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Gilgamesch: Reise zum Licht

von Harald Braem (Autor:in)
228 Seiten
Reihe: Gilgamesch, Band 2

Zusammenfassung

Gilgamesch, der ruhmreiche Held und Liebling der Götter, erfährt einen Schicksalsschlag, der sein bisheriges Denken und Handeln von Grund auf verändert. Er lässt sein Amt als König von Uruk ruhen, vergisst alle Pläne und begibt sich, wie ein Bettler gekleidet, auf Wanderschaft. Verzweifelt bittet er unterwegs Menschen, Geister und Fabelwesen um Rat. Er muss gefährliche Abenteuer überstehen, bis er endlich zur Insel der Unsterblichen gelangt. Dort angekommen, erfährt er von Überlebenden der Sintflut erstaunliche Dinge. Ihm werden Aufgaben gestellt, die kein Mensch zu lösen vermag. Auch Gilgamesch scheitert, bekommt aber von der gnädig gestimmten Ahnfrau eine letzte Chance. Sie erzählt von einem geheimnisvollen Kräutlein, das auf dem Meeresboden wächst und ewiges Leben schenkt. Sofort macht er sich auf, um nach der richtigen Stelle zu suchen. Er findet sie auch, aber was ihm dann widerfährt, zerschlägt alle Hoffnung und stürzt ihn noch tiefer in einen Abgrund der Gefühle. Vom Menschen zum Halbgott geworden, fällt er zurück ins einfache Leben. Aber das gestaltet sich völlig anders als alles, was er bisher kannte. Auf seiner magischen Reise zum Licht hat er sehr viel erfahren und gelernt. Er versucht, das gesammelte Wissen auf bestmögliche Weise umzusetzen. Wird es ihm gelingen? Gilgamesch: Reise zum Licht, ist Band 2 des Gilgamesch - Epos von Harald Braem Band 1: Der Löwe von Uruk

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Drittes Buch

Der Himmelsstürmer


Nach all den Strapazen der Reise war es eine Wohltat, sich voll und ganz dem Genuss hinzugeben: Gilgamesch warf die verschlissene Kleidung ab, badete ausgiebig und kleidete sich neu ein. Einen Purpurmantel mit goldverziertem Gürtel legte er um und setzte sich die Königsmütze auf. Solchermaßen verwandelt und mit den Insignien der Macht versehen, hielt er Hofstaat im neuen, geschmückten Palast. Die Gesandten befreundeter Städte lud er ein, hohe Beamte, Kaufleute, Dichter, Sänger und Schauspieler und natürlich die Vertretungen beider Tempel.

Die Tafel war festlich gedeckt und bot Speisen und Getränke vom Besten. Anagi und Kluschu, die zur Zeit besten Ringkämpfer der Stadt, traten zu einem Wettkampf auf, und betörend schöne Tänzerinnen aus dem Tempel der Ischtar schlugen mit ihrem Liebreiz und ihren anmutigen Bewegungen die Sinne der Gäste in Bann. Es gab nur glückliche, zufriedene Gesichter ringsum, und auch Gilgamesch lächelte, obwohl ihm innerlich gar nicht danach zumute war. Er hatte zuvor eine längere Unterredung mit Erenda gehabt, und der Inhalt dieses Gesprächs, das unter vier Augen stattgefunden hatte, bereitete ihm Sorgen.

Den Stand der Bauarbeiten betraf das nicht – hier waren Fortschritte erzielt worden, die sich sehen lassen konnten. Die Mauer war vollendet und umschloss die ganze Stadt. Auch die Tore und gut die Hälfte aller Bastionen waren fertiggestellt, so dass viele der Handwerker und Hilfskräfte nun für andere Arbeiten eingesetzt werden konnten. Da gab es neue Straßen zu pflastern, die Getreidespeicher sollten noch einmal vergrößert werden, und feste Häuser entstanden rings um den Markt, der nun eine eigene Mauer mit Toren besaß. Eine Stadt wollte Gilgamesch schaffen, wie sie in der Geschichte der Völker beispiellos sein würde. Viele Handwerker aus dem Umland waren nach Uruk gezogen, hatten sich Häuser gebaut und bildeten nun ein eigenes Viertel zu Füßen des Eanna. Mehrere neue, große Herbergen galt es zu bauen, damit die fremden Kaufleute mit ihren Karawanen dort übernachten und längere Zeit wohnen konnten. Nein, Uruk entwickelte sich glänzend, da gab es keinen Anlass zur Klage. Was ihm aber Erenda über die Aktivitäten Ilunas erzählt hatte, stimmte ihn eher bedenklich. Sie konnte es nicht lassen, sich in die Politik einzumischen und hatte während seiner Abwesenheit mehrere Empfänge für ausländische Fürsten gegeben, die angeblich Rat bei ihr suchten, wie man den Ischtarkult auch in ihren Ländern einführen und ausweiten konnte. Es hieß, auch im Norden und jenseits des Tigris würde es nun Tempel wie in Uruk geben, die von Hohepriesterinnen geleitet wurden und allesamt Iluna unterstanden.

Anus Verehrung hingegen wuchs nicht im gleichen Maße, wie Erenda betrübt feststellte. In Nippur betete man Enlil an, in Ur galt der Gottesdienst vorrangig Marduk, und wieder woanders waren lokale Gottheiten höher als Anu angesehen. Eschnunna befürchtete bereits, dass auf die Dauer ein Ungleichgewicht entstehen könne, das Uruk und dem Reich Sumer schaden könnte.

So pessimistisch schätzte Gilgamesch indes die Entwicklung nicht ein. Aber dass Iluna Einfluss auf die Politik der benachbarten Fürsten ausübte, war kaum noch zu übersehen. Der Ehrgeiz dieser Frau schien im wahrsten Sinne des Wortes keine Grenzen zu kennen. Mit Diplomatie, Taktik und weiblichem Charme hatte sie es verstanden, beinahe unmerklich ein Imperium aufzubauen, das sich mittlerweile über ganz Sumer erstreckte und weit in die benachbarten Gebiete hineinreichte. Man munkelte, dass ihre Schatzkammern besser gefüllt seien als die des Königs. Was hatte Iluna vor: Wollte sie die alte, längst vergessene Priesterinnenherrschaft wieder errichten, ganz allmählich das weltliche Königtum abschaffen zugunsten einer Regierung, die ausschließlich von der Venus bestimmt war?

Erenda wirkte äußerst betrübt, als er über ihre jüngsten Erfolge berichtete: »Selbst die wilden Stämme der Lullumu im westlichen Irangebirge erwägen, den Ischtarkult zu übernehmen, obgleich sie sonst nur schlecht über Uruk denken. Eine Delegation ihrer Häuptlinge ist von Iluna empfangen und eine Woche lang im Tempel beherbergt worden. Tag und Nacht drangen Musik und Gesang aus ihren Gemächern, und als sie abzogen, gaben sie sich uns gegenüber wortkarg und wirkten wie Verschworene. Ich weiß nicht, was sie mit ihnen vereinbart hat, denn Iluna weiht uns nicht in ihre Politik ein. Sie benimmt sich wie eine heimliche Königin, die nur auf ihre Stunde wartet, um auch nach außen hin die Macht zu übernehmen. Sie sagte uns danach nur, dass die Lullumu weiterhin keine Abgaben an Uruk leisten wollen und auch am Handel mit uns wenig interessiert sind. Dagegen wollen sie einen Tempel in den Bergen bauen, der von einer der Priesterinnen Ilunas eingerichtet und geleitet werden soll.«

»Du bist, lieber Erenda, verzeih mir meine Direktheit, neidisch auf ihren Erfolg«, sagte Gilgamesch. »Wenn du ehrlich bist, so würdest du zugestehen, dass du auch für Eschnunna dort gern einen Tempel hättest und größeren Einfluss.«

»Das ist es nicht«, entgegnete Erenda, »ich bin zwar nach wie vor dem Anu verpflichtet und werde jetzt, da du wieder da bist und den Thron besser zu führen verstehst als ich, zurück in den Tempel gehen, wie Eschnunna es will. Aber glaube mir, ich habe in deiner Abwesenheit genug von Staatsgeschäften gelernt, um einschätzen zu können, dass uns aus Ilunas Machenschaften Nachteile erwachsen. Keine Abgaben wollen die Lullumu zahlen, nicht einmal Handel auf Uruks Markt betreiben – das kann nicht vorteilhaft für uns sein … Und ihre Gesichter haben mir nicht gefallen, als sie von Ilunas Mädchen begleitet durch die Straßen zogen und neugierige Blicke auf die Maueranlagen warfen. Nichts Gutes lag in diesen Blicken, sie gaben sich finster, fast wie Feinde … und dennoch verkehrt Iluna mit ihnen und zieht sie in ihr Vertrauen.«

Erendas Beschreibung der Ereignisse stimmte Gilgamesch nachdenklich. Trotzdem war er bereit, das Beste im Tun der Hohepriesterin zu sehen.

»Iluna ist die jüngste Verkörperung Ischtars auf Erden – es ist klar, dass sie bei allem, was sie tut, mehr an ihren Tempel denkt als an die Stadt. Wer wollte ihr das übelnehmen?«

»Dann denke an Tammuz und wie sie ihm mitgespielt hat«, gab Erenda zu bedenken.

»Erst liebte sie den bunten Vogel, holte ihn in ihren Tempel, gab ihm reichlich von allem, dass er sich bald selber wie eine Gottheit fühlte, und als er ihr ganz hörig war und seine Lieder nur noch ihr widmete, hat sie seine Flügel gebrochen, dass er vom Gram gebeugt in die Einöde zog und nur noch Gesänge dichtet, die die Herzen der Menschen schwer werden lassen.«

Gilgamesch wusste genau, worauf Erenda da anspielte. Er hatte die Geschichte von Tammuz und seinem schmachvollen Niedergang mitbekommen und sich im stillen ebenso wie viele Bürger von Uruk darüber empört. Tammuz war ein junger, hoffnungsfroher Dichter und Sänger gewesen, dessen Lieder die Leute sehr gern gehört hatten. Kein Fest hatte es gegeben, auf dem er nicht auftat und immer wieder seine Verse vortragen musste. Ja, sie wurden sogar abgeschrieben, auf Tontafeln übertragen und nachgesungen, selbst wenn er nicht dabei war. Ein Volkssänger war Tammuz, einer, der außerhalb der normalen Ordnung stand und dem man seine manchmal übertriebene Art und seine überschäumende Sprache verzieh. Als göttlicher Sänger der Ernte, des farbenfroh herbstlichen Laubes bezeichnete er sich, und niemand nahm ihm diese Überheblichkeit übel. Und dann war ihm seine Liebe zu Iluna zum Verhängnis geworden. Besser: Sie hatte angefangen, sich über ihn lustig zu machen, ihn als balzende Mandelkrähe bezeichnet, die den Blick für die Realität verloren habe. Er hatte dennoch nicht von ihr lassen können und schließlich hatte sie ihn mit Hohn und Spott aus dem Tempel geworfen, dass er in seiner Schande und Verzweiflung Uruk verlassen und in die Einöde geflohen war, wo seine Lieder traurig und immer trauriger wurden, bis nichts mehr von der Anmut seiner Verse übriggeblieben war.

Einen Gott des dahinwelkenden Pflanzenreichs nannten sie Tammuz nun, eine klagende, schwarze Krähe, die nur noch »kappi, kappi« rufen konnte, was soviel bedeutete wie »meine Flügel, meine Flügel!«

»Ja«, sagte Gilgamesch, »das stimmt, die Sache mit Tammuz wirft kein gutes Licht auf sie. Aber ist die Angelegenheit nicht längst vergessen, spricht man noch immer darüber?«

»Mehr denn je«, antwortete Erenda. »Je länger es her ist, desto verklärter sehen die Leute ihn. Tammuz ist zum Inbegriff aller Trauer geworden. Vergessen sind seine fröhlichen Lieder, die so leicht und heiter stimmten, statt dessen erinnert sein Name nur noch an Tränen und Qual. Auch mir wird bang zumute, wenn ich an Tammuz denke.«

»Irgendwann wird auch diese Wunde vernarbt sein, und die Leute werden sich einen anderen Dichter erwählen, der ihnen in Versen aus der Seele spricht. Ist nicht Sinnunni auch beliebt? Ich habe gehört, dass seine Hymnen große Zustimmung finden.«

»Gewiss, Sinnunni ist ein großer Dichter, wenn er auch eine ganz andere Sprache als Tammuz pflegt. Man kann sie schlecht miteinander vergleichen. Aber kannst du dich noch an Ischullanu erinnern? Ihm ist noch Schlimmeres mit Iluna widerfahren.«

Gilgamesch dachte an Ischullanu, und auch sein Schicksal stimmte ihn düster. Er war ein bedeutender Gärtner gewesen, der beste Palmgärtner des Königs. Auch ihn hatte Iluna betört und verzaubert. Jeden Tag brachte er Körbe mit frischen Datteln in den Tempel und deckte die Tafeln mit den schönsten Früchten und Blumen. Sie hatte ihn wohl geneckt, ihm Versprechungen gemacht, die sie nicht zu halten bereit war. Fast zum Wahnsinn hatte sie den Armen getrieben, der nur noch Augen für sie hatte und sich in ihrem Dienst aufrieb. Schließlich, als er sie auf den Knien bat, ihn zu erhören, hatte sie ihn beschimpft und geschlagen und schließlich in einen Frosch verwandelt, der in den Sümpfen wohnen musste. So hieß es jedenfalls, und es gab etliche, die bereit waren, dies zu beschwören und behaupteten, sie hätten ihn am morastigen Ufer des Euphrat sitzen und mit glasigen Augen quaken gesehen, dass es die Störche erbarme.

Dergleichen Geschichten gab es noch mehr, und sie alle – ob wahr oder erlogen – deuteten darauf hin, dass Iluna ein böses Spiel mit ihren Liebhabern trieb und ein Herz aus Stein haben musste. Keine guten Eigenschaften für eine Göttin, die vorgab, sich dem Gestirn der Venus verschrieben zu haben. Es konnte sein, dass alles, was im Zusammenhang mit Tammuz und Ischullanu erzählt wurde, furchtbar übertrieben war. Dennoch musste ein Kern von Wahrheit an der Sache sein. Auch Gilgamesch hatte sie schließlich kennengelernt und am eigenen Leib erfahren, wie vorsichtig man mit ihr umgehen musste. Er dachte an das, was in der Nacht der Heiligen Hochzeit geschehen war, an das, worüber er niemals reden wollte, und Zorn und Scham stieg ihm ins Gesicht. Hatte sie nicht auch mit ihm ihr Spiel getrieben? Warum musste sie beispielsweise die kleine Tehiptilla in die Wildnis zu Enkidu senden, wo es im Tempel so viele andere geeignete Mädchen gab? Das Orakel war schließlich sie. Sie konnte es auslegen, wie sie es wollte. Hatte sie das mit Tehiptilla absichtlich getan? Aber es gab noch mehr, was Erenda loswerden wollte: »Sie hat dich, Gilgamesch, betreffend gewisse Andeutungen gemacht, die mich hellhörig werden ließen. Vorsichtig solltest du sein, erhabener König, achtgeben solltest du auf ihr Ränkespiel. Ich rede nicht von dem, was Dumuzi geschah … Niemand weiß, ob wirklich Gift im Becher war, wie es die weise Ninsum öffentlich behauptet hat … Nein, mit dir scheint sie anderes vorzuhaben, etwas, das möglicherweise schlimmer noch ist. Sei wachsam, König, und habe stets ein Auge auf das, was sie tut.«

»Ich habe mit Dämonen gerungen, bin zum feuerspeienden Berg gezogen und hab den Chumbawa erschlagen«, sagte Gilgamesch leichthin, »wie sollte ich da vor einer Frau Angst haben?«

»Es ist keine gewöhnliche Frau«, sagte Erenda hartnäckig, »sie ist eine Göttin, die jüngste Verkörperung Ischtars auf Erden. Sie ist stark, klug und berechnend und zudem eine Zauberin …«

»Sollte sie es wirklich darauf anlegen, wie du behauptest, so wird sie in mir einen ebenbürtigen Gegner finden«, antwortete Gilgamesch.

»Ich danke dir dafür, dass du dir Gedanken machst und mir Ratschläge gibst. Aber sei getrost: Es droht keine Gefahr. Sie ist mir nicht überlegen.«

Aber er nahm sich vor, wachsam auf alles zu achten, was sie in der nächsten Zeit tat. Das Gastmahl bot eine gute Gelegenheit dazu, ihre Vorhaben zu erkunden. Nicht ganz ohne Vorbedacht saß er daher neben ihr an der Tafel.

Er wandte sich lächelnd an sie: »Man hat mir erzählt, dass du großen Einfluss auf die Stämme der Lullumu gewonnen hast. Wie ist es möglich, dass eine friedliche Taube wilde Bergziegen und störrische Steinböcke zu zähmen vermag?«

Iluna lächelte strahlend zurück. »Oh, es ist nicht immer die stürmische Wucht einer einzigen Woge, die Dämme zum Einsturz bringt. Viel eher höhlen stetige Tropfen den Stein und lassen ihn brechen, ohne dass sich der einzelne Tropfen anstrengen muss.«

Sie hob sich in ihrem Schmuck von den übrigen Mädchen ab. Fast durchscheinend war ihr Kleid und verdeckte doch raffiniert ihre Blöße. Alabasterfarben schimmerte ihre Haut an manchen Stellen des Gewandes hervor. Im offenen Haar trug sie einen Kranz frischer Frühlingsblumen. Es war schwer zu entscheiden, ob sie es waren oder ihre Haut, die den Duft eines blühenden Gartens verströmten.

»Ein Tempel soll dir zu Ehren in den Bergen errichtet werden …«

»Ja, Unigi wurde vom Orakel bestimmt, ihn zu leiten. Sie wird mit zwölf meiner Mädchen in die Berge des Iran ziehen.«

»Um den Lullumu Lust und Freude zu verschaffen?«

»Nein, um Ischtar Ehre zu machen und den siebenstrahligen Venusstern in die Seelen der Barbaren strahlen zu lassen, damit er sie zu Menschenwesen macht, derer sich die Götter nicht länger zu schämen brauchen.«

»Du hältst nicht viel von Barbaren?«, fragte Gilgamesch und dachte dabei an Enkidu, der zwar auch ein Barbar war, aber von dessen einfachem Wesen er viel gelernt hatte.

»Ganz im Gegenteil«, antwortete Iluna zu seiner Überraschung, »ich halte sehr viel von ihnen. Sie haben noch alles vor sich und können den ganzen Himmel gewinnen, während wir im Besitz des Wissens sind und beständig aufpassen müssen, um nicht durch Leichtsinn alles zu verlieren.«

»Doppeldeutig sind deine Worte. Glaubst du, dass Uruk etwas verlieren kann, jetzt, wo wir doch gerade erst am Anfang einer großartigen Entwicklung stehen?«

»Gerade dann. Am Anfang ist jeder Sprößling zart, der emporwächst, und ein einziger heftiger Windstoß kann ihm Schaden zufügen. Ist einmal ein kräftiger Stamm gewachsen, so bietet der Baum größeren Widerstand.«

Gilgamesch schmunzelte über ihren bildhaften Vergleich. Er musste aber auch zugleich an sein Abenteuer im Zedernwald denken. Kein Mensch in Uruk, nicht einmal Iluna, würde sich vorstellen können, wie es dort wirklich war. Hatte nicht auch die große sprechende Zeder einen festen Stamm gehabt, zudem den mächtigsten des ganzen Waldes, und hatte nicht auch sie weichen müssen und fallen unter seinen Hieben?

»Ich sehe, du machst dir Gedanken über Uruk. Seltsam, seit ich hier bin, spreche ich nur noch mit Leuten, die sich Sorgen über die Zukunft der Stadt machen. Gibt es so viel Anlass dafür?«

Iluna sah ihn an, und der Glanz ihrer Augen umtanzte ihn wie ein Irrlicht. Ihr Blick schien in ihn einzudringen, aber auf sanfte, unerhört behutsame Weise.

»Es gab einen Tag, da habe ich mir viel weniger Sorgen um Uruk gemacht«, sagte sie, »das war am Morgen nach der Heiligen Hochzeit.«

»Und warum?«, fragte Gilgamesch schwach. Ihr Blick – oder war es mehr ihre Stimme? – machte ihn trunken.

»Warum?«, lachte sie und schien plötzlich ein Paradiesvogel zu sein, dessen Zwitschern viel von seiner überirdischen Herkunft verriet.

»Warum? Weil es ein guter, ein hoffnungsverheißender Anfang war. Aber eben nur ein Anfang …«

Gilgamesch begann zu schwitzen. Sie lenkte das Gespräch auf einen Punkt, der ihm gar nicht behagte.

»Ja, die Götter waren zufrieden, die Menschen auch«, antwortete er ausweichend, »die Saat auf den Feldern ist prächtig gediehen. Voll mit Korn sind die Kammern unter dem Eanna …«

»Gilgamesch, du umschleichst mit deinen Worten wie eine hungrige Katze den heißen Brei«, sagte Iluna und legte ihre Hand auf die seine, »weißt du nicht, wovon wir beide eher sprechen sollten, als die Zeit mit Politik und Höflichkeiten zu vertun?«

Er wäre am liebsten aufgestanden und hätte sich unter das Heer der Tänzerinnen gemischt, aber ein unsichtbarer Bann hielt ihn fest.

»So, wovon meinst du, sollten wir reden?«

»Davon, dass die Heilige Hochzeit nur eine symbolische war«, sagte Iluna, »und davon, dass wir eine richtige feiern könnten.«

Plötzlich war sie so dicht bei ihm, dass er das schmiegsame Fleisch unter ihrem Gewand spürte.

»Du solltest mein Gatte sein, Gilgamesch, mein Mann, und ich dein Weib. Ich will dir einen Wagen bespannen lassen, der aus Gold und Lapislazuli besteht, mit goldenen Hörnern aus Mondgestein. Vier dahinstürmende Maulesel sollen ihn ziehen, und er soll so schnell wie Schamachs Sonnenwagen sein. Unser Haus soll nach Zedernholz duften, und Türpfosten und Thronsessel sollen sich vor dir neigen. Könige werden vor dir das Haupt beugen, Gilgamesch, Fürsten und Edle des Weltenkreises im Staube knien. Alles Glück soll dir beschieden sein, am meisten aber von dem, was ein Mann sich auf dem Lager wünscht, in dem sein Weib auf ihn wartet. Komm, Gilgamesch, erst einen Schritt hast du getan, der dich den Göttern näherbrachte. Tu nun auch den nächsten und nimm eine Göttin zur Frau.«

Gilgamesch wusste keine Antwort. Wäre er ein leichtsinniger, törichter junger Mann gewesen, so wäre ihm die Antwort leichtgefallen, und er hätte keine Sekunde mit dem Ja gezögert. Aber er hatte vieles erlebt, was normalen Sterblichen nicht vergönnt ist, auch Dinge, die die Götter und ihr Wirken in einem anderen Licht erscheinen ließen. Er fühlte, dass er sich für immer ausliefern würde, wenn er zustimmte. Er würde sich selbst und seinen Träumen untreu werden, und das durfte nicht geschehen. Zudem war Iluna keine Frau, die sich einem König zum Weibe gab. Nein, sie würde selber regieren wollen und mehr fordern, als er zu geben imstande war. Er dachte an Tammuz, Ischullanu, Dumuzi und all die anderen …

»Ich verstehe dein Zögern«, sagte Iluna und verblüffte ihn mit ihrer Offenheit, »du hältst mich für herzlos, für ein männermordendes Ungeheuer, und ich habe wirklich selbst einiges dazu beigetragen, mir diesen Ruf einzuhandeln. Aber glaube mir – das meiste von dem, was sich die Leute erzählen, ist maßlos übertrieben und die Ausgeburt ihrer überschäumenden Phantasie. Du aber bist anders, du bist klüger und blickst weiter als die normalen Menschen. Und du weißt, dass ich genauso bin. Du und ich, wir beide gehören zusammen, wir sind vom gleichen Holz geschnitzt. Wenn wir beide uns zusammentun, können wir die ganze Welt verändern. Unsere Vereinigung ist ein Gebot der Vernunft. Aber nicht davon will ich reden, denn Vernunft ist eine Sache, Gefühle aber sind eine andere. Wenn du in meine Seele blicken könntest, Gilgamesch, könntest du sehen, dass ich innerlich brenne vor leidenschaftlichem Verlangen nach dir. Noch nie ist mir solches widerfahren, dass ich nur noch einen einzigen Wunsch in mir verspüre: Nimm mich zur Frau, Gilgamesch, mein Geliebter.«

»Ich … werde es mir überlegen, gib mir Bedenkzeit …«, sagte Gilgamesch.

Die Worte kamen ihm schwer über die Lippen, und schwer nur konnte er den Blick von ihr lösen. Nie zuvor, nicht einmal am Tag der Einsegnung im Tempel, hatte er so stark ihre Macht gespürt.

»Überleg es dir, Gilgamesch«, sagte sie mit einer Stimme, die nach Zimbeln und Harfe klang, »morgen erwarte ich dich im Tempel. Aber halte dich nicht im Vorraum auf, komm gleich in meine Gemächer, um mir deine Entscheidung mitzuteilen.«

Das Klingen der Saiteninstrumente nach einer langen Stille schreckte ihn auf. Er fühlte sich vom Sitz hochgezogen und von vielen Händen in das wirbelnde Spiel der Tänzerinnen gerissen. Schwankend bewegte er sich zwischen tausend duftenden Blüten und war wie ein Stück Holz, das in den Wellen des Euphrat treibt, ein wilder Sproß, den die Hand einer Göttin berührt hatte, um ihn aufzurichten und zu veredeln. Er tanzte mit den anderen, tanzte und wusste nicht einmal, für wen er das tat. Und manches Mal, wenn er aufblickte, trafen seine Augen die der Göttin, und ihr Blick ruhte voller Wohlwollen auf ihm.

Gilgamesch quälte sich schwer mit seinen Gedanken. Gewiss, Ischtars Werbung hatte ihm geschmeichelt, aber sie hatte ihm zugleich auch Sorge bereitet. Ein solcher Entschluss musste wohlüberlegt sein, von so weitreichender Bedeutung war er und würde alles in seinem Leben verändern. Und er konnte sich mit niemandem darüber beraten und keinem seine geheimen Ängste anvertrauen. Wirklich keinem? Doch, da gab es Enkidu, der ihm nicht nur ein treuer Freund, sondern auch ein stets zuverlässiger Berater war. Enkidu besaß die Gabe des inneren Auges, wie sonst wohl nur noch Ninsum, die weise Mutter. Er war nicht verblendet vom äußeren Schein, er reagierte oft naiv und unbefangen, wie es nur jemand kann, der den meisten Teil seines Lebens bisher außerhalb der Stadt und der Gesellschaft zugebracht hat. Er ging völlig anders an die Dinge heran und blickte ihnen dennoch auf den Grund. Mehr als einmal hatte Gilgamesch staunend festgestellt, wie treffsicher seine Voraussagen waren. In dieser Situation würde es gut sein, seinen Rat einzuholen.

»Enkidu, mein Bruder«, sprach er, »schwere Gedanken macht sich mein Kopf und mein Herz ist mir bang, denn ein Ruf hat meine Seele erreicht und dort Saiten berührt und zum Klingen gebracht, die unverständlich und neu für mich sind.«

»Was ist es, was dich bedrückt? Sage es mir, damit ich dir helfen kann«, sagte Enkidu.

»Iluna wirbt um mich, sie umschmeichelt mich wie eine Katze, die Milch und Zärtlichkeiten erwartet … und doch habe ich Angst davor, ihr zu geben, was sie verlangt. Sie buhlt um mich als Frau und will mein Weib werden. Ihr Gatte soll ich werden und neben ihr auf dem Thron sitzen und die Herrschaft mit ihr teilen.«

»Ist es nur das, was dir Sorgen macht?«, fragte Enkidu, »dass du einen Teil deiner Macht abgeben sollst und nicht mehr frei wie bisher Entscheidungen fällen kannst?«

»Nein, das ist es nicht. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob es das sein kann, und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es das nicht ist, was mich ängstigt.«

»Was ängstigt dich dann? Befürchtest du, du könntest mir fremd und unsere Freundschaft weniger wichtig werden?«

»Nein«, rief Gilgamesch, »auch das ist es nicht. Was auch geschieht, nichts vermag uns beide zu trennen. Viel eher ist es der Gedanke an Iluna selbst, der mich befangen macht und trübe Stimmung in mir aufkommen lässt.«

»Dann liebst du sie nicht«, stellte Enkidu einfach und nüchtern fest.

»Was weißt du von Liebe? Du redest darüber, als wüsstest du genau, was das ist, und hast das Gefühl wahrscheinlich noch gar nicht erlebt.«

»Doch«, sagte Enkidu, »ich liebe dich und wohl auch mich selbst. Ich liebe den Geruch blühenden Halfagrases und den scharfen Moschus des Viehs auf der Weide, ich liebe die Steppe mit ihren unzähligen Rätseln und den freien Blick, den man über weite Ebenen hin hat. Ich liebe es, am Morgen die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne zu sehen und nachts den Schein des Mondes und die leuchtenden Sterne. Ich liebe den Geschmack frischen Wassers aus einer sauberen Quelle und den Hauch des Windes auf meinem Körper. Ich liebe das Nichtstun, ausgestreckt in der Wärme oder unter schattigen Palmen zu liegen und den Liedern der Vögel zu lauschen. Ein wenig liebe ich auch diese Stadt und das angenehme Leben darin. Am meisten aber liebe ich es, von Menschen umgeben zu sein, die fröhlich ihr Handwerk tun und lachen dabei, wo andere fluchen.«

»Du zählst alles Dinge auf, die auch mir gut gefallen«, sagte Gilgamesch, »aber hat das wirklich etwas mit Liebe zu tun? Was bedeutet Liebe für dich?«

»Etwas nah sein und sich seiner Nähe erfreuen … Spürst du das, wenn du mit Iluna zusammen bist?«

»Nein«, antwortete Gilgamesch wahrheitsgetreu und dachte nach, »nein, eigentlich nicht. Eher das Gegenteil: Ich bin froh, wenn ich wieder von ihr gehe. Und doch … ihre Schönheit reizt mich, ihre Gebärden, ihre weiche, wohlklingende Stimme verzaubert mich, vor allem ihre Augen ziehen mich an. Ein seltsames Wechselspiel ist es, was mir in ihrer Nähe widerfährt: Ein Teil möchte ihr nah sein, der andere schreckt vor ihr zurück und will fliehen.«

»Du hast gesagt, was dir an ihr gefällt. Wovor aber weichst du zurück?«

»Vor dem Wissen, oder besser: der Ahnung, dass sie zwei Gesichter besitzt. Eines, das sie aufsetzt wie eine Maske, um zu gefallen und zu erobern, und eines, das ich noch nie sah, das ich mir aber schrecklich vorstelle – ihr wahres Gesicht, und das wird kalt sein wie ihre Seele.«

»Dann ist sie es, die uneins ist mit sich selbst. Du reagierst nur darauf, und das ist ganz normal. Wenn ich vorhin über den Geschmack des Wassers und den Geruch in den Feldern sprach, so habe ich es genauso gemeint: Ein Wasser, das schal schmeckt und das man nur zur äußersten Not trinkt, um den ärgsten Durst zu stillen, kann ich ebensowenig lieben wie Tiere, die widernatürlich nach Weihrauch riechen und gesalbt sind, um als Opfer in den Tempel gebracht zu werden. Entweder etwas ist so, wie es ist, richtig, dann gefällt es mir, oder es ist verfälscht und nicht richtig. Eine solche Sache kann man nicht lieben.«

»Du sprichst wie ein Weiser«, lachte Gilgamesch, »obwohl es einfache Bilder sind, die du als Beispiel heranziehst, kann ich verstehen, was du meinst und sie auf mich übertragen. Du behauptest also, dass ich Iluna nicht liebe und darum besser die Finger von ihr ließe? Auch nicht als Spiel, um auszuprobieren, was geschieht?«

»Es gibt Spiele«, antwortete Enkidu ernst, »die machen Spaß und man spielt sie gern und immer wieder. Und dann gibt es welche, die bringen nur Unglück und Verlust. Dumm ist jemand zu nennen, der das nicht weiß und stets aufs neue die gleichen Fehler macht, ohne daraus zu lernen.«

»Und Iluna wäre ein solcher Fehler! Du schätzt sie nicht besonders hoch ein?«

»Nein«, sagte Enkidu und schüttelte heftig den Kopf, »wenn du mich so fragst, so gebe ich dir eine deutliche Antwort: Sie erinnert mich an eine Schlange, die ihre Opfer mit Blicken bannt, sie langsam umschlingt und schließlich erstickt.«

Das waren deutliche Worte. Wenn Gilgamesch nicht insgeheim das gleiche gespürt hätte, er hätte heftig protestiert. Aber er schwieg und dachte über die Worte des Freundes nach.

Am Abend hüllte er sich in sein bestes Gewand und ging hinüber in ihren Tempel. Die Hohepriesterin erwartete ihn bereits. Auch sie hatte sich schön gemacht und ihren Schmuck angelegt. Sie ruhte auf einer Liege und blickte ihn erwartungsvoll an, als er ihr Gemach betrat.

»Nun«, sagte sie, »hast du es dir überlegt, Held von Uruk, bist du gekommen, um uns beiden die Pforten des Paradieses zu öffnen?«

»Ich fürchte, das wird nicht gehen«, antwortete Gilgamesch und blickte der wunderbaren Ischtar direkt ins Gesicht.

»Und warum?«

»Aus verschiedenen Gründen. Der eine davon ist: Was sollte ich dir geben, wenn ich dich zur Frau nähme? Kostbares, wohlriechendes Öl für deinen Leib, Gewänder, wie sie den Weibern gefallen? Brot und Nahrungsmittel wie für gewöhnliche Sterbliche? Ich habe keine Speise, die einer Göttin würdig wäre, ich habe keine göttliche, ich habe nur königliche Speise!«

»Das würde mir reichen. Ich verlange nicht so viel, wie du glaubst.«

»Selbst wenn«, fuhr Gilgamesch unbeirrt fort, »was wärest du imstande, mir als Gegenleistung zu bieten? Was würde aus mir, wenn ich dich zur Frau nähme? Ein König, der untergeordneter Diener der Göttin sein muss, ein Spielball deiner Launen und Wünsche? Nein, Iluna, ich sage dir frei heraus, was ich von dir halte, und es ist mir gleichgültig, ob du mir deswegen zürnst: Herrisch und ungerecht bist du, maßlos in deinem Geltungsanspruch. Du verwechselst Liebe mit Besitzgier, Hingabe mit Berechnung. Wie soll man dir da vertrauen können?«

Iluna hatte sich bei seinen verletzenden Worten aufgerichtet, ihr spöttisches Lächeln war verschwunden, wütend funkelten nun ihre Augen.

»Mach ruhig weiter und verschweige mir nichts von dem, was aus deiner Seele quillt«, sagte sie mit betont ruhiger Stimme.

Es war ihr anzusehen, dass sie sich nur mühsam beherrschte.

»Oh, es gibt noch viele andere Beispiele, die auf dich passen würden«, sagte Gilgamesch, und ein Dämon ritt ihn, weiterzureden. »Welchem deiner Buhlen hast du Liebe und Treue gehalten, welchem sein Vertrauen gelohnt? Ich will sie dir aufzählen, deine Liebhaber, die du ins Unglück gestürzt hast, ob du hören willst oder nicht: Wo ist die Mandelkrähe Tammuz geblieben, die dir liebestrunkene Lieder sang? Wo Ischullanu, der einst ein begnadeter Gärtner war und nun im Sumpf bei den Fröschen sein Leben fristet? Dem kraftvollen Löwen, den du begehrtest, hobst du Gruben aus, um ihn zu fangen und in ein sanftes Spielzeug zu verwandeln. Dem kampferprobten Ohesi hast du Peitsche, Stachel und hartes Zaumzeug zu spüren gegeben, dass er nun rennt wie ein abgerichtetes Zugtier, Schlammwasser säuft und es für köstlichen Wein aus deinem Tempel hält. Seine Mutter Silili weint sich die Augen um ihn aus. Und Amagu, den Sprecher der Hirten, der dir ständig Brotkuchen buk, täglich ein Zicklein als Opfer schlachtete und seine Pflichten darüber vernachlässigte – was hast du mit ihm angestellt? Du hast ihn geschlagen und zu einem einsamen Wolf werden lassen, den die Hütejungen aus ihrer Runde verjagen, und seine eigenen Hunde beißen ihn nun und achten ihn nicht. Und du behauptest, dies alles wäre Liebe gewesen … Liebst du erst mich, so brächte mir diese Liebe wohl gleiches wie denen ein!«

»Hinaus!«, schrie Iluna wütend.

Seine frechen Beleidigungen hatten sie bis ins Mark getroffen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sich Gilgamesch ihr gegenüber einer so maßlosen Sprache bedienen würde. Für einen Augenblick verlor sie ihre lächelnde Maske und zeigte ihr wahres Gesicht. Dieser kurze Moment der Erkenntnis aber reichte Gilgamesch, um zu sehen, dass er richtig gehandelt hatte.

Er erhob sich und deutete mit dem Kopf eine knappe Verbeugung an.

»Ist dir dies Antwort genug auf dein Begehren?«, fragte er. »Ich denke, wir sind vom gleichen Holz geschnitzt, da müsstest du doch so offene Worte, wie ich sie dir sprach, verstehen können.«

»Raus!«, schrie Iluna und schleuderte ein Kästchen, das in Reichweite ihrer Hände stand und ihr als Wurfgeschoss gerade recht kam, in Gilgameschs Richtung.

»Verschwinde, du hergelaufener Bastard! Nie wieder sollst du meinen Tempel betreten. Ich verfluche dich, Gilgamesch, dümmster und schäbigster aller Könige, die je in Uruk regierten! Geh aus meinen Augen und kehre nie mehr zurück. Mein Fluch soll dir nacheilen und deine Freude vergiften, dass du das Lachen für immer verlierst.«

»Besser, du vergiftest mir bloß meine Freude als einen Becher mit Wein«, sagte Gilgamesch und ging ohne sich umzudrehen.

Er ging und lachte noch draußen, denn hinter sich hörte er weitere Gegenstände an den Wänden des Gemachs zerschellen. Die jüngste Verkörperung Ischtars auf Erden, dachte er bei sich. Das soll nun eine Göttin sein, eine, die wie ein gekränktes Marktweib reagiert, bei der man fauliges Obst bemängelt hat.

Er reckte den Kopf und atmete tief durch, als er auf dem großen Platz vor der Zikkurat stand. Herrlich frisch schmeckte die Luft, frühlingshaft und nach Würze, und Vögel stiegen jubilierend darin empor. Der Himmel war schön, aber eben nur ein Himmel. Ein einfacher Himmel, der mit allerlei Greifbarem bevölkert war. Götter schienen wenig Platz darin zu haben. Er wusste, dass er sich mit seinen deutlichen Worten ihre Feindschaft und ihren Hass zugezogen hatte, aber es tat ihm nicht leid darum. Mochte sie toben und wehklagen, ihm Verwünschungen hinterherschicken – es würde ihn wenig berühren. Sie hatte ihr Spiel mit ihm versucht und verloren, und niemand konnte ihn zwingen, sie zur Gemahlin zu nehmen.

Gilgamesch dachte auch an die Worte der sieben Weisen, wie sie damals über ihr Holzbrett gebeugt gesessen und die runden schwarzen und weißen fünfpunktigen Steine gezogen hatten. Auch damals schon war deutlich geworden, dass sie die heilige Ordnung verlassen wollte, gleichgültig welche Konsequenzen das nach sich ziehen würde. Damals hatte sie noch nicht mit ihm gerechnet, damals war er ein Junge ohne Bedeutung gewesen und sie, die sich bereits dem Ziel ihrer Bestrebungen nahe fühlte, hatte die Macht an sich gerissen mit der fadenscheinigen Begründung, Dumuzi, der dahinsiechende Tyrann, hätte dies als seinen Willen erklärt. Nur unter dem Druck der Volksmeinung hatte sie auf den Thron verzichtet und wohl fest daran geglaubt, dass die Übergabe nur von kurzer Dauer sein würde. Nun, da er, Gilgamesch, wichtig für Uruk geworden war, ein König, der Pflicht und Verantwortung spürte, war ihr zweiter Versuch, die Macht zu gewinnen, an seinem stolzen Selbstbewusstsein gescheitert. Würde sie endgültig aufgeben und sich endlich auf das besinnen, was ihre eigentliche Aufgabe war, wie es die Ordnung der Fünfheit vorsah für sie? Oder bereits Rachepläne schmieden, um ihm zu schaden?

Leichtfüßig lief Gilgamesch quer über den Platz, dem Tor seines Palastes zu. Er fühlte sich regelrecht befreit, als sei eine Last, die schwer auf seinen Schultern gelegen hatte, von ihm gewichen. Er würde sich nicht von ihren Drohungen beeinflussen lassen, nicht im geringsten. Sie besaß keinerlei Macht über ihn. Er war frei.

Iluna war außer sich vor Empörung. So brutal hatte ihr noch niemand die Meinung gesagt. Dieser Gilgamesch, dieser elende Bastard, was nahm er sich ihr gegenüber heraus, wie konnte er es wagen, so anmaßend zu ihr zu reden? Er musste bestraft werden, schlimmer, als es je einem widerfahren war, der lebte auf Erden. Weinend vor Zorn, am ganzen Leib zitternd, stieg sie aufs Dach ihres Tempels, um mit Marduk, ihrem himmlischen Vater, zu sprechen. Mit bebenden Händen schichtete sie ein Opferfeuer und streute, als es endlich brannte, zerbröselte Pflanzenstengel darüber. Hoch stieg die dünne Rauchsäule empor und trieb, dem Lauf der Zikkurat folgend, spiralig zum Himmel. Iluna stand auf dem Dach und streckte die Arme aus, sie hob den Kopf, und das gelöste Haar fiel ihr in den Nacken.

»Höre, Marduk, himmlischer Vater«, sprach sie, »was Iluna, deiner Tochter, der jüngsten Verkörperung Ischtars auf Erden, widerfahren ist: Dieser stolze Gilgamesch, der noch nicht lange König von Uruk ist und von einfachem Geblüt, hat mich frech verhöhnt, als ich ihn bat, mich zum Weibe zu nehmen. Wie kommt er nur dazu, welcher Dämon gab ihm dieses Denken ein? Dabei hätte ich ihm so viel geben können, alles, was sich ein Mann nur wünschen kann. Aber er hat es abgelehnt und mich schroff zurückgewiesen, als ob ich eine einfache Tempeldirne sei. Harte Worte hat er gegen mich gebraucht und Beschimpfungen ausgestoßen, die unerträglich waren. Nie zuvor hat jemand solches zu tun gewagt, nie zuvor ward Ischtar auf solche Weise gekränkt.«

Marduk, der himmlische Vater, der sich selten in die Dinge unten auf der Erde einmischt, aber stets genau zuhört, wenn jemand innerlich aufgewühlt ist, antwortete: »Wie ich es sehe, trägst du selber Schuld daran, dass es so gekommen ist. Du hast den König von Uruk so gereizt, dass er dir einen Spiegel vorhielt, in dem du deine schlimmen Taten und deinen bösen Wandel erblicktest. Niemand erträgt seinen Anblick in einem solchen Spiegel gern. Nicht Gilgamesch solltest zu zürnen, sondern den Stunden, an denen du handeltest, wie es einer Göttin der Liebe nicht ansteht.«

Dass Marduk so zu ihr sprach, machte sie nur noch wütender.

»Selbst wenn es so ist«, rief sie, »was hat er mich zu beschimpfen und schlecht über mich zu reden. Ein Menschlein urteilt über eine Göttin! Und außerdem: Hätte sich mit ihm nicht auch alles zum Guten wenden können, wäre es nicht ein neuer Anfang gewesen?«

Marduk zog seine Stirn in Falten.

»Du weißt selbst, dass du dir da etwas vormachst«, antwortete er, »man kann seine Kleidung wechseln und seinen Gatten wohl auch und selbst die Stadt, in der man lebt – aber kann man auch den Brunnen wechseln, aus dem man trinkt und der einen gespeist hat von Kindesbeinen an? Nein, Iluna, das ist es nicht, was du mir sagen wolltest, und wenn du so redest, dann glaube ich dir nicht. Deine Klagen habe ich gehört und Antwort darauf gegeben. Was willst du also sonst noch von mir?«

»Marduk, mein himmlischer Vater«, schrie Iluna, von Hass und Verzweiflung getrieben, »du versprachst mir einst, an dem Tag, an dem ich dich von Herzen darum anflehen würde, einen wirklich großen Wunsch zu erfüllen. Nun ist es soweit: Schaff mir den Himmelsstier, den fürchterlichen, wütenden Bullen, dass er in Uruk einfalle und Gilgamesch töte in seinem Palast!«

»Das werde ich nicht tun«, antwortete Marduk, »gar zu schlimm ist dein Wunsch, und elend wird mir, wenn ich so etwas aus deinem Munde höre. Bist du von Sinnen, ein solches Verlangen an mich zu richten?«

»Nein«, sagte Iluna, »ich bin nicht von Sinnen, mein Verstand ist ganz klar, und ich weiß, was ich da rede. Und so wiederhole ich meine Bitte: Gib mir den Himmelsstier, pflücke ihn mir aus dem Sternbild des Taurus herab, hauche ihm Leben ein und sende ihn zur Erde herab, damit er in Uruk wüte und Verderben über den schändlichen Gilgamesch bringe, der mich so verletzt und beleidigt hat.«

»Das werde ich nicht tun«, sprach Marduk ein zweites Mal, »ich könnte es schon, und fürchterlich würde sein Erscheinen sein, aber es liegt mir fern, das zu tun.«

Da begann Iluna zu drohen: »Schaffst du mir den Himmelsstier nicht, so werde ich die Pforten zur Unterwelt einschlagen, die Riegel zerbrechen und die Tore weit öffnen, auf dass alle Toten auferstehen und emporkommen zur Oberwelt, um die Lebenden zu fressen. Mit Lilith werde ich mich verbinden, die meine Ahnherrin ist und die Seelen der Verstorbenen sammelt. Sie kann den Toten neues Leben einflößen und wir hetzen sie auf alles, was sich bewegt. Mehr Tote als Lebende wird es dann auf der Erde geben.«

Marduk grauste es bei dieser Drohung seiner Tochter, zu furchtbar war das Bild, das sie malte. Und da er im Grunde seines Herzens ein gütiger Gott war, der seine Kinder, auch die Menschenkinder, liebte, fing er langsam an, nachzugeben. Aber er brachte weitere Einwände vor: »Wenn du den Himmelsstier von mir verlangst, wird das entsetzliche Folgen haben. Sieben Hungerjahre wird es für Uruk geben, denn der Stier frisst alles, unglaublich viel frisst er weg. Ich würde Korn für die Menchen sammeln müssen, damit sie genug zu essen haben, und ich würde Gras wachsen lassen müssen für das Vieh.«

»Nein, das wird nicht nötig sein«, gab Iluna zur Antwort, »ich habe genug Korn für die Menschen gesammelt, Vater. Die Kammern unter dem heiligen Berg quellen über davon. Auch Gras, um das Vieh weiden zu lassen, habe ich wachsen lassen in ausreichender Menge. Selbst wenn es sieben magere Jahre mit leerem Stroh gäbe, hätten wir genug reifes Korn und saftiges Gras, dass alle satt davon würden. Du siehst, es ist für alles gesorgt, sorge du nun dafür, dass dein Versprechen jetzt eingelöst wird, da ich es brauche.«

Schließlich gab Marduk auf Ischtars Drängen hin nach. Mehr um endlich wieder seine Ruhe zu haben, denn aus wirklicher Überzeugung, tat er, was sie von ihm verlangte. Mit kräftiger Hand griff er den Stier aus dem Sternbild des Taurus, pflückte ihn vom Himmel, hauchte ihm Leben ein und setzte ihn auf die Erde. War es nun seine Nachlässigkeit, die daraus erwuchs, dass seine Gedanken längst in ganz anderer Richtung schweiften, oder war es sein gutes Herz, das es ihm schwer machte, Ilunas Willen gänzlich zu erfüllen – wie auch immer, er setzte den wütenden Stier in der Steppe ab, noch weiter von Uruk entfernt als die Stelle, wo der Jäger einst auf Enkidu gestoßen war. Dort tobte er umher, stampfte mit den Hufen den Boden auf und jagte brüllend und mit gesenktem Kopf jedes Tier in die Flucht, das sich ihm unvorsichtigerweise näherte, aber noch kamen keine Menschen dabei zu Schaden. Die Wanderwege der Sandläufer verliefen weiter nördlich und westlich, und so bekamen ihre Hirten das schreckliche Tier nicht zu Gesicht.

»Danke«, sagte Iluna, die jüngste Verkörperung Ischtars auf Erden, »ich danke dir, himmlischer Vater, dass du mich erhört und meine Bitte erfüllt hast.«

Marduk hörte sie nicht mehr. Er schlief schon wieder und träumte im Schlaf noch einmal von der Erschaffung der Welt, von der Trennung des Trockenen und des Nassen, von Feuer, Luft und Gesteinen, von Pflanzen, Tieren und Menschen, die er mit Mach in so verwirrend artenreicher Zahl hervorgebracht hatte. Dies war seine Hauptbeschäftigung, und er ließ sich nur ungern darin unterbrechen.

Iluna merkte sehr bald, dass Marduk zwar den Himmelsstier erschaffen, ihn aber so weit von Uruk entfernt abgesetzt hatte, dass er keine Gefahr für Gilgamesch darstellte. Unruhig sann sie darüber nach, wie sie das Ungeheuer zur Stadt locken konnte und brütete über einem Plan. Weil ihr mit bloßem Nachdenken allein keine brauchbare Lösung einfiel, nahm sie wieder einmal ihr geliebtes Orakel zu Hilfe. Sie warf die Elfenbeinwürfel mit sicherer Hand und begann, die Ergebnisse in Punkte und Striche umzusetzen. Das Bild, das sich ergab, war ›das Heer‹, das sich aus den oberen Punktlinien, die das Empfangende, also die Erde symbolisierten, und unten einem heilen zwischen zwei gebrochenen Strichen, dem Abgründigen, dem Wasser, zusammensetzte. Damit war das Grundwasser gemeint, das sich in der Erde ansammelt.

Ähnlich verhielt es sich ja auch mit dem Heer: Seine Kraft sammelte sich innerhalb der Menge des Volkes. Im Frieden war das Heer unsichtbar, aber es stand jederzeit als Quelle der Macht zur Verfügung. Das Wesen des Heeres war so einzuschätzen: Während es im Inneren stets etwas Gefährliches war, mussten nach außen hin Gehorsam und Ordnung herrschen. Ohne eine feste Disziplin war das Heer lediglich ein bunt zusammengewürfelter Haufen. Erst straffe Ordnung machte es zu dem, was es sein konnte – ein gefährliches Werkzeug im Krieg. Krieg aber brachte Schaden und Verheerung mit sich. Darum durfte seine Gewalt nicht leichtsinnig entfesselt werden, sondern musste eingesetzt werden wie eine schnell wirkende, giftige Medizin, die nicht Selbstzweck, sondern lediglich ein letzter Ausweg war. Sie beugte sich vor und blies über die Würfel, so dass sie sich bewegten, und sie achtete genau auf jede Veränderung dabei. Da, der dritte Würfel war auf eine andere Seite gefallen. Iluna war plötzlich hellwach und aufgeregt. Diese Äußerung des Orakels wusste sie sicher zu deuten. Sie lautete: Wild ist im Feld, es ist gut, es zu fangen.

Sie lehnte sich zurück und ließ den Orakelspruch tief in sich eindringen und sich als Bild entfalten. Was bedeutete er? Das Wild hatte seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort, also Wald, Gebirge und Steppe, verlassen und war verwüstend in die Felder eingedrungen. Das war der prächtige Himmelsstier. Sie sah ihn dort stehen, sehr weit entfernt noch und schwach zu erkennen, aber gewaltig war seine Größe und riesig seine Wut. Mit den Hufen stampfte er ungeduldig, senkte schnaubend den Kopf, stieß die Hörner in den Boden und zerfurchte die Erde. Staub, Erdbrocken und Steine warf er in die Luft und ließ sie als Regen auf seinen mächtigen Rücken fallen. Dieser Stier freute sich auf den Kampf, er brüllte nach Krieg, er wartete darauf, endlich einen Gegner zu finden, den es zu töten lohnte. Aber weit und breit war keiner auszumachen. Gab es nicht doch Leute, die in seinem Umkreis lebten, Leute, die ihn aufstacheln und nach Uruk treiben konnten? Iluna schloss die Augen und versuchte, aus ihrem Inneren heraus zu sehen. Spiralen und blaue Wirbel tanzten vor ihren Augen, und sie brauchte lange, bis sie erkannte, dass es wohl schnell dahintreibendes Wasser war. Was aber die Unruhe ausmachte, war die Tatsache, dass die Wasser dicht beieinander flossen. Zwei Ströme waren es, Euphrat und Tigris, die sich bis auf wenige Wegstunden nahekamen. Nebel wallte dazwischen, und als sie sich allmählich legten und lichteten, schälte sich eine Stadt aus dem Dunst, die weder Uruk noch Ur, weder Eridu noch Nippur war.

Kisch war ihr Name, verhieß das Orakel, und auch mit diesem Bild wusste Iluna etwas anzufangen. Sie sah einen Fürsten, der von Sumer abgefallen war und keine Abgaben mehr zahlte, einen faltenreichen, hageren Mann, den die Last seiner Sorgen erdrückte. Sie sah ihn grimmig in seiner Stadt sitzen, die von Sandläufern, Nomaden und allerlei Barbaren bedrängt wurde, halb schon überschwemmt war von Fremden und trotz der reichen Ernte noch Hunger litt, denn mehr und mehr wurden angelockt, immer neue, hungrige Mäuler, und alle wollten zu essen. Von Kisch hatte sie schon gehört und von Akka, dem Fürsten, dem Sohn des Enmebaraggesi, und auch davon, dass er wenig von der Bewässerung des Landes verstand. Einmal war ein Händler von dort bei ihr im Tempel gewesen, der schlechte Waren mit sich führte und nur ein winziges Geschenk für die Göttin bringen konnte. Der hatte von Kisch und seinen Problemen erzählt, bis es Iluna zu langweilig geworden war, seinem Gejammer zuzuhören, und sie ihn weggejagt hatte. Vielleicht war aber gerade dies ein Zeichen gewesen, das sie nun zu lesen imstande war.

Noch einmal warf sie das Orakel, und diesmal sagte es: Gut wird es sein, Heere marschieren zu lassen. Da hatte sie verstanden. Die Heere waren die hungrigen Menschen aus jenem Land, und Akka von Kisch würde ihr Anführer sein. Sie würden aufbrechen und bei ihrem Zug nach Süden auf den Himmelsstier stoßen und ihn bis nach Uruk jagen. Dort würde dann das Schicksal über den Rest entscheiden.

Als sie bei diesem Gedanken angekommen war, schauderte ihr doch. Es war ungeheuerlich, was sie da dachte – den Feind anzulocken und vor die Tore der Stadt zu führen, und mit ihm das grässliche Untier, das Marduk vom Himmel geholt hatte. Aber es gab keinen anderen Weg, um Gilgamesch zu bestrafen. Es musste sein, sie durfte, sie konnte nicht zögern, auf diese Weise ihre Rache zu vollziehen. Sie lachte grimmig und erschrak über den Klang ihrer eigenen Stimme. Nachdenklich strich sie sich über die Stirn. Und wenn Uruks große Mauer nun doch standhalten würde? Auch dazu musste ihr etwas einfallen, wenn es an der Zeit war. Zuvor aber galt es, Kontakt mit dem Fürsten von Kisch aufzunehmen.

Sie rief nach Sasa, die nach Tehiptillas Verschwinden und dem Tag, an dem Unigi aufgebrochen war, Hohepriesterin des neuen Tempels im lrangebirge bei den Lullumu zu werden, ihre engste Vertraute war. Sasa kam, und Iluna schloss sie in ihre Arme.

»Willst du einen wichtigen Auftrag für mich übernehmen?«, fragte die jüngste Verkörperung Ischtars auf Erden.

»Du weißt, dass ich nichts lieber als deine treue Dienerin bin«, antwortete Sasa.

Da gab ihr Iluna eine Botschaft, die in eine Tontafel geritzt war, hüllte sie doppelt in Tücher und weihte Sasa in ihre Geheimnisse ein. Aber wohlbedacht gab sie nicht alles von dem preis, was auf der Tontafel geschrieben stand. Die wichtigsten Stellen verschwieg sie, denn es war nicht gut, dass ihre kleine Gefährtin zu viel von ihrem geschickten Ränkespiel erfuhr. Dennoch erbleichte die Botin.

»Soll ich tun, was Tehiptilla tat, als sie den Barbaren betören ging?«, fragte sie besorgt, »es macht mir Angst, daran zu denken.«

»Nein«, lachte Iluna, »deine Aufgabe ist mit ihrer damals nicht zu vergleichen. Akka von Kisch ist ein kultivierter Mann, kein wilder Unhold. Und du sollst nicht Lockvogel für ihn sein, sondern meine Botschafterin, die alle erdenklichen Ehren in Kisch genießen wird. Wichtig ist mir indes, dass der Fürst bald meine Tafel erhält, und niemand sonst sie zu Gesicht bekommt. Will sie dennoch jemand sehen, und sei es mit List oder Gewalt, so zerstöre sie lieber, als dass jemand ihren Inhalt erfährt. Zerschlage sie, breche sie in tausend Scherben, mach damit, was du willst, aber lass niemanden außer Akka einen Blick darauf werfen. Schwörst du mir das?«

»Ich schwöre es bei den sieben Strahlen der Venus«, sagte Sasa.

»Dann ist es gut. Eile dich, Freundin, dass du bald nach Kisch gelangst, nimm ein schnelles Maultier und verkleide dich als hässliche, alte Frau, tu so, als seist du krank, so dass dir jeder aus dem Weg geht und dich in Ruhe lässt, bis du den Auftrag durchgeführt hast.«

Sie gab ihrer. Verschworenen noch ein paar weitere gute Ratschläge mit auf den Weg und verabschiedete sie herzlich. Am selben Tag noch brach Sasa nach Norden auf.

Ein hässliches altes, in Lumpen gehülltes Weib ritt auf einem Maultier zum Marktplatz von Kisch und mischte sich unter die Menschen. Sie fiel nicht sonderlich auf unter den Leuten, die ärmlich gekleidet waren und gierige Blicke auf die warfen, die genug Geld besaßen, vom mageren Angebot der Händler etwas zu kaufen. Niemand nahm sonderlich Notiz von ihr. Man hielt sie wohl für eine von denen, die täglich ankamen, hungrige Nomaden aus der Steppe, Sandläufer mit ihren Familien, die ihr gesamtes Hab und Gut oft in einem einzigen Sack auf dem Rücken ihres Esels mit sich führten. Die Stadt, die eigentlich mehr eine Ansammlung eilig zusammengeflochtener Schilfhütten war, rings um das steinerne Haus, das Fürst Akka stolz seinen Palast nannte, platzte aus allen Nähten, und ständig kamen mehr Menschen dazu. Schwerbewaffnete Wachen hatte der Fürst um die Kornkammer stellen lassen und einen Wehrgraben gezogen, der das Volk vom Korn und seinem Regierungssitz trennte. Sie hatten alle Hände voll zu tun und mussten mitunter ihre Knüppel einsetzen, um besonders zudringliche Bettler abzuschütteln, die immer wieder versuchten, über die Brücke vorzudringen. Tempel gab es in der Nähe des Marktes auch, aber sie waren traurige Ruinen im Vergleich zu denen in Uruk auf dem Eanna. Einer war dem Gott Enlil geweiht, vier andere lokalen Gottheiten, die nirgendwo sonst bekannt waren und die von den Nomaden und Sandläufern mitgebracht worden waren.

Die alte Frau war abgestiegen und führte ihr Maultier nun am Zügel. Kinder umringten sie und baten um Brot, da aber die Frau keines besaß und selber hungrig war von der Reise, merkten sie bald, dass von ihr nichts zu holen war und ließen von ihr ab. Die Frau blieb stehen und sah dem Treiben zu. Da gab es merkwürdige Gestalten zu sehen, manche boten irgendwelche Kleinigkeiten feil, die sie im Sand ausgebreitet hatten, Gegenstände, die man in Uruk eher weggeworfen hätte, andere redeten in fremden Sprachen, erzählten Märchen oder Geschichten, die neu für die meisten waren, denn viel Volk, jung und alt, umringte die Erzähler, saß am Boden und lauschte verträumt. Vielleicht gab es für sie auch nichts anderes zu tun als dazusitzen und zuzuhören, vielleicht waren es Geschichten, die Hunger und Not vergessen ließen.

Ein Trupp Soldaten zog vorbei und drängte die Leute auseinander, ein doppelspänniger Streitwagen rollte vorüber und verschwand in Richtung der Brücke. Unbeschreiblich war das Gewirr der Stimmen, die den Platz erfüllten. Da kaum einer die Sprache des anderen verstand, redeten die, die sich kannten, um so lauter in ihrem Dialekt miteinander.

Langsam bewegte sich die alte Frau auf den Wehrgraben zu. Einmal wurde sie unterwegs heftig angerempelt und beinahe umgestoßen, als eine Schar Halbwüchsiger an ihr vorbeirannte, die von Soldaten mit hölzernen Knüppeln verfolgt wurden. Wahllos schlugen sie auf alles ein, was sich ihnen in den Weg stellte, und es gelang ihnen auch binnen kurzem, die jungen Leute in alle Winde zu zerstreuen. Zwei von ihnen hatten sie ergriffen und schleppten sie mit sich zur Brücke. Die alte Frau sah genau, dass sie einen Sack mit Getreide gestohlen hatten, aber auf ihrer Flucht war der Sack aufgeplatzt und hatte seinen kostbaren Inhalt verstreut. Überall lagen die Körner herum, und es gab tatsächlich Leute, die sich bückten und sie eilig auflasen. Welche unvorstellbare Not musste sie zu solchen Handlungen verleiten!

Kopfschüttelnd zog die Alte weiter und kam zu der Brücke, wo ihr Soldaten den Weg versperrten. »Hier geht es nicht weiter«, sagte einer und stieß sie barsch zurück, »wenn du essen willst, so geh zu den Sandläufern.«

Und ein anderer ergänzte: »Was willst du überhaupt hier? Geh doch zurück in die Wüste, wo du hergekommen bist. Es ist kein Platz mehr in Kisch für Leute wie dich.«

»Ich will zu Fürst Akka, ihm eine wichtige Botschaft überbringen«, sagte die Alte.

»Hah, mit dieser Geschichte kommen die meisten«, ließ sich der erste Soldat wieder vernehmen, »glaub nur nicht, dass wir so dumm sind, auf solche Sprüche hereinzufallen.«

Da schlug die alte Frau die Kapuze zurück, die fast ihr ganzes Gesicht verhüllt hatte, schüttelte ihr langes, schwarzes Haar in den Nacken und wischte sich den Lehm aus dem Gesicht. Darunter kam ein junges, hübsches Gesicht zum Vorschein. Als sie auch noch ihre Lumpen von den Schultern streifte und ein hauchdünnes Kleid zum Vorschein kam, in dem wahrhaftig nicht der Körper einer alten Hutzel steckte, sondern ein wohlgeformtes Weib, staunten die Soldaten nicht schlecht.

»Glaubt ihr nun, dass ich ein Bote bin, der in geheimem Auftrag unterwegs zum Fürsten ist?«, fragte Sasa.

Misstrauisch kratzte sich der ältere Soldat am Kopf.

»Naja«, sagte er, »ich weiß nicht so recht, ob das nicht wieder so ein Einfall von euch verdammten Sandläufern ist …«

Da öffnete Sasa ihr Kleid und zeige ihm das goldene Siegel, das sie über der Brust trug. Es zeigte den Stempel der Göttin. Der Soldat konnte zwar nicht lesen, aber er merkte sofort, dass diese da unmöglich ein armes Mädchen aus der Wüste sein konnte, und seine Haltung wurde um einige Grade höflicher.

»Darf ich sehen, was du da eingehüllt auf dem Sattel des Maultieres mitführst?«, fragte er.

»Nein«, sagte Sasa, »dies ist nicht für einen einfachen Soldaten bestimmt, sondern ausschließlich für den Fürsten. Iluna, die Hohepriesterin des Tempels in Uruk und jüngste Verkörperung lschtars auf Erden, schickt mich, ihm eine Nachricht zu überbringen.«

»Nun, dann komm mit, ich werde dich zum Palasttor führen«, sagte der Soldat und schickte sich an, sie zu begleiten.

Die Bezeichnung Palast wirkte wahrlich übertrieben für das klobige Haus, in dem der Fürst von Kisch residierte. Es war aus grob behauenen Steinquadern und Mauerwerk aus ungebrannten Ziegeln gebaut, die an einigen Stellen bereits bröckelig wurden – keine Säulen, keine Verzierungen und schon gar keine Mosaike oder Gemälde an den Wänden, wie das in Uruk selbst bei manchen wohlhabenden Bürgern üblich war. Sasa wurde am Eingang der Garde übergeben und von dieser nach einem langen Irrweg durch Gänge und Kammern, in denen es von Bewaffneten nur so wimmelte, zur Leibwache Akkas gebracht. Ein drittes Mal unterbreitete sie dort ihr Anliegen und wurde schließlich angewiesen, in einem muffigen, halbdunklen Raum zu warten. Sie trat ans Fenster und blickte hinaus auf die Stadt. Wie hässlich Kisch war, keine Stadt im eigentlichen Sinne, eher ein Marktflecken, eine magere Oase, die übervölkert und viel zu schnell gewachsen war. Wie schön gestaltete sich doch dagegen das Leben innerhalb der Mauern Uruks!

Sasa seufzte über das viele Elend, das sie hier sah. Sie wurde aus ihren trüben Gedanken gerissen, als der Offizier der Leibwache zurückkam und ihr befahl, ihm zu folgen. Sie ging mit ihm durch einen weiteren langen Gang, der in einen Innenhof mündete. Hier saßen im Schatten von Dattelpalmen und Merubäumen, die den Hof wie ein kleines Wäldchen ausfüllten, mehrere Männer. Im mittleren, der etwas höher saß als die anderen, erkannte sie sofort den Fürsten Akka. Es war eine hohe, leicht gebeugte Gestalt mit einem ernsten, traurigen Gesicht. Die anderen waren ganz unterschiedlich gekleidet, teils in der Stammestracht von Nomaden, teils in Gewändern, die sie als Würdenträger von Kisch auszeichneten. Ihre Gesichter wirkten auf den ersten Blick denen der Leute von Uruk nicht unähnlich. Aber auch auf ihren Mienen spiegelten sich Sorgen wider. Die übrigen Männer hatten eine wesentlich dunklere Hautfarbe, sie waren barfüßig und trugen gekrümmte Dolche in ihren Gürteln. Alle Blicke richteten sich auf Sasa, als sie näher trat und das Bündel vor die Füße Akkas legte.

»Was ist das?«, fragte der Fürst und musterte das Mädchen aufmerksam.

»Eine Botschaft der Göttin Ischtar aus Uruk«, antwortete Sasa.

»Soso«, sagte Akka gelangweilt, »beabsichtigt auch sie einen Tempel in meiner Stadt zu erbauen?«

Er wandte den Kopf zu seinen Ratgebern.

»Haben wir nicht schon genug Tempel hier? So viele Tempel, und keine Gottheit, die uns erhört …«

»Ischtar hat von den Nöten der Menschen in Kisch gehört und sendet euch diese Botschaft«, sagte Sasa. »Ob du ihr einen Tempel zum Dank dafür erbauen willst oder nicht, magst du entscheiden, wenn du ihre Nachricht gelesen hast, die von entscheidender Bedeutung für euch alle ist.«

»Soso«, sagte der Fürst wieder und diesmal klang es belustigt und bitter zugleich, »… von entscheidender Bedeutung für uns …«

Aber er machte keine Anstalten, die Tücher, die die Tontafel umhüllten, zu entfernen.

»Kannst du tanzen?«, fragte ein vornehm gekleideter Herr, dessen Augen wohlgefällig auf dem Körper des Mädchens ruhte.

»Auch das«, antwortete Sasa, »aber bevor ich das tue, soll der Fürst erst die Nachricht lesen und sagen, ob Anlass zur Freude besteht.«

»Lies es«, sagte der vornehme Herr zu Akka gewandt, »wer weiß, was eine Göttin, die so schöne Frauen als Botinnen aussendet, dir mitzuteilen hat.«

Seufzend beugte sich Akka vor und faltete die Tücher auseinander.

»Halt«, sagte da Sasa, »auf zweierlei muss ich bestehen: Erstens, dass nur du allein die Tafel liest und sie anschließend zerstörst, damit es kein Zeugnis von ihrem Inhalt gibt, und zweitens, dass ich dabei bleibe, wenn du es tust, und die Antwort aus deinem eigenen Munde vernehme.«

Fürst Akka quittierte das Ansinnen des Mädchens mit einem amüsierten Lächeln. Er beugte sich vor, hob die Tontafel auf und begann laut zu lesen: »Edler Fürst Akka zu Kisch, Sohn des berühmten und hochgeehrten Enmebaraggesi. Ich hörte im Traum einen Schrei, und dieser Schrei war der Hungerschrei deiner Stadt …«

An dieser Stelle stockte er und hörte auf, laut vorzulesen. Er führte die Tafel dichter vor sein Gesicht, seine Lippen murmelten und seine Augen wanderten die Schriftzeilen entlang. Als er die Tafel bis zum Ende studiert hatte, fing er ein zweites Mal von vorne an. Seinen plötzlich wachen und angespannten Zügen war zu entnehmen, dass er eine Nachricht von großer Wichtigkeit erhalten hatte. Die übrigen Männer merkten das, rückten unruhig auf ihren Sitzen herum und beobachteten den Fürsten.

Als Akka geendet hatte, ließ er die Tafel auf seine Knie sinken und blickte Sasa durchdringend an. Nichts an ihm verriet, was er dachte. Nach einer Weile nahm er die Tafel und zerbrach sie in winzige kleine Stücke, winkte einen Diener heran und gab ihm den Auftrag, die Scherben zu zerstampfen und das Pulver in alle Winde zu zerstreuen.

»Gute Nachricht?«, fragte der vornehm gekleidete Herr.

»Das kann man wohl behaupten«, antwortete Akka, »die beste, die ich seit langem empfing.«

Jetzt hielten es die anderen Männer nicht länger aus und bestürmten ihn mit Fragen. Akka hob die Hand und winkte ab.

»Zügelt eure Neugier, Freunde«, sagte er, »zuvor wollen wir mehr über Uruk und diesen König Gilgamesch hören.«

Er wies Sasa einen Platz zu seinen Füßen an und bat sie, über die ferne Stadt zu berichten.

»Erzähl uns alles, was es über Uruk zu berichten gibt. Wir sind neugierig, die Wunder, die dort geschehen sind, aus deinem Mund zu erfahren«, forderte er sie auf.

Sasa bat nun ihrerseits, man möge ihr eine Laute bringen, und als man diesem Wunsch nachgekommen war, fing sie an zu singen. In Versen, teilweise Sinnunnis Worte übernehmend, begann sie:

»Dicht am Ufer des rauschenden Stroms, des lebensspendenden Euphrat, liegt Uruk, die herrliche Stadt. Wie flüssiges Gold, das Schamachs Atem zum Schmelzen brachte, glänzen die Mauern von Gilgameschs Palast auf dem Eanna, wo die Tempel Anus und Ischtars stehen und die große Himmelsspirale …«

Sie beschrieb die wehrhafte Mauer mit ihren Bastionen und Türmen, mit den beiden Toren im Norden und Süden und die vielen befestigten Straßen. Sie sang von den schönen Häusern, den neuen Kornkammern, dem umwallten Markt, wo es alle nur erdenklichen Kostbarkeiten zu kaufen gab, vom Wettkampfplatz und den unzähligen Hürden, in denen satte Herden von Rindern, Ziegen und Schafen weideten. Von den bewässerten Gärten sang sie, den Äckern und Feldern, Palmenhainen und grünen Auen rings um den Hafen. Sie sang auch von Gilgameschs und Enkidus Heldenfahrt in den Zedernwald und den Abenteuern der fünfzig. Am ausführlichsten aber beschrieb sie das, was sie am besten kannte: Alltag und Feste im Tempel der Venus, deren Hohepriesterin die schönste Frau des Weltenkreises war.

Als sie geendet hatte, blieben die Männer lange stumm und träumten dem Zauber nach, den sie mit ihrer Erzählung geweckt hatte und der ihnen wie ein unvorstellbares Märchen erschien.

»Wenn deine Worte Wind wären und Segel die Herzen der Menschen von Kisch, so würde noch in dieser Stunde eine unübersehbare Flotte von Schiffen den Euphrat hinab nach Uruk treiben«, sagte Akka langsam und betonte die einzelnen Worte mit Bedacht.

»Aber wir besitzen kein Holz, um auch nur ein einziges Schiff, geschweige denn so viele zu bauen. Uns bleibt nur der Weg durch die Wüste.«

»So nehmt diesen Weg, wenn ihr die Wunder mit eigenen Augen schauen wollt«, sagte Sasa, »was hindert euch daran, zu Fuß aufzubrechen?«

Jetzt erhob einer der Stammeshäuptlinge, der zuvor mit seinen Nachbarn heftig getuschelt hatte, die Stimme.

»Das Volk der Sandläufer ist es gewohnt, weit und lange zu wandern. Auf diese Weise haben wir viel schon gesehen, manches Land und viele Dörfer und Städte. Doch kein Ort scheint mir an Pracht und Herrlichkeit jenem Uruk zu gleichen, von dem du erzählst.«

»Fürst Akka hält zwar meine Worte für Wind, der beflügelt, und ich fasse dies als Ehre für mich auf«, sagte Sasa, »doch sie sind nur leeres Stroh im Vergleich zu dem goldenen, sonnengereiften Korn, das Uruk wirklich ist. Alle Verse der Welt, auch die des phantasievollen Sinnunni, reichen nicht aus, um die Wunder Uruks zu beschreiben.«

»Du machst mich sehr, sehr neugierig«, sagte Akka und strich sich nachdenklich durch den Bart. »Alles, was du sagst, und weitaus mehr noch die Schrift auf der Tafel, berühren meine Seele und wühlen sie auf. Wie lautet dein Name, schöne Botin der Ischtar, du verschwiegst ihn uns bisher.«

»Sasa – er bedeutet: Stimme des Grases im Frühling.«

»Ein Name, der gut zu dir passt«, antwortete der Fürst, »sei unser Gast, Sasa, solange du willst, und wenn wir dereinst einen Tempel zu Ehren der gnädigen Göttin der Venus in Kisch errichten werden, so will ich mich gern an deinen Namen erinnern und Ischtar bitten, dass du die Herrin dieses Tempels wirst und unsere Mädchen anleitest zum Dienst, wie es Ischtar zu tun pflegt, denn diese Einrichtung erscheint mir weise und sinnvoll. Zuvor aber bitte ich dich, zu meinem Volk zu sprechen und zu den vielen Fremden hier in der Stadt, damit auch sie erfahren von Uruk, der gewaltigen Festung. In alle Sprachen, die hier gesprochen werden, will ich die Rede übersetzen lassen, dass auch ja alle davon erfahren. Willst du das tun?«

»Ja«, sagte Sasa, »es entspricht ungefähr dem, was mir Iluna, die jüngste Verkörperung Ischtars auf Erden, auftrug.«

»So geh in die Gemächer der Frauen und erfrische dich von deiner langen Reise«, entschied Akka. »Ich aber werde mich mit meinem Hofstaat und den Häuptlingen der Stämme beraten, was zu tun ist, und wie wir dem Wunsch deiner Göttin am besten gerecht werden können.«

Er winkte einen Diener herbei und gab ihm den Auftrag, Sasa zum Harem zu geleiten. Sasa folgte ihm, und sie gelangten zu einer bewachten Türe. Der Diener wechselte mit dem Wächter ein paar Worte. Dieser war ein alter Mann mit jugendfrischem Gesicht und einer erstaunlichen Fistelstimme, die an ein kleines Kind erinnerte. Er führte sie in die Gemächer des Harems, die schöner und geschmackvoller ausgestattet waren als der übrige Palast.

»Harem bedeutet verborgener Ort«, zwitscherte der Alte redselig, »und kein Mann außer mir darf ihn betreten. Nur Frauen dürfen hinein, denn hier wohnen die Gattinnen des Fürsten.«

»Hat er denn mehrere?«, wunderte sich Sasa.

»Ja, sechs oder sieben«, antwortete der Wächter, »niemand, nicht einmal der Fürst selber, kennt ihre genaue Zahl. Außerdem gibt es noch Nebenfrauen und ihre Töchter, sowie Freundinnen, die zu Besuch bei uns weilen.«

Sasa staunte, als sie im geräumigen Innenhof, in dem ein Brunnen sprudelte und blühende Bäume und Blumen wuchsen, auf eine große Anzahl von Frauen stieß, die hier – im Gegensatz zu den Gepflogenheiten Uruks – ganz unter sich weilten.

Nie, so erfuhr sie, durften sie sich außerhalb des Palastes aufhalten, alle Erledigungen draußen, auf dem Markt und in der Stadt, wurden von Dienern und Dienerinnen abgenommen, und sie hatten hier alles, was sie brauchten. Eine eigene Ordnung gab es im Harem, die sich streng nach dem Ansehen der Haupt- und Nebenfrauen des Fürsten richtete, und nur dieser stand mit seiner Macht noch über ihnen, obgleich selbst er nicht die Gemächer des Harems betreten durfte. Kein Wunder, dass Akka so über die Sitten in Uruk gestaunt hatte und sich ausführlich den Dienst im Ischtartempel beschreiben ließ. Sasa, die warmherzig und freundlich von den Frauen des Harems aufgenommen wurde, hörte so viel Neues dort, dass sie glaubte, nicht nur in eine andere Stadt, sondern auch in eine völlig andersartige Welt geraten zu sein. Ähnlich erging es ihren Gastgeberinnen, als sie Sasas Erzählungen hörten. Mit großen Augen hingen sie an ihren Lippen und klatschten vor Aufregung in die Hände dabei und stellten immer wieder Fragen, wenn ihnen etwas gar zu sonderbar und unverständlich erschien. Die herzliche Art der Frauen im Harem erinnerte sie allerdings doch ein wenig an den Tempel. Auch hier gab es eine verschworene Gemeinschaft, die zusammenstand und sich gegenseitig alles erzählte und miteinander beriet.

Wie im Fluge vergingen die Stunden, und Sasa vergaß fast, warum sie eigentlich nach Kisch gereist war. Schöne Gewänder hatte sie angelegt, sich gewaschen und mit duftenden Salben eingerieben. In der neuen Tracht wirkte sie beinahe wie eine von den Frauen des Harems. Schließlich aber fiel ihr wieder ein, was sie dem vornehmen Herrn versprochen hatte, nämlich für ihn, den Fürsten und seine Berater zu tanzen, und sie rief den Wächter heran, um ihm ihre Absicht mitzuteilen. Der alte Mann mit dem jungen Gesicht verzog bedenklich die Miene und wusste nicht recht, ob er Sasa herauslassen durfte. Aber als sie darauf bestand und heftig betonte, dass sie ja schließlich eine Botin aus Uruk und nur zu Gast im Harem sei, gab er nach und geleitete sie zur Tür, wo er sie einem anderen Diener übergab.

Fürst Akka und seine Getreuen waren noch immer im Innenhof versammelt und hatten wohl die ganze Zeit über hitzig beraten, denn ihren Gesichtern war zu entnehmen, dass jeder von ihnen äußerst erregt und aufgewühlt war. Die beste Voraussetzung also, jetzt die Gemüter zu dämpfen und mit Musik und Tanz angenehm zu berühren. Akka war einverstanden damit und ließ Musikanten holen. Zudem stellten Diener eine Tafel auf, die mit Braten, leckeren Speisen und Früchten beladen war.

»Esst, Freunde, greift zu und labt euch, denn die Zeiten von Not und Bedrängnis nähern sich ihrem Ende«, sagte er, »lasst uns ein Fest feiern, Ischtar, der uns Zugeneigten, zu Ehren.«

Als sie gespeist und die Männer Bier getrunken hatten, traten die Musikanten auf. Auch dies war anders, als es Sasa von Uruk gewohnt war: Ausschließlich Männer spielten die Instrumente, tönerne Trommeln und längliche Saiteninstrumente, die aus den Schalen von Kürbissen geschnitten oder aus Schildkrötenpanzern geformt waren. Die Musiker ließen sich im Halbkreis am Boden nieder, einer schlug mit flachen Händen die Trommel und ein anderer blies die Rohrflöte dazu. Als sie sich eingestimmt und ein paar Melodien gespielt hatten, begann Sasa zu tanzen. Grazil und geschmeidig wie eine Gazelle sprang sie und bog ihren Körper, leichtfüßig wirbelte sie im Kreis und erntete großen Beifall für ihre Darbietung. Schließlich tanzte sie den Tanz der Schleier und die Männer hielten den Atem an, als sie sich mehr und mehr enthüllte, ohne ihre Haut gänzlich den Blicken preiszugeben. Als der letzte Schleier fiel, trug sie nur noch ein dünnes, durchscheinendes Gewand, wie es Ischtar zum Tag des Frühlingsfestes anzulegen pflegte, und auch damit verzauberte sie die Gäste. Übermütig umtanzte sie die Tafel und zupfte den Häuptlingen der Sandläufer an den Bärten, bis sie vor Zufriedenheit grunzten. Sasa hüllte sich erneut in ihren blauen Umhang und setzte sich neben den Fürsten.

»Berichte mir mehr über Gilgamesch und diesen Barbaren«, bat er.

»Du meinst Enkidu?«

»Ja, sie müssen beide ganz außerordentliche Helden sein, wenn sie den Chumbawa und seine Knechte und die anderen Dämonen allein bezwangen.«

»Ja, das sind sie. Seit langen Zeiten hat Uruk keine solchen Männer hervorgebracht.«

»Zudem sitzen sie in einer umwallten, befestigten Stadt …«

»Nicht immer, oft gehen sie auf Löwenjagd oder suchen andere Abenteuer. Dann liegt der Oberbefehl über der Stadt in den Händen Erendas, eines jungen Priesters des Anu, und Sinnunni, der Dichter, und Urnigingar, der Herold, stehen ihm zur Seite.«

»Was ich vor allem wissen möchte, weil ich es immer noch nicht ganz verstehe, ist«, sagte Fürst Akka und strich sich bedächtig den Bart, »welches Interesse hat Ischtar wirklich daran, dass wir kommen … Schließlich ist es doch auch ihre Stadt, die sie uns anpreist wie einen wohlgefüllten Warenkorb. Aus ihrem Schreiben geht, trotz aller verlockenden Worte, nicht hervor, warum sie das tut. Kannst du uns über diese Frage Klarheit verschaffen?«

»Das ist ganz einfach«, sagte Sasa, »Ischtar und Gilgamesch haben einmal die Heilige Hochzeit vollzogen …«

»Was bedeutet das?«, unterbrach Akka sie, »sind sie nun Mann und Frau nach eurem Gesetz?«

»Eben nicht. Nur symbolisch ist diese Hochzeit, um den Göttern und Menschen ein gutes Vorzeichen zu geben. Nun wollte Ischtar die echte Hochzeit vollziehen und Gilgamesch zum Gatten haben. Sie warb um ihn, und er lehnte ab. Er beschimpfte sie grob und fügte ihr Beleidigungen zu, die nur noch mit seinem Tod zu rächen sind.«

Fürst Akka schüttelte den Kopf.

»Ein merkwürdiger Mann muss dieser Gilgamesch sein«, brummte er, »und Ischtar eine ganz und gar ungewöhnliche Frau. Ich bin neugierig darauf, beide einmal näher kennenzulernen, jeden auf seine Weise.«

»Das wirst du«, rief Sasa, »komm erst nach Uruk, dann wirst du sie treffen.«

»Ich habe verstanden«, sagte Akka bedächtig, »ich glaube, ich verstehe euch, deine Göttin und dich … Wir werden nach Uruk kommen, und ich denke mir, es wird für manche dort eine unangenehme Überraschung sein. Wir haben uns vorhin beraten und werden es weiter tun, wenn du zum Volk gesprochen hast. Aber schon jetzt steht für mich fest, dass wir aufbrechen und dem Wink des Schicksals und dem Ruf der Göttin folgen werden.«

Eine volle Stunde noch blieb Sasa im Kreise der Männer an der Tafel. Dann merkte sie, dass ihnen der Sinn nicht mehr nach Tanz, Musik und schönen Gesprächen stand, sondern nach ernsteren Dingen. Sie verabschiedete sich und ging zum Harem zurück, um dort mit den Frauen noch weiter zu tanzen und zu singen.

Unruhig war die Nacht in Kisch, sowohl im Innern des Palastes als auch draußen in der Stadt, jenseits des Wehrgrabens, wo hundert kleine Feuer brannten, an denen die Menschen saßen, die kein Dach über dem Kopf hatten. Unruhig schlief Sasa und schrak immer wieder von den ungewohnten Geräuschen auf, die durch die Fenster des Palastes zu ihr drangen. Eine merkwürdige Stadt war dieses Kisch, und ein sonderbarer Fürst dieser Akka …

Schreckensbleich fuhr Ninsum aus ihren Kissen hoch.

»Ein wildes Untier ist in meinem Garten, das zerstampft mir die Blumen und wühlt mit den Hufen die Erde auf!«, gellte ihr Angstschrei.

Sie zitterte am ganzen Körper und starrte mit weit aufgerissenen Augen zum Fenster, durch das sie eben noch das Werk der Zerstörung gesehen hatte. Ein schwarzer, tonnenfömiger Leib war durch die Parkmauer gebrochen und verheerend über die zarten Pflänzchen und Blütenkelche gekommen. Die Stengel knickten unter seinen Hufen, Gebüsch wurde zerstampft und die Bäume zerbarsten. Sein Atem sengte das Blattwerk zu Asche, donnernd wurde das Erdreich erschüttert, und wohin sich seine unförmige Masse wälzte, wurde alles Leben ausgelöscht.

»Lugalbanda, wo bist du?«, schrie die alte Frau verzweifelt, »Gilgamesch, Enkidu, meine Söhne, seht euch vor! Es naht sich die Macht des Verderbens, rettet euch, rettet euch und vergeßt nicht Ninsum, eure alte Mutter!«

Wirr fiel ihr das Haar in Strähnen übers Gesicht, sie klapperte mit den wenigen Zahnstümpfen in ihrem Mund, ihre blassen Lippen bewegten sich auf und ab wie bei einem Fisch, der an Land liegt und nach Atemluft schnappt.

Tehiptilla, die des Nachts die Kammer mit ihr teilte, damit sie stets in der Nähe war, wenn es der Alten schlecht ging, schwang sich von ihrem Lager hoch und war mit schnellen Schritten zu ihr geeilt. Mit beiden Armen umschlang sie den dürren, knochigen Körper und wiegte ihn, wie man ein Kind beruhigt.

»Weise Mutter, was ist dir?«, fragte sie besorgt, »hat dich ein Traumbild erschreckt?«

Die Alte starrte noch immer zum Fenster und stammelte unverständliches Zeug. Ganz nah legte Tehiptilla ihr Ohr an Ninsums Lippen, um die Worte zu verstehen.

»Kleines … besser schon … wie eine stählerne Faust griff es zu … meine Blumen … hielt mein Herz … umklammert … Stiche … die Blütenkelche … zerbrachen …«

Sie führte ihre Greisinnenhand zur linken Seite der Brust. Starr waren ihre Augen aufgerissen, so unbeweglich und starr …

»Soll ich eine Medizin für dich holen, von dem, was der Arzt dir einzunehmen riet?«, fragte Tehiptilla besorgt, »warte, ich eile, sie zu mischen.«

Ninsum schüttelte den Kopf.

»Nein, bleib … die Luft … am Fenster …«

Sie machte Anstalten, sich vom Bett aufzurichten, und Tehiptilla half ihr dabei. Sie legte der Mutter den schützenden Mantel um und führte sie zum Fenster. Dort stand Ninsum stumm und wagte nicht, sich hinauszulehnen. Sie spähte angstvoll ins Dunkle. Nur wenig Licht gab es am Himmel, ein Dunstschleier hielt die meisten Sterne versteckt, und Nannars Schale zeigte einen weißen, milchigen Hof. Aber es tat gut, die Kühle der Nachtluft zu atmen, die nach Frühling schmeckte, nach Wachstum und Blütenpracht.

»Geht es dir besser?«, fragte Tehiptilla.

Die Alte reagierte kaum. Noch immer suchten ihre Augen die Dunkelheit ab. Dort an der Ecke der Mauer war er durchgebrochen, der schwarze Leib des Ungeheuers, hatte den Garten verwüstet und die wunderschönen Blumen zerstampft. Was das nur war? Hielt Lugalbanda nicht mehr Wache für sie dort unten? Hatte er geschlafen, als das Untier herankam? Er hätte doch von seinem Wüten und Schnauben aufwachen müssen … Ruhig lag der Eanna, und still war die Stadt zu ihren Füßen. Irgendwo blökte schlaftrunken ein Schaf, und ein anderes antwortete ihm.

»Er hat geschlafen«, entschied Ninsum und versuchte ein Lächeln, »auch er wird älter und schläft einfach ein, wenn er Wache hat.«

Tehiptilla hatte sich abgewöhnt, nach dem Sinn der Worte Ninsums zu fragen. Sie wusste, dass sie oft mit unsichtbaren Gestalten sprach, so als wäre sie nicht allein, sondern ständig von vielen Menschen umgeben, Lugalbanda, von dem Ninsum am häufigsten neben Gilgamesch und Enkidu sprach, kannte sie bereits. Auch diese Bemerkung eben war auf ihn gemünzt gewesen. In Ninsums Vorstellung war er niemals richtig gestorben, sondern lebte unten zwischen den Büschen und Bäumen im Garten. Wenn sie gehässig gewesen wäre, hätte Tehiptilla gefragt, warum er denn immer dort unten blieb und nie heraufkam in die Gemächer des Eanna, die einst sein Wohnsitz gewesen waren. Aber eine solche Frage hätte sie nie über die Lippen gebracht. Sie liebte Ninsum wie eine Mutter, vielleicht sogar mehr noch als die, von der sie nicht einmal wusste, wer sie war und ob sie noch lebte. Sie sei eine Korbflechterin unten am Fluss, hatte Iluna einmal zu ihr gesagt, als sie danach fragte, aber sie wisse ihren Namen nicht mehr. Sicherlich war sie eine von denen, die arm und kinderreich waren und sich darüber freuten, dass wenigstens eines ihrer Kinder oben im Tempel lebte, wo es ihm gut ging und man sich keinerlei Sorgen um ihr Auskommen zu machen brauchte. Wer dem Tempel geweiht war oder als Dienerin darin lebte, brauchte sich um die alltäglichen Belange des Lebens kaum noch Gedanken zu machen. Außerdem stand man in hohem Ansehen, wenn man im Tempel wohnte. Das war auch der Grund dafür, warum nicht nur arme, sondern auch wohlhabende Bürger der Stadt gern ihre Töchter der Ischtar gaben.

Tehiptilla entsann sich, dass auch sie das Leben dort genossen hatte, bis … ja, bis Gilgamesch aufgetaucht und alles anders geworden war. Gilgamesch, Enkidu und Iluna – wie ein magisches Dreieck erschienen ihr diese drei Menschen, vor denen sie sich zurückgezogen hatte. Im Egalmach, bei Ninsum, verliefen die Tage weniger erlebnisreich und um etliches karger, ohne dass Tehiptilla jedoch etwas vermisste. Im Gegenteil, hier bei der weisen Mutter hatte sie endlich zu sich selber gefunden, und obgleich sie der Alten freiwillig diente, fühlte sie sich zum erstenmal in ihrem Leben wirklich frei.

Die Stimme der Mutter riss sie aus ihren Gedanken.

»Tehiptilla, Kleines, hast du nichts gehört und gesehen? Flog nicht eben ein dunkler Vogel vorbei?«

Tehiptilla schüttelte den Kopf.

»Nein, nichts, eine dahintreibende Wolke, die den Mond kurz verdeckte.«

»Seltsam«, sagte Ninsum, »alles ist höchst sonderbar in dieser Nacht. Mir ist, als wenn zehntausend Vögel in den Zweigen der Bäume sitzen, die ihre Schnäbel wetzen und mit anderen Stimmen als sonst zu mir zwitschern.«

Tehiptilla beugte sich vor, lehnte ihren Körper in die Nacht und lauschte. Kalt wurde ihr, sie fröstelte und zog ihren Umhang fester über den Schultern zusammen.

»Ich höre nichts, Mutter«, sagte sie, »und es ist auch nichts draußen zu sehen, das anders wäre als sonst. Vielleicht hast du nur einen schlechten Traum gehabt, der allzu deutlich war und dich erschreckte.«

»Einen Traum, ja, ein Traum war es nur …«, wiederholte Ninsum und versuchte sich krampfhaft an das zu erinnern, was sie eigentlich so erschreckt hatte. Soviel sie auch nachdachte, es fiel ihr nicht mehr ein.

»Ich möchte aufbleiben … oder willst du lieber schlafen?«, fragte sie.

Tehiptilla schüttelte den Kopf.

»Ich bin nicht mehr müde.«

»Dann lass uns ein wenig musizieren, vielleicht weichen so die finsteren Schatten der Nacht.«

Tehiptilla ging zur Wandnische und holte die Harfe, um sie Ninsum zu reichen. Doch die lehnte ab.

»Spiel nur, spiel nur, meine Tochter, und singe dazu. Ich höre gern deine Stimme, sie erinnert mich an die, die ich einst besaß, als ich noch jung war.«

»Aber du singst wunderbar, Ninsum, viel besser als ich, ewig jung erscheint mir deine Stimme, nie scheint sie auch nur einen einzigen Tag älter zu werden.«

Ninsum lächelte glücklich.

»Du schmeichelst mir wieder einmal, meine Kleine. Und du weißt, dass ich gern solche Worte aus deinem Munde höre. Aber singe und musiziere heute du. Sing mir das Lied vom Untergang des Alten Reiches, du weißt, welches ich meine. Vielleicht, dass sich unsere Stimmen dabei zusammenfinden im Klang.«

Tehiptilla sang die Worte, die ein vergessener Dichter einst zur Klage geschaffen hatte, und wieder einmal, wie schon so oft, kamen ihr ungewollt dabei die Tränen. Sie sang:

So ziehen die Zeiten dahin

und fliehen die Bilder,

zehrt böses Wetter alles auf wie ein Orkan.

Schon stürzt die Ordnung des Landes,

das Gute wendet sich ab

und zeigt die Nacktheit der Stille.

Städte verschwinden,

Häuser zerfallen zu Asche,

und Scherben nur sind Zeugen von einst.

Ein Wind geht, die Hürden niederzureißen,

die Pferche zu packen, dass die Rinder toben

und die Schafe sich auf der Koppel nicht mehren.

Bitteres Wasser bringt der Kanal,

und Gras wächst über die Felder,

auf denen einst das Korn so reichlich stand.

Weh-Kraut bringt die Steppe hervor

und macht die Milch in den Brüsten sauer.

Nicht sorgt sich die Mutter mehr ums Kind,

nicht ruft der Mann die Gattin beim Namen.

Kinder wachsen nicht mehr

auf den Knien heran,

kein Lied singt die Amme mehr

und Schlummer fällt über das Königshaus.

Wo ist der Herrscher,

die Last von den Schultern der Armen zu nehmen

blickt er gefügig aufs feindliche Land?

Ist Anus und Ischtars Glanz am Verlöschen?

Euphrat und Tigris lassen böses Kraut

an den verödeten Ufern wachsen.

Niemand setzt mehr den Fuß auf die Straße

und reist mit Freuden dahin.

In den Hürden geben die Rinder

weder Milch mehr noch Fett,

die Mutterschafe werfen nicht länger.

In Frucht liegt das Land,

die Menschen zittern,

es weint der König und seine Gefolgschaft,

sie klagen …

So ziehen die Zeiten dahin,

fliehen die Bilder,

Schutt und Vergessen legt sich über das,

was uns lieb einst war …

Die letzte Strophe hatte Ninsum mitgesungen: »… so ziehen die Zeiten dahin, fliehen die Bilder, Schutt und Vergessen legt sich über das, was uns lieb einst war …« Aber hell und klar war ihre Stimme dabei, und sie weinte nicht wie die kleine Tehiptilla, auf die es zutraf, die noch so jung war und so viel zu verlieren hatte. Nein, Ninsum weinte nicht, ihr Vorrat an Tränen war verbraucht, seit sie Lugalbanda beklagt hatte. Der Brunnen war ausgetrocknet, der Quell des Leidensstromes versiegt. Aber dafür hatte sie eine hellsichtige Klarheit gewonnen, jedenfalls manchmal, die um vieles wertvoller war.

Sie nahm ihre Tochter in die Arme und tröstete sie.

»Weine nicht, Tehiptilla«, sagte sie, »dies alles ist schon lange vorbei, es geschah vor der großen Flut, und doch liegt es noch vor uns. Aber in so weiter Feme, dass du es nicht mehr erleben wirst. Lachen sollst du, meine Kleine, und eine glückliche Zeit haben mit Gilgamesch, deinem Geliebten …«

Tehiptilla wurde ganz aufgeregt bei den wirren Worten der Alten. Sprach die Mutter von etwas, was bereits hinter ihr lag oder von der Zukunft? Sie fragte danach, bekam aber keine Antwort.

Statt dessen fuhr die Mutter fort: »Nicht um ihn, um Enkidu ist zu klagen. Du aber wirst eine lachende Braut sein, freu dich, kleine Tehiptilla. Wie gut war es doch, aus dem Tempel zu gehen. Noch weiß er nicht, wo du bist. Zu sehr verwirrt hat ihn die Venus. Armer Kleiner, warum musste er so die Liebe kennenlernen? Alles verwickelt, alles verworren, schwer zu durchschauen, das Ganze …«

Plötzlich schrie sie gellend auf und deutete mit dem ausgestreckten Finger zum Fenster.

»Da, da, siehst du es, siehst du es auch? Dort flog eben sein Schatten vorbei, riesig, riesig wie eine Wolke, ein Berg … ich sehe es, ganz deutlich sehe ich ihn, obgleich er hin und her springt, um sich vor mir zu verbergen … Es ist ein Stier, ein gewaltiger Stier, o Tehiptilla, Marduk stehe uns bei … es ist der Himmelsstier! Wie ist das nur möglich, wer hat ihn befreit? Schnell, lauf zum Fenster und schau nach, ob das Sternbild des Taurus noch fest an seinem Platz steht, schnell, schnell, eile dich!«

Die Alte hatte mit schriller, sich überschlagender Stimme geschrien, die Tehiptilla durch Mark und Bein ging. Sie eilte zum Fenster und spähte erneut hinaus. Aber immer noch verdeckte ein Dunstschleier den Himmel und machte die Sterne unsichtbar. Nur dort, wo die Venus sonst stand, blakte gleißend ein flackerndes Licht aus den Wolken.

»Ich kann nichts erkennen«, sagte Tehiptilla, »alles ist diesig und verschwommen, der Mond hat seine Nebelkappe übergezogen und den Himmel dunkel gemacht.«

»Aha, diesig und verschwommen …«, brummelte die Alte, »dann steht er wohl bis zu den Knien im Sumpf …«

Tehiptilla grauste es. So furchteinflößend hatte sich Ninsum selten benommen. Ohne eine weitere Frage zu stellen oder auf Antwort zu warten, lief sie aus der Kammer, um die bereitgehaltene Medizin anzurühren. Sie tat es mit Sorgfalt und beachtete jede Anweisung des Arztes. Als sie endlich mit dem Becher zurückkam, war Ninsum auf ihrem Lager eingeschlafen. Sie lag mit geschlossenen Augen und offenem Mund da und wirkte zuerst wie tot. Aber als Tehiptilla sich zu ihr hinabbeugte, vernahm sie ihre schwachen Atemgeräusche. Sie lauschte auf ihren Rhythmus. Da sie regelmäßig gingen, stand nichts zu befürchten, und Tehiptilla stellte die Medizin neben dem Bett ab. Ihr Herz klopfte, in ihren Schläfen hämmerte es. Sie ging zum Fenster und kühlte den heißen Kopf an der frischen Luft. Allmählich wich die schwarze Dunkelheit und verflüchtigte sich zu einem helleren Grau. Nur kurze Zeit noch, dann würde die Sonne aufgehen und wieder ein Frühlingstag für Uruk beginnen.

Träumerisch glitten Tehiptillas Gedanken dahin, sie fühlte sich unausgeschlafen und doch zugleich herrlich wach. Sie sah zu den Tempeln hinüber. Die große Zikkurat lag noch im Dunkeln, aber fern am Horizont tat sich ein heller Spalt auf und wurde größer und breiter. Der neue Tag kündigte sich an.

Es kam der Tag, an dem Sasa zum Volk sprechen sollte. So etwas hatte sie noch nie getan, und sie war aufgeregt. Wie sollte sie anfangen, und wie würden die Leute von Kisch darauf reagieren? Zumal sich hier eine Frau in die öffentlichen Angelegenheiten mischte.

»Du brauchst nichts anderes zu tun, als was du am Tag deiner Ankunft bei uns im Palast tatest«, beruhigte sie Akka. »Erzähle ihnen von der Schönheit Uruks. Du wirst sehen: Das reicht. Sie werden gebannt an deinen Lippen hängen und mehr erfahren wollen von dir.«

»Aber ich kann besser singen als reden«, antwortete Sasa.

»So beginne mit Gesang, dass sie zuerst denken, du seist eine Künstlerin, die auf dem Markt auftreten will. Dann leg die Laute beiseite und tu es den Märchenerzählern gleich, die einfach reden, wie ihnen die Worte zuwachsen.«

Genauso tat Sasa. Der Fürst, seine Berater und die Stammeshäuptlinge, dazu eine stattliche Anzahl von Soldaten begleiteten sie über die Brücke des Wehrgrabens hin zum Markt. Dort war eine kleine Tribüne aus Sand und Steinen errichtet, auf der Akka sich mit seinem Hofstaat niederließ. Die Soldaten traten unauffällig aber jederzeit einsatzbereit in den Hintergrund, und Sasa setzte sich auf einen Teppich, der für sie ausgebreitet worden war. Wunderschön sah sie aus, sie trug zu ihrem blauen Gewand, das mit bunten Stickereien verziert war, reichen Schmuck: Halsketten, Arm- und Fußspangen, die mit wertvollen Steinen besetzt waren. Um ihre Stirn aber hatte sie ein weißes Stirnband geknotet, auf dem in Silber der siebenstrahlige Stern aufgestickt war – das Zeichen der Venus.

Es gab einen Auflauf auf dem Platz, als Fürst Akka mit seinem Gefolge erschien und auf der Tribüne Platz nahm. Das Volk strömte von allen Seiten zusammen, denn es vermutete, dass das Erscheinen des Herrschers und sein feierlicher Aufzug nicht ohne wichtigen Grund geschah. Auch sprach sich in Windeseile herum, dass eine Frau erschienen war, für die eigens ein Teppich ausgerollt wurde, und sie sollte so unbeschreiblich schön sein und so wertvollen Schmuck tragen, dass es die Augen blendete, wenn man sie ansah. Die Bürger Kischs kamen und die einfachen Leute, die Bauern, Viehhirten und Bettler, die Sandläufer rückten mit ihren vielköpfigen Familien an und die Nomaden aus den unterschiedlichsten Stämmen, denn auch ihre Häuptlinge saßen ja auf der Tribüne und warteten auf das Ereignis. Immer mehr Menschen kamen auf den Platz und drängten sich; viele hockten sich in den Staub, andere standen und reckten die Hälse, um besser sehen zu können.

Die schöne Frau saß auf dem Teppich, lächelte in sich versunken vor sich hin und ließ ihre zarten Finger über die Saiten der Laute gleiten. Endlich begann sie zu singen, und die Leute bekamen große Ohren, denn ihre Stimme erklang wie das Jubilieren einer Vogelkehle. Sie sang in einer Sprache, die viele nicht verstanden, aber sie erfreuten sich auch so an ihrer Darbietung und der ungewohnten Abwechslung im grauen Alltag von Kisch. Stimme des Grases im Frühling lautete Sasas Name, und sie wurde dieser Bedeutung mehr als gerecht. Sie war wie sprechendes Gras und die Leute von Kisch wie das Vieh, das nach satten, saftigen Weiden lechzt …

Schließlich legte Sasa die Laute neben sich und begann, von Uruk zu sprechen.

»Was sagt sie, was sagt sie?«, fragten viele und drängten sich weiter nach vorn zum Teppich. Sasa erzählte vom Alltag in Uruk und von den Festen, und sie schilderte jedes Detail so plastisch, dass vor den staunenden Leuten ein Ort aus dem Staub der Steppe erwuchs, der wohl das vielgepriesene Paradies sein musste. Jeder hatte zwar eine andere Vorstellung vom glückseligen Garten, aber für jeden beschrieb Sasa auch etwas, das ihn hellhörig werden ließ. Zu Tausenden saßen die Menschen im Sand, alle Stämme, Hautfarben und Rassen dicht beieinander und hörten mit offenen Mündern und glänzenden Augen Sasas Bericht zu. Nicht enden wollte Sasas Erzählung, und sie durfte auch gar nicht enden, denn die Leute hatten noch lange nicht genug, sie wollten mehr hören, viel mehr noch. Sie wollten wissen, wie es im Hafen und auf den Kaimauern zuging, wo die vielen Schiffe vor Anker gingen und ihre Schätze abluden, vom Frühlingsfest wollten sie hören und ganz genau, welche Blumen in den bewässerten Gärten wuchsen, wieviel schattenspendende Bäume es gab, wie die Felder beschaffen waren und das Korn und die Saat darauf, wie groß, lang und breit die Kornkammern waren und welche Brotsorten die Frauen von Uruk buken. Sie wollten mit Sasa die neue, prächtige Treppe, die lschtar geweiht war, hinauf zum Eanna und zu ihrem strahlenden Tempel schreiten, um mit ihr all die Feste dort zu feiern, Hammelbraten zu essen und Obst und Früchte, den Geruch köstlicher Salben und Öle zu riechen.

Die Männer riefen Sasa zu, sie solle mehr über die Kleidung der Bürger und Soldaten Uruks berichten, welche Gürtel und Waffen sie trügen und wie der Ringkampf dort sei und dergleichen mehr. Und die Frauen fragten ungeniert nach den Mädchen im Tempel, welche Ratschläge Ischtar gab, was man ihr überhaupt alles antragen durfte, und sie wollten natürlich wissen, aus welchem Material die Stoffe der Kleider waren, ob man die Umhänge lang oder kurz trug, die Haare wie Sasa mit dem Stirnband zusammengebunden oder anders und dergleichen mehr.

Auf alles gab Sasa, so gut sie es konnte, Antwort. Ganz trocken wurde ihr der Mund vom vielen Reden, und das Volk wurde trunken allein vom Zuhören. Sie endete mit den Worten: »Und wenn ich noch Stunde um Stunde weitererzählen würde, den ganzen Tag lang und die Nacht hindurch, so gäbe dies alles dennoch nur ein schwaches Bild ab von dem, was Uruk in Wirklichkeit ist. Ich sage euch: Die schönste, prachtvollste Stadt im Erdenkreis ist sie, alle Menschen und Tiere haben genug zu essen, niemand hungert und keiner friert, denn jeder schläft mit einem festen Dach über dem Kopf. Allein der Marktplatz ist so groß, dass man ganz Kisch mit seinen Häusern, Hütten, Tempeln und dem Palast dort aufbauen könnte, ohne dass es eng würde in der Stadt. Und nie habe ich einen getroffen, der abends mit leerem Bauch vor Hunger nicht hätte einschlafen können. Gnädig gestimmt sind uns die Götter und schenken uns alles, was wir brauchen. Ich sage dies, weil es stimmt und weil ich Sehnsucht habe nach Uruk.«

»Wir auch!«, riefen ein paar junge Leute, »wir wollen auch dieses herrliche Uruk sehen!«

»Wie weit ist es, wo liegt es?«, riefen andere.

Eine allgemeine Unruhe entstand, Rufe, Fragen und Gegenrufe wurden laut. Da erhob sich Fürst Akka von seinem Sitz und hob die Hand zum Zeichen des Schweigens. Dennoch dauerte es lange, bis sich das Volk einigermaßen beruhigt hatte und soviel Stille eingekehrt war, dass seine Worte vernehmbar wurden.

»Volk von Kisch«, sprach er, »Leute der Steppe, der Wüste und der Berge, die ihr aus ferner Heimat aufgebrochen seid, um euren Hunger in meiner Stadt zu stillen. Ihr wisst, dass euch Kisch nicht alle zufriedenstellend ernähren kann. Die Ernte war nicht genug für alle, die da sind, und sie reicht schon gar nicht für die, die noch kommen werden. Mit jedem Tag, der vergeht, wird die Nahrung knapper für alle, so dass es eigentlich nur noch eine Frage der Zeit ist, wann der Hungerwolf kommt und euch und eure Kinder verschlingt.«

Er machte eine Pause, um das Gesagte auf die Zuhörer wirken zu lassen. Die Leute rückten unruhig hin und her. Das war nichts Neues, das wussten sie bereits. Anderes wollten sie von Akka hören, Positiveres.

Wieder hob der Fürst seine Hand und fuhr fort: »Sasa, die schöne und kluge Botin der Göttin Ischtar, hat uns berichtet, wie es in ihrer Heimat aussieht, wo es an nichts mangelt und alles reichlich und im Überfluss vorhanden ist. Ich habe Hunger und Durst bei ihren Worten bekommen.«

»Wir auch!«, schrie das Volk, »wir haben Hunger und Durst!«

»Ich weiß«, sagte Akka, »euer Hunger soll gestillt, euer Durst soll gelöscht werden, und alles wird sich verändern, denn hört, was mir Ischtar, die ferne Göttin, außerdem noch mitgeteilt hat: Sie lädt uns ein, nach Uruk zu kommen, uns alle, wie wir hier sind, um uns satt zu essen und nach Herzenslust zu laben!«

Jetzt brach Tumult aus, die Leute sprangen auf und schrien wild durcheinander.

»Wollt ihr dem Wunsch der Göttin folgen und mit mir aufbrechen nach Uruk?«, rief Akka mit seiner lautesten Stimme über den Platz.

»Ja, ja, ja!«, brüllten tausend Kehlen zugleich als Antwort zurück.

»Wir wollen aufbrechen nach Uruk, nach U…ruk, nach U…ruk!«, kamen Sprechchöre auf, und die meisten klatschten rhythmisch die Hände dazu.

»Nach U…ruk, nach U…ruk!«

Es war ein ohrenbetäubender Lärm, ein Getöse, wie wenn Wasser in den Bergen donnernd zu Tal stürzt. Und ähnlich ihm stürzten sich die Menschen in einen Begeisterungstaumel, der alle und jeden ansteckte.

»Halt!«, schrie Fürst Akka und setzte mehrmals an, um wieder zu Worte zu kommen. Als es ihm endlich halbwegs gelang, rief er: »Es gibt ein Hindernis, das mich zögern lässt, sofort aufzubrechen …«

»Und was ist das?«, fragten die Leute in den ersten Reihen nahe der Tribüne.

»Ein riesiger Stier, ein Ungeheuer, der furchtbare Himmelsstier, der zwischen uns und Uruk steht«, sagte Akka.

»Dann jagen wir ihn in die Sümpfe!«, schrien die Leute. »Wir treiben ihn weg wie einen räudigen Hund! Er kann uns nicht aufhalten, wir wollen nach Uruk!«, brüllte die Menge, und erneut kamen das rhythmische Klatschen und die Sprechchöre auf: »Nach U…ruk, nach U…ruk!«

»Dann soll es so sein, wie ihr entschieden habt«, sagte Akka und strich sich zufrieden lächelnd durch den Bart. Alles war so verlaufen, wie er es sich vorgestellt hatte.

»In drei Tagen brechen wir auf!«

»Warum nicht schon heute?«, riefen ein paar junge Männer.

»Weil wir die Zeit brauchen, um unsere Waffen zu richten und uns auf den Marsch vorzubereiten. Es wird kein Kinderspiel sein, es geht durch die Wüste, und denkt auch an das Ungeheuer, das uns den Weg nach Uruk versperrt.«

»Hah«, schrien die jungen Männer, »allemal nehmen wie es auf mit ihm, es soll nur kommen!«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752121865
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (November)
Schlagworte
Legenden Gilgamesch Uruk Mythen Zweistromland Fantasy

Autor

  • Harald Braem (Autor:in)

Harald Braem, geboren 1944 in Berlin, war Professor für Kommunikation und Design an der Fachhochschule Wiesbaden und lebt heute in Nierstein am Rhein und auf der Kanareninsel La Palma. Jüngste Veröffentlichungen u.a.: ›Die abenteuerlichen Reisen des Juan G.‹, ›Atlantis - Botschaft‹ im Elvea Verlag 2020.
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Titel: Gilgamesch: Reise zum Licht