere, den Atem des Windes und die Unberechenbarkeit der feuerspeienden Berge. Wir wissen, wie gefährlich launisch die Natur sein kann. Aber es ist nicht die Wut der Naturelemente allein, die Atlantis zerstört und seine Trümmer in Vergessenheit sinken lässt, nicht die berstende Erde, die Feuer der Vulkane, das tobend tanzende Meer. All diese Katastrophen, so schlimm sie auch sind, betrachte ich nur als Begleitmusik einer Macht, die weitaus größer und gefährlicher ist. Die endgültige Vernichtung traf uns plötzlich und völlig unerwartet als wütender Sturm aus dem Osten. Einer gewaltigen, alles verschlingenden Flutwelle gleich schlug er in unsere Welt, riss ganze Völker mit sich und warf sie in rasende Schlachten, tausend mal tausend Reiter aus den Steppen und hinter ihnen tausendfach mehr, so dass die Erde unter den Hufen ihrer Pferde erbebte. Dieses ständig anwachsende Beben kann die Ursache sein für die Risse im Boden, das Bersten der Feuerberge, die wilden Flutwellen im Meer …


Wir wissen ja, wie Rhythmus die gesamte Natur bestimmt, speziell die Musik, wenn zum Beispiel unsere Zauberer manchmal die Trommeln schlagen, um Ewigkeit zu erzeugen. Man stelle sich dieses um ein Vielfaches stärker vor und von längerer Dauer. Unglaublich groß muss die Zahl der Menschen im Osten sein, unglaublich groß die Anzahl ihrer Pferde. Sie kamen schneller, als die Schiffe die Gefahr melden konnten, und sie kamen – womit niemand gerechnet hatte – über Land! Reitend überfielen sie das Reich, brandschatzend und plündernd fast gleichzeitig alle Länder und Städte der Atlantischen Union, und vernichteten in wildem Rasen, was das Meer in seinem Wüten bisher noch verschont hatte. Viele Pyramiden und Tempel wurden unter Erd- und Steinhaufen begraben, heilige Plätze unserer Ahnen zugeschüttet, denn alles, was später einmal an uns erinnern könnte, soll ausgelöscht werden. Was unsichtbar ist, verliert nach und nach an Bedeutung.


Bald gibt es Atlantis nicht mehr, nicht weil unsere Heere vernichtet wurden, sondern weil unsere Symbole verschwinden, unsere Tempelberge und Pyramiden, die Plätze der Kraft, die das Imperium im Bewusstsein seiner Bewohner geistig zusammenhielt. Menschen fremder Rassen werden dann in den Mauerresten unserer Städte hausen, die neue Götterfiguren über den Ruinen und Geisterorten aufstellen und anbeten. Was aber das Schlimmste ist – sie werden Menschenopfer an unseren alten, heiligen Plätzen fordern. Wie man hört, sind sie nahezu vernarrt in diese Sitte. Im Namen ihrer zornigen Götter töten sie ihre Gefangenen, manchmal, im religiösen Wahnsinn, sogar sich selbst oder symbolisch die eigenen Götter, indem sie deren Söhne und Töchter auf Erden hinmetzeln. In dieser Hinsicht ähneln sie sehr den Schakalen, denn gleich ihnen dienen auch sie dem Tod.


Wir fragen uns Beide, Haremtab und ich, Mazdanuzi, die bisher wie durch ein Wunder am Leben blieben: Welche Aufgabe haben wir in einer Welt, die dem Tode geweiht ist? Wie viel Zeit verbleibt uns noch, um im großen Buch der Geschichte ein Kapitel zu schreiben? Was kommt danach, wenn unsere Gebeine verblichen sind, die Spuren im Sande verweht, das Meer wieder ein glatter Spiegel? Wird man sich jemals an uns erinnern, wissen, dass wir einmal lebten, liebten und litten?


Nun, da über unser Schicksal entschieden ist, bleibt mir nur noch, möglichst wahrheitsgetreu zu berichten und diese Botschaft in Maltas heiligem Schoß zu versenken, an einem halbwegs sicheren Ort, wo sie aufbewahrt bleiben kann, bis eine neue, bessere Menschheit sie findet und auch versteht. Deshalb muss alles notiert werden, was von Wichtigkeit ist, damit die Welt nach uns daraus lernen kann. Für sie will ich als Gedächtnis dienen. Wer ohne Gedächtnis ist, gleicht einem Schiff ohne Kurs, treibt sinnlos durchs Leben, das ihm stets wie Nebel und Gedankenspiel erscheint. Ein solcher wird sich nie den Geheimnissen nähern, die unser Schicksal lenken.


Die Erde bebt erneut unter meinen Füßen, schon stürzen Teile der Tempelfassade ein, und Wind peitscht das brodelnde Meer. Wohin man auch blickt, ist nichts mehr sicher, kein Schiff, kein Hafen. Der Sturm heult so laut, dass ich gegen ihn anschreien muss. Haremtab hockt im schützenden Rund großer Steine, bemalt sein mit Kieseln beschwertes Papyrus. Später will er den Text im Innern eines Tonkruges bergen, den wir am Eingang des Gigantentempels fanden. Wir flohen hierher vor dem Sturm, suchten Schutz in den Mauern. Wir werden hier sitzen bleiben bis ans Ende der Zeit, so lange harren, wie unsere Kräfte ausreichen, um die Pflicht zu erfüllen.


Jetzt, da ich diese letzte Nachricht diktiere, fällt ein schmaler Strahl Sonne durchs zerborstene Tempeldach direkt auf meine nackten Füße. Es gibt sie also noch, die Sonne, ein leichter Schimmer von ihr reicht aus, um mich mit Hoffnung zu erfüllen. Solange dieses Licht noch da ist und uns wärmt, werde ich sprechen, wird mein Diener Haremtab schreiben …

 

3

In den Katakomben unterhalb
von La Valletta


Eleonore Zammit reibt sich mit beiden Zeigefingern die Schläfen. Sie hat ihre Tablette genommen und mit einem Rest Tee aus der Thermoskanne hinuntergespült. Vorsichtshalber. Einen Migräneanfall kann sie jetzt überhaupt nicht gebrauchen. Ihn stoppen, bevor er beginnt …


Sie ruft eine andere Datei auf. Die Übersetzung der zweiten Papyrusrolle. Jedenfalls haben sie alle im Team nach längerer Debatte entschieden, dass dieser Text unter der Nummer Zwei geführt werden soll. Der Papyrustext, den sie soeben gelesen hat, könnte auch nach den anderen, fortlaufend nummerierten, entstanden sein und trägt noch ein Fragezeichen. Bei dieser Rolle hat sich Eleonore noch nicht endgültig festgelegt. Wenn sie die letzte Rolle gelesen und eingeordnet hat, wird sie mehr darüber sagen können. Aber da sie eine stur und mit äußerster Selbstdisziplin arbeitende Wissenschaftlerin ist, wendet sie sich noch einmal mit höchster Konzentration dem Papyrus Nr. 2 zu:

 

4


Meine Laufbahn begann im wahrsten Sinne des Wortes mit einem Lauf auf einer Bahn. Es geschah im zehnten Jahr meines bisher spielend und träumend in Armorika verbrachten Lebens, dass ich am großen Ritual von Menec teilnehmen durfte, denn es war die Zeit der Sonnenwende. Die langen Steinreihen dort hatte ich stets für die Grabstätten unserer Ahnen gehalten, und das sind sie ja auch, nur weitaus mehr noch: Es sind nämlich Bahnen, die für den Lauf der Sonne bestimmt sind, so konstruiert, dass wir ihnen folgen müssen, wenn wir selbst Sonne werden beim Lauf auf Karnak und Basilea zu, der Hauptstadt und ihrer großen Tempelpyramide, wo das Geheimnis unserer Herkunft aufbewahrt wird.


Als Sohn des Merlin bekam ich die rechte Bahn zugewiesen, direkt neben Osiris, dem Spross des Falken-Klans, der später als General aufbrach, um in der Nilprovinz ein neues Karnak zu errichten. Neben ihm liefen die Kinder anderer Klans, unter ihnen auch ein Sohn des Königs, der in den Jahren der Wirrnis verschwand. An den Rändern der Anlage hatte sich viel Volk versammelt, um uns anzufeuern und zuzujubeln, wenn wir unsere letzten Kräfte mobilisierten, um dahinzustürmen wie die Strahlen der Sonne. Die Familien der Edlen von Atlantis lagerten dort zwischen den einfachen Fischern, Bauern und Viehzüchtern Armorikas, die von allen Stämmen herbeigeströmt waren, um dem seltenen Schauspiel beizuwohnen. Es wurden Wetten abgeschlossen, wer als erster von uns Läufern zum Ziel gelangen würde, wer als Sieger den goldenen Sonnenball hinab zu den Ahnen bringen dürfte, ins tiefe, dunkle Herz der großen Pyramide, damit dort auch die Vorfahren an der warmen Kraft der Sonne teilhaben konnten.


Es war ein früher Morgen, und vom Meer her blies ein kühler, frischer Wind, der uns frösteln ließ. Wir trugen, um besser laufen zu können, nur den Hüftschurz, unsere nackten Oberkörper waren zuvor von den Priestern mit Ockerstaub angemalt worden, damit wir dem rötlichen Glanz des Sonnenlichtes ähnelten. Bei den ersten Steinen von Menec standen wir und warteten auf das Zeichen zum Start. Die Zeremonie zog sich hin, da sich die Sonne an diesem Tag besonders viel Zeit ließ, um sich aus dem Dunst der Frühwolken zu schälen und den Tag zu beginnen. Ein Schwarm Möwen und anderer Meeresvögel kreiste landeinwärts und ließ sich schließlich mit lautem Gekreische auf den Spitzen der Steine nieder, so als wollten auch sie Augenzeugen des Wettkampfs werden. Als endlich das Startzeichen ertönte, das vom Hohepriester auf einem Muschelhorn geblasene Signal, stürmten wir nahezu gleichzeitig los. Ich achtete, mir der besonderen Bedeutung der Stunde bewusst, nicht auf den Lauf der anderen Kinder, sondern nur auf mich und meinen Körper, meinen gleichmäßigen Atem und darauf, dass ich meine Kräfte einteilte, mit gutem Rhythmus lief. Auch wenn ich in diesem Moment nicht wusste, an welcher Stelle der Bahn sich meine Familie unter den Zuschauern befand, wollte ich sie nicht mit einer schlechten Leistung enttäuschen. Wie die Anderen hatte ich Wochen zuvor für den Lauf geübt. Nun galt es, alles, was ich dabei an Technik gelernt hatte, unter Beweis zu stellen. Ich begann nicht zu schnell, lief aber ausdauernd und konnte, als ich den richtigen Bewegungsablauf gefunden und meinen Atem darauf eingestellt hatte, kontinuierlich das Tempo steigern. Die Steinreihen von Menec huschten an mir vorbei wie winkende Schatten, ich fühlte die Sonne im Rücken, und das anfeuernde Geschrei der Menge verriet mir, dass ich mit einem anderen Jungen gleichauf in vorderer Position lag. Ein rascher Seitenblick brachte die Gewissheit, dass es Osiris war. Sein blondes Haar glänzte wie ein Helm aus Gold in der Sonne. Dieser Osiris war ein ernsthafter Gegner für mich, schon damals, als wir kleine Kinder waren und das Leben in Armorika eine nie enden wollende glückselige Zeit für uns alle.


Ich lief mit leicht gesenktem Kopf, um mich zu konzentrieren. Aber als ich einmal den Blick hob, sah ich vor mir die Konturen der großen Pyramide. Mächtig wie ein Bergrücken erhob sie sich aus der Hauptstadt Karnak, ein zum Himmel strebender Gedanke, der weit über die Dächer der Siedlung ragte. Niemals zuvor hatte ich Basilea wie an diesem Morgen erblickt, die wuchtigen Steinmassen der Stufen, die Erdrampen, das gleißende Licht auf der obersten Plattform, das nicht von Gold stammte, sondern aus jenem neuen, kostbaren Material bestand, das die Menschen von Atlantis Oreichalkos nannten. Dieses geschmolzene Bergerz besteht aus einer Mischung von Kupfer und Zinn und wird neuerdings auch Bronze genannt. Das Kupfer wird aus den Gruben des Stier-Klans an der Küste von Mil geschürft, Zinn dagegen stammt von der Insel Avalon. Beides vermischt und in großer Hitze zum Schmelzen gebracht, ergibt ein hartes, honigfarbenes Metall, das in seinem Glanze der Sonne sehr ähnlich ist.


An diesem Morgen schien das Oreichalkos von Basileia besonders stark zu glänzen, so als sei mir die Sonne schon vorausgeeilt und vor uns auf dem Dach der Pyramide angekommen. Dieser Gedankenblitz spornte mich an, noch schneller zu laufen. Aber gleich mir muss es auch Osiris passiert sein, denn er blieb beständig auf gleichem Abstand zu mir. Das Geschrei der Menge nahm zu, als wollten sie einen von uns beiden anstacheln, noch mehr als das Äußerste in den Lauf zu geben. Mein Körper dampfte bereits, und mein Herz schlug wie eine dumpfe Trommel. An den letzten Steinen von Karnak, dort, wo die Anlage endet, hatten Priester ein Band aus geflochtenem Frauenhaar über die Bahn gespannt. Osiris und ich durchtrennten es gleichzeitig mit unseren Oberkörpern. Jetzt brach erst recht lauter Jubel aus, denn einen Doppelsieg hatte es lange nicht mehr in Menec gegeben. Ein gutes Omen war dies, ein viel versprechender Hinweis auf unseren späteren Lebensweg und auch darauf, dass unsere Geschicke von diesem Moment an für immer verbunden waren.


Drei solcher unsichtbarer Nabelschnüre gibt es, die unser Schicksal ein Leben lang bestimmen: Die eine bindet uns an die Mutter, auch wenn wir sie viele Jahre nicht sehen oder sie längst ins Reich der Ahnen eingekehrt ist wie die gute, weise Meri vom Klan der Eulen. Die zweite ist das Meer, von dem wir alle abstammen und das wir nie, auch nach langem Aufenthalt auf festem Land, vergessen können. Die dritte Nabelschnur aber knüpft Schicksale zusammen, ob wir das wollen oder nicht, verbindet Leben auf nachhaltige Weise, sei es in der Liebe oder bei solch einem Sonnenlauf wie damals in Menec.


Mehr noch als sonst üblich wurde daher unser Doppelsieg in Karnak gefeiert. Und von einer Sekunde zur anderen veränderte sich damit unser beider Leben. Der Sonnenlauf hatte uns in das Blickfeld gerückt, mit einem Mal wurden wir in die Welt der Erwachsenen aufgenommen und plötzlich wie solche behandelt. Mein Oheim, der Priester des Tempels der Inschriften auf der von drei Flüssen umspülten Insel war, eilte auf mich zu, um mich in seine Arme zu schließen. Nachdem er das gleiche mit Osiris getan und uns Segenswünsche mitgegeben hatte an die Ahnen im Herz der großen Pyramide, die wir noch am selben Tag besuchen würden, raunte er uns noch mit geheimnisvoller Miene zu, dass wir uns bald schon, nämlich am kommenden Vollmond, im Tempel der Inschriften wiedersähen, wo uns ein großes Geheimnis erwarten würde.


Erschöpft von dem anstrengenden Lauf, von jubelnden Menschen hin- und hergeschoben, auf Schultern gehoben und lautstark gepriesen, folgten wir nun den geistlichen Würdenträgern, die sich mit uns einen Weg durch die Menge bahnten. Durch die Straßen von Karnak führte der Zug, vorbei an festlich geschmückten Häusern, hinauf zur Anhöhe von Basilea und den Stufen der großen Pyramide. Aber nicht wie gewöhnlich über Erdrampen ging unser Weg, um auf der obersten Plattform den Göttern Freudenfeuer und Weihrauch zu opfern, sondern an der unteren Böschung entlang bis zu einem Tor, das durch einen gewaltigen Steinquader verschlossen war. Hier hielten wir mit unseren Begleitern an und warteten, bis mehrere Männer in gemeinsamer Anstrengung den Stein beiseite schoben. Ein raffinierter Mechanismus erleichterte ihnen die Arbeit, dennoch mussten sie sich kräftig gegen die Felsplatte stemmen, bis endlich ein passierbarer Spalt im Berg offen entstand.


Die Priester traten als erste ein und machten Osiris und mir, die wir zögernd und abwartend am Eingang zurückblieben, Zeichen, ihnen zu folgen. Wir stiegen in einen schmalen Schacht, der schräg nach unten ins Innere der Erde führte. Schwach leuchtete der Schein der Fackeln den Gang nur aus, so dass wir, vorsichtig die Schritte wählend, hinter den Priestern her tappten. Mehrmals sprang die Richtung des Ganges um, allmählich verloren wir völlig die Orientierung. Nach der kühlen, muffigen Luft zu urteilen, mussten wir uns bereits tief unter dem Zentrum der Pyramide befinden. Wir schritten stumm und in Ehrfurcht voran, wohl wissend, dass es den Wenigsten nur vergönnt war, und dann auch nur einmal im Leben, dem geheimnisvollen Herz von Basilea nahezukommen. Der Weg hinab in die Tiefe der Erde schien niemals zu enden.


Schließlich aber stockte unsere Prozession so überraschend, dass ich in den Rücken des vor mir schreitenden Priesters prallte. Er drehte sich mit ernstem Gesicht um und wies uns mit Zeichen an zu schweigen. Von nun an wurde weder gesprochen, noch etwas von dem erklärt, was geschah. Ich kann mich nur noch an das erinnern, was ich sah, und hoffe, dass ich die Zusammenhänge richtig interpretiere. Auch heute, nach so vielen Jahren, bin ich mir nicht sicher, ob ich damals alles verstand.


Zunächst zeigte man uns die Grabkammern der Ahnen, die allerdings durch Steintüren verschlossen waren. In ihnen ruhten die durch medizinische Kunst wohl präparierten Körper der königlichen Familien früherer Zeiten in ewigem Schlaf. Die Überlieferung sagt aber, dass sie eines Tages aus diesem Schlaf erwachen und zu neuem Leben aufsteigen werden. Dies betrifft ihre Körper. Ihre Seelen wandern indes schon jetzt, im Zyklus der Sonne nämlich, besonders zu deren Wenden. Da diese Wanderungen ohne Körper beschwerlich sind, brauchen sie regelmäßig Nahrung, die von den Priestern vor den Grabkammern abgestellt wird. Ich hörte, dass viele Ahnen von den dargebrachten Gaben nichts annehmen würden, weshalb die Priester die Speisen und Getränke an ihrer statt verzehren müssen. Wichtiger noch als diese direkten, greifbaren Dinge sollen aber die unsichtbaren Geschenke sein, die den Ahnen im Kult angeboten werden, vor allem das lebensspendende Licht und die heilende Wärme der Sonne, weshalb einer der Priester auch eine im Fackelschein glänzende Kugel aus Oreichalkos mit sich trug. Dieses kostbare Bergerz, durch unseren von einem Doppelsieg gekrönten Sonnenlauf zusätzlich mit Bedeutung aufgeladen, wurde nun vorsichtig im Zentrum der Halle vor den Grabkammern abgelegt.


Wir starrten gebannt die Kugel an und glaubten nach einer Weile wahrzunehmen, dass sie sich im Rhythmus unseres Atems bewegte, als würde sie selber atmen. Auch schien sie, je länger wir sie im Blick behielten, in ihrer Größe zu wachsen, was eigentlich völlig unmöglich ist. Doch war ich mir damals und bin mir heute erst recht nicht mehr sicher, ob dem nicht doch so war. Hier im Herzen von Basilea schienen andere Gesetze als sonst in der Natur draußen zu herrschen. Nach längerer Andacht wies uns schließlich der Hohepriester an, ihm in einen weiteren Gang zu folgen, der von der Halle abzweigte. Nur Osiris und ich sowie zwei weitere Priester durften ihm nachgehen, als er uns zu einer zweiten Halle führte, die hinter den Grabkammern lag. Hier erhellte das tanzende Licht der Fackel eine sonderbare Szenerie. Neben Beilen und Äxten aus edlem Gestein, einer Schale mit geschliffenen, glänzenden Perlen und vielerlei Gerätschaften, deren Verwendungszweck mir weder damals einleuchteten noch heute, lagen im hintersten Winkel vermoderte Hölzer, Teile von Bastmatten und Tuch. Heute weiß ich, dass es die Reste eines uralten Schiffes waren. Wenn mein Oheim im Tempel der Inschriften die Wahrheit sagte – und ich habe keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln –, so müssen das die letzten Überreste jenes Schiffes gewesen sein, mit dem der erste König unseres Volkes, der legendäre Atlas mit seinem Klan, an der Küste von Armorika landete, um Karnak zu erbauen und die viele Inseln und Länder umfassende Union zu gründen. Woher dieser König und seine Gefolgschaft kamen, weiß niemand mehr, denn es liegt mehr als tausend Jahre zurück, und das Erinnerungsvermögen der Menschen gleicht einer Steinlampe, deren Talgfüllung und Docht langsam verbrennen. Danach herrscht nur noch Dunkelheit.

 

5


Von jenem denkwürdigen Tag an waren Osiris und ich unzertrennbar, jedenfalls eine Zeit lang. Wir unternahmen alles gemeinsam und fieberten dem nahenden Vollmond entgegen. Als der Zeitpunkt endlich erreicht war, übereignete uns mein Vater ein kleines, wendiges Boot. Es bestand aus fellüberspannten Holzplanken und besaß einen Mast mit Segel. Mit ihm fuhren wir in der Nacht die Küste entlang in südliche Richtung. Osiris saß am Seitenruder, ich bediente das Segel, Tätigkeiten, die uns wohlbekannt waren, denn allen Menschen von Armorika ist die Seefahrt von Kind an vertraut. Die Nacht war hell und sternenklar, und es ging eine leichte Brise, die uns rasch vorantrieb. Es fiel uns nicht schwer, uns zu orientieren, wir brauchten nur die Landmarken an der Küste zu zählen – große, im Boden verankerte Steine gleich denen von Menec. Im Unterschied zu diesen stellten sie aber keine Grabmale dar, sondern dienten ausschließlich der Seefahrt. Als wir nach etwa einer Stunde den größten von ihnen erspähten, wussten wir, dass wir nun bald unser Ziel erreichen würden. Zunächst bogen wir an einer markanten Landspitze scharf nach links ab und erreichten eine tiefe Fahrrinne zwischen hohen Ufern. Sie war künstlich ins Erdreich geschnitten, um auch für große Schiffe die Insel Kerne vom Meer aus erreichbar zu machen. Auf Kerne lag der Tempel der Inschriften. Die Insel befand sich dicht am Auray-Fluss, war aber von einer Vielzahl kleinerer Inseln umgeben, die einen Ring um Kerne bildeten. Hielt man sich rechts, so ließ sich bequem der geschützte Hafen erreichen, in dem zu jeder Zeit des Jahres größere Schiffe lagen, Transportschilfboote zumeist, aber auch hölzerne Drachenboote, die schnell wie der Wind über die Wellen glitten.


Wir kannten das Gebiet rings um die Hafenanlage gut, waren unzählige Male bereits an den Docks entlanggestrichen, um den Zimmerleuten bei der Arbeit zuzusehen. Auch das Gelände, an dem geschnittenes Schilf gelagert wurde, zu Bündeln verschnürt und seetüchtig verknotet. Solche Schilfboote mit hochgespanntem Bug und Heck waren praktisch unsinkbar, denn sie lagen trotz schwerster Beladung stets auf dem Wasser, ohne tief einzutauchen. Auf See spülten die Wogen über das Deck, unter den Aufbauten für die Mannschaft und die sorgsam verzurrten Waren einfach hindurch. Mit dieser Art Schiffe wurde von Avalon Zinn geholt und zur Weiterverarbeitung nach Süden gebracht, nach Gades und Mil, wo es Kupfer gab und die Werkstätten für die Schmelze lagen.


Oft hatte ich in Begleitung meines Vaters und anderer Familienmitglieder dem Be- und Entladen der Schiffe zugesehen, die aus fernen Ländern eintrafen. Die gesamte Macht von Atlantis beruhte auf Handel, die Leute der verschiedenen Kulturen kamen weit herum und konnten, wenn sie bei Kerne oder Karnak an Land gingen, oft erstaunliche Dinge berichten. Und alles, was sie erzählten, spornte die Fantasie an, verstärkte die Sehnsucht, gleich ihnen über die Meere zu reisen. Den Menschen von Armorika, der gesamten Atlantischen Union, liegt es im Blut, wir können und wollen nicht anders, wir alle sind Kinder der See.


Den Hafen kannten Osiris und ich also gut. Unbekannt war uns dagegen die Insel Lannic, die gewöhnliche Menschen nicht betreten dürfen, weil sie dem Gott der Meere geweiht ist und ausschließlich von Priestern aufgesucht wird. Im doppelten Steinkreis dort werden zu bestimmten Zeiten des Jahres Stiere geopfert, und selbst Adligen ist es untersagt, den geheimen Zeremonien beizuwohnen. Die einzige Ausnahme bildete mein Vater, dem als Merlin von Karnak die Pflicht oblag, den Ritus zu leiten. Aber soweit ich mich erinnere, sprach er zuhause bei uns kein einziges Wort darüber, was auf Lannic geschah.


Hinter diesem kleinen Eiland lag nun, durch eine weitere Fahrrinne erreichbar, die Insel Kerne mit dem Tempel der Inschriften. Wir trieben ohne Segel dahin, da der Wind sich zum Schlaf gelegt hatte, benutzten stattdessen die Ruder und erreichten ohne Probleme die Insel, die unter Verwaltung meines Oheims stand. Er erwartete uns bereits am Ufer und warf uns ein Seil zu, damit wir das Boot am Landesteg festmachen konnten.


Ich habe die imposante Gestalt meines Oheims noch immer vor Augen: Er war ein sehr großer Mann, der das lang über die Schultern fallende silbergraue Haar mit einem Stirnband gebändigt trug. Seine Kutte aus weichem, gegerbtem Leder war auf der Brust und am Rücken mit seltsamen Zeichen bemalt. Im Hüftgürtel hingen allerlei Beutel aus Ziegenhaut sowie ein Messer, an dessen hölzernem Schaft mit Birkenpech eine scharfe Klinge aus Obsidian befestigt war. Stets strahlten seine graublauen Augen, und sein Blick schien, wenn er einen traf, von sehr weit her zu kommen und weiter zu reichen, als das bei anderen Menschen der Fall ist.


Mein Oheim begrüßte uns ebenso freundlich, wie er es nach dem Sonnenlauf bereits getan hatte, und führte uns vom Strand aus zum Tempel. Bei diesem handelt es sich ebenfalls um eine Stufenpyramide, nur dass sie nicht so gewaltig groß ist wie Basilea und keinerlei Erdrampen aufweist, um auf die obere Plattform zu kommen. Stattdessen öffnet sich im Osten, der aufgehenden Sonne zu, ein steinernes Tor. Bevor man es erreicht, muss man allerlei hölzerne Vorbauten passieren, in denen Standbilder aus hellem Gestein aufgestellt sind. Sie verkörpern die göttliche Familie. Jedes Mitglied symbolisiert eine spezielle Kraft der Natur, und Besucher, die Kerne erreichen, legen je nach Gelegenheit oder Bedürfnis Geschenke vor den Statuen ab. Auch Osiris und ich hatten aus diesem Grund Weihegaben mitgebracht, ich eine sorgsam polierte und am oberen Ende durchbohrte Muschel, Osiris ein Bündel Baumzunder, den er bei einem seiner Streifzüge durch die Wälder aufgespürt und mitgenommen hatte.


Mein Oheim betrachtete mit Wohlwollen, dass wir die heiligen Gesetze achteten und uns gebührend vor den Götterstandbildern verneigten. Dann hieß er uns, nachdem er einen Kienspan entzündet hatte, ihm in den Tempel zu folgen. Wir betraten einen langen Gang und schritten langsam und staunend voran, denn die Fackel des Oheims beleuchtete sehr eigenartige Bilder und Muster an den Wänden, die allesamt zu leben schienen, denn sie bewegten sich im flackernden Lichtschein so rasch, dass wir den Veränderungen kaum mit den Augen folgen konnten. Die Muster ähnelten ineinander verschlungenen Wellenbahnen oder Daumenabdrücken von Riesen. Sorgsam waren sie in die glatten Steinplatten graviert und so dicht, als hätten die Künstler, die sie schufen, vermeiden wollen, dass auch nur eine einzige Stelle an der Wand unbearbeitet blieb. An manchen Steinen glaubte ich fratzenhafte Gesichter zu erkennen, dann wieder kam es mir vor, als würden die Wellenringe, ja der gesamte Gang um uns herum atmen wie ein lebendiger Organismus.


Als wir eine Passage erreichten, an der sich der Gang zur Halle hin öffnete, waren wir im Zentrum des Heiligtums angekommen. Hier gab es in einer der gravierten Platten Halterungen, in die mein Oheim die Fackel steckte. Nach kurzer Zeit leuchtete sie die ganze Halle aus, und wir blickten auf die Stirnwand, deren Platten noch reichhaltiger als alle übrigen bisher mit Zeichen und Mustern geschmückt waren. Wir befanden uns nun im allerheiligsten Zentrum des Tempels. Mein Oheim hieß uns Platz zu nehmen und genauestens die Bildgravuren zu betrachten. Er selbst setzte sich auch und zwar so, dass seine Beine sich unter dem Körper kreuzten. Mit den Händen umschlang er die Knie. In dieser Position begann er leicht mit dem Oberkörper nach vorn zu schwingen, als befände er sich auf hoher See, auf den schaukelnden Planken eines Schiffes. Er schloss die Augen und fing an, mit leiser Stimme zu singen. Zunächst verstanden wir nichts von dem, was er sang, es musste sich wohl um eine geheime Liturgie der Priesterschaft handeln, und vieles davon klang in der alten Sprache. Dann aber schlug er die Augen auf, blickte uns durchdringend an und sprach: »Ihr seid nun im Tempel der Inschriften angelangt, wo die Geschichte unseres Volkes und alle Geheimnisse des Meeres und des Himmels aufgezeichnet sind. Ihr habt das Herz von Basilea gesehen, wo alles ruht vom stolzen Geschlecht der Atlantiden. Nun, da ihr euch als würdig erwiesen habt, der Union der vereinigten Königreiche zu dienen, sollt ihr hier an diesem Ort, an dem Buch geführt wird über die Geschicke der Welt, erfahren, was euch persönlich als Schicksal bestimmt ist. Ihr sollt es beide zusammen hören, denn zusammen habt ihr in Menec mit euren Körpern das Band der Seherinnen des Eulen-Klans durchtrennt. Seid ihr bereit, es zu erfahren?«


Wir nickten beklommen, denn so ernst hatten wir meinen Oheim noch niemals erlebt. Uns schwante nun, dass uns etwas sehr Wichtiges mitgeteilt würde, etwas, das unser Leben von Grund auf verändern sollte. Der Oheim löste einen Beutel von seinem Gürtel und öffnete ihn. Heraus fielen mehrere kleine Pilze mit roten Kappen und weißen Flecken. Wir kannten sie aus den Wäldern, hatten sie aber niemals angerührt, da selbst kleine Dosen von ihnen Rauschzustände auslösen sollten, und größere, so hieß es, brachten Wahnsinn und Tod. Jedem von uns reichte er einen Pilz und nahm selber einen. Dann forderte er uns auf, sie gemeinsam zu verzehren.

»Sie öffnen das innere Auge«, sagte mein Oheim, »und man beginnt wie ein Adler oder ein Falke zu sehen: die Gesamtheit von allem und zugleich das kleinste Detail, das, was ganz nahe vor uns ist, und das, was noch weit entfernt ist, so weit, dass wir es kaum erkennen, geschweige denn begreifen können. Aber es wird euch helfen, mutig dem Schicksal entgegenzugehen.«

Gehorsam empfingen wir die Pilze aus seiner Hand und begannen sie zu zerkauen. Das Fleisch roch gut und schmeckte mild und keineswegs so bitter, wie wir erwartet hatten. Wir saßen da, verzehrten die Pilze und studierten die Muster auf den Wandplatten, die sich nach kurzer Zeit schon zu verändern begannen, indem sie sich zu Gestalten formten, die Menschen, Göttern oder Ungeheuern ähnelten, Fabelwesen des Meeres, die aus Wellentälern auftauchten, der Sonne, den Sternen, dem Mond. Manche glichen aber auch labyrinthisch verschlungenen Wegen, denen man mit den Augen folgen konnte, ohne jemals an ein Ziel zu gelangen, da sich an vielen Stellen plötzlich neue, ungeahnte Möglichkeiten auftaten. Während wir also in Betrachtung einer allumfassenden kosmischen Schau versunken dasaßen und selbst bald winziger Teil in diesem verwirrenden Spiel wurden, sprach mein Oheim mit leiser Stimme weiter: »Ihr wisst, dass die Macht unseres Imperiums auf Schiffen und Häfen beruht. Zehn Königreiche gehören der Union an sowie zahlreiche Stützpunkte und Kolonien in weit entfernten Teilen der bekannten Welt. Unsere Schiffe befahren das Atlantische Meer, das Nordmeer und die Baltische See, an deren Ufern Dana und Wasa liegen, wir durchsegeln das Meer der Mitte von West nach Ost bis hin zu jenem Meer, das man das Schwarze nennt. Auf allen Inseln und Küsten beiderseits dieser Meere haben wir befestigte Häfen und Städte errichtet, in denen Handel mit den unterschiedlichsten Waren betrieben wird, worin unser Reichtum und Wohlstand beruht. Um dieses große Weltreich zu beherrschen, bedarf es vieler Menschen, die uns dienen und wohlgesonnen sind, denn die adligen Klans unseres Reiches von Atlantis, die ihre Herkunft von König Atlas ableiten, stellen nur eine winzige Führungsschicht im Imperium dar. Deshalb beschäftigen wir viele Seeleute und haben Heere aufgestellt, die von anderer Abstammung sind. Sie alle, die vielen Völker der Inseln, Küsten und Kolonien, folgen uns nur, weil unsere Gesetze gerecht sind, das Leben innerhalb dieser Regeln gut und sicher und es lange Zeit schon keine schlimmen Kriege mehr gab. Wir sind eine Handelsmacht, in deren Grenzen ein jeder nach seinem Belieben leben, seinen eigenen Göttern huldigen und ohne Angst vor dem nächsten Tag existieren kann. Dieses System hat sich über Jahrhunderte bewährt, aber es funktioniert nur, wenn jeder von uns am richtigen Platz steht, die richtige Aufgabe übernimmt und seine Pflicht tut!«

Mein Oheim legte eine Pause ein, in der wir über das Gesagte nachdachten, während unsere Blicke weiterhin über die Wellen der Steinplatten schweiften und sich in endlosen Mustern verloren. Obgleich es Bilder waren und keine Schrift, schien all das, was mein Oheim sagte, an den Wänden des Tempels niedergeschrieben zu sein. Die Figurationen, so üppig und ausufernd sie waren, bildeten insgesamt eine große Ordnung, in der sich eins in das Andere fügte, jedes Detail war auf geheimnisvolle Weise mit weiteren Einzelheiten verbunden.


Inzwischen spürte ich auch immer stärker die Wirkung des Pilzes. Mein Körper fühlte sich schwerelos an, schwebte auf Wellenbahnen, während zugleich mein Geist wach und klar war. Es kam mir vor, als flöge er pfeilschnell dahin durch Räume und Zeiten, vielleicht über endloses Meer auf der Suche nach neuen, unbekannten Gestaden.


Ich war so in Gedanken versunken, dass ich regelrecht aufschreckte, als mein Oheim weitersprach: »Was euch anbelangt, die ihr nun die Schwelle von der Kindheit zum Erwachsenen überschritten habt, so ist es an der Zeit, sich darüber klar zu werden, welchen Platz ihr in der Gesellschaft einzunehmen habt. Wisset, dass jedem von uns das Schicksal bereits in der Geburtsstunde vorbestimmt ist. Dies gilt es richtig zu erkennen und das Leben, das dann folgt, auch zu akzeptieren. Nur so werdet ihr inneres Glück finden und für die Gemeinschaft nützlich sein.«

»Hast du«, fuhr mein Oheim fort, indem er sich an Osiris wandte, »einmal darüber nachgedacht, welche Aufgabe du übernehmen willst?«

Osiris, der vornübergeneigt dagesessen hatte, richtete sich langsam auf, als erwache er aus tiefem Schlaf.

»Du kannst ruhig vor deinem Freund sprechen«, sagte mein Oheim, »so wie ich über die Dinge mit euch Beiden zugleich rede, denn seit eurem Doppellauf ist euer beider Geschick eng miteinander verbunden. Es ist völlig unnötig, weiter Geheimnisse voreinander zu haben.«

»Ich will ein großer und ruhmreicher Krieger werden, über dessen Taten die Nachwelt noch lange erzählt«, hörte ich Osiris zu meiner Überraschung sagen. Seine Stimme klang ungewohnt erwachsen und fest.

»Das wirst du auch«, stimmte mein Oheim zu, »du sollst einmal General eines starken Heeres werden und viele Abenteuer bestehen, eine Kolonie für das Reich gründen und neue Städte erbauen, Sohn des Falken-Klans. Die Macht des Imperiums sei mit dir auf all deinen Wegen!«

Er nestelte an seinem Gürtel, öffnete einen weiteren Beutel und entnahm ihm ein kleines, in Honigfarben glänzendes Gebilde, das er meinem Freund feierlich überreichte. Es war eine doppelt geschärfte Pfeilspitze, sorgsam gearbeitet, aber nicht aus Feuerstein, sondern aus Oreichalkos gegossen, dem seltenen, kostbaren Goldkupfererz.

»Nimm sie und trag sie an einer Kette über der Brust«, sagte mein Oheim. »Dieses Material ist viel zu wertvoll, um es als Waffe zu verwenden. Allein der Anblick wird deine Feinde erschrecken.«

Dankbar nahm Osiris das Geschenk aus der Hand des Hohepriesters entgegen.

»Und nun zu dir, Mazdanuzi«, sprach mein Oheim und musterte mich mit prüfenden Augen. Sein Blick drang tief in mich ein, schien auf den Grund meiner Seele zu tasten und darin zu lesen wie in einem offenen Buch. »Ist es nicht so, dass du selten mit deinen Geschwistern spielst, ja es als lästige Pflicht betrachtest, mit ihnen Dinge des Alltags zu tun, und stattdessen lieber stundenlang allein am Strand entlang wanderst, über das Meer starrst, hin zu den Inseln, und die Augen zusammenkneifst, um dort am Horizont besser die fernen Einzelheiten erkennen zu können?«

Ich nickte nur, mir steckte ein Kloß im Hals, ich war unfähig, auf seine Frage zu antworten. Woher wusste er das? Er hatte mich noch niemals dabei gesehen. Oder reichte sein Blick so weit, dass er mich auf große Distanzen hinweg beobachten konnte, ohne seinen Platz auf der Tempelinsel zu verlassen?

»Du bist zum Gesandten der Meere geboren«, sagte mein Oheim, »zu etwas, das zu erreichen weder deinem Vater noch mir bestimmt war. Eines Tages wirst du Botschafter des Imperiums sein, heimatlos, aber stets auf jedem Schiff, jeder Insel und an jedem Gestade zuhause und zutiefst mit allem verbunden.«

Er griff zum dritten Beutel in seinem Gürtel, öffnete den Verschluss und überreichte mir einen durchbohrten Zahn von beachtlicher Größe.

»Dieser Zahn«, sagte er, »gehörte einst einem großen, gefährlichen Fisch. Sein Name ist Hai, aber die Menschen Armorikas nennen ihn auch Reiter des Meeres, weil er ein Sendbote des Gottes aller Gewässer ist. Trage den Zahn an einer Kette um den Hals, damit dich alle sofort als Gesandten der Meere erkennen.«

Ich streckte die Hand aus, nahm den Zahn entgegen und umschloss ihn sofort mit meiner Faust. Noch heute trage ich ihn, obgleich ich die Lederbänder mehrmals schon, wenn sie brüchig wurden, erneuern musste, als Zeichen meiner Berufung auf der Brust.


Mein Oheim stand nun auf, reckte und rieb seine vom langen Sitzen müde gewordenen Glieder und tat so, als wolle er die Halle verlassen. Zur beinahe restlos abgebrannten Fackel trat er, entzündete mit der letzten Glut einen neuen Kienspan und wandte sich dem Ausgang zu. Beinahe beiläufig sagte er dabei zu uns über die Schulter hinweg: »Mit dem nächsten Segler, der vom Hafen in Richtung Norden ausläuft, werdet ihr Armorika verlassen und zur Grünen Insel reisen. Dort beginnt eure Ausbildung. Nehmt von allem Abschied, das euch bislang lieb und vertraut war. In genau drei Tagen und Nächten geht euer Schiff.«

 

6


Als wir damals auf Deck des schlanken Drachenbootes standen und zurück auf die bekannte Küste Armorikas blickten, ahnten wir beide, Osiris und ich, nicht, dass wir mehr als drei Jahre auf der Grünen Insel und beinahe ebenso lange an Wasas und Danas Bernsteinküste zubringen würden. Wir waren viel zu aufgeregt, um an etwas anderes als die bevorstehende Reise nach Norden denken zu können. Herzlich fiel der Abschied von unseren Familien aus. Alle weinten, besonders meine Mutter Meri. Immer wieder raunte sie Segenssprüche des Eulen-Klans in mein Ohr, damit ich sie niemals vergäße, und steckte mir die Kralle des Nachtvogels zu, der mir als Talisman Glück bringen sollte. Sie winkten vom Kai aus noch lange nach, bis unser Schiff bei der Insel Lannic ihrem Sichtfeld entschwand.


Das Drachenboot, dessen Besatzung vor allem aus Händlern, Dienern und einer bewaffneten Begleitmannschaft bestand, war ein stolzes, wohlgeformtes Holzschiff. Die hochgebundenen Bündel aus Schilf nachahmend, ragten Bug und Heck weit aus dem Wasser, und das Segel trug die Sonne als Zeichen der Atlantischen Union. Schnell war das Schiff, es schien bei gutem Wind kaum das Meer zu berühren, sondern glitt, mit dem rasenden Gleitflug der Möwen wetteifernd, rasch über die Wellen. Wir blieben stets in Sichtweite zum Land und konnten leicht die hohen Markierungssteine am Ufer ausmachen. Erst weit nördlich von Karnak, wo bei der Insel Cairn die Leuchtfeuer brennen, wandten wir uns endgültig von der Landmasse ab und stießen in offene See. Ein leichter Wind trieb uns Sprühregen ins Gesicht, und das war auch gut so, denn auf diese Weise vermischten sich die Wasser des Himmels und des Meeres mit denen meiner Augen und ich brauchte mich nicht vor Osiris und der übrigen Besatzung zu schämen.


Danach ergriff ein ganz anderes Gefühl von mir Besitz, eine wilde, grenzenlose Sehnsucht nach Reise und Abenteuer, nach dem wirklichen Erwachsenwerden, jetzt, da ich allein auf mich gestellt war und mir niemand mehr etwas zu sagen hatte, weder Osiris noch Nunnos, der alte Soldat, den mein Vater uns als Begleiter zugeteilt hatte. Ich stand ganz vorn, dicht bei der Wölbung des Bugs, und starrte aufs Meer hinaus. Daher kam es, dass ich als erster die Wale entdeckte, einen Schwarm von acht oder neun Tieren, die trotz ihrer massigen Leiber geschickt unserem Schiff vorauseilten, als wollten sie Lotse für uns spielen. Immer wieder tauchten einige von ihnen ab, während andere hohe Wasserfontänen aus ihren Nasenlöchern ausspien. Offenbar betrachteten sie unser Schiff als einen der ihren, mit dem sie wetteifern konnten. Ich nahm das als gutes Omen. Die See war uns freundlich gesinnt, der Gott der Tiefen schickte uns seine Diener und wies uns mit ihnen den richtigen Kurs. Die Wale waren nicht die einzigen Wesen der See, die unsere Fahrt abwechslungsreich machten. Außer ihnen gab es flinke Tümmler, vielerlei Vögel, darunter auch den mächtigen weißen Albatros, der so dicht an unserem Mast vorbeistrich, dass ich das wahre Ausmaß der Spannweite seiner Schwingen deutlich erkennen konnte. Er war so groß wie ein Mensch, weshalb die Leute von Armorika ihn auch den fliegenden Götterboten nennen und behaupten, er stamme von einem alten, längst vergessenen Klan ab, der sich entschieden habe, sein Leben über den Wolken des Meeres zu führen.

Doch nicht von diesen Dingen will ich berichten, die ich später, auf mehreren Reisen, noch öfter sah, sondern davon, dass rechterhand unseres Schiffes nach geraumer Zeit eine Landspitze auftauchte, auf die wir indes nicht zuhielten, sondern in gebührendem Abstand blieben. Dies, so sagten die Matrosen, sei der äußerste Südwestzipfel der großen Insel Avalon, aber nicht unser Ziel, weshalb sie auch bald wieder dem Blick entschwand, während unsere Fahrt unaufhörlich nach Norden ging.

Mittlerweile war es Nacht geworden, die beste Zeit zum Segeln, wie man sagt, denn nun lässt sich der Kurs, bei klarem Wetter zumindest, ausgezeichnet nach den Sternen bestimmen. Hierbei ist vor allem der hell leuchtende Nordstern ausschlaggebend, der Nagel, der die Welt am obersten Punkt, dort wo das ewige Eis beginnt, zusammenhält. Ich muss wohl ein paar Stunden in einer warmen Koje zusammengerollt geschlafen haben, denn es dämmerte bereits zum frühen Morgen, als ich von lauten Rufen und Stimmen aufgeweckt wurde. Die Matrosen behaupteten, dass wir uns nun der Grünen Insel näherten. Gleichwohl war, so sehr ich auch angestrengt spähte, kaum etwas im dichten Morgendunst auszumachen. Viel später erst schälten sich graue Konturen aus dem Nebel, die wohl die Stranddünen der Grünen Insel sein mussten. Ihr eigentlicher Name lautet Erinn. Was ich ferner wusste war, dass dort der Klan des Ebers herrschte und die Hauptstadt Tara hieß, aber weder direkt am Meer noch an einem Fluss lag, sondern weiter landeinwärts auf schützenden Hügeln. Dort war das Ziel unserer Reise, der Ort, der uns zur Ausbildung dienen sollte. Mehr wusste ich nicht davon. Ich war äußerst gespannt, was mich in diesem Land, über das man sich in Armorika seltsame Dinge erzählte, erwarten würde …

 

7


In sanfter Rollbrandung steuerte das Drachenboot nun in einer weiträumigen Bucht auf die Mündung des Boinne-Flusses zu, wo sich die Wasser des Meeres mit Süßwasser mischen. Mit den ersten, zaghaft durch dichte Wolken brechenden Strahlen der Morgensonne erreichten wir bald darauf einen Hafen. Im Schutz der anschließenden Wälle lag die Stadt Drogheda. Hier verließen wir das Schiff und schlossen uns einer kleinen Gruppe von Kaufleuten an, die gleich uns vorhatten, weiter nach Tara zu ziehen. Zunächst mussten dazu allerlei Waren auf einen Nachen umgeladen werden. Nunnos, der sich während unserer Seereise ziemlich gelangweilt hatte, übernahm mit Eifer diese Aufgabe. Einen ganzen Berg an Säcken, Tonkrügen und Gerätschaften verzurrte er auf dem Floß, so viel davon, dass kaum noch Platz für die Menschen blieb. Wir mussten am äußersten Rand des Nachens Platz nehmen.


Die Boinne floss träge durch eine liebliche Hügellandschaft. Auf den Wiesen weideten in großer Zahl Schafe, Ziegen und Rinder. Nunnos und ein einheimischer Fährmann mit wilden roten Haaren bedienten die Stakruder, während uns übrigen Reisenden nichts zu tun übrig blieb, als dazusitzen und die Umgebung zu betrachten. Nach etwa zwei Stunden gemütlicher Fahrt deutete der Fährmann, der sich bis dahin recht wortkarg gegeben hatte, mit dem Ruder aufs rechte Ufer.

»Dort in den Hügeln liegen die Gräber unserer Ahnen«, sagte er. »Der größte von ihnen, der mit den weißen Mauern, das ist der Tempel des Gottes Oengus, in ihm liegt der legendäre König Dagda begraben.«

Wir reckten die Hälse und sahen einen riesigen Rundbau mit grasbewachsenem Dach. Die mächtigen weißen Mauern mussten aus Quarzgestein bestehen, denn sie glänzten und funkelten in der Sonne, als würde das Gebäude Strahlen aussenden. Der Fährmann wie auch einige andere Reisende, die von Erinn stammten, mussten sehr stolz auf ihren Tempel sein, denn sie sprachen noch lange darüber und rühmten die Einzelheiten der Anlage. Sie war das zentrale Heiligtum der Insel, ein Jeder musste es mindestens einmal im Leben besucht haben, besser noch jedes Jahr an bestimmten Feiertagen.


Nach einer Biegung des Flusses verloren wir den weithin sichtbaren Tempel aus den Augen. Bald darauf legte der Nachen am linken Ufer an. Hier wurden wir von einer Schar Männer, die Packpferde mit sich führten, in Empfang genommen. Die Waren wurden nun vom Floß auf die Rücken der Tiere umgeladen. Als das geschehen war, setzte sich unser Zug landeinwärts in Bewegung. Wir gingen zu Fuß, was Osiris und ich mit Erleichterung begrüßten, denn es hätte uns reichlich Überwindung gekostet, uns den Reittieren anzuvertrauen. Wir Menschen von Armorika sind mit der See vertraut, vor Pferden hegen wir allesamt eine schwer zu überwindende Scheu.


Unsere Gruppe kam nur langsam voran, das Gepäck wog schwer, und der Weg nach Tara war noch weit. Wir zogen in einer Linie durchs Gelände. Mit Freude registrierte ich, dass die Vegetation der Grünen Insel der Küste von Karnak nicht unähnlich war. Heidekraut und Ginster wechselten sich mit kleinen Birkenwäldchen und Fuchsienhecken ab, dazwischen ragte moosbewachsenes Graugestein auf, und es gab trügerische Zonen, wo Sumpfgras wuchs und der Boden unter unseren Füßen schwankte. Gegen Mittag erreichten wir die Hügel von Tara. Schon von weitem verrieten der Geruch von Torffeuer in der Luft und mehrere aufsteigende Rauchsäulen, dass sich dort eine größere Siedlung befinden musste. Wie aber staunten wir erst, als wir die Erdwälle und hölzernen Tore der Königsfestung erreichten! Im Inneren der weiträumigen Hochflächen zwischen den Hügeln von Tara herrschten emsiges Leben und rege Betriebsamkeit. Handwerker waren in vielen Werkstätten tätig, andere bauten neue Gebäude den schon vorhandenen hölzernen Lagerhäusern hinzu. Es gab viele Wege zwischen den einzelnen Teilen der Siedlung. Der größte von ihnen umfasste den Palast des Königs, die Häuser und Zelte des Hofstaats und den heiligen Bezirk der Gerichts- und Versammlungsstätte, aus dessen Mitte der Lia Fail, der sprechende Orakelstein, aufragte. Ein anderer Bezirk aus moosbedeckten Rundhütten umringte die Rennbahn, auf der alljährlich im Sommer und Herbst die großen Feste stattfanden, zu denen halb Erinn strömte, um an den Schaukämpfen, Gelagen und endlosen Feierlichkeiten teilzunehmen.


Osiris und mir wurden Unterkünfte in einer einfachen Reisighütte im östlichen Bereich von Tara zugewiesen. Dort wohnten wir drei Jahre lang und froren selbst im Winter nicht, denn das Klima der Grünen Insel ist dank einer warmen Meeresströmung allzeit mild. Allerdings verbrachten wir zumeist nur die Nächte zusammen und tauschten Neuigkeiten und Erfahrungen auf unseren Strohmatten aus, während wir tagsüber gemäß unseren unterschiedlichen Ausbildungen getrennte Wege gingen. Osiris war den Lehrern der Kriegerkaste zugeteilt, von denen er in der Kunst des Bogenschießens und Fechtens mit dem Holzschwert, im Ringen, Faustkampf und später auch – trotz seines Sträubens – im Reiten zu Pferde unterrichtet wurde. Die Männer der Grünen Insel legten allesamt Wert auf dieses Können, sie galten als wehrhafte Krieger und waren, besonders wenn sie über die Maßen Met aus Trinkhörnern zu sich nahmen oder stark gebrautes Gerstenbier, stets zu Raufhandel aufgelegt. Dazu bedurfte es nicht einmal eines besonderen Anlasses, mitunter reichte ein falsches Wort schon aus, um den Zwist zu beginnen. Doch selten nahm das Kräftemessen einen schlimmen Ausgang, da die Streithähne ebenso rasch, wie sie ihre Meinungsverschiedenheiten begonnen hatten, diese wieder beenden konnten. Zumeist wurde die Versöhnung dann Grund für ein neues Gelage.


Osiris berichtete mir, dass die Leute des Eber-Klans, zumal wenn sie Mitglieder der Kriegerkaste sind, seltsamen Sitten und Bräuchen anhängen. Abergläubisch wie sie sind, führen sie selbst die unbedeutendsten Ereignisse auf das Wirken von Geistern und Dämonen zurück, weshalb sie sich ständig mit unsichtbaren Mächten unterhalten, ihnen Geschenke darbieten und keinen Schritt tun, ohne zuvor den großen Geistereber um Beistand angerufen zu haben. Ansonsten sind sie freundliche, umgängliche Menschen, die gern erzählen und den ganzen Tag über singen.


Meine Lehrmeister dagegen redeten auch viel, aber es kam ihnen dabei mehr auf die Form als auf den Inhalt an. Ich musste mit ihnen regelrechte Frage- und Antwortspiel üben, den freien Vortrag auch, denn die Rhetorik galt bei ihnen als hohe Kunst. Die Schrift lehnen sie ab und behaupten, deren Kenntnis sei allein einigen wenigen zauberkundigen Weisen vorbehalten, im übrigen sei es schädlich, zu viel von den geheimen Bildzeichen zu zeigen, da sie geeignet seien, den Lauf der Welt zu verändern und das beständige Maß aller Dinge, auf die wir angewiesen sind, aus dem Gleichgewicht zu bringen. Damals, in meiner Lehrzeit, stimmte ich dieser Meinung vorbehaltlos zu. Heute, nachdem ich in der Nilprovinz am eigenen Leibe erfuhr, welche Möglichkeiten in der Schrift stecken, denke ich anders darüber, sonst hätte ich nicht meinen Sekretär Haremtab beauftragt, dies alles für die Nachwelt niederzuschreiben.

 

8

Zur selben Zeit etwa, auf einem Hausboot im Yachthafen von Gzira


»Die alte Hexe ist übergeschnappt! Völlig meschugge!«

Billy Watson, der junge Nerd aus Michigan, ebenso fett wie das fettige Fastfood, das er pausenlos, ohne es zu bemerken, in sich hineinstopft, bekommt einen Wutanfall. Er steht vor seinem Arbeitsplatz, der plötzlich mit Stapeln von Ausdrucken überhäuft ist.

»Papier! Was soll ich mit dem vielen Papier? Ich hasse Papier!«

»Ich nicht«, sagt der Ägyptologe Dr. Hassan Salek, ein älterer Mann, kahlköpfig, mit gepflegtem weißen Kinn- und Oberlippenbart. Er redet leise, seine Stimme klingt überzeugend. Er will beschwichtigen. Und endlich seine Ruhe haben, um weiterarbeiten zu können. Außerdem liebt er Papyrus.

»Na, ist doch wahr«, zetert Billy Watson weiter. Sein dicker Bauch in der Jogginghose wackelt vor Erregung dabei. »Wo hier ein Bildzeichen steht, ein Icon, also eigentlich bloß ein Wortbegriff, macht sie zehn Worte draus, aus zwei Sätzen zwanzig. Das muss doch nicht sein.«

»Sie hat halt viel Fantasie«, sagt Manfred Schmidt, der an der Universität in Valletta eine Gastprofessur innehat, die sich mit der Vorgeschichte des Mittelmeerraums beschäftigt, speziell mit der frühen Tempelkultur auf Malta und Gozo. Was ihn persönlich brennend interessiert, ist die Frage, warum die Inseln kurz nach der Blütezeit so plötzlich verlassen wurden. Krieg? Eroberung? Keinerlei verwertbare Beweise. Eine Seuche, die die ganze Bevölkerung ausgerottet hat? Erst recht nicht zu verifizieren. Auswanderung? Aber warum? Und wohin?


Er bewundert das profunde Wissen der Professorin und hat nahezu alle Bücher von ihr gelesen. Er sieht sich daher genötigt, die alte Dame zu verteidigen.

»Es ist ja nicht verboten, Fantasie zu haben. Nehmen wir es doch mal sportlich. Jeder von uns arbeitet in seiner Disziplin und sucht nach einer Art Muster. Je nach Vorkenntnissen, Theorien und Denkansätzen kommen wir dabei naturgemäß zu unterschiedlichen Ergebnissen. Lassen wir der alten Dame mal ihre Freiheiten. Soll sie so viel interpretieren und schreiben, wie sie will. Schließlich hat sie ja die Papyrusrollen gefunden. Ohne sie wären wir überhaupt nicht hier.«

Dr. Hassan Salek nickt zustimmend. Die Anderen auf dem Hausboot sitzen oder stehen in Gedanken versunken herum, starren aus dem Fenster. Draußen am Kai fahren hupend Autos vorbei, Busse, etliche LKW mit Ladung. Ganz in der Nähe legt in regelmäßigen Abständen die Fähre von Gozo an.

»Hört endlich mit dem Gelaber auf!«, schreit Jenny aus dem Nebenraum, und gleich darauf taucht ihr Kopf im Durchgang auf. Sie ist überall tätowiert, auch im Gesicht, da aber dezenter. »Bei dem Krach kann sich doch keine Sau konzentrieren!«

»Ich lese das nicht«, sagt Billy Watson und greift nach hinten zur Colaflasche, wirft sie dabei um. Braune Brühe ergießt sich über die Planken.

»Shit«, schimpft er und sucht nach Haushaltsrollen, um die Sauerei wegzuwischen.

»Aber ich«, sagt Dr. Salek, der plötzlich an Billiys Arbeitsplatz steht und blitzschnell die Ausdrucke einsammelt. Zum Glück sind sie nicht mit dem süßen Klebstoff bekleckert. Sie sehen jedenfalls allemal besser aus als die vergilbten Papyrusfetzen, mit denen sie sich seit Wochen herumschlagen …

 

9

Eleonore Zammit studiert
weiter den Text


Ich lernte sehr viel in den Wällen von Tara, meine Meister legten mit ihrem Wissen den Grundstock für meine spätere Berufung. Und sie gaben sich Mühe, mir viel Nützliches über die Geschichte, den Sternenhimmel und seine Bedeutung nicht nur für die Seefahrt, sondern auch die planmäßige Bearbeitung der Felder, über das Wetter und wie es entsteht sowie über Fragen des politischen Lebens zu vermitteln. Vor allem an Finngail denke ich in Liebe zurück. Der alte Mann mit dem langen Bart, der stets ein grobes, sackartiges Gewand trug und sich wegen eines Hüftleidens nur mit Hilfe eines Stockes fortbewegen konnte, war ein wahrer Zauberer in Sachen Musik. Er spielte alle Instrumente, von der Holz- und Knochenflöte über die flache Trommel bis hin zu jenem wohlklingenden Gerät, das mit Saiten aus Tiersehnen bespannt ist und unter seinen Fingern aufzuleben begann, als berge es die gesamten Wunder der Welt zwischen den hölzernen Rahmen. Finngails Kunst galt als vollendet und wurde hoch gerühmt auf den Hügeln von Tara, weshalb er bei zahlreichen Festgelagen des Königs aufspielen musste.


Den König und seine Sippe bekam ich selten zu Gesicht und wenn, dann nur von fern, weil wir am äußersten Ende der Tafel sitzen mussten. Ohnehin war es ein unerhörtes Privileg, dass wir überhaupt an den Ereignissen teilnehmen durften, und dies auch nur, weil Osiris und ich als Adelssprösslinge von Armorika innerhalb Taras besonderes Ansehen genossen. Wir durften uns nahezu überall frei bewegen und Fragen stellen, auf die die Dienerschaft Antwort zu geben hatte. Auch auf diese Weise erfuhren wir viel über das Leben auf der Grünen Insel.


Eines Tages, es mochte wohl der erste Winter unseres Aufenthalts sein, aber das Wetter blieb mild, wenn man von heftigen Windböen und dem unaufhörlichen Regen absah, zog mich Finngail beiseite. Seinem Gesichtsausdruck war anzumerken, dass er mir etwas Wichtiges mitzuteilen hatte.

»Mazdanuzi«, sagte er, »es nähert sich nun die Zeit des geheimen Festes. Vier gibt es im Jahr, die von allen gefeiert werden, gemäß des rhythmischen Ablaufs in der Natur. Das fünfte aber ist den meisten in seinem Sinn nicht bekannt. Nur die königliche Familie, die Priesterschaft und einige ausgewählte Gäste dürfen am Ritual teilnehmen. Der Wächter des Tempels ließ mich wissen, dass du zu diesen Personen gehörst.«

»Auch Osiris?«, fragte ich, denn seine Begleitung schien mir selbstverständlich.

Zu meiner Überraschung schüttelte Finngail den Kopf.

»Keine Krieger«, sagte er, »und Osiris gehört aufgrund seiner bisherigen Ausbildung ja nun wohl zu dieser Kaste. Soldaten bewegen sich stets auf der Grenzlinie zwischen Leben und Tod. Das Fest aber, um das es geht, ist ausschließlich dem ewigen Leben geweiht. Es geht dabei um nichts Geringeres als die Wiedergeburt unserer Seelen.«

Das hörte sich merkwürdig an. Auf Finngails Drängen hin musste ich ihm sogar versprechen und im Namen von Oengus, dem höchsten Gott der an Göttern so reichen Insel, einen Eid ablegen, dass ich über das, was mir erlaubt war in Bälde mitzuerleben, kein einziges Wort an Osiris verriet.

»Wer diesen Schwur bricht«, sagte Finngail düster, »zieht den Zorn des Geisterebers auf sich und wird unweigerlich durch den Stoßzahn eines solchen Tieres sterben. Auch wenn du nicht an unsere Götter und Geister glaubst, so rate ich dir dringend, auf keinen Fall mutwillig ihre Kräfte herauszufordern. Es wäre schade, wenn einem so gelehrigen Schüler wie dir nur noch wenig Zeit im Leben bliebe, um das Gelernte nutzbar anzuwenden.«

Diese Worte und die Art, wie Finngail sie betonte, beeindruckten mich sehr. Hoch und heilig versprach ich ihm, mich an mein Versprechen zu halten. Ich gebe zu: Es fiel mir schwer, denn Osiris und ich hatten ansonsten keine Geheimnisse voreinander. Wir vertrauten uns für gewöhnlich alles an, was wir erlebten. Der gemeinsame Aufenthalt in der Fremde hatte uns, stärker noch als der Sonnenlauf von Menec, zusammengeschweißt. Nun aber trennten sich unsere Wege.


Zum besagten Zeitpunkt gab ich vor, mit Finngail und den anderen Lehrern einen Ausflug zum Ufer der Boinne zu machen, der aus einer Mutprobe mit Schweigegelübde bestand. Der Termin rückte näher, und am Morgen des betreffenden Tages klarte überraschend das Wetter auf. Bereits früh schon brach die Sonne durch die Wolken und wärmte den Boden. Überall stiegen Nebelwände hoch, so zahlreich, dass die Landschaft rings um die Hügel von Tara wie verzaubert wirkte. In einem solchen Land, dachte ich, ist es kein Wunder, wenn die Menschen an Geister und Gespenster glauben. Narrt einen nicht jeder Blick, glaubt man nicht hinter jedem Baum, jedem Ginsterbusch, den ein Windhauch berührt, Wesen der Anderswelt winken zu sehen?


Ich traf Finngail und etliche andere Leute zusammen mit der königlichen Sippschaft unten am Prozessionsweg, wo alle in einer gewissen Anordnung, die der Zeremonienmeister bestimmte, Aufstellung nehmen mussten. Dann zogen wir los, genau auf demselben Pfad, den wir damals mit den Packpferden genommen hatten. Doch erkannte ich ob der wallenden Nebel kaum etwas davon wieder. Das Gras war mit funkelnden Tauperlen bedeckt, der samtweiche Boden gluckste und schmatzte unter unseren Füßen. Ein Schwarm Raben folgte uns von Taras Hügeln her, und manchmal stoben keckernd schillernde Elstern auf. Meine Ausrede des Schweigegelübdes erwies sich gar nicht mal falsch, denn unterwegs wurde kein einziges Wort gesprochen. Obgleich auch diesmal wieder der König in größerem Abstand vor mir ging, fühlte ich mich ihm und seiner Familie seltsam verbunden. Ich war Teil seines Hofstaats geworden und empfand es als besondere Ehre. Soviel bekam ich mit: Der König und seine Gattin, beide recht jung noch und von einer Schar kleiner Kinder umgeben, führten die Prozession an. Ihre Gesichter wirkten ernst, sie widmeten sich ihrer Aufgabe mit ganzem Gefühl, worin auch immer diese bestand. Sie wussten, dass sie als Vorbild der gesamten Bevölkerung Erinns galten, und die Ausübung der Rituale zum fünften, geheimen Fest zählte zu ihren besonderen Pflichten.


Am Ufer der Boinne erwartete uns ein Fährmann, der ein aus Holzstämmen zusammengebundenes Floß zum Übersetzen bereit hielt. Mehrmals musste er damit die Boinne überqueren, bis schließlich alle an der Prozession beteiligten Personen am anderen Ufer waren. Dort zogen wir über Wiesenhänge dem Tempel des Oengus entgegen. Da die Sonne nun bereits hoch am Himmel stand, gleißten die weißen Mauern noch stärker, als ich es damals, beim ersten Betrachten, wahrgenommen hatte. Als wir näherkamen, sah ich, dass die außergewöhnliche Wirkung des Gebäudes nicht allein vom strahlenden Weiß der Quarze stammte, sondern auch von kleineren schwarzen Kieseln, die auf wunderschöne Weise als Muster eingebaut waren. Der untere Ring der weißen Mauer wurde von riesigen, über und über gravierten Bildsteinen gefasst. Ich konnte nur ein paar von ihnen genauer betrachten, doch fiel mir sofort ihre Ähnlichkeit zu den Mustern im Tempel der Inschriften auf der Insel Kerne auf. Besonders der quer liegende Schwellenstein vor dem Eingangsportal war reichhaltig mit ineinander verschlungenen Spiralen geschmückt. Wir betraten den Tempel aber nicht sofort, sondern legten auf dem Vorhof eine Rast ein, bei der schweigend eine kalte Mahlzeit eingenommen wurde. Den Rest des Tages verbrachten die Versammelten in stummer Andacht. Später legten sich alle unter aufgespannten Zeltplanen zum Schlafen.


Mitten in der Nacht wurde ich dadurch geweckt, dass mich Finngails Hand wachrüttelte. Fackeln wurden entfacht, und im Schein ihres spärlichen Lichts traten wir nun nacheinander durch das Portal. Ein langer Gang führte ins Zentrum des Heiligtums, breiter, höher und besser ausgebaut als jener vom Tempel der Inschriften. Als wir die Halle erreicht und uns dort dicht gedrängt auf dem Boden niedergelassen hatten, wurde alles Licht gelöscht. Stille herrschte im Raum, einzig das leise Atmen der Versammelten war zu vernehmen. In dieser Enge ausharrend, warteten wir längere Zeit. Da in der Dunkelheit sowieso nichts zu erkennen war, schloss ich die Augen und muss nach einer Weile erneut eingeschlafen sein. Diesmal erwachte ich durch ein vielstimmiges Raunen und die Bewegung vieler Leiber. Da sah ich, wie ein schwacher Lichtschein weit vorn vom Eingangsportal her in den Gang fiel, den wir gekommen waren, auf uns zu wanderte und kurz vor uns anhielt. Er traf genau eine Stelle an der Seitenwand, wo sich drei ineinander verschlungene Spiralen, tief in den Felsen eingeschnitten, befanden. Der Wächter des Tempels erhob sich aus unserer Mitte. Er zwängte sich durch die Menge bis zu einer Seitenkammer. Von dort kehrte er bald darauf mit einer Schale zurück, die er vorsichtig bei den Spiralen abstellte. Wir sahen, dass sie mit Wasser gefüllt war. Nun wanderte das Licht direkt auf die Schale zu und ließ den Inhalt glitzern. Der Priester nahm sie auf und wandte sich zur Menge. Jedem von uns bot er an, einen Schluck Wasser zu trinken. Als ich an der Reihe war, kam es mir vor, als rinne flüssiges Sonnenlicht meine Kehle hinab. Ohne dass es mir Finngail oder sonst jemand erklären musste, begriff ich plötzlich die Bedeutung des Tempels, der Zeremonie und des gesamten Festes: Dieser Bau, künstlich einem Berg nachempfunden, diente als Kalenderanlage, und einmal im Jahr nur, an einem bestimmten Morgen, fiel das Licht der aufgehenden Sonne genau in das Innere der Erde hinein. Hier im Tempel, in dessen Grabkammer König Dagda und vielleicht noch Andere seines Geschlechts ruhten, fand das Wunder der Verwandlung statt. Licht fiel in die Dunkelheit als Versprechen ewigen Lebens, schien auf das Zeichen von Dagda und führte seine Seele aus der Finsternis in die Welt des Lebens zurück. Aber nicht nur seine Seele betraf dieser Vorgang, sondern unsere ebenso. Ich jedenfalls fühlte mich wie neugeboren, als ich schließlich mit den Anderen den Tempel verließ. Draußen begrüßte uns ein strahlender Tag mit meerblauem Himmel, auf dem nur einzelne weiße Wolken wie Segel dahintrieben. Ich fühlte mich glücklich und im Innersten aufgewühlt, es bedurfte keiner weiteren Aufforderung, dass wir uns alle umarmten! Ja, wirklich alle, auch der Königin und dem König lag ich im Arm, den Kindern, den Priestern, dem Hofstaat. Und natürlich meinem guten Lehrer Finngail.

»Ich beglückwünsche dich zum neuen Leben«, lachte er und beklopfte mir tüchtig die Schultern. »Vergiss diesen Morgen nie, selbst in Zeiten der Finsternis und der Not. Vergiss es nie und mach etwas daraus. Denn das ist das ganze Geheimnis: Wir sind alle Kinder der Sonne!«


Wie Recht er hatte, der weise Mann! In späteren Zeiten musste ich oft an sein lachendes Gesicht und seine Worte denken, die so leichthin geäußert schienen, aber dennoch voll großer Tiefe und Wahrheit waren. Auch jetzt, in der Stunde größter Gefahr und eines Schmerzes, der grenzenlos scheint, da die Verzweiflung meinen Verstand umklammert und ich keine Auswege mehr erkenne, höre ich seine Stimme im Ohr, jetzt, da ein wenig Restlicht der Sonne auf meine Füße fällt, das kaum imstande ist, mich zu wärmen. Ich sehe Haremtab meinen Worten lauschen und mit über dem Papyrus gesenktem Kopf schreiben. Er schreibt und schreibt, obwohl doch seine Finger schmerzen müssen. Gleich mir schreibt er gegen das Vergessen an. Dies ist die einzige Aufgabe noch, die uns bleibt …

 

10


Das gemeinsame Erlebnis beim fünften, geheimen Fest rückte mich enger an die königliche Sippe heran, gleichwohl auch Osiris, dem man als Gast Armorikas nicht geringere Beachtung als mir schenken wollte. Bei besonderen Anlässen durften wir nun an der Tafel neben den Kindern sitzen. Mit ihnen freundeten wir uns an, konnten an freien Tagen Ausflüge in die nähere Umgebung unternehmen, und bald hatten wir das Gefühl, mit zur Familie zu gehören. Mehr und mehr wurde uns Erinn zur zweiten Heimat. Auf diese Weise vergingen drei Jahre. Keines von ihnen möchte ich missen.


Gegen Ende des letzten Jahres ereignete sich ein Zwischenfall, der besondere Erwähnung verdient. Ich war gerade mit Nunnos und den königlichen Kindern dabei, einen Auftritt für das bevorstehende Frühlingsfest vorzubereiten. Wir hatten eine kleine Spielszene einstudiert, bei der jedem eine bestimmte Rolle zukam, und übten unsere Texte, als ein reitender Bote eintraf und atemlos berichtete, in der Ebene von Slane habe sich beim Wettkampf ein schlimmer Unfall ereignet. Osiris sei beim übermütigen Ritt durch die Heide vom Pferd gestürzt, mit dem Kopf aufgeschlagen und sei noch immer bewusstlos. Wir ließen sofort alles stehen und liegen und eilten zum verletzten Freund. Etwa auf halbem Weg kam uns ein Trupp Reiter entgegen. Eines der Pferde zog eine Art hölzernen Schlitten hinter sich her, den die Männer eilig aus Stämmen und Reisig zusammengefügt hatten. Auf ihm lag Osiris, angeschnallt und in eine Decke gehüllt. Als ich mich über ihn beugte, erschrak ich wegen seiner blassen Gesichtsfarbe. Er hielt die Augen geschlossen und stöhnte leise. An seiner Stirn klaffte eine blutige Wunde, die schon ausgewaschen und notdürftig mit Heilkräutern behandelt war, aber dennoch keinen guten Eindruck machte. Den ganzen Weg über zurück nach Tara flehte ich alle Götter an, die ich kannte, selbst die der Grünen Insel und den Geist des wilden Ebers, sie möchten meinen Freund zurück ins Leben bringen und von bösen Folgen verschonen. In Tara angelangt, betteten wir ihn sofort in unsere Hütte. Mehrere Heilfrauen kamen und sorgten sich um ihn. Finngail versicherte mir, sie würden ihr Bestes tun, schließlich sei Erinn berühmt wegen der Kunst seiner Heilerinnen. Zwei Tage und Nächte durfte ich nicht zu ihm und musste in einer anderen Unterkunft schlafen. Dann endlich, am dritten Tag nach dem Unfall, ließ man mich an sein Lager. Osiris wirkte erstaunlich munter, lachte bereits wieder und sagte, er würde die Narbe an seiner Stirn, die vom Sturz sicherlich zurückblieb, als eine Art Tapferkeitszeichen betrachten. Auf keinen Fall würde er das Reiten lassen, jetzt erst recht nicht, im Gegenteil: Er könne kaum die Zeit abwarten, bis er wieder auf dem Rücken eines Pferdes säße. Ich war froh über die gute Wende und seine Genesung, schwor mir aber insgeheim, es ihm niemals im Leben gleich zu tun und jeden Umgang mit solchen gefährlichen Tieren zu meiden. Bis heute habe ich diesen Schwur auch gehalten.


Osiris genas schnell. Bald war er schon wieder unterwegs mit seinen Kumpanen, und wie ich hörte, soll er sogar bald darauf sein erstes Rennen gewonnen haben. Ich dagegen studierte emsig mit meinen Lehrern, sehr zur Freude von Finngail, der mich zu seinem Ziehsohn auserwählt hatte. Oft hockten wir auf den Wällen von Tara und diskutierten bis weit in die Nacht hinein über vielerlei Dinge: Seefahrt und Bergbau, Handel und Politik, Belange der Gesetzgebung, über Handwerk, Kunst und Musik. Nur ein Instrument zu spielen gelang mir zu seinem Leidwesen nicht. Entweder fehlte mir dazu das nötige Feingefühl oder die Fähigkeit, eine längere Klangfolge exakt im Kopf zu behalten. Wahrscheinlich hatte ich es einfach nicht im Blut. Finngail schüttelte zu diesen Bedenken stets mit dem Kopf.

»Was du noch nicht begriffen hast, ist der rechte Umgang mit dem Rhythmus«, sagte er. »Wahrscheinlich lässt du die Musik, die tief in dir ruht, einfach nicht zu. Warte nur, eines Tages, zum richtigen Zeitpunkt, wird sie von selbst aus dir hervorquellen. Jeder Mensch ist ein Instrument, in dem eine ganz bestimmte Musik schlummert, und wenn sie erwacht, verändert sie für einen das Leben.«

Ich muss gestehen, stärker als die Musik zog mich die Kunst der Goldschmiede an. Gold gab es auf der Insel in großen Mengen, weshalb es von hier aus per Schiff in andere Teile der Atlantischen Union exportiert wurde. Noch mehr aber als das Rohmaterial waren Fertigprodukte begehrt. Die Handwerker von Erinn galten als wahre Meister. Sie versahen Armreifen, Halsringe, Gewandschließen, Gürtelschnallen und Broschen mit feinen, filigranen Mustern, die im verkleinerten Maßstab den gravierten Schmucksteinen vom Tempel des Oengus nachempfunden waren. Manche fügten aber auch abstrakte Tierfiguren hinzu, Pferde, Fische und Vögel, und einmal sah ich einem Schmied lange bei der Arbeit zu, als er mit feinem Stichel den gesamten nördlichen Sternenhimmel in dünnes Goldblech trieb. Auf meine Frage hin antwortete er lachend, dass dieses seltene Stück eine Auftragsarbeit für den König Sil von Avalon sei, der sich daran nicht nur erfreuen, sondern sie auch konkret für Zwecke der Seefahrt einsetzen wolle. Die Schiffsführer der Union orientierten sich nämlich bei ihren nächtlichen Fahrten stets nach bestimmten Sternbildern. Diese stellten den Verlauf der Küsten und Seewege dar. Jeder Seefahrer kenne sie und präge sie sich von Kind an ein. Die Karten des Himmels seien mit denen des Meeres und der Küsten identisch. Eine Goldschmiedearbeit wie die seine sei daher nicht als Schmuck, sondern als nützlicher Gebrauchsgegenstand zu verstehen.


Der Name Sil fiel oft an der Tafel von Tara. Man war mit dem König von Avalon in Freundschaft verbunden, tauschte regelmäßig Grußbotschaften aus und empfing häufig Gäste von dort. Eines Tages traf eine größere Delegation ein, die mit besonderen Ehren zum Palast geleitet wurde, denn unter ihnen befand sich auch der amtierende Gesandte der Meere. Mit klopfendem Herzen erwartete ich die Stunde des Festmahls, denn ich würde, der geltenden Tischordnung gemäß, nahe beim hohen Würdenträger meinen Platz einnehmen. Beim Essen beobachtete ich verstohlen den Mann, der wortgewandt die Tischrunde unterhielt und viele Neuigkeiten aus fernen Ländern zu berichten wusste. Er war von stattlicher Gestalt, trug seinen Oberlippenbart auf modische Weise gekämmt, das Haupthaar offen und war mit einem Wams aus feinem Hirschleder bekleidet, dessen Brustseite reich mit bunten Perlen bestickt war. Kluge Augen blickten aus dem wettergegerbten Gesicht. Wenn er lachte – und das tat er oft und auf ansteckende Weise –, entblößte er zwei Reihen strahlend weißer Zähne. Sein Name lautete Andrax, aber die Menschen am Hof von Tara sprachen ihn zumeist respektvoll mit seinem Ehrentitel an.


So also sieht ein Gesandter der Meere aus, dachte ich bei mir. Man hätte ihn auch für einen König halten können, so stolz wirkten seine Körperhaltung und die Gesten, mit denen er die Worte beim Reden unterstrich. Er sprach aber nicht pausenlos, sondern konnte ebenso lange und aufmerksam zuhören. Dies musste er geübt haben, und es war wohl auch für seinen Beruf von großer Bedeutung, denn ich merkte bald, dass sich alle vertrauensvoll an ihn wandten, offen über Probleme sprachen, und stets hörte er ihnen mit Hinwendung zu, fragte geschickt nach und versprach, sich nach besten Kräften für die jeweiligen Anliegen einzusetzen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752113570
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (September)
Schlagworte
Bretagne Legenden Untergang Geschichte Atlantis Mythen Stonehenge Irland Fantasy

Autor

  • Harald Braem (Autor:in)

Harald Braem ist Designprofessor sowie Buch- und Filmautor (u. a. Terra X). Er forscht seit über dreißig Jahren auf den Kanaren und lebt abwechselnd auf der Insel La Palma und in Nierstein am Rhein. Seine bekanntesten Bücher sind: Der Löwe von Uruk; Hem-On, der Ägypter; Tanausu, König der Guanchen; Tod im Barranco; Der Libellenmann. Der Vulkanteufel wurde verfilmt und in zahlreiche Sprachen übersetzt.