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Elementum

Verschlungene Pfade

von Michael Meiser (Autor:in)
360 Seiten

Zusammenfassung

»Die Dinge sind bei Weitem nicht immer so klar, wie sie uns auf den ersten Blick erscheinen.« Fokko Bray träumt seit seiner Kindheit davon, dem eintönigen Bauernleben zu entfliehen und wünscht sich nichts sehnlicher, als der sagenumwobenen Magiergilde in der fernen Hauptstadt beizutreten. Die anstehende Initiation, bei der der Gott Lyr Auserwählte mit einem Elementar segnet, ist seine Chance. Inzwischen werden an der Grenze Altagos Anzeichen monströser Gestalten gesichtet. Wesen, von denen es hieß, sie seien längst verdrängt und vernichtet. Und sie scheinen mächtige Verbündete zu haben.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


  1. Gutmans Hof

Bray öffnete die Augen und fremde Bilder stürzten auf ihn ein. Über ihm jagte ein rauer, böiger Wind dunkle Wolken über den Himmel.

Ungelenk erhob er sich und schaute sich um. Er stand hoch oben auf der Spitze eines Turms, während sich unter ihm eine düstere Landschaft ausbreitete. Eilig wich er von der steinernen Brüstung zurück, der er gefährlich nahegekommen war, und brachte Abstand zwischen sich und den gähnenden Abgrund.

Nachdem er sich von seinem ersten Schock erholt hatte, nahm er die Mauern um sich herum wahr, die aus knisternder Energie zu bestehen schienen. Sie schimmerten leicht bläulich und waren nahezu durchsichtig.

Obwohl sich alles in ihm dagegen sträubte, trieb ihn seine Neugier zurück an den Rand des Turms. Unter ihm erstreckte sich eine schier endlos weite Ebene. Winzige, schwarze Punkte bevölkerten das Tiefland und bildeten pulsierende Muster. Blitze, die in allen Farben des Regenbogens erstrahlten, zuckten über den Himmel und malten ein farbenfrohes Gemälde in die Dämmerung. Der Wind frischte auf und trug durchdringende, martialische Schreie voller Todesangst mit sich. Zu seinen Füßen wütete eine schreckliche Schlacht.

Eine bleierne Müdigkeit überfiel Bray und trieb alle Kraft aus seinen Beinen. Seine Knie gaben nach und er fiel vornüber. Verzweifelt versuchte er, sich an der Brüstung abzustützen, doch bevor seine Hände Halt finden konnten, stürzte er hinab.

 

 

Als Bray wieder zu sich kam, stand er inmitten des Schlachtfelds, das zuvor in weiter Ferne gelegen hatte. Die kleinen schwarzen Punkte entpuppten sich aus der Nähe als kämpfende Krieger.

Vor ihm versuchte eine Gruppe gepanzerter Lanzenträger, dem Ansturm einer Kavallerieeinheit standzuhalten. Zwei Reiter wurden von den Spitzen der Lanzen aus dem Sattel gehoben und fielen krachend zu Boden. Einer der Reiter durchbrach die Verteidigung, begrub einen der Lanzenträger unter sich und streckte den nächsten mit einem gewaltigen Hieb nieder. Einen Augenblick später fegte ihn der Bolzen einer Armbrust vom Pferd.

Metall traf klirrend auf Metall und vermischte sich mit unzähligen wütenden und wimmernden Schreien zu einer ohrenbetäubenden Kakophonie des Todes und der Verwüstung.

Nur wenige Schritte von Bray entfernt stand eine Gestalt, die in eine, mit leuchtenden Symbolen übersäte Robe gehüllt war, während eine weite Kapuze ihr Antlitz verbarg. Ihr gegenüber befand sich ein gesichtsloser Schatten, der aus vollkommener Dunkelheit zu bestehen schien, die jegliches Licht absorbierte. Der riesenhafte Schatten setzte sich in Bewegung und stapfte bedrohlich langsam auf die Gestalt zu.

Über dem Träger der leuchtenden Robe schwebte eine nahezu durchscheinende, rot schimmernde Kugel. Er schrie etwas in einer Bray unbekannten Sprache und die Lichtkugel schoss nach vorne, während sie sich vergrößerte und verformte. Im nächsten Augenblick löste sich ein greller Lichtblitz aus ihr, der zuckend auf den herbeieilenden Schatten zuflog.

Doch bevor der Blitz ihn erreichte, schälten sich rasend schnell die Umrisse einer Streitaxt aus dem Dunkel. Der helle Blitz traf krachend gegen sie, wurde zurückgeworfen und flog wirkungslos in den wolkenverhangenen Himmel.

Der riesige Schatten sprang heran und schwang die mächtige Waffe. Der Angriff erfolgte derart schnell, dass die wachsende Lichtkugel keine Chance bekam, auszuweichen. Die Schneide der Axt flog unerbittlich durch das Leuchten hindurch und teilte es mühelos in zwei Hälften.

Die beiden Halbkugeln schwebten einen Moment regungslos in der Luft, während ihre Ränder zerfaserten. Dann verlor ihr Leuchten innerhalb weniger Augenblicke an Intensität, bevor es sich schließlich auflöste und nichts mehr an seine Existenz erinnerte.

Mit dem Verlust der Lichtkugel schienen auch die leuchtenden Symbole auf der Robe ihre Strahlkraft zu verlieren. Die Gestalt unter der Kapuze warf ihren Kopf in den Nacken und stieß einen wehklagenden Schrei aus, der sich in den lauten Geräuschen der Schlacht verlor. Obwohl sie keine andere Waffe bei sich trug, stürzte sie sich wie von Sinnen auf den hünenhaften Schatten.

Diesen schien der überhastete Angriff jedoch nicht im Mindesten zu beeindrucken. Das Wesen holte aus und fegte den Kapuzenträger mit einem gewaltigen Axthieb von den Beinen. Die Waffe traf den Rücken der Gestalt, der sich mit einem lauten Knacken unnatürlich verformte. Regungslos blieb sie mit verdrehtem Körper am Boden liegen.

Auf der Suche nach einem neuen Ziel bewegten sich die schwarzen Umrisse des Kopfes ruhelos umher. Mit einem Ruck kam er zum Stehen und die konturlosen Züge fixierten Bray. Das Wesen stieg achtlos über den Besiegten zu seinen Füßen und stapfte zielstrebig auf ihn zu.

Panik nahm von Brays Körper Besitz. Jede Faser seines Verstandes riet ihm, sich schleunigst umzudrehen und wegzulaufen, doch seine Füße reagierten nicht auf die flehentlichen Ratschläge.

Die Geräusche der umliegenden Schlacht verklangen und alles um ihn herum verlor an Wichtigkeit. Sein Gegner ließ sich Zeit und schien den Moment auszukosten, ganz so als wüsste er, dass sein Opfer ihm nicht entkommen konnte.

Bray schrie um Hilfe, doch kein Ton entwich seiner Kehle. Wehrlos musste er mitansehen, wie der tiefschwarze Schatten vor ihm aufragte und ausdrucklos auf ihn hinabblickte. Mit beiden Händen hob die Gestalt die riesige Streitaxt über ihren Kopf.

Einen kurzen Moment schwebte die blitzende Waffe bewegungslos vor den unheilvollen Wolken, dann sauste sie auf Bray hinab.

 

 

 

»Wach endlich auf, du Faulpelz!«

Bray schlug die Augen auf und stemmte sich mühsam auf den Ellenbogen. Schlaftrunken schaute er seinen Vater an, der vor seinem Bett stand und die Arme in die Hüfte stemmte.

Er klang so, als hätte er diese Worte heute Morgen nicht zum ersten Mal gerufen.

»Komm schon, du musst heute früh aufstehen. Frühstück steht schon bereit.« Sein Vater warf Bray einen letzten strengen Blick zu und verließ den Schlafraum.

»Ist ja gut«, murmelte Bray und rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Ich komme.«

Einen Moment überlegte er, unter der gemütlichen Decke liegen zu bleiben, entschied sich dann aber dagegen. Die drängende Stimme seines Vaters duldete keinen Widerspruch. Seufzend schlug er die Decke zurück und sofort blies ihm eisige Luft entgegen.

Bray verzog unwillig das Gesicht, rutschte vom Bett herunter und zog eilig seine Kleider an, die neben dem Bett lagen – eine dicke, abgetragene Hose, ein ebenso abgetragenes Hemd und zu guter Letzt seine Stiefel, deren raues und stellenweise geflicktes Leder zum Rest seiner Kleidung passte.

Währenddessen dachte Bray über seinen Traum nach. Bereits seit einer Weile durchlebte er diese seltsamen Alpträume, in denen er nur knapp dem Tod entrann. Er konnte sich nicht erklären, woher sie kamen, denn Schlachten kannte er lediglich aus den Geschichten der alten Männer.

Wohl ebenfalls durch den Lärm ihres Vaters geweckt worden, streckte Brays jüngerer Bruder Alrick verschlafen den Kopf unter seiner Decke hervor.

»Morgen«, murmelte Bray und schlurfte mit zusammengekniffenen Augen aus dem Raum, wobei ihm ein köstlicher Geruch in die Nase stieg.

Sein Vater saß im Wohnraum, dem zweiten und zugleich letzten Raum des kleinen Hauses der Familie Gutman, dessen Einrichtung aus einem Tisch, einer Feuerstelle und einem kleinen Kamin bestand.

Bray setzte sich zu seinem Vater. Auf dem Tisch warteten bereits ein Spiegelei mit einem Haufen Speck und ein Glas Milch auf ihn.

»Wir haben heute viel zu tun, wir müssen runter ins Dorf«, sagte sein Vater zwischen zwei Bissen. »Du weißt doch, heute ist das große Fest.«

»Was für ein Fest?«, fragte Alrick gähnend, der hinter Bray aus dem kleinen Schlafraum schlenderte und sich zu ihnen an den Tisch setzte.

»Sag mal, schläfst du noch?«, rief Bray und strahlte seinen Bruder an. »Heute ist doch die Initiation. Heute bekomme ich endlich mein Elementar!«

Gierig machte er sich über das Essen her.

»Immer langsam, Bray«, mahnte sein Vater und legte klirrend seine Gabel auf den leeren Teller. »Noch ist es nicht sicher, ob du überhaupt eine Begabung zeigst und bei dem Ritual auserwählt wirst.«

Wie um seine Aussage zu bestätigen, glomm das pulsierende, dunkelgrüne Licht, das über seinem Kopf schwebte, leicht auf.

»Aber Lyr hat dich doch auch auserwählt«, protestierte Bray. Aufgeregt fuchtelte er seinem Vater mit dem Besteck vor der Nase herum. »Also wird mir das auch gelingen. Ich brauche schließlich Hilfe, wenn du irgendwann nicht mehr da bist und unsere Felder bestellt werden müssen. Ich kann den großen Hof nicht allein betreiben.«

»Auserwählt zu werden, ist eine große Ehre, die nicht jedem zuteilwird.« Mahnend hob sein Vater einen fleischigen Zeigefinger. »Nur weil mir damals das Glück zuteilwurde und du mein Sohn bist, darfst du nicht davon ausgehen, dass es bei dir genauso sein wird. Außerdem ist dein Bruder da, der dich immer unterstützen wird, wenn ich einmal nicht mehr bin.« Sein Vater schüttelte entschieden den Kopf. »Aber genug davon. Ich werde noch lange euer Vater sein. Jetzt sei ein guter Junge, geh in den Stall und bereite die Schafe und Hühner für den Markt vor. Alrick wird dir helfen, sobald er mit dem Frühstück fertig ist.«

Mit diesen Worten stand er vom Tisch auf und wandte sich dem Aufräumen der Küche zu. Sein Zeichen dafür, dass für ihn die Diskussion beendet war und er nicht mehr über dieses Thema reden wollte.

Bray aß auf, nahm seine Handschuhe und die Wollmütze vom Kleiderständer neben der Tür und ging hinaus zum Stall, der im Winter die Schafe und Hühner der Familie beherbergte.

Als er aus der Tür ins Freie trat, bildeten sich beim Ausatmen vor seinem Mund weiße Wolken. Der Schnee lag beinahe kniehoch, doch seit dem gestrigen Tag hatte es aufgehört zu schneien.

Dieser Schnee läutete den fünfzehnten Winter ein, den Bray erlebte. In all der Zeit hatte sein Vater nie erlaubt, dass er sich weiter vom Hof entfernte als bis zum nahegelegenen Dorf Trico, das nicht ganz einen halben Tagesmarsch entfernt in den Bergen lag.

Den Weg hinunter ins Dorf nahm die Familie für gewöhnlich nur auf sich, wenn sie ihre selbst hergestellten Waren auf dem Dorfplatz gegen dringend benötigte Gegenstände eintauschen wollte. Oder eben dann, wenn ein besonderes Fest vor der Tür stand, wie am heutigen Tage die Initiation.

Zu diesem Anlass wählte Bray ein Schaf und einige Hühner aus, die sie gegen einige Säcke Getreide und ein paar Fässer gutes Bier eintauschen wollten.

Während er die Tiere in einem hölzernen Transportkäfig auf dem Schlitten mit dicken Gurten sicher verzurrte, hielt Bray für einen Moment inne und ließ seinen Blick in die Ferne schweifen.

Zu seiner Rechten zog sich die mächtige Bergkette des Baldrusgebirges in einem leichten Bogen bis zu ihrem Hof und verschwand dann gen Osten aus seinem Blickfeld. Durch die klare Luft des klirrend kalten Wintertags erkannte Bray sogar am Horizont den weit entfernten Arbonsee und die dunkelgrünen Baumwipfel des Fenguunwaldes, der bis zu den Ausläufern des Gebirges heranreichte.

Wie so oft rief die Weite mit drängender Stimme nach Bray und forderte ihn leise, doch unmissverständlich auf, zu ihr zu kommen. Auch wenn ihn bei dem Gedanken an die Ferne ein schlechtes Gewissen gegenüber seinem Vater plagte, träumte er seit langer Zeit davon, eines Tages das Land zu bereisen und die Berge hinter sich zu lassen. Er brannte darauf, endlich herauszufinden, ob die mythischen Geschichten, welche die Alten abends am Feuer erzählten, auch nur einen Funken Wahrheit enthielten oder ob sie nur ihrem wirren Verstand entsprangen.

Sein Vater schien mit dem eintönigen und abgeschiedenen Leben auf dem Hof überaus zufrieden – etwas, das Bray nicht nachvollziehen konnte. Nicht, dass es ihm auf dem Hof der Familie jemals schlecht ergangen wäre, das Gegenteil war der Fall. Er liebte seinen Vater und auch seinen Bruder von ganzem Herzen, doch tief in seinem Innern spürte er ein starkes Verlangen, das er nicht leugnen konnte.

 

 

 

Im Laufe des Vormittags schloss die Familie die nötigen Vorbereitungen ab, sodass alles Notwendige für den Abstieg ins Dorf bereitstand.

Alrick und Bray saßen beide auf dem Schlitten, als ihr Vater aus der Tür trat, sie sorgfältig mit einem schweren Schlüssel verschloss und durch den Schnee auf sie zustapfte. Dabei verfolgte ihn das magische, dunkelgrüne Leuchten, das, solange Bray zurückdenken konnte, über seinem Vater schwebte und ihn auf Schritt und Tritt begleitete.

Auf halbem Weg murmelte sein Vater etwas und die leuchtende Sphäre über ihm schoss völlig lautlos auf den Schlitten zu. Je näher sie ihm kam, desto mehr wuchs der leuchtende Magieball und verformte sich.

Im nächsten Augenblick explodierte die Schneedecke vor dem Schlitten und gab den Blick auf ein mannshohes Erdelementar frei – ein magisches Wesen, welches vom Aussehen her am ehesten noch an einen Menschen erinnerte.

Es besaß zwei Arme und Beine, während auf seinem Körper ein klobiger Kopf thronte. Die gesamte Erscheinung des Wesens war ausgesprochen grobschlächtig. Es wirkte, als hätte ein Steinmetz hastig eine menschliche Figur aus einem Bergmassiv schlagen wollen, ohne sich Zeit für Details zu nehmen. In den tiefen Augenhöhlen des stämmigen, vor Kraft nur so strotzenden Wesens, glommen zwei dunkelgrün leuchtende Augen, die Bray und seinen Bruder aufmerksam musterten.

Bray hatte diese, für Magieunkundige doch sehr ungewöhnliche Szenerie, nun schon unzählige Male beobachtet. Trotzdem übte sie immer wieder aufs Neue eine unglaubliche Faszination auf ihn aus. Wie er wusste, durfte sich sein Vater bereits seit langer Zeit Magiekundiger, einen magisch Begabten, nennen.

Gebannt beobachtete Bray die Kreatur, die sich vor dem Schlitten positionierte. Mit erstaunlich flinken Bewegungen der dicken Finger begann Ertior, wie sein Vater das Wesen nannte, sich das Geschirr um die massigen Schultern zu legen. Nachdem das Elementar zufrieden schien, setzte es sich ohne sichtbare Mühe in Bewegung und stapfte los. Mit weiten Schritten hielt Ertior auf das Tor zu, das den Eingang zum Hof der Gutmans markierte.

Während Ertior den Schlitten durch das Eingangstor und den zugeschneiten Pfad hinunterzog, dachte Bray über das nach, was sein Vater ihm über die Elementare und die Magie erzählt hatte. Zugegeben, es war nicht besonders viel, denn sein Vater sprach mit ihm und Alrick nicht sehr oft über diese Themen. Vielleicht fand Bray genau aus diesem Grund alles Magische so interessant.

Sein Vater hatte ihm erzählt, dass zwischen Magier und Elementar eine besondere Verbindung bestand. Zusammen bildeten sie eine starke Einheit, was sie dazu befähigte, in Gedanken miteinander zu kommunizieren. Durch das Erdelementar konnte sein Vater außerdem kleine, praktische Zauber wirken, die mit dem Element Erde in Zusammenhang standen. Ertior bewies äußerstes Geschick beim Umgang mit den unterschiedlichsten Pflanzen und Kräutern, die seinetwegen trotz des kahlen, felsigen Bodens auf dem Hof gediehen.

Bray ging davon aus, dass sein Vater selbst nicht viel mehr über die Magie wusste. Ihm schien völlig auszureichen, dass sein Elementar ihm die Arbeit auf dem Hof erleichterte. Mit den Dingen, die darüber hinausgingen, wollte er sich scheinbar nicht auseinandersetzen. Dabei wusste Bray, dass es noch so viel mehr über die Magie zu entdecken gab.

Im Gegensatz zu seinem Vater liebten Bray und sein Bruder die magischen Geschichten, die die Alten in Trico abends am Lagerfeuer erzählten. Erzählungen, die von den Zauberern und den Alten Kriegen handelten.

Eine dieser Geschichten handelte von der Legende vom Ersten Krieg, die in Altago jedes Kind kannte. Sie gehörte zu Brays Lieblingsgeschichten und berichtete davon, wie die Menschen zum ersten Mal die Dunox zurückgeschlagen und das Land beschützt hatten.

Bei den Dunox handelte es sich um abscheuliche Wesen, eine groteske Mischung aus Tier und Mensch, welche die Menschen bereits seit Urzeiten abgrundtief hassten. Seit Anbeginn der Zeit verfolgten sie unermüdlich das Ziel, Altago zu erobern, doch den Magiern war es immer gelungen, die Kreaturen zurückzuschlagen.

Während des dritten, dem letzten der großen Kriege, wurden die Dunox vernichtend geschlagen. Danach hörten die Angriffe jäh auf und die Tierwesen wurden in Altago nie wieder gesehen. Die Magier ließen sich von der Bevölkerung feiern und rühmten sich seither damit, dass sich die Kreaturen niemals mehr von ihrer Niederlage erholen würden. So endete das Zeitalter der Dunoxkriege und das Zeitalter des Friedens begann.

Genauso wenig wie sein Vater über magische Dinge sprach, verlor er jemals ein Wort über Brays und Alricks Mutter. Sie war bereits sehr früh, nicht lange nach der Geburt seines Bruders, verstorben und Bray erinnerte sich nur noch schemenhaft an sie.

Das Schweigen seines Vaters hinsichtlich seiner Mutter setzte Bray besonders zu. Immer wenn er seinen Vater in dieser Richtung etwas fragte, vertröstete dieser ihn. Meist hieß es, er sei noch zu jung für eine solche Geschichte, aber eines Tages würde sein Vater mit ihm über all die Dinge sprechen, die er wissen wollte. Die Ausflucht bekam Bray so oft zu hören, dass ihn allmählich das Gefühl beschlich, sein Vater würde ihm niemals etwas erzählen.

Derart in Gedanken versunken, bemerkte Bray nicht, wie schnell die Zeit an ihm vorbeiflog. Erst als der Schlitten um eine Kurve bog und die schneebedeckten Gipfel des Baldrusgebirges den Blick auf ein kleines Tal freigaben, erwachte er aus seinen Tagträumen. Zwischen den Bergen drängten sich die vertrauten Häuser des Bergdorfes Trico, deren aufsteigende Rauchfahnen sie willkommen hießen.

Ertior legte noch einmal an Geschwindigkeit zu und zog den Schlitten unermüdlich hinunter ins Tal.

 

  1. Die Initiation

An diesem besonderen Tag drängten sich viele Menschen auf dem, ansonsten eher spärlich besuchten, Marktplatz von Trico. Alle Familien aus dem Umkreis schienen mit ihren Kindern gekommen zu sein, um dem Ritus beizuwohnen, der am Abend stattfand. Die meisten von ihnen hatten offenbar die Gelegenheit genutzt, um sich zu diesem feierlichen Anlass ganz besonders herauszuputzen und ihre besten Kleider überzustreifen. Überall auf dem Marktplatz drängten sich allerlei Arten von Verkaufsständen. Die Stimmen der Händler, die lautstark ihre Waren anboten und erbittert um ihre Preise feilschten, erfüllten den Platz.

Männer tranken zusammen Bier, brachten sich gegenseitig auf den neusten Stand und scherzten ausgelassen miteinander. Währenddessen streiften ihre Frauen mit den Kindern über den Markt und erledigten die Einkäufe.

Kleine Kinder blickten fasziniert den wenigen Elementaren, hinterher, die lautlos über den Köpfen vereinzelter Magier schwebten. Die pulsierenden, magischen Lichter waren eine wahre Attraktion, die selten in Trico beobachtet werden konnte.

Die kalte Luft über dem Marktplatz knisterte und wurde von der Vorfreude auf die Zeremonie am Abend erfüllt.

Am kleinen Verkaufsstand der Familie Marsrat blieb Brays Vater stehen und musterte mit großem Interesse die dargebotenen Auslagen. An einem Markttag war dieser Stand für gewöhnlich der erste, den die Familie Gutman besuchte.

Bei den Marsrats handelte es sich um eine der alteingesessenen Familien Tricos. Sie betrieb die kleine Brauerei, die das Dorf mit allerlei Spirituosen versorgte. Über die Zeit entwickelte sich eine echte Freundschaft – die einzige, die Brays Vater wirklich pflegte.

»Hallo Cunrat!«, grüßte Adalie Marsrat, als sie seinen Vater vor ihrem Stand erkannte. »Ich habe mich heute schon den ganzen Tag gefragt, wann du endlich auftauchen würdest.« Sie schenkte ihm ein breites Lächeln. »Du hast ein wenig auf dich warten lassen.«

Gut gelaunt erwiderte Brays Vater Adalies Begrüßung. »Ach ja? Die Jungs haben heute Morgen wieder getrödelt, deshalb bin ich etwas spät dran.«

Er zwinkerte Adalie zu.

Während sein Vater mit Adalie über die neusten Kreationen der Brauerei plauderte und diese auch umgehend verkostete, schweifte Brays Blick zu Eila. Die Tochter von Adalie befand sich im gleichen Alter wie er und Bray kannte sie seit ihrer Kindheit.

Wie er sich eingestehen musste, hatte sich Eila über die Zeit hinweg zu einem hübschen Mädchen entwickelt. Lange, dunkelblonde Haare rahmten ihre blassen, ebenmäßigen Züge ein und sie trug ein Kleid, das ihre schlanke Gestalt betonte. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht und ihre hellblauen Augen strahlten, als sie Bray erkannte.

»Hallo Eila«, begrüßte er sie. »Nimmst du heute Abend auch an der Zeremonie teil?«

Was für eine dumme Frage, dachte Bray sofort nachdem er es ausgesprochen hatte. Jeder in unserem Alter wird dort sein.

»Hallo Bray! Natürlich werde ich heute Abend auf dem Marktplatz sein«, entgegnete Eila, ohne ihm seine Frage übel zu nehmen. »Das ist alles so aufregend.« Sie kam hinter dem Stand hervor und steuerte mit einem breiten Lächeln auf Bray zu. »Hast du schon gehört? Der Magier Fenmas soll heute in Trico sein, um uns zu prüfen!«

»Fenmas, der berühmte Magier?«, antwortete Bray und zog erstaunt die Augenbrauen in die Höhe. »Der Held aus den Geschichten am Lagerfeuer? Hast du gewusst, dass er das magische Turnier schon mehrmals gewonnen hat?«

Bei dem magischen Turnier handelte es sich um einen berühmten, prestigeträchtigen Wettkampf, den die Gilde alljährlich in der Hauptstadt des Landes austrug und an dem jeder Magier teilnehmen konnte. Die Magier lieferten sich packende Duelle, in denen der Gewinner eine Runde weiterkam, während der Verlierer aus dem Turnier ausschied.

Die Magier duellierten sich, um in den Zeiten des Friedens in der Übung zu bleiben und ihre Fähigkeiten zu vervollkommnen. Jeder Magier träumte davon, einmal das große Turnier zu gewinnen, denn der Sieger des Wettstreits erhielt grenzenlosen Ruhm und Ehre.

Wie Bray wusste, gehörte Fenmas zu den wenigen Magiern, die dieses Turnier mehrere Male gewonnen hatten, was eine außerordentliche Leistung darstellte.

»Es ist eine Ehre, ein so berühmtes Mitglied der Gilde zu treffen«, sagte Bray ehrfürchtig. »Ich freue mich, dass die Initiation von einem so bedeutenden Magier wie Fenmas durchgeführt wird. Ich kann mich noch gut an die letzte Initiation erinnern.« Er rollte mit den Augen. »Der Magier, der damals die Zeremonie in Trico geleitet hat, war ehrlich gesagt ein echter Reinfall. Er hat ausgesehen, als würde er jeden Moment auf seinem Stuhl einschlafen.«

Eila nickte zustimmend.

»Ich hoffe nur, ich werde heute Abend ausgewählt«, sagte Bray voller Vorfreude. »Dann kann ich endlich in die Hauptstadt, um dort die Magie zu erforschen! Nach allem was ich über die Gilde gehört habe, soll die magische Fakultät von Port Rem sehr beeindruckend sein!« Aufgeregt trat er von einem Fuß auf den anderen. »Allein die große Bibliothek der Magier soll überall in Altago ihresgleichen suchen.«

»Warte erst einmal den heutigen Abend ab, Bray«, antwortete Eila besorgt. »Du weißt, in letzter Zeit wurden nur wenige ausgewählt. Die Magie ist nicht mehr so stark, wie sie einmal war und auch die Elementare sind nicht annähernd so zahlreich wie früher – das hat zumindest der Magier bei der letzten Initiation behauptet.«

In der Zwischenzeit verabschiedete sich sein Vater von Adalie und schlenderte weiter zum nächsten Stand.

»Du wirst schon sehen, ich werde ein Elementar bekommen«, prophezeite Bray gut gelaunt, bevor er sich seinem Vater anschloss. »Wir treffen uns heute Abend auf der Bühne wieder!«

 

 


Anlässlich der Feierlichkeiten hatten die Dörfler an einem Ende des Marktplatzes eine kleine Bühne errichtet. Die Häuser von Trico umschlossen den Platz, sodass eine ovale Fläche entstand. In ihrer Mitte befand sich ein alter Brunnen, der das Herzstück des Dorfes bildete.

Als an diesem Tag die Dunkelheit hereinbrach, versammelten sich die Menschen dicht gedrängt vor der Bühne. Unter ihnen befanden sich auch Bray, sein Bruder und sein Vater, die sich frühzeitig einen Platz unmittelbar vor dem Podest sichern wollten.

Über den Köpfen der Menschenmenge schwebten vereinzelte magische Lichter, die grün und blau pulsierten, doch der Großteil der Menge wies keine magische Begabung auf. Die Familien, deren Angehörige heute geprüft werden sollten, standen in den vorderen Reihen, um diesen Moment aus nächster Nähe zu erleben.

Wie Bray sehr zu seiner Freude bemerkte, hatte Eila mit ihrer Familie ganz in der Nähe einen Platz gefunden. Er winkte ihr zu, nachdem auch sie ihn bemerkt hatte. Mit einem unsicheren Lächeln versuchte er, die Nervosität zu überspielen, die allmählich Besitz von ihm ergriff. Er fühlte sich nicht wohl bei der Vorstellung, gleich vor so vielen Leuten zu stehen, die ihn alle gleichzeitig angafften.

Nach einiger Zeit stieg die Person auf das Podest, auf die alle sehnsüchtig warteten.

Fenmas war ein Mann in seinen späten Dreißigern und eine beeindruckende Erscheinung. Der Magier war von hohem Wuchs, breit gebaut und sah so gar nicht aus, als säße er den gesamten Tag nur in einem Zimmer und verbrächte seine Zeit mit dem Studium von Büchern. Er sah eher so aus, als würde er tagein, tagaus riesige Baumstämme stemmen. Kurze, rötliche Haare und ein ebenso kurzgetrimmter Bart der gleichen Farbe rahmten seine markanten Züge ein.

Fenmas schien noch nicht lange in Trico zu sein, denn er trug noch immer seine feine Reisekleidung. Passend zu seinem Element, schmückten aufwendige, rote Verzierungen den dunklen Stoff.

Über seinem Kopf pulsierte ein orange-rotes Licht, was ihn als Feuermagier auswies – eine starke und zugleich besonders gefährliche Form der Elementarmagie.

Brays Aufregung stieg ins Unermessliche. Sein Herz klopfte wie wild. Jemand, der sonst Gegenstand der aufregenden Geschichten am Lagerfeuer war, stand nun vor ihm.

Fenmas zog die Augen der Menschenmenge wie ein Magnet an, keiner der Anwesenden konnte den Blick von ihm lösen. Dem Feuermagier machte die große Anzahl an Menschen vor ihm scheinbar überhaupt nichts aus. Mit ausgebreiteten Armen und selbstbewusstem Gang stolzierte er aufreizend langsam an den vorderen Rand der Bühne. Dort blieb er stehen und ließ den Blick herrisch über die Menge schweifen, die sich vor ihm ausbreitete.

Bray hielt den Atem an und wartete darauf, dass der Magier die gebannte Stille auf dem Marktplatz durchbrach.

»Guten Abend, Menschen von Trico«, erhob Fenmas schließlich die Stimme. »Ich begrüße euch alle ganz herzlich zur Initiation. Wir sind heute hier, mitten im schönen Baldrusgebirge versammelt, um wieder einige junge Begabte aus eurer Mitte zu erwählen. Diese angehenden Novizen bekommen die einmalige Chance von der Gilde in der Kunst der Magie ausgebildet zu werden.« Er schlenderte von einer Seite der Bühne zur anderen. »Ich weiß, seit dem letzten großen Krieg mit den Tiermenschen scheint es so, dass die Magie in Altago schwächer wird. Lyr schenkte uns nicht mehr so viele Erwählungen wie zuvor. Einige der schlausten Köpfe wurden darauf angesetzt, das Problem zu untersuchen, aber sie können sich das Phänomen nicht erklären. So wie es aussieht, gibt es keine Erklärung für den Magieverlust in Altago. Lyr scheint davon auszugehen, dass er in nächster Zeit nicht mehr viele Magier braucht.«

Bei diesen Worten ging ein beunruhigtes Raunen durch die Menge.

Doch Fenmas sprach weiter und überging damit gekonnt die aufkeimenden Bedenken. »Gerade, weil es immer weniger Erwählungen gibt, benötigt die Gilde talentierte Novizen. Die Dunox wurden schon vor langer Zeit vernichtend geschlagen und werden so schnell nicht wiederkommen. Nichtsdestotrotz muss der Fortbestand der Gilde gesichert werden, damit auch die zukünftigen Generationen in Altago sicher leben können. Damit die Magier das Land beschützen können, wie es bereits seit jeher unsere Bestimmung ist!« Fenmas wartete geduldig, bis vereinzelte, zustimmende Rufe verklangen. »Doch genug davon. Kommen wir nun zu dem Teil des Abends, dessentwegen wir heute alle hier versammelt sind. Ich bitte nun diejenigen von euch zu mir nach vorne auf die Bühne, die bereit sind, von mir geprüft zu werden.«

Zögerlich lösten sich einige Jungen und Mädchen aus der Menge, unter denen sich auch Eila befand. Bray nahm all seinen Mut zusammen und beeilte sich, zu ihnen aufzuschließen. Nacheinander stiegen neben Bray neun weitere Jungen und Mädchen auf das Podest und stellten sich nebeneinander in eine Reihe, die Gesichter zur Menge gewandt.

Bray befand sich ganz links in der Reihe und blickte mit einem mulmigen Gefühl auf die Menschenmenge vor ihm, während Eila direkt neben ihm stand. Er fühlte sich zunehmend unbehaglich, während die Nervosität vollends von ihm Besitz ergriff. Als er zu schlucken versuchte, bemerkte er den unangenehmen Kloß, der in seinem Hals festsaß. Zu allem Überfluss fingen auch noch seine Hände an zu schwitzen. Unauffällig rieb er sie am rauen Stoff seiner Kleidung trocken.

Unsicher drehte Bray den Kopf zur Seite und sah in die Gesichter von Eila und den anderen Teilnehmern der Initiation, die ebenso aufgeregt aussahen wie er. Abermals schluckte er krampfhaft und wünschte sich, die Initiation schnell hinter sich zu bringen, um wieder von der Bühne verschwinden zu können.

Fenmas schritt langsam die Reihe der Anwärter ab und besah mit kritischer Miene jeden einzelnen Kandidaten, der auf der Bühne stand.

»Ihr wisst um die Geschichte zur Entstehung der ersten Magier?«

Bray schaute sich verunsichert in der Reihe der Prüflinge um, in der es keiner wagte, den Magier direkt anzusprechen.

Nachdem Fenmas eine Weile gewartet hatte, schüttelte er enttäuscht den Kopf und räusperte sich.

»Vor langer Zeit schufen zwei Götter unser wunderschönes Land Altago, den Himmel, die Sterne, die Gebirge, die Flüsse, die Pflanzen und all das Leben um uns herum. Die beiden Götter waren Brüder, der eine von ihnen hieß Lyr, der andere Sreng.

Um Altago mit Leben zu füllen, erdachten sich die beiden alle erdenklichen Arten von Tieren und entsandten sie in dieses Land. Darunter befanden sich sehr mächtige Tiere, wie zum Beispiel die Löwen, Tiger und die Nashörner, um einige wenige beim Namen zu nennen. Die Götter erschufen aber auch kleinere Tiere, wie die Insekten, die auf den ersten Blick schwach erscheinen, in großer Zahl jedoch unglaubliche Stärke aufweisen.

Doch trotz dieser unglaublichen Vielfalt befanden sich die Natur und die Schöpfungen der Götter im Gleichgewicht. Die beiden blickten auf die Welt herab und waren mit sich und der erschaffenen Welt außerordentlich zufrieden.«

Fenmas verstummte und ließ den Blick über die Menge schweifen, bevor er weitersprach.

»Nachdem die beiden Götter einige Zeit lang das Interesse an Altago verloren hatten, schenkte Lyr unserer Welt eines Tages seine neueste Schöpfung. Behutsam entwickelte er die Tiere weiter und stattete sie mit einem größeren Verstand aus. Er war unendlich stolz auf die neue Art, erwiesen sich die Menschen doch als um einiges schlauer als die Tiere, die auf Altago lebten. Voller Freude präsentierte Lyr seinem Bruder Sreng sein neustes Werk. Dieser war jedoch außer sich vor Wut, weil Lyr eigenmächtig gehandelt hatte. Sreng blickte voller Hass auf die neue Schöpfung und befürchtete, dass Altago nun sein Gleichgewicht verlieren würde.«

Fenmas senkte die Stimme und umkreiste Bray und die anderen Anwärter, die mit ihm auf der Bühne ausharrten, lauernd. Der Magier schien jeden Moment auszukosten und die Spannung, die in der Luft lag, zu genießen.

»Aus diesem Grund erschuf Sreng mit all der magischen Kraft, über die er gebot, eine neue Rasse, die den Menschen in nichts nachstand. Mehr noch, die Wesen sollten besser sein und Lyr vor Neid erblassen lassen. Sreng nannte sie Dunox. Bei dieser neuen Art handelte es sich um magische Mischwesen aus den mächtigsten Tieren, die sich auf Altago befanden, und den Menschen. Aber da Sreng sie im Hass erschuf, übertrug sich der Hass des Gottes unglücklicherweise auf seine Schöpfung. Das brachte die Dunox dazu, die Menschen ebenfalls abgrundtief zu verachten.«

Während dieser imposanten Erzählung herrschte auf dem Marktplatz von Trico Totenstille. Alle schienen gebannt der alten Legende zu lauschen, die Fenmas mit Inbrunst und all seiner flammenden Leidenschaft vortrug.

»Die Menschen waren den eindrucksvollen Dunox körperlich weit unterlegen, das erkannte Lyr sofort. Die Magie, die Sreng verwendete, um sie zu erschaffen, erwies sich als ein mächtiges Werkzeug. Lyr bekam Angst um seine Schöpfung und aus diesem Grund beschloss er, auch den Menschen die Magie zu schenken. Er übertrug einigen ausgewählten Menschen die Magie in Form von Elementaren, wie wir sie heute kennen. Mit dieser mächtigen Gabe sollten die Auserwählten sich und die übrigen Menschen vor den Dunox und allen Gefahren, die ihnen drohten, beschützen.« Fenmas wanderte an den Rand der Bühne und breitete die Arme aus. »Nun liebe Anwärter, liebe Bewohner von Trico und den umliegenden Weilern, ich will euch nicht länger auf die Folter spannen.«

Auf sein Kommando hin brachten zwei Helfer einen Stuhl auf die kleine Bühne. Einige aufwändige Verzierungen und Intarsien schmückten das dunkle Holz, aus dem die hohe Rückenlehne und die breiten Armlehnen gearbeitet waren. Den beiden Helfern bereitete es einige Mühe, ihn auf das Podest zu hieven.

»Nun ist es soweit. Wir wollen endlich erfahren, wen Lyr als würdig erachtet, uns und unser Land zu beschützen.«

Die Menge brach in freudigen Jubel aus.

Nachdem die Helfer den Stuhl in Stellung gebracht hatten, bedeutete Fenmas dem ersten Anwärter, der ganz rechts in der Reihe stand, sich zu setzen.

Daraufhin nahm ein kleiner, etwas untersetzter Junge vor dem Magier Platz. Er wirkte auf dem großen, prunkvollen Stuhl etwas verloren.

Alle Augen der Menge richteten sich gespannt auf den Jungen, der zusammengesunken und mit hängenden Schultern auf dem Stuhl saß. Seine Augen huschten nervös umher, bevor er sich seinem Schicksal zu ergeben schien und tiefer in die dicken Sitzpolster sank.

Fenmas stellte sich neben den eingeschüchterten Anwärter.

»Wie heißt du, mein Junge? Wen soll Lyr heute als Ersten prüfen?«

»Mein Name ist Germo«, würgte dieser mit einiger Mühe hervor.

Bray sah ihm deutlich an, dass er sich in seiner Haut nicht wohlfühlte. Die gesamte Situation schien ihn unglaublich nervös zu machen.

Im Gegensatz zu Germo wirkte Fenmas wie die Ruhe in Person. Vielleicht gefiel es ihm sogar, die Jungen und Mädchen auf der Bühne hinzuhalten und sie ein wenig zu beeindrucken.

»Willkommen, Germo. Heute werden wir mit Hilfe von Lyr herausfinden, ob du dich als würdig erweisen und somit fortan mit einem Elementar gesegnet sein wirst.« Fenmas senkte seinen Kopf und schloss die Augen.

»Und nun, lasst uns alle zu Lyr beten. Preiset ihn und bittet ihn im Namen von Germo um sein Wohlwollen«, forderte er die Menge auf.

Die Menschen auf dem Dorfplatz taten es dem Magier gleich und senkten ebenfalls die Häupter. Ein vielstimmiges Geflüster erfüllte die Luft.

Bray wusste, dass von ihm ebenfalls erwartet wurde, zu beten, doch er konnte nicht den Blick von Fenmas abwenden. Verstohlen beobachtete er den Magier und das leuchtende Elementar über seinem Kopf.

Bitte Lyr, lass mich nicht im Stich und schenke mir auch ein Elementar, bat Bray. Ich würde alles dafür tun!

Fenmas beendete sein Gebet, hob den Kopf und trat hinter Germo. Abermals schloss er die Augen und streckte die Arme auf Schulterhöhe nach beiden Seiten weit von sich. Dabei murmelte er unablässig Worte in einer Bray unbekannten Sprache. Das Feuerelementar verließ seinen Platz über Fenmas‘ Kopf und kreiste um den Magier herum. Immer schneller flog es um seine Arme und seinen Körper, sodass der Magier alsbald in einem magischen, roten Licht erstrahlte.

Immer höher hob Fenmas die Arme, bis er ruckartig seine Augen wieder aufriss. Die Iris verschwand und das Weiß der Augäpfel trat an ihre Stelle.

Bray und die Anwärter, die auf der Bühne warteten, wichen eingeschüchtert einen Schritt vor dem Magier zurück.

Währenddessen blickte Germo weiter stur auf die Menschenmenge vor ihm und schien nicht zu bemerken, was sich hinter seinem Rücken abspielte.

Allmählich senkte Fenmas die Arme über die Stuhllehne, bis seine Hände die Schultern von Germo berührten. Durch die unerwartete Berührung zuckte dieser zusammen und riss ruckartig die Augen weit auf.

Rote, magische Energie floss durch die Hände des Magiers und durchströmte Germos Körper, dessen Muskeln unkontrolliert zuckten. Bereits nach wenigen Momenten trat die Magie als farblose Schlieren aus den Poren von Germos Haut wieder aus.

Dieser krallte krampfhaft die Hände in die Seitenlehnen des Stuhls, bis seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Doch kein Laut entwich seinen zusammengepressten Lippen.

Die Magiebahnen zuckten einige endlos lange Augenblicke über Germos Haut. Dann wandelte sich ihre Farbe von farblos ins bläuliche.

Sofort nahm Fenmas die Hände von Germos Schultern und unterbrach ihre Verbindung.

Die blau schimmernde Magie trat weiterhin über die Haut des Jungen aus und waberte in zähen Schlieren gen Himmel. Dort, knapp über seinem Kopf, sammelte sie sich und verdichtete sich zu einer Sphäre, die immer weiter anwuchs. Einige Momente vergingen, während die zähen Magiefäden zerfaserten, sich auflösten und schließlich gänzlich in einer blau leuchtenden Kugel verschwanden.

Germo löste die Finger aus dem Seitenpolster des Stuhles, während seine Knie unentwegt zitterten. Er holte tief Luft und blickte zu dem leuchtenden Ball aus blauer Magie hinauf, der über ihm schwebte.

Fenmas trat neben den geschmückten Stuhl und bedeutete ihm mit einer Geste, aufzustehen. »Lyr hat deinen Weg erleuchtet. Erhebe dich als Novize der Magie. Feiert einen der zukünftigen Beschützer von Altago!«

Als sich Germo vorsichtig erhob, jubelte ihm die Menge begeistert zu. Sichtlich erschöpft hob er beide Arme und lächelte unsicher.

Nachdem der Jubel für Germo verebbt war, wiederholte Fenmas das Ritual neun weitere Male. Dabei fiel die Wahl Lyrs auf Eila und einen Jungen namens Rion, den Bray nicht kannte. Eila bekam wie Germo ein Wasserelementar, Rion dagegen ein Erdelementar. Mit vor Stolz geschwellter Brust standen die von Lyr Erwählten auf dem Podest und präsentierten sich der Menge. Die Jungen und Mädchen, die der Gott enttäuscht hatte, mussten die Bühne verlassen.

Bray betete unentwegt zu Lyr, dass er auch ihn segnen würde, während sich die Reihen der Anwärter immer weiter lichteten.

Zuletzt bat Fenmas Bray, auf dem Stuhl Platz zu nehmen. Auf seinem Weg dorthin schenkte ihm Eila einen aufmunternden Blick, der seine Nervosität jedoch nicht lindern konnte.

Mit einem mulmigen Gefühl im Magen setzte er sich auf den Stuhl und atmete tief ein. Seiner Familie zuliebe, versuchte er nicht zu zeigen, wie er sich fühlte und rang sich ein Lächeln ab.

»Kommen wir zum letzten Anwärter des heutigen Abends. Wie heißt du, mein Junge? Wen soll Lyr zum Abschluss prüfen?«, fragte ihn Fenmas, während er sich hinter ihm positionierte.

»Mein Name ist Bray«, verkündete Bray mit fester Stimme, was ihn selbst überraschte.

»Auch dich heiße ich zu deiner Initiation willkommen, Bray. Lyr wird gleich auf dich hinabblicken und entscheiden, ob du dich als würdig erweist. Bist du dazu bereit?«

Bray nickte entschlossen und bemerkte, dass sich die Hände des Magiers auf seine Schultern legten.

Sofort spürte er, wie die magischen Energien durch ihn hindurchflossen. Wie er den Anwärtern zuvor bereits angesehen hatte, erwies sich die Prozedur wirklich nicht als angenehm.

Bray fühlte sich, als wäre er nicht länger Herr über seinen Körper. Während ihn die Magie durchströmte, kribbelte sein gesamter Körper und zuckte immer wieder unkontrolliert. Es bereitete ihm einige Mühe, die Augen offen zu halten und nicht laut aufzustöhnen.

Unterdessen begann allmählich farblose Magie über seine Haut auszutreten.

Bitte Lyr, lass die Magie eine Farbe annehmen, hoffte Bray und biss die Zähne zusammen. Egal, welche.

Bray spürte, wie Fenmas die Hände fest auf seine Schultern presste. Ebenso wie der Druck der Finger verstärkte sich auch der Magiestrom, der durch seinen Körper floss.

Doch zu seiner Enttäuschung färbte sich die austretende Magie nicht ein, sondern behielt ihre Farblosigkeit bei.

Fenmas nahm die Hände von seinen Schultern und der Magiestrom verebbte.

Bray wusste, was das bedeutete. Er hatte es am heutigen Abend bereits einige Male beobachtet. Lyr schien ihn trotz seiner unzähligen Stoßgebete im Stich gelassen zu haben.

Sein Traum, ein Magier zu werden, war endgültig ausgeträumt.

Auf dem Marktplatz herrschte vollkommene Stille. Jeder der Anwesenden schien zu spüren, wie sehr Lyrs Entscheidung Bray enttäuschte.

»Leider hat Lyr dir nicht den Weg gewiesen«, sprach Fenmas zur Menge gewandt und würdigte Bray keines Blickes. »Du kannst jetzt gehen.«

In seiner Stimme befand sich keine Spur von Enttäuschung, es war eine einfache Feststellung. Durch die Ablehnung des Gottes hatte Bray für ihn scheinbar seinen Wert verloren.

»Liebe Menschen aus Trico, damit sind wir am Ende der Zeremonie angekommen«, verkündete Fenmas. »Wir haben heute beobachtet, wie Lyr drei junge Menschen aus eurer Mitte auserwählt hat. Das ist ausgesprochen viel. Die letzte Initiation, die ich durchführen durfte, brachte für keinen der Anwärter Erfolg. Doch umso mehr freue ich mich heute für die drei, die mit einem Elementar gesegnet wurden. Lyr war uns heute gewogen.« Fenmas klatschte begeistert in die Hände. »Nun lasst uns unseren Gott ehren und gemeinsam mit den Erwählten ein Fest feiern, das dem Anlass angemessen ist!«

Nach diesen Worten wurden unter lautem Jubel Tische und Bänke auf den Marktplatz gebracht. Ihnen folgten Essen und Getränke, mit denen die Menge die Initiation ausgelassen feierte. Die Menschen ließen Eila, Rion und Germo hochleben und überhäuften die drei Erwählten mit den herzlichsten Glückwünschen. Das Trio wurde zusammen mit Fenmas zum Ehrenplatz geleitet, wo die Dörfler die Erwählten aufgeregt umringten.

Niedergeschlagen senkte Bray den Blick und schlich abseits der Feiernden von der Bühne. In ihm breitete sich eine seltsame Leere aus.

»Warte«, rief eine Stimme hinter ihm, als er sich zum Gehen wenden wollte, und kurz darauf umschlangen ihn die starken Arme seines Vaters. Auch sein Bruder schloss sich der Umarmung an und drückte ihn fest an sich.

Eine Weile stand Bray da und genoss die trostspendende Nähe seiner Familie, bevor er sich von ihnen löste. Er wusste, dass sie es nur gut meinten, aber sie konnten seine Enttäuschung nicht im Mindesten lindern.

»Kommt, lasst uns gehen«, sagte sein Vater und lächelte Bray verständnisvoll zu. »Ich habe heute Nachmittag mit einem Freund gesprochen, bei dem wir übernachten können. Morgen in aller Frühe kehren wir zum Hof zurück.«

Dankbar, dass er das Fest und die Bühne hinter sich lassen konnte, nickte Bray zustimmend. Schweigend folgte er seinem Vater und seinem Bruder durch die leeren Straßen Tricos.

 

  1. Die Lawine

Bray lag rücklings auf seiner Schlafstätte und starrte an die dunkle Decke. Unzählige Fragen schwirrten in seinem Kopf herum, auf die er keine Antwort wusste.

Ist es mein Schicksal, für immer das eintönige Leben auf dem Hof meines Vaters zu führen?

Alles was er sich je gewünscht hatte, war, von Lyr auserwählt zu werden. Doch eine zweite Chance für eine magische Prüfung gab es nicht. Wen die Magie einmal ablehnte, erwies sich als nicht geeignet und musste sich damit abfinden.

Durch das Fenster, das nicht richtig schloss, hörte Bray, wie der Lärm der Feiernden nachließ. Das Fest zu Ehren der Initiierten schien bereits auszuklingen.

Neben sich vernahm er das leise Schnarchen seines Vaters und das regelmäßige Atmen seines Bruders. Doch im Gegensatz zu ihnen fand Bray keine Ruhe. Das Zimmer kam ihm viel zu klein vor, obwohl sie zu dritt bequem darin Platz fanden.

Bray beschloss an die frische Luft zu gehen, um sich die schlaflose Zeit zu vertreiben. Leise zog er seine Kleider wieder an und schlüpfte aus dem Zimmer. Er durchquerte einen schmalen, dunklen Flur und stand bald darauf unter freiem Himmel. Tief atmete er die eisige Luft ein und spürte, wie gut sie ihm tat.

Ohne ein Ziel schlenderte Bray durch die kalte Nacht und ließ gedankenversunken die letzten Häuser des Dorfes hinter sich. Rastlos folgte er dem kleinen Pfad, der weg vom Dorf und weiter in die Berge hineinführte. Die Gegend um ihn herum war herrlich abgelegen und still.

Nach einer Weile gelangte er zu einem Felsvorsprung, mit dem er besonders schöne Erinnerungen an seine Kindheit verband. Auf ihm hatte er früher stundenlang mit Eila gesessen und sich Abenteuer ausgedacht, die meist von Magiern und Elementaren handelten.

Ihre Ausflüge hatten so lange gedauert, dass sie die Zeit vergessen hatten. Irgendwann waren ihre besorgten Eltern gekommen, um sie wieder einzusammeln und sie hatten sich anhören müssen, dass sie noch zu klein für solche Abenteuer gewesen waren.

Der Felsvorsprung ragte mehrere Armlängen in eine ausladende Schlucht hinein und bot tagsüber einen traumhaften Blick über die Berge und das Tal. Nun, in der Nacht, konnte Bray die Landschaft, die sich im sanften Schein unzähliger Sterne am Fuße der Berge ausbreitete, nur erahnen.

Als er sich dem Vorsprung näherte, bemerkte er ein schwaches Flimmern, das die Umgebung in ein blaues Licht tauchte. Eine zierliche Silhouette zeichnete sich vor dem düsteren Nachthimmel ab, über ihr nichts als die funkelnden Sterne.

Mit klopfendem Herzen und angehaltenem Atem näherte sich Bray vorsichtig der Gestalt. Eine dünne Schicht Schnee knarzte leise unter jedem seiner Schritte.

Wer mag das sein?

»Hallo Bray!«, durchbrach die Gestalt die Stille, ohne ihn anzusehen. »Hör auf mit dem albernen Anschleichen und setz dich zu mir. Kannst du auch nicht schlafen?«

Bray hielt mitten in der Bewegung inne und erstarrte. Diese Stimme würde er unter tausenden wiedererkennen – sie gehörte Eila.

Er fühlte sich ertappt und schämte sich, dass sie ihn so einfach enttarnte hatte.

»Woher weißt du …«, fragte Bray leise.

»Yela hat’s mir gesagt«, erwiderte Eila.

Wie zur Bestätigung schwebte ein blaues Licht über ihren Kopf und leuchtete in einem satten Blauton auf.

Fasziniert betrachtete Bray das magische Licht, das ihn schmerzhaft an die Initiation auf dem Marktplatz erinnerte. Eigentlich hatte er gehofft, dass er nach dem heutigen Abend ebenfalls einen solchen Magieball besitzen würde.

»Yela ist dein …«, begann Bray ein weiteres Mal.

»Ja, sie ist mein Elementar.« Seine Freundin schaute hinauf und beobachtete ihn, als wolle sie abschätzen, wie er reagieren würde. Bray versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

»Ich wusste gar nicht, dass es auch weibliche Elementare gibt«, brummte er verdrossen, weil ihm nichts Besseres einfallen wollte.

Eila antwortete nichts darauf und blickte stattdessen auf die Berge vor ihnen.

»Warum bist du nicht auf dem Fest und feierst deine Initiation?«, fuhr Bray nach einer Weile mit dem Gespräch fort. »Du solltest eine der Letzten sein, die heute Abend nach Hause geht!«

»Ich weiß nicht genau«, antwortete Eila leise und zeichnete nachdenklich mit ihrem Zeigefinger ein Muster in den frischen Schnee. »Auf einmal waren so viele Leute um mich herum. Jeder hat mich beglückwünscht und wollte mit mir reden. Das wurde mir einfach zu viel. Sie haben mich beinahe erdrückt.« Sie seufzte. »Ich habe Zeit für mich gebraucht, um nachzudenken und das alles zu verarbeiten.«

Bray setzte sich im Schneidersitz neben Eila in den kalten Schnee. Die Stille und dieser Ort wirkten beruhigend auf ihn.

Beide schauten hinauf in die dunkle Nacht, eingehüllt in das zarte, leicht pulsierende Leuchten, das den ansonsten blütenweißen Schnee in ein blaues Licht tauchte.

»Wie ist es, ein Elementar zu haben?«, fragte Bray in die Stille hinein. »Wie fühlst du dich nach der Initiation?«

»Seltsam.« Ratlos zuckte Eila mit den Achseln. »Ich weiß nicht, wie ich es am besten beschreiben soll.« Sie hielt abermals inne und schien nach den passenden Worten zu suchen, bevor sie fortfuhr. »Sie spricht mit mir, Bray. Yela ist in meinem Kopf und meinen Gedanken. Daran muss ich mich erst noch gewöhnen. Sie will, dass ich nach Port Rem reise und der Gilde beitrete, damit ich meine Magie zu beherrschen lerne und sie weiterentwickeln kann.«

Das magische Licht, das schräg über Eilas Kopf schwebte, leuchtete wie zur Bestätigung einen Moment ein wenig heller.

»Dein Elementar hat Recht. Das würde ich auch tun, hätte ich so viel Glück wie du«, erwiderte Bray mit unverhohlener Bitterkeit. »Im Gegensatz zu dir kann ich mir diesen Traum nicht erfüllen. Was willst du sonst tun? Für immer hierbleiben?«

Eila löste ihren Blick von den Bergen und schaute Bray einen Moment in die Augen, bevor sie den Kopf senkte.

»Ich weiß nicht, Bray. Mir gefällt es hier in Trico sehr gut. Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht. Selbst mein Urgroßvater hat schon hier gelebt.« Unsicher schüttelte sie den Kopf. »Diese Gegend hier ist alles, was ich kenne. Ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt von hier weggehen will.«

Bray konnte nicht glauben, was er da hörte.

Wie kann sie nur in Betracht ziehen, diese einmalige Gelegenheit nicht wahrzunehmen? Sie kann schlecht weglaufen und ihr ganzes Leben irgendwo als Einsiedlerin verbringen.

Naja, kann sie schon. Mein Vater hat ja auch diesen Weg gewählt.

Bray wusste nicht viel über das Leben seines Vaters vor seiner Geburt, nur, dass sein Vater in seiner Jugend einige Zeit in Port Rem gelebt hatte, und auch, dass er sich ein Mitglied der Gilde nennen durfte. In dieser Zeit hatte sein Vater seine Mutter kennen und lieben gelernt. Doch nach der Geburt von Alrick und dem Tod seiner Mutter, hatte sein Vater den Süden verlassen und war wieder zu seinen Eltern in die Berge, nach Trico gezogen.

Irgendwo hinter Bray ertönte ein leises, krachendes Geräusch, auf das ein anhaltendes Grollen folgte. Zunächst hörte er es kaum, doch das Grollen wurde rasch lauter und gewann zunehmend an Kraft.

»Hörst du das auch?«, fragte er besorgt und schaute sich misstrauisch um. Alle seine Sinne signalisierten ihm, dass etwas nicht stimmte.

Eila legte den Kopf schief und lauschte ebenfalls. Dann wandte sie sich um und ihre Augen weiteten sich.

Bray folgte ihrem Blick und sah es ebenfalls.

Auf den Hängen des Bergs über ihnen löste sich die Schneedecke und rollte rasend schnell auf sie zu.

»Lauf Bray!«, schrie Eila panisch und sprang auf.

Auch Bray war mit einem Satz auf den Beinen und folgte Eila, so schnell er konnte. Sie rannte bereits mit einigem Vorsprung den Pfad entlang, der hinunter ins Dorf führte.

Ihre Füße umspielte ein seltsames, blaues Leuchten. Bray glaubte zu erkennen, dass sie nicht im Schnee einsank, sondern einfach darüber lief, weswegen sie schon nach kurzer Zeit den Abstand zu ihm vergrößerte.

Bray stolperte ungelenk durch den Schnee und verfluchte ununterbrochen das gefrorene Nass. Mehrmals drohte er auszurutschen und hielt nur unter größter Mühe das Gleichgewicht. Den Rückstand zu seiner Freundin aufzuholen, gestaltete sich unter diesen Umständen als ein aussichtsloses Unterfangen.

»Warte«, keuchte Bray zwischen zwei Atemzügen. »Du bist zu schnell.«

Er sah, wie Eila sich umdrehte und einen Schritt auf ihn zulief, doch es war bereits zu spät.

Die Lawine rollte unaufhaltsam heran und brach mit der Macht einer wütenden Naturgewalt über ihn herein.

»Hilfe!«, schrie Bray verzweifelt, doch die dicke Schneeschicht erstickte jeden Laut.

Die Lawine riss ihn mit sich und zog ihn unerbittlich den Berg hinunter. Die Welt drehte sich unaufhörlich. Mal sah er die leuchtenden Sterne am dunklen Himmel, während kurz darauf weißer Schnee sein Sichtfeld erfüllte.

Sein linker Arm prallte auf etwas Hartes und ein stechender Schmerz durchfuhr seinen Körper. Die Schneemassen schleuderten ihn erbarmungslos herum und pressten ihm die Luft aus den Lungen. Hilflos schnappte er nach Luft, um seine brennende Lunge zu füllen, doch er sog lediglich Pulverschnee ein, der sogleich einen krampfhaften Hustenanfall auslöste.

Nach einer endlos langen Zeit spürte Bray, wie die Lawine an Kraft verlor. Er hoffte schon, sie mehr oder weniger unbeschadet überstanden zu haben, als er inmitten der wirbelnden Schneemassen mit seinem Hinterkopf hart gegen einen Felsen prallte und das Bewusstsein verlor.

 

 

 

Bray erwachte und bemerkte sofort den blutigen Geschmack in seinem Mund. Angestrengt kniff er die Augen zusammen und starrte in die um ihn herum herrschende Dunkelheit, doch er konnte sie nicht durchdringen.

Was ist geschehen?, versuchte er benommen, sich zu erinnern. Wo, bei Lyr, bin ich?

Suchend tastete er mit den Fingern über seinen schmerzenden Hinterkopf. Er zuckte erschrocken zurück, als sie auf eine riesige Beule stießen.

Die Lawine, fiel es ihm schlagartig wieder ein. Wo ist Eila? Hoffentlich geht es ihr gut!

Er würde es sich nicht verzeihen können, wenn ihr etwas geschehen wäre.

Da er in der Dunkelheit nichts erkennen konnte, tastete Bray zur Orientierung vorsichtig um sich. Doch in welche Richtung er seine Hände auch ausstreckte, seine Finger trafen jedes Mal auf kalten, nassen Schnee. Es fühlte sich an, als hätten die Schneemassen einen Hohlraum geschaffen, der ihn gänzlich umschloss und jegliches Licht von außen abschottete.

Ein panisches Gefühl drohte von ihm Besitz zu ergreifen, doch er zwang sich dazu, es niederzukämpfen und sich stattdessen lieber auf die positiven Aspekte zu konzentrieren. Dank Lyr war er noch in der Lage zu atmen und der Schnee hatte ihn noch nicht zu einer Statue gefroren.

Was nicht ist, kann ja noch werden, dachte Bray spöttisch.

Er legte den Kopf schief und versuchte, etwas zu hören, was ihm Hinweise darauf geben würde, wie er aus seinem Gefängnis entkommen konnte. Doch der Schnee erstickte gänzlich alle Geräusche um ihn herum.

»Hallo!«, schrie er in die Stille hinein. »Ist da wer? Kann mich irgendjemand hören? Eila? Bist du da?«

Panisch rief Bray immer wieder um Hilfe, während er, in der Hoffnung der formlosen Schwärze eine Kontur zu verleihen, um sich tastete.

Dabei machte sich Brays Oberarm mit einem schmerzhaften Stechen bemerkbar. Undeutlich erinnerte er sich, mit seinem Arm gegen etwas geprallt zu sein, als die Lawine ihn mitgerissen hatte.

Prüfend vollführte er mit dem lädierten Arm eine kreisende Bewegung. Währenddessen fuhr er mit der anderen Hand über die schmerzende Stelle und stellte erleichtert fest, dass der Knochen nicht gebrochen war. Trotzdem tat sein Arm bei jeder Bewegung höllisch weh. Vorsichtig grub er die Finger seines unverletzten Arms über seinem Kopf tief in den kalten Schnee. Feine Flocken rieselten auf ihn herab, als ein großes Stück aus der gefrorenen Schneedecke brach. Von seinem Erfolg beflügelt, stellte er sich auf und schaufelte immer weiter, bis der Schnee über ihm nachgab und herunterfiel. Seine eisigen Finger spürten, wie ein leichter Windhauch um sie herumstrich. Das wenige Licht, das durch die entstandene Öffnung zu ihm drang und durch den weißen Schnee reflektiert wurde, stach schmerzhaft in seinen Augen.

Vielleicht eine Höhle, überlegte er. Vielleicht gibt es doch noch Hoffnung, aus diesem Gefängnis zu entkommen.

Langsam gewöhnten sich Brays Augen an das vorherrschende Dämmerlicht und Erleichterung erfüllte ihn. Immerhin hatte ihm die Lawine nicht das Augenlicht geraubt.

Jetzt, da er wieder etwas sehen konnte, untersuchte Bray seinen Arm weiter. Vorsichtig schob er die Lage Kleidung zur Seite, die über der verwundeten Stelle lag. Als er sie freilegte, stellte er fest, dass der schmerzende Bereich dunkel verfärbt war. Seine Haut wies einige Abschürfungen auf, aber die Wunde blutete nicht.

Wohl nur eine starke Prellung. Schmerzhaft, aber irgendwie muss es gehen.

Er beschloss, den Arm so wenig wie möglich zu bewegen.

Bray blickte sich erneut in seinem Gefängnis um. Die Wände um ihn herum bestanden tatsächlich aus Eis. Als er nach oben schaute und die Augen zusammenkniff, erkannte er das Funkeln unzähliger Sterne.

Wohl doch keine Höhle, schlussfolgerte er und seufzte. Wieviel Zeit mag wohl seit der Lawine vergangen sein? Ist es noch immer die Nacht der Initiation oder liege ich bereits seit Tagen hier unten?

»Wenigstens werde ich nicht ersticken«, murmelte er leise, um sich aufzumuntern.

Erst nachdem Bray wieder seine Zunge bewegte, bemerkte er, dass sie sich geschwollen anfühlte. Vorsichtig fühlte er nach ihr. Er musste sich bei dem Aufprall auf den Hinterkopf seine Zunge zwischen den Zähnen eingeklemmt haben. Das erklärte auch, warum er noch immer diesen blutigen Geschmack im Mund hatte.

Doch auch bei seiner Zunge schien er Glück im Unglück gehabt zu haben. Sie schien nicht ernsthaft verletzt zu sein. Wäre er bei seinem Sturz ein wenig stärker mit seinen Kiefern zusammengeschlagen, hätte er seine Zunge sicherlich abgebissen.

Gegen den Durst und den Blutgeschmack nahm er ein wenig Schnee und aß ihn vorsichtig. Sobald der Schnee seine Zunge berührte, schmolz er und er trank gierig das erfrischende Wasser. Schnell nahm er eine weitere Hand voll Schnee, presste ihn zu einer Kugel und schob sie sich ebenfalls in den Mund.

Die Kälte des Schnees ließ seine Mundhöhle taub werden und noch weiter auskühlen, doch er war so durstig, dass er die Kälte gerne in Kauf nahm.

Bray legte vorsichtig die Arme um sich und zog seine Jacke fester. Trotz seiner dicken Winterkleidung spürte er das Eis um sich herum immer deutlicher. Die Kälte fraß sich langsam, aber unaufhörlich in seine Knochen. Zaghaft, um seinen schmerzenden Arm nicht zu sehr zu belasten, rieb er seine Hände aneinander. Doch seine Versuche, ein wenig Wärme in seinem Körper zu erzeugen, blieben erfolglos.

Mit der Zeit nahm Bray seine Umgebung immer besser wahr. Offensichtlich hatten die Schneemassen ihn nicht in eine Höhle, sondern in eine Gletscherspalte gedrückt – noch dazu in eine sehr hohe Gletscherspalte. Er schätzte, dass sie mindestens dreimal so hoch, wie er groß war. Sein Gefängnis erwies sich als derart schmal, dass er mit seinen ausgestreckten Armen beide Wände bequem berühren konnte. Unter dem Schnee schimmerte raues Felsgestein hindurch.

Das brachte Bray auf eine Idee. Möglicherweise konnte er aus seiner misslichen Situation entkommen, wenn er die Spalte hinaufkletterte.

So schwer kann das nicht sein.

Entschlossen setzte Bray einen Fuß auf einen kleinen Vorsprung in der Felswand und prüfte vorsichtig, ob dieser sein Gewicht trug. Als er sich sicher war, dass der Vorsprung nicht abbrechen würde, suchte er mit dem anderen Fuß an der gegenüberliegenden Wand Halt. Mit den Armen stützte er sich über seinem Kopf ab und tastete vorsichtig nach weiteren Erhebungen, die er für seinen Aufstieg in die Nacht nutzen konnte.

Sein Arm schmerzte, doch Bray biss tapfer die Zähne zusammen. Mit jedem Schritt, den er tat, fanden seine Füße ein wenig höher in der Felswand Halt. Immer wieder prüfte er, ob seine Füße sicher standen, während er sich mit seinen Händen an die eisigen Wände krallte.

Der Aufstieg erwies sich als unglaublich anstrengend. Bray schürfte sich mehrmals seine Hände an dem rauen Gestein auf, doch er kletterte langsam, aber beharrlich, Stück für Stück, die Spalte hinauf.

Gerade als er wieder mit einer Hand umgreifen wollte und sein Gewicht verlagerte, verlor sein linker Fuß an der vereisten Felswand den Halt und rutschte ab.

Schnell versuchte Bray sich irgendwo festzuklammern, doch seine Finger glitten ab. Nach einem kurzen Sturz landete er unsanft auf dem harten Boden.

Enttäuscht schlug Bray mit seiner flachen Hand auf das Felsgestein. Er war noch lange nicht bereit aufzugeben.

Doch auch die nächsten beiden Versuche, die Spalte zu erklimmen und aus seinem unfreiwilligen Gefängnis zu entkommen, blieben erfolglos. Seine Hände brannten von unzähligen feinen Schnitten, während seine tauben Fingerkuppen ihn immer wieder abrutschen ließen.

Allmählich wuchsen die Verzweiflung und die Frustration über seine ausweglose Lage.

Soll es wirklich so mit mir zu Ende gehen?, fragte sich Bray verzweifelt. Es muss doch einen Weg geben, aus der Spalte zu entkommen.

Die diversen Fehlversuche hatten ihn viel Kraft gekostet. Durch das Klettern schwitze er so stark, dass die Kälte nur noch unerbittlicher durch seine Kleidung drang und der Schnee langsam, aber stetig, die Lebensenergie aus ihm heraussog.

Was würde er nur dafür geben, in dieser Situation ein Luftelementar zu besitzen. Das magische Wesen würde ihn auf der Stelle hier herausbefördern. Oder er würde das Elementar einfach aussenden, um Hilfe zu holen und denjenigen, die ihn hoffentlich suchten, den Weg zu weisen.

Fenmas ist an allem schuld, dachte Bray finster. Wenn sich dieser arrogante Magier nur ein bisschen mehr angestrengt hätte, hätte ich auch ein Elementar bekommen und das alles wäre nicht geschehen. Dann wäre ich nicht nochmal auf den Berg hinausgegangen, sondern hätte mit den anderen auf dem Fest gefeiert.

Bray spann den Gedanken weiter und kam zu dem Schluss, dass nicht Fenmas die volle Schuld dafür trug – das eigentliche Problem war Lyr. Wenn er Fenmas Glauben schenkte, wählte doch dieser verdammte Gott aus, welcher der Anwärter sich der Magie würdig erwies und welcher nicht.

Lyr, was habe ich dir nur getan, dass du dieses Schicksal für mich auserwählt hast?

In solch düstere Gedanken versunken rollte er sich auf dem Boden zusammen und hauchte in seine Hände, verzweifelt darum bemüht, etwas Wärme in seine, mittlerweile steif gefrorenen, Finger zu bekommen.

Erschöpft schloss Bray die Augen und fiel Augenblicke später in einen unruhigen Schlaf.

 

 

 

Stimmen, dachte Bray hoffungsvoll. Da sind Stimmen. Ganz eindeutig.

Er öffnete die Augen und schaute gen Himmel, in die Richtung, aus der die Geräusche kamen.

»Hallo, ist da jemand?«, rief er hoffnungsvoll. »Ich bin hier! Hier unten!«

Während Bray unablässig rief, kamen die Stimmen näher. Er mobilisierte seine letzten Kräfte, sprang in der engen Gletscherspalte herum und rief wieder und wieder. Die Menschen, zu denen die Stimmen gehörten, sollten keine Chance bekommen, aus Versehen sein Gefängnis zu verpassen.

Endlich komme ich hier raus!

Er schaute wieder nach oben und sah die Sterne in einer klaren Nacht am Himmel funkeln. Das weiße Eis der Spaltöffnung rahmte das längliche, an einen Blitz erinnernde Bild ein, das sich ihm vom Boden der Felsspalte bot.

In diesem Moment schob sich ein riesiger Stierkopf mit langen, gewundenen Hörnern vor den Himmel und verdunkelte die Sterne. Er besaß ein glänzendes, schwarzes Fell, dass sich kaum vor dem dunklen Himmeln abhob. In den Nüstern schimmerte ein dicker metallener Ring im schwachen Licht der Sterne. Riesige rote Augen, die aussahen, als bestünden sie aus glühenden Kohlen, starrten Bray voller Hass an.

Ein Stier hier oben in den Bergen? Das kann nicht sein. Panik überfiel Bray, während seine Gedanken rasten.

Den Kopf starr auf diese hypnotischen Augen gerichtet, rutschte er langsam zurück, bis er mit dem Rücken an den hinteren Teil der Spalte stieß.

Der glänzende Stierkopf gewann rasch an Größe und schien die Spalte zu ihm hinab zu schweben. Er kam immer näher, riss das Maul auf und lachte ein gehässiges Lachen.

Die scharfen Zähne flogen rasend schnell auf Bray zu. Aus dem weit aufgerissenen Schlund schoss warmer, übelriechender Atem in sein Gesicht.

Bray fing an zu schreien.

 

 

 

Mit klopfendem Herzen und aus voller Kehle kreischend, erwachte Bray. Hastig schlug er die Augen auf und blickte sich um. Alles war wieder ruhig, kein psychotisches Lachen drang an seine Ohren.

Panisch schaute er nach oben, um sich ganz sicher zu sein. Dort befand sich auch kein Stierkopf mehr, der mit glühenden Augen auf ihn herabstarrte.

Ein Traum, dachte Bray erleichtert und atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Es war alles nur ein Traum.

Seufzend setzte er sich auf und löschte seinen Durst mit einer Hand voll Schnee. Sein Oberarm zwickte unangenehm und er zitterte am gesamten Körper. Die Freude darüber, noch am Leben zu sein, verschwand und wich Ernüchterung.

Zum wiederholten Mal zog er seinen Mantel fester um sich, bildete mit den Handflächen einen Hohlraum und hauchte seinen Atem hinein. Danach rieb er sie fest aneinander und spürte, wie sie sich erwärmten.

Um gegen die klirrende Kälte anzukämpfen, ging er die paar Schritte von einer Seite der Spalte zur anderen hin und her. Sein Atem bildete weiße Wolken, die sich langsam von seinem Mund lösten und nach oben in Richtung Freiheit flogen.

Warum kann ich nicht so leicht sein wie diese Wolken?, fragte er sich, während er ihnen sehnsüchtig hinterher blickte. Dann wäre ich längst hier hinausgeflogen.

Er schien nicht lange geschlafen zu haben, denn die Sterne funkelten noch immer über ihm. Sie waren für ihn genauso unerreichbar wie das Ende der Gletscherspalte.

Bray fürchtete sich davor, wieder einzuschlafen. Auf die scheußlichen Träume konnte er getrost verzichten. Außerdem wusste er nicht, ob er bei diesen extremen Temperaturen am nächsten Morgen wieder aufwachen würde. Doch seinen Körper auf Temperatur zu halten, erschöpfte ihn derart, dass Bray ununterbrochen die Augen zufielen.

Ich verfluche dich, Lyr. Alles, was ich jemals wollte, war dir als Magier zu dienen, dachte er verbittert. Und so wird es mir gedankt?

Umständlich versuchte er, sich hochzustemmen, um ein wenig umherzulaufen, doch sein Körper folgte seinen Befehlen nicht mehr. Taubheit breitete sich in seinen Füßen aus, sprang auch auf seine Hände über und trieb sämtliches Gefühl aus ihnen hinaus.

Wo bleibt Eila nur so lange? Sie hätte mich schon längst finden müssen. Zitternd hauchte Bray abermals in seine Hände. Sie hat doch gesehen, wie ich mitgerissen wurde. Mit ihrem Elementar hatte sie bestimmt keine Probleme, der Lawine zu entkommen. Ich hasse sie dafür!

Nein, ich kann sie nicht wirklich hassen, dachte Bray wenige Augenblicke später reumütig. Das hat sie nicht verdient.

Allmählich forderte die klirrende Kälte ihren Tribut. Er konnte die Augen nicht länger offenhalten, seine Lider fühlten sich unvorstellbar schwer an.

So sehr er sich auch dagegen wehrte, seine Gedanken drifteten ab und entschwanden ihm schließlich gänzlich.

 

 

 

 

 

 

  1. Zum Schwertdegen

Als Bray erwachte, erfüllte ihn eine wohlige Wärme. Widerwillig öffnete er die Augen. Noch trunken von einem tiefen Traum, nahm er um sich herum einen roten Schimmer wahr. Die gesamte Gletscherspalte leuchtete in einem sanften Licht. Direkt vor ihm schwebte ein magisches, rotes Licht – ein Elementar. Schlagartig verstand er, woher die Wärme kam. Um ihn herum begann das Eis langsam zu schmelzen, sodass sich um seine Füße kleine Pfützen bildeten.

Was, beim verdammten Sreng, ist denn hier los? Wie kommt dieses Elementar hierher?

Fasziniert starrte Bray den roten, schwebenden Ball aus magischer Energie an und streckte vorsichtig die Hand nach der Lichtkugel aus. Er wollte sie berühren und sichergehen, dass ihm seine Fantasie nicht wieder einen Streich spielte. Je näher er der Kugel kam, desto mehr Wärme spürte er an seinen Fingerspitzen. Aber kurz bevor er das Licht berühren konnte, wich es vor ihm zurück.

Bei Lyr, das muss wirklich ein Elementar sein, dachte Bray erstaunt. Was könnte es auch sonst sein? Die Frage ist nur, zu wem es gehört.

»Wer hat dich geschickt? Was willst du hier?«, fragte Bray die rote Lichtkugel. »Kannst du mich hier herausholen?«

Erschrocken zuckte er zusammen, als in seinem Kopf eine Stimme erklang.

Ich bin Viur, flüsterte sie. Ich wurde zu diesem Ort gesandt, um dir zu helfen.

Argwöhnisch schaute Bray sich um. Er saß noch immer in der Gletscherspalte fest und er sah niemanden, der gekommen war, um ihn zu retten. Die Stimme musste zu dem pulsierenden Magieball gehören.

»Um mir zu helfen?«, echote er. »Aber wie kann das sein? Hat Eila endlich Hilfe holen können? War sie es, die dich zu mir geschickt hat?«

Du wurdest ausgewählt, Bray, ignorierte die Stimme seine Frage und das rote Leuchten intensivierte sich. Es war nicht dein Schicksal an diesem Ort, in dieser Kälte zu sterben. Es scheint, als hätte Lyr etwas Anderes mit dir vor.

»Was bedeutet das?« Verwirrt kratzte Bray sich am Hinterkopf. »Du kannst mich hier nicht sterben lassen? Und warum kann ich überhaupt mit dir reden?« Bray stockte der Atem, als ein Gedanke durch seinen Verstand zuckte. »Bedeutet das, du bist jetzt mein Elementar?«

Ja, so ist es, bestätigte Viur. Von nun an werde ich dir dienen so lange du lebst.

Ungläubig starrte Bray Viur an.

»Aber wie kann das sein?«, stammelte er nach einer Weile. »Ich habe noch nie davon gehört, dass jemand außerhalb der Prüfung von einem Elementar ausgewählt wurde.«

Nur weil du noch nicht davon gehört hast, bedeutet das noch lange nicht, dass es nicht schon vorgekommen ist.

Bray meinte eine gewisse Belustigung in seinen Gedanken zu spüren. Kurzerhand beschloss er, dem Elementar zu vertrauen. Und sei es nur, weil er sich wünschte, dass die Geschichte wahr war.

»Ich kann es nicht glauben, ein echtes Elementar! Kannst du uns hier rausbringen?«, fragte Bray hoffnungsvoll. »Obwohl hier unten mittlerweile ganz angenehme Temperaturen herrschen, möchte ich doch gerne von hier verschwinden.«

Na klar! Ich habe eine Idee, wie wir das tun können. Vertrau mir!

Die magische Kugel schwebte an eine Stelle der Spalte, an der eine dicke Schicht aus Eis das Felsgestein überlagerte. Bray beobachtete sie fasziniert und spürte, wie Viur seine Temperatur erhöhte. Das Elementar strahlte so viel Hitze ab, dass die Eisschicht an der Felswand innerhalb von wenigen Momenten schmolz. In kleinen Rinnsalen floss das Tauwasser auf den Boden der Gletscherspalte, wo es wieder gefror.

Bray ahnte, was das Elementar vorhatte. Seine Füße würden ohne das Eis besseren Halt in den tieferen Vorsprüngen im Fels finden.

Nachdem Viur sein Werk beendet hatte, kletterte er vorsichtig in die Freiheit. Ohne das tückische Eis gelang ihm der Aufstieg mit traumwandlerischer Sicherheit. In seinem Arm pulsierten zwar stechende Schmerzen, doch er biss die Zähne zusammen und blendete sie, so gut es ging, aus.

Als Bray sich endlich aus der Spalte befreit hatte, sank er vor Freude auf die Knie.

Wir haben es überstanden, Viur!

Erleichtert schaute er sich um. Es war früh am Morgen, die Sonne stand noch nicht hoch am Himmel. Eine dicke Schneedecke, die ihm bis zur Brust reichte, verbarg die Landschaft um ihn herum. Bray versuchte, sich an den Bergen zu orientieren und meinte, einen von ihnen an der charakteristischen Form zu erkennen. Er sah aus wie eines der umgedrehten Trinkhörner seines Vaters.

»Ich glaube, ich weiß in welche Richtung wir gehen müssen.« Er deutete mit ausgestrecktem Finger auf das riesige Felsmassiv. »Da entlang! Trico liegt in dieser Richtung.«

Folge mir, forderte Viur ihn auf. Ich bahne dir den Weg.

Bray spürte, wie das Elementar abermals seine Temperatur erhöhte und vor ihn flog. Kurz darauf begann der hohe Schnee um Viur herum zu schmelzen. Auf diese Weise ebnete ihm das magische Wesen einen Weg, dem Bray bereitwillig folgte.

 

 

 

Als Bray sich Trico näherte, hörte er jemanden seinen Namen rufen. Es war Eila, wie er mit einiger Freude feststellte.

Ohne im Schnee einzusinken, lief sie leichtfüßig über ihn, ganz so wie in der Nacht des Unglücks, während das blaue Leuchten ihres Elementars sie begleitete.

Eila schien einen Moment zu zögern, als sie das rote Leuchten bemerkte, dass über ihm schwebte und ihre Augen weiteten sich. Doch dann war sie auch schon heran und schloss ihn fest in ihre Arme.

Bray erwiderte zärtlich die ungestüme Umarmung und legte zufrieden sein Kinn auf den Kopf der etwas kleineren Eila. Als sie seinen geprellten Arm berührte, biss er die Zähne zusammen. Er wollte diesen Augenblick unter keinen Umständen zerstören. Schon als er noch in der Felsspalte gefangen gewesen war, hatte er sich nach diesem Moment gesehnt.

»Ich habe nicht daran geglaubt, dich nochmal wiederzusehen«, flüsterte Eila leise in sein Ohr. »Wie hast du es nur so lange in dieser Kälte ausgehalten? Du warst so lange weg. Wir haben die Hoffnung schon beinahe aufgegeben.«

Einen Moment noch kostete Bray die Umarmung aus, bevor er sich behutsam von seiner Freundin löste.

»Mir ist jemand zu Hilfe gekommen«, erwiderte Bray und trat einen Schritt zur Seite, sodass Eila die rötliche, pulsierende Magiekugel sehen konnte.

Stolz deutete er auf Viur. »Darf ich vorstellen? Das ist Viur. Er ist mein Elementar.«

Verwundert schaute Eila Viur an, als versuche sie, zu begreifen, was sie gerade gehört hatte.

»Aber wie ist das möglich? Du hast doch bei der Initiation gar kein Elementar bekommen.«

»Das weiß ich selbst nicht«, gestand Bray und hob entschuldigend die Achseln. »Alles, was ich weiß, ist, dass ich in einer Gletscherspalte aufgewacht bin und er dann vor mir schwebte. Stell dir vor, Viur hat mir das Leben gerettet! Ohne ihn wäre ich jämmerlich erfroren.« Erleichtert lächelte er. »Ich bin ja so glücklich dich zu sehen. Das ist das Einzige, was zählt.«

»Dann danke ich ihm von ganzem Herzen, dass er dich gerettet hat!«, entgegnete Eila und strahlte über das gesamte Gesicht. »Komm, lass uns ins Dorf gehen. Es sucht dich schon jeder überall.«

Gemeinsam setzten sie ihren Weg durch den Schnee fort.

»Wieso bist du nicht von der Lawine mitgerissen worden?«, fragte Bray nach einer Weile. »Ich habe genau gesehen, wie die Lawine uns beide erwischt hat. Aber während ich mitgerissen wurde, ist dir offensichtlich nichts geschehen. Wie ist das möglich?«

Eila erwiderte seinen Blick und lächelte schelmisch, bevor sie antwortete. »Hat du vergessen, dass ich jetzt ein Wasserelementar besitze? Yela hat mich gerettet, aber ich glaube, sie weiß selbst noch nicht genau, wie sie das angestellt hat.«

Bray nickte. »Ich bin jedenfalls erleichtert, dass sie jetzt auf dich aufpasst!«

 

 

 

Vor den ersten Häusern Tricos warteten sein Vater und Alrick schon ungeduldig auf Bray. Als sein Vater ihn sah, lief er ihm entgegen und schloss ihn wortlos in seine muskulösen Arme. Kurz darauf folgte sein Bruder und umschlang ihn ebenfalls.

»Halt, nicht so fest«, protestierte Bray erschöpft. »Mein Arm tut höllisch weh. Den habe ich mir an einem Felsen angeschlagen.«

»Ich bin ja so froh, dass du wieder da bist, mein Junge!«, beteuerte Brays Vater, nachdem er ihn auf Armeslänge von sich geschoben hatte, um ihn genauer zu betrachten. Nach einer eingehenden Untersuchung schüttelte sein Vater unmerklich den Kopf und schaute Bray vorwurfsvoll an. »Du siehst ziemlich ausgelaugt aus, mein Sohn. Ich würde vorschlagen, wir gehen ins Gasthaus und essen erstmal etwas Warmes, damit du wieder zu Kräften kommst. Danach hast du uns wohl Einiges zu erzählen.« Er schaute vielsagend zu Viur, der über Brays Schulter schwebte.

»Das musst du mir nicht zweimal sagen«, erwiderte Bray voller Vorfreude. »Ich sterbe vor Hunger!«

Auf dem Weg zum Gasthaus fiel ihm auf, wie ihn die Dorfbewohner anstarrten. Überall, wo er vorbeiging und die Menschen ihn sahen, steckten sie sofort ihre Köpfe zusammen und flüsterten leise miteinander.

Die Leute fragen sich bestimmt, woher ich dich habe, Viur, dachte Bray unbehaglich. An dem Abend der Initiation haben alle gesehen, wie Lyr mich abgelehnt hat.

Lass sie reden, sprach Viur ihm Mut zu. Sie sind alle nur neidisch auf dich.

Bray beschloss, auf sein Elementar zu hören und sich von den fragenden Blicken nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Sollten sie ihn doch alle beobachten und über ihn tuscheln. Er war unbändig stolz darauf, dass Lyr ihn nun doch erhört und ihm nachträglich ein Elementar geschenkt hatte.

 

 

 

Der Schwertdegen war speziell. Anders konnte Bray das Gasthaus von Trico nicht beschreiben. Die Inneneinrichtung war rustikal, es gab eine lange Bar, vor der einige Gestalten herumlungerten. Vor ihnen stand ein Bier oder ein Schnaps, den sie mit grimmigem Blick hinunterstürzten, nur um sich sofort danach einen weiteren zu bestellen.

Im Schankraum selbst standen einige aus Eichenholz geschnitzte Tische mit den dazugehörigen Bänken.

Das alles war nun wirklich nichts Besonderes für einen Gasthof. Bis hierhin konnte der Schwertdegen auch überall sonst in Altago stehen. Die außergewöhnliche Dekoration verlieh diesem Gasthaus eine ganz besondere Anmut.

Von den Wänden blickten Bray abgeschlagene Dunoxköpfe entgegen, die den Schwertdegen wie eine Jagdhütte wirken ließen. Zu der Sammlung gehörten allerlei Arten von grotesken Mischungen – Widder, Antilope, Panther, sogar einen Tiger sah Bray. Ausgestopft und präpariert, waren ihre Gesichter zu furchteinflößenden Grimassen verzerrt, die selbst nach dem Tod noch voller Hass auf die Menschen im Gasthaus hinabblickten. Ein weitgereister Gast, der den Schwertdegen nicht kannte und auch nicht wusste, dass diese Dunox bereits seit langer Zeit nicht mehr lebten, hätte durchaus meinen können, dass sie jeden Moment von der Wand springen und sich auf die friedlich Speisenden stürzen würden, um sie in Stücke zu reißen.

Über die abgeschlagenen Dunoxköpfe erzählten die Einwohner von Trico viele Geschichten, davon eine abenteuerlicher als die andere. Doch diese Geschichten besaßen alle eine Gemeinsamkeit: Sie handelten ausnahmslos von Yorick, dem Wirt des Schwertdegens.

Den Erzählungen nach hatte Yorick den Wandschmuck mit Hilfe seines Luftelementares eigenhändig zusammengetragen. Als junger Magier war er durch die Grenzregionen des Landes gereist und hatte sich als Kopfgeldjäger verdingt. Damals waren die Dunox noch eine ernstzunehmende Plage gewesen. Aus diesem Grund hatte die Magiergilde auf die Ergreifung von Dunox ein nicht unerhebliches Kopfgeld ausgesetzt, sodass sich die Jagd nach Dunox ausgesprochen lohnte, wenngleich sie sehr gefährlich gewesen war. Nur ein mächtiger Magier verfügte über die Fähigkeiten, diese Kreaturen überhaupt zu besiegen, und dann auch nur, wenn er sie allein stellte. Gegen eine Horde von Dunox hätte selbst Yorick zu seinen besten Zeiten wohl seine Schwierigkeiten gehabt.

Früher waren viele überhebliche Magier im Kampf gegen die Dunox gestorben, weil sie ihre Fähigkeiten zu sehr überschätzt hatten. So gab es nicht mehr sehr viele von ihnen, die heute noch lebten, um mit ihren Geschichten zu prahlen.

Aber Yorick tat es, denn er hatte all seine Kämpfe überlebt. Er hatte zwar einige Narben davongetragen und besaß nicht mehr all seine Finger, doch das schien ihn nicht besonders zu stören. Er trug diese Erinnerungen mit Stolz. Bray schätzte, dass er etwas älter war als sein Vater. Dennoch erfreute er sich bester Gesundheit und jeder kam dank seiner herzlichen Art immer wieder gerne in den Schwertdegen.

Zu dieser Stunde war der Gasthof gut besucht und ein monotones Stimmengewirr erfüllte den Raum. Zwischen den Tischen liefen die Bedienungen mit vollen Tabletten geschäftig umher. Aus der Küche roch es wunderbar nach allen möglichen Speisen, die Brays Magen zu einem lauten Grummeln verleiteten.

Er ließ sich zusammen mit seinem Vater, seinem Bruder und Eila an einem der Tische des Gasthauses nieder und berichtete ihnen, wie er mit Hilfe von Viur aus der Schlucht entkommen war. Sie alle hörten aufmerksam zu, als er seine Geschichte erzählte. Gerade als er seinen Bericht beendete, brachte eine Bedienstete das bestellte Essen an ihren Tisch.

Auf einer hölzernen Platte lag ein herrlich duftender Braten, den Bray bei seinem Appetit auch gut allein hätte verspeisen können.

»Nun erzähl doch mal, Bray, wie ist das möglich?«, begann sein Vater nach einigem Nachdenken. »Ich habe noch nie davon gehört, dass jemand außerhalb der Prüfung von einem Elementar erwählt wurde.«

Bray zuckte mit den Achseln. »So ganz verstehe ich das auch nicht. Es ist verrückt! Als ich in der Felsspalte wach geworden bin, schwebte Viur einfach vor mir.«

Der Tisch, an dem die Vier saßen, befand sich in unmittelbarer Nähe zur Bar hinter der Yorick arbeitete.

»Ihr habt es vielleicht nicht, aber ich habe schon einmal von einem solchen Fall gehört!«, warf der Wirt ein, der die Geschichte verfolgt zu haben schien. »Zugegeben, es kommt nicht sehr häufig vor und es ist gewiss lange her, dass eine Erwählung außerhalb der Prüfung stattgefunden hat, aber unmöglich ist es nicht.« Verschwörerisch lächelte der Wirt Bray an, während er um die Theke herumging und sich ihnen näherte. »Die Leute sagen, die Magier, denen das geschieht, werden besonders mächtig sein, weil sie dadurch eine andere, eine stärkere Beziehung zu ihrem Elementar aufbauen.«

Brays Augenbrauen wanderten in die Höhe. »Wie kommt es, dass nur du davon weißt?«, fragte er den Wirt mit skeptischem Blick.

Auch die anderen in der Runde schienen noch nicht vollständig überzeugt zu sein. Schließlich hatte doch Yorick diese Geschichte zum Besten gegeben und jeder wusste, was die Leute über ihn sagten. Seine Erzählungen waren meist mit Vorsicht zu genießen, da er die Wahrheit gerne zu seinen Gunsten verbog.

»Na, wenn ihr mir nicht glaubt, dort hinten sitzt Fenmas.« Yorick deutete mit einem Kopfnicken in den Schankraum und stemmte beleidigt die Hände in die Hüften. »Fragt ihn doch! Ich bin mir sicher, er kann euch bestätigen, dass meine Geschichte sehr wohl der Wahrheit entspricht.«

Erst als Bray mit seinem Blick Yoricks Geste folgte, bemerkte er die dunkle Gestalt mit dem blutroten Leuchten, die in der hintersten Ecke des Gasthofes allein an einem großen Tisch saß. Dieser Teil des Raumes wurde nicht vollständig beleuchtet, sodass dunkle Schatten Fenmas umschmeichelten. Es schien, als wäre er nicht in der Stimmung für Gesellschaft.

Aber Yorick war das offenbar herzlich egal. Kurzerhand winkte er Fenmas herbei und wirkte dabei so, als besäße er vor nichts und niemandem Respekt. Ganz im Gegensatz zu den übrigen Besuchern des Schwertdegens, die offensichtlich lieber einen Bogen um Fenmas‘ dunkle Gestalt machten.

Zu Brays Verblüffung, folgte Fenmas der Aufforderung des Wirtes und kam auf sie zu. Mit einem missmutigen Gesichtsausdruck trat er an ihren Tisch heran und betrachtete die Sitzenden.

Sein Blick blieb an Bray hängen. »Ich habe schon gehört, was geschehen ist. Ungewöhnliche Geschichten verbreiten sich schnell in diesem Gasthaus, wie mir scheint.« Fenmas warf Yorick einen vielsagenden Seitenblick zu, bevor er Bray und Viur neugierig betrachtete. »Aber es ist wahr, was Yorick gesagt hat. In längst vergangen Zeiten ist es des Öfteren vorgekommen, dass Lyr Menschen außerhalb der Initiation auserwählt hat. Aber die Gilde hat seit jeher solche Fälle geheim gehalten, denn die Elementare, die sich die Menschen freiwillig aussuchen sind meist sehr mächtig und verfügen über große Kräfte. Doch gerade das ist das Gefährliche.« Fenmas kam näher und sah Bray durchdringend an. Sein Elementar schien aufzuglühen, während in seinem Tonfall etwas Warnendes lag. »Wenn der Auserwählte nicht lernt, seine Kräfte zu beherrschen, können sie ihn leicht verzehren. Die betroffenen Menschen werden wahnsinnig und ihre Gedanken verschmelzen mit denen ihres Elementars. Sie werden von dem jeweiligen Element auf buchstäblich magische Weise angezogen. Von einem Augenblick auf den anderen sind die Besitzer von Wasserelementaren aus irgendwelchen Gründen fest davon überzeugt, dass ihnen das Wasser nichts mehr anhaben kann. Sie glauben felsenfest daran, dass sie auf die gleiche Weise unter Wasser leben können, wie ihre Wasserelementare.« Fenmas hielt inne und seufzte. »Ich kannte mal jemanden, der von einem Luftelementar auserwählt wurde und begonnen hat, sich so leicht zu fühlen, wie die Luft, die sich um uns herum befindet. Er stürzte sich von einem Berg, gar nicht so weit von hier, weil er dachte er könnte fliegen. Nun ja, konnte er nicht.«

Betreten schauten die Anwesenden auf den Tisch.

»Bei Lyr, das hört sich ja schrecklich an«, stieß Brays Vater besorgt hervor.

»Und was kann ich, der Meinung eines Magiers nach, dagegen tun?«, meldete sich Bray zaghaft zu Wort, der spürte wie ihm nach Fenmas’ Worten das Blut aus dem Gesicht wich. »Ich möchte wirklich ungern so enden! Auch wenn ich mir schwer vorstellen kann, dass mich Viur irgendwann in einen Kamin springen lässt.«

Wie um ihm Recht zu geben, leuchtete Viur für einen kurzen Moment heller. Aber Fenmas schien den Versuch Brays, die angespannte Stimmung durch einen Witz aufzulockern, nicht wirklich komisch zu finden.

»Mach du nur Scherze darüber, Junge. Dann wirst du genauso enden wie die armen Teufel, von denen ich gerade gesprochen habe«, drohte Fenmas mit erhobenem Zeigefinger. »Die einzige Chance, die ich sehe, ist, dass du mich mit den anderen in die Hauptstadt begleitest und dort in der Gilde lernst, dein Element zu beherrschen!« Er hielt inne und atmete hörbar aus. »Ich hoffe, du kommst mit uns. Wir brechen morgen früh im Morgengrauen auf.«

Über dieses Angebot brauchte Bray nicht lange nachzudenken. Er suchte den Blick seines Vaters und sah in seinen Augen, wie aufgewühlt dieser war, was ihn an seiner Entscheidung zweifeln ließ.

Doch nach einem kurzen Augenblick verschwand dieser Ausdruck und wich einem aufmunternden Lächeln. Entschlossen nickte sein Vater ihm zu.

»Natürlich komme ich mit euch!«, verkündete Bray freudestrahlend. »Ich könnte mir nichts Besseres vorstellen.«

 

  1. Entführt

Die Nacht war bereits weit fortgeschritten, als Fenmas das Gasthaus verließ und sich zu seiner Unterkunft aufmachte.

Als er in diesem Weiler angekommen war, hatte er sich in das erstbeste Quartier eingemietet, das er fand. Das Gasthaus war nichts Besonderes, doch die Betten schienen sauber. Für eine Nacht würde es ausreichen.

»Hätte ich vorher gewusst, dass es dort nichts Ordentliches zu trinken gibt, hätte ich mich erst gar nicht dort einquartiert«, brummte er missmutig vor sich hin und zog den langen Mantel enger um seinen Körper. »Noch dazu liegt das nächste Wirtshaus unverschämt weit entfernt. Das ist doch eine verdammte Frechheit!«

Dunkle, unheilvolle Wolken schwebten über Trico, schoben sich vor die Sterne und verdunkelten den Nachthimmel.

Fenmas Gedanken fühlten sich schwer an. Er spürte, dass er mal wieder zu tief ins Glas geschaut hatte. Der Inhalt diverser Krüge, die er bestellt hatte, nachdem er bei diesem Jungen gewesen war, umnebelten seinen Verstand.

Wie hieß er noch mal, überlegte er angestrengt, doch es wollte ihm nicht mehr einfallen.

Der Junge hieß Bray, half ihm Nuriel, sein Elementar, nach.

Stimmt, so hieß er, dachte Fenmas und unterdrückte ein müdes Gähnen. Vielleicht sollte ich das nächste Mal einfach weniger trinken. Aber sag mir, Nuriel, was soll ich auch anderes tun, um mein trauriges Leben mit ein wenig Freude zu bereichern? Unterwegs hier in dieser öden Provinz, bei diesen unzivilisierten Menschen. Ohne die geringste Chance auf die Annehmlichkeiten der Hauptstadt. Fenmas seufzte schwer. Es ist wirklich deprimierend.

Als er zurückgezogen im Schwertdegen gesessen hatte, waren ihm ein paar der Besucher aufgefallen, die ihm seltsam bekannt vorgekommen waren. Sie hatten im hinteren Teil des Gasthofes herumgelungert und die Bediensteten des Hauses äußerst unfreundlich behandelt. Er meinte, sie schon öfter gesehen zu haben.

Habe ich sie nicht auch in dem Dorf gesehen, in dem ich vor Trico gewesen bin?, überlegte Fenmas angestrengt, doch er erinnerte sich nur noch schemenhaft an ihre Gesichter.

Wahrscheinlich hatte er auch im Dorf vor Trico einen über den Durst getrunken.

»Zu allen bösen Geistern mit diesem verfluchten Zeug!«, murmelte er undeutlich und weiße Wolken bildeten sich vor seinem Mund.

Die ohnehin eisigen Temperaturen schienen in der Nacht noch einmal gesunken zu sein. Ein kräftiger Wind wehte durch die Straßen, blies mit hoher Geschwindigkeit an den Häuserkanten vorbei und erzeugte so unheimliche Geräusche. Als er im Gasthaus gewesen war, musste es wieder geschneit haben, denn eine dünne Schicht Neuschnee bedeckte die Straßen und knarzte leise unter seinen Füßen.

Zum Glück fror Fenmas nicht. Ein Vorteil, den er als Feuermagier genoss.

»Weißt du,« begann er leicht erheitert Nuriel zu erzählen. »Manchmal frage ich mich, warum gerade ich in jeden verdammten Winkel Altagos reisen muss. Ich, der große Fenmas.« Wütend schnaubte er. »Warum kann der Rat nicht jemanden schicken, dessen Element die Luft ist? Derjenige könnte sich auf einen schönen gewebten Teppich setzen und einfach davonschweben! Hach, so stelle ich mir eine angenehme Reise vor!« Unwillkürlich musste er lachen. »Aber nein, es hat ja wieder mich erwischt. Wahrscheinlich hat sich der Rat der Gilde bei meiner Ernennung zum Initiator zu Tode gelacht. Ich kann es mir genau vorstellen. Es ist doch offensichtlich, dass sie mich bloß loswerden wollten!«

Fenmas wartete eine Weile, doch Nuriel antwortete nicht.

Seine Gedanken sprangen unwillkürlich zu der Geschichte, die er am Abend im Schwertdegen gehört hatte. So etwas kam selbst ihm nicht alle Tage zu Ohren. Es war durchaus außergewöhnlich, dass dieser Junge sein Elementar offensichtlich nicht durch das Ritual der Initiation bekommen hatte, sondern es auf andere Weise zu ihm gelangt war.

Früher, in längst vergangenen Zeiten, als die Magie auf Altago noch stärker floss, war dieses Phänomen häufiger vorgekommen. Aufzeichnungen der Gilde behaupteten, dass es zu den Anfängen der Magier nicht die Ausnahme, sondern gar die Regel war. Die Rituale, wie Fenmas sie durchführte, damit Lyr die Elementare den Magiern zuteilte, gab es damals in dieser Form nicht.

Die früheren Magier verfügten durch die besondere Beziehung zwischen ihnen und ihren Elementaren meist über weitaus mehr Stärke als die Gelehrten der heutigen Zeit. Doch auch zu der Zeit der Rituale gab es noch frei erwählte Magier. Sie entwickelten sich zu bedeutenden Persönlichkeiten innerhalb der Gilde, die Altago durch ihr Handeln prägten.

Fenmas schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben, über die er im Augenblick nicht nachgrübeln wollte und durchquerte leicht taumelnd die wenigen verbliebenen Straßen bis zu seiner Unterkunft.

Bald darauf stand er vor dem unscheinbaren Haus, in das er sich bei seiner Ankunft einquartiert hatte.

Umständlich kramte er die Schlüssel für die Herberge aus seinem Mantel hervor und versuchte damit, die erste Tür aufzusperren. Nach mehreren erfolglosen Versuchen, den ersten Schlüssel in das Schlüsselloch zu bugsieren, gab er schließlich auf.

Fluchend wechselte er den Schlüssel und nestelte den zweiten ins Schloss. Sofort klickte der Mechanismus und die Tür schwang auf.

»Warum nicht gleich so?«, brummte Fenmas genervt, als er den dunklen Gang zu seiner Unterkunft entlangschritt.

Endlich in seinem Zimmer angekommen, warf er den Mantel über einen herumstehenden Stuhl und ließ sich mitsamt seinen Kleidern rücklings aufs Bett fallen.

Dass ich nach dem Besuch eines Gasthauses auch immer so müde bin, dachte er schläfrig.

Erschöpft von seinem anstrengenden Tag schloss er die Augen.

 

 

 

Eiseskälte riss Fenmas aus dem Schlaf. Verwirrt schreckte er auf und spürte sogleich eine kalte Klinge an seiner Kehle. Beim Schlucken drückte der Dolch unangenehm auf seinen Adamsapfel.

Vorsichtig sank Fenmas zurück und versuchte, die Situation zu erfassen. Vor ihm stand ein Fremder, der die Dreistigkeit besaß, ihn zu bedrohen. Sein Kopf fühlte sich miserabel an. Er konnte noch nicht lange geschlafen haben.

»Was bei allen Göttern soll das werden?«, zischte er gereizt. »Wisst Ihr, wer ich bin? Wisst Ihr überhaupt, wen Ihr gerade überfallen habt? Das wird ein Nachspiel haben!«

Prüfend versuchte Fenmas, sich zu bewegen und spürte sofort, wie der Druck auf die Klinge an seinem Hals unerbittlich zunahm.

»Nur eine kleine Bewegung oder ein Laut von dir und ich schlitze dir die Kehle auf!«, warnte ihn der Eindringling.

Durch die weiten Kleider der Gestalt konnte Fenmas nicht mal erahnen, ob ihn eine Frau oder ein Mann bedrohte. Auch die Stimme ließ sich nicht wirklich einem Geschlecht zuordnen. Die weite Kapuze hing derart tief über dem Gesicht der Gestalt, dass Fenmas darunter nichts als undurchdringliche Schwärze erkennen konnte.

Die Person war jedoch scheinbar kein Magier. Jedenfalls nahm er das an, weil sie kein Elementar bei sich hatte und ihn mit einem Dolch bedrohte.

Fenmas fühlte sich schrecklich. Nicht nur, dass es jemand wagte, ihn zu wecken, um ihm eine Waffe an die Kehle zu halten, Alkohol und Schlafmangel taten ihr Übriges.

Doch noch etwas fühlte sich anders an als sonst. Als er auf seine magischen Kräfte zurückgreifen wollte, um den anmaßenden Eindringling freundlich hinaus zu bitten, fühlte er … nichts.

Fenmas stockte der Atem. Als er in sich hineinhorchte, konnte er sein Elementar nicht mehr wahrnehmen. Stattdessen herrschte dort eine tiefe Leere.

Was ist geschehen?, dachte er panisch. Nuriel, wo bist du?

Er wartete sehnsüchtig auf eine Antwort, doch die vertraute Stimme in seinen Gedanken blieb stumm. Es war schon sehr lange her, seitdem sich Fenmas so hilflos gefühlt hatte, wie in diesem Moment.

»Was hast du getan?«, fauchte Fenmas ungläubig. »Warum kann ich keine Magie mehr wirken? Warum kann ich dich nicht verbrennen, du elender Wicht?«

Ein weiteres Mal griff er nach der Magie in seinem Inneren, doch sein magisches Reservoir war ausgeschöpft.

Blinde Wut überkam ihn und nahm von seinem Verstand Besitz. Ungeachtet der Klinge an seinem Hals, ergriff er die Hand des Eindringlings und drückte sie von sich weg. Doch der Unbekannte war auf seinen Angriff vorbereitet und hielt unnachgiebig dagegen.

Einen Augenblick schien die Zeit stillzustehen, doch dann ließ Fenmas’ Kraft nach und die Waffe senkte sich auf seinen Hals.

Verzweifelt versuchte Fenmas, sich aufzubäumen, aber der Angreifer war zu stark. Die Klinge ritzte die empfindliche Haut über seiner Kehle auf und verharrte dort drohend. Ein einzelner Blutstopfen löste sich und rann über seinen Hals.

Ich muss etwas unternehmen. Er wird mich sonst umbringen.

Gerade als er mit der Kraft der Verzweiflung seine Muskeln anspannte, flog eine Faust heran und prallte hart an seine Schläfe. Schwarze Schatten tanzten vor seinen Augen und raubten ihm für einen kurzen Moment die Sicht.

Den Dolch nicht von Fenmas’ Kehle nehmend, trat der Eindringling einen Schritt zur Seite. Dadurch sah Fenmas schemenhaft einen Tisch, auf dem ein kleiner Käfig stand, in dem ein orangerotes Elementar schwebte.

»Nuriel«, rief er erleichtert. »Nuriel, ich bin hier!«

Er wollte aufspringen und zu dem Käfig hechten, doch ein weiterer Schlag des Eindringlings ließ ihn benommen zurücksinken.

Was geschieht hier? Fenmas konnte Nuriel sehen, doch seine innere Verbindung zu ihm bestand nicht länger. Es fühlte sich so an, als betrachtete er das Elementar von jemand anderem. Ein Teil von ihm hatte mit einem Mal aufgehört zu existieren.

Langsam verstand er, in welcher Lage er sich befand. Eine unbekannte Macht schirmte sein Elementar und damit auch seine Magie von ihm ab.

Er hatte noch nie davon gehört, dass es möglich war, ein Elementar von seinem Magier zu trennen. Normalerweise konnten die aus reiner Magie bestehenden Elementare, durch jeden noch so kleinen Spalt schweben, wenn es denn sein musste. Und die Anordnung der Gitterstäbe des Käfigs sah so aus, als würde das Elementar bequem hindurchpassen.

»Das ist unmöglich«, stammelte Fenmas ungläubig. »Das kann nicht sein. Wie bei allen bösen Geistern hast du das gemacht?«

Seine Gedanken rasten, während die Wunde an seinem Hals brannte. Sein Dolch, den er für Notfälle mit sich führte, steckte im Innenfutter seines Mantels und dieser hing außerhalb seiner Reichweite über einem Stuhl.

Wenn ich den Eindringling nur lange genug ablenken könnte, komme ich mit einem Sprung vielleicht nahe genug an den Stuhl heran.

Er verwarf die Idee jedoch gleich wieder, als der Eindringling den Druck auf den Dolch an seinem Hals schmerzhaft erhöhte. Die Gestalt schien seine Gedanken zu lesen und ihm immer einen Schritt voraus zu sein.

»Wer bist du?«, versuchte Fenmas noch einmal die Beweggründe des Angreifers zu erfahren. »Was willst du von mir?«

Als dieser nichts entgegnete, fuhr Fenmas fort. »Ich habe nicht mehr so viel Gold bei mir, wie noch vor einiger Zeit, als ich aus Port Rem abgereist bin, aber nimm es dir ruhig. Ist zwar schade drum, aber es gehört dir.« Mit zitternden Fingern deutete er auf seinen Mantel. »Es befindet sich in meiner Jackentasche. Die Summe sollte ausreichen, um irgendwo weit weg ein hübsches Leben anzufangen.«

Doch anstatt sich aus seiner Börse zu bedienen, griff der Eindringling in eine der zahlreichen Innentaschen seines schwarzen Umhangs, nahm ein Pulver heraus und schleuderte es Fenmas ins Gesicht.

Überrascht von dem Angriff und unfähig, den Kopf zurückzuziehen, atmete er das Pulver ein. Innerhalb eines Augenblicks bemächtigte sich eine seltsame Schwere seines Körpers. Seine Lider sanken herab, während seine Glieder ihren Dienst versagten. Mit seiner letzten Kraft versuchte er, gegen seine Müdigkeit anzukämpfen, aber es wollte ihm nicht gelingen.

Schwärze verdunkelte Fenmas‘ Sicht und legte sich wie ein dichter Nebel über seine Sinne.

 

  1. Der Aufbruch

Früh am Morgen des folgenden Tages traf sich Bray mit Eila an der Hauptstraße Tricos, um sich mit Fenmas, Germo und Rion auf den Weg in die Hauptstadt zu machen.

Germo war ein kleiner, etwas untersetzter Junge mit einer Hornbrille und stammte wie Bray aus eher einfachen Verhältnissen. Er war als jüngstes von fünf Geschwistern auf dem großen Hof seiner Familie aufgewachsen, der Trico mit allerlei Produkten versorgte. Da er mit einem Wasserelementar hoch in den Bergen beim Bestellen des Familienhofes keine große Hilfe sein würde, hatte er sich für das Noviziat in die Magiergilde entschieden.

Rion war das genaue Gegenteil von Germo. Er war von hagerer Statur, überdurchschnittlich groß und kam aus gutem Hause. Seine Familie betrieb das Pfandleihhaus, zu dem die Bewohner von Trico nur gingen, wenn sie Geld benötigten. Die anderen Kinder des Dorfes wollten nicht sehr viel mit ihm zu tun haben und stempelten ihn als einen Außenseiter ab. Lyr hatte ihn jedoch erwählt und nun schwebte eine grüne Magiekugel über seinem Kopf.

Ein Stallbursche näherte sich dem Treffpunkt und führte fünf Pferde heran, die mit lederneren Satteln bepackt waren, an denen jeweils zwei große Taschen hingen.

»Die Pferde sind ein Geschenk der Gilde an die Anwärter«, erklärte der Junge. »Fenmas hat sie gestern auf unserem Hof erstanden.« Er deutete auf die Satteltaschen. »Darin findet ihr genügend Proviant für die lange Reise nach Port Rem.«

»Ich kann es noch nicht wirklich glauben«, flüsterte Brays Vater und drückte ihn zum Abschied fest an sich. »Jetzt verlässt du deinen alten Herrn. Was soll ich bloß ohne dich anstellen, mein Junge?«

Bray erwiderte die herzliche Umarmung, während Viur um Ertior herumkreiste.

»Alrick hilft dir bei allem«, versprach Bray und sein Bruder nickte zur Bestätigung. »Ich glaube, er wird das ganz gut hinbekommen. Kommt mich in Port Rem besuchen – dann zeige ich euch die Hauptstadt und die Magiergilde.«

»Wir werden sehen.« Sein Vater blickte in die Ferne, während seine Augen einen abwesenden Ausdruck annahmen. »Ich war früher dort und ich muss sagen, ich weiß wirklich nicht, was alle so faszinierend an Port Rem finden. So etwas Besonderes ist diese Stadt gar nicht.« Ein melancholischer Ausdruck stahl sich auf sein Gesicht. Nach einem Moment blinzelte er und schüttelte leicht den Kopf. »Wie dem auch sei. Du musst deine eigenen Erfahrungen sammeln. Vielleicht hat sich die Stadt im Laufe der Zeit etwas verändert. Aber bevor du aufbrichst, möchte ich dir das hier geben.«

Sein Vater hob die Hand und Bray bemerkte, dass unter ihr ein Amulett an einer goldenen Kette sanft hin und her baumelte. Das Amulett bestand aus einem metallisch schimmernden Material, das wunderschöne filigrane Verzierungen aufwies. In der Mitte des ovalen Schmuckstücks stach ein Stein hervor, der in den Farben des Regenbogens schimmerte.

Bray griff ehrfürchtig danach. Bis zu diesem Moment hatte er nicht einmal geahnt, dass seine Familie einen solchen Schatz besaß. Auch sein Bruder betrachtete es fasziniert.

»Das ist für mich?«, fragte Bray ungläubig. Er wusste nicht so recht, was er sagen sollte. »Es sieht wirklich sehr schön aus. Woher hast du es?«

Sein Vater blickte das Amulett liebevoll an und ein verträumter Ausdruck trat in seine Augen. »Es gehörte einmal deiner Mutter. Sie wollte, dass du es eines Tages bekommst. Es wird dir Glück bringen.«

Bray nahm das Amulett ehrfürchtig an sich und legte es sich um den Hals. Es verschwand unter seinem schlichten Wams, wo es vor neugierigen Blicken verborgen blieb. Als das Schmuckstück seine bloße Haut berührte fühlte es sich warm, beinahe schon lebendig, an.

Sein Vater legte Bray beide Hände auf die Schultern und schaute ihn eindringlich an. »Tu mir den Gefallen und erzähle in Port Rem nicht überall herum, dass du nicht bei der Initiation auserwählt wurdest. Die anderen Novizen werden dich als Außenseiter behandeln, wenn sie herausfinden, dass du anders bist als sie.«

Der ernste Ausdruck auf seinem Gesicht, entlockte Bray automatisch ein Nicken. »Ich verspreche es.«

»Das hier ist ebenfalls für dich.« Sein Vater hielt ihm einen kleinen Beutel hin. »Darin sind ein paar Münzen für die Reise.«

Als Bray den Beutel entgegennahm und an seinem Gürtel befestigte, klimperte er leise.

»Danke für alles.« Er umarmte seinen Vater und danach seinen Bruder ein letztes Mal. »Ich werde euch vermissen und jeden Tag an euch denken!«

Schweren Herzens wandte Bray sich ab und ging zu dem Stallburschen, der ihm die Zügel eines Pferds übergab. Während er die Nüstern seines Tiers streichelte, beobachtete er, wie sich auch die übrigen angehenden Novizen ausgiebig von ihren Verwandten verabschiedeten und ebenfalls kamen, um ihr Pferd in Empfang zu nehmen. Zusammen mit ihnen wartete Bray ungeduldig auf Fenmas, der sich jedoch nicht blicken ließ.

»Wo steckt Fenmas bloß?«, wunderte sich Eila mit besorgtem Gesichtsausdruck und schaute sich suchend um. »Langsam fange ich an, mir Sorgen zu machen.«

»Keine Angst, er kann nicht weit sein«, spielte Bray die Situation mit einer abwinkenden Geste herunter. »Wahrscheinlich hat er heute Morgen verschlafen. Wir warten noch ein wenig und wenn er nicht bald kommt, gehen wir ihn suchen. Bestimmt müssen wir nur zu seinem Quartier laufen und ihn aufwecken.«

Doch seine Worte schienen Eila nicht vollständig zu überzeugen. Ihr besorgter Gesichtsausdruck blieb.

»Ich freue mich so auf Port Rem, das kannst du mir gar nicht glauben«, schwärmte Bray, um das Thema zu wechseln. »Es gibt so viel über die Magie zu entdecken! Ich kann es gar nicht erwarten endlich dort zu sein!«

»Ich hoffe nur, dass wir schnell dort ankommen«, beklagte sich Germo mit vor der Brust verschränkten Armen. »Ich habe keine Lust, länger im Freien zu schlafen, als unbedingt nötig! Doch bei diesem schlechten Wetter kann es sein, dass sich die Reise in die Länge zieht.«

»Nun hör schon auf zu jammern«, tadelte ihn Rion mit mürrischem Gesichtsausdruck. »Ich bin mir sicher, dass Fenmas uns schnell und sicher nach Port Rem bringen wird. Stellt euch vor, er hat mir verraten, dass er auf der Reise schon anfangen will, uns zu unterrichten!«

Bray beschloss, sich von Germo nicht die Laune verderben zu lassen. »Ist doch hervorragend! Je früher wir etwas lernen, desto besser.«

In diesem Moment kam Halvor auf die Gruppe zugelaufen und deutete aufgeregt auf einen Zettel, den er in der Hand hielt. Solange Bray sich zurückerinnern konnte, gehörte dem untersetzten Mann die einzige Herberge Tricos. Eine Menge Bier und gutes Essen hatten Halvor einen beachtlichen Bauch beschert, der sich unter seiner Kleidung weit über den Gürtel wölbte.

»Den hier habe ich heute Morgen vor meiner Tür gefunden«, schnaufte er mit geröteten Wangen und gehörig außer Atem. »Es geht um Fenmas! Ich habe ihn gestern bei mir beherbergen dürfen.«

Immer noch schwer atmend beugte sich Halvor vor, um die Hände auf die Knie zu stützen und atmete tief ein, bevor er weitersprach. »Darin steht, dass er heute leider nicht hier sein kann. Er musste anscheinend in der Nacht überstürzt abreisen, weil er für die Gilde etwas Dringendes in Lasika zu erledigen hat.« Er hielt inne und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Die angehenden Novizen sollen schon einmal aufbrechen und dabei die Strecke nehmen, die ihr gestern mit ihm besprochen habt. Innerhalb von vier Tagen will er wieder zu euch stoßen und euch danach den restlichen Weg wie geplant in die Hauptstadt begleiten.«

Besorgt nahm Bray den Zettel an sich und überflog ihn hastig. Es stimmte, was Halvor sagte. Fenmas ließ sie offenbar im Stich.

»Warum hat er ausgerechnet jetzt noch etwas anderes zu erledigen?«, überlegte Bray, während ihn ein ungutes Gefühl beschlich. »Gestern im Schwertdegen hat er nichts dergleichen gesagt. Das kommt mir seltsam vor.«

Halvor schüttelte vehement den Kopf, bevor er die Gruppe mit eindringlicher Stimme warnte. »Die Magier der Gilde sind alle nicht ganz normal, wenn ihr mich fragt. Ich habe schon die abenteuerlichsten Geschichten von denen gehört. Eine verrückter als die andere.« Er schaute jeden einzelnen von ihnen eindringlich und mit erhobenem Zeigefinger an. »Ihr solltet euch in Acht nehmen und gut aufeinander aufpassen, wenn ihr in der Hauptstadt seid. Nicht, dass ihr nachher noch genauso werdet wie diese Magier.«

»Wenn Fenmas nicht kommt, bin ich dafür, dass wir hierbleiben und warten, bis er seine Angelegenheiten geregelt hat«, schlug Germo vor, was ihm die genervten Blicke der Umstehenden einbrachte. »Danach kann er hierher zurückkommen und uns abholen«, fuhr er jedoch unbeirrt mit seinem Vorschlag fort. »Wie sollen wir denn allein den Weg finden? Dafür fühle ich mich nicht bereit.«

»Nein, wir sollten aufbrechen, wie geplant«, erwiderte Bray entschieden. »Fenmas hat uns ausdrücklich mitgeteilt, dass wir nicht auf ihn warten sollen. Und ich habe nicht vor, mich ihm in der Angelegenheit zu widersetzen.« Er wedelte aufgeregt mit dem Papier in seiner Hand. »Außerdem hat er in seinem Brief genau beschrieben, wie wir zum neuen Treffpunkt gelangen. Sogar eine kleine Karte hat er uns dagelassen. Darin hat er den Weg eingezeichnet, den wir nehmen sollen.« Er zuckte mit den Achseln. »Ihr seht, er hat an alles gedacht. So schwer kann es doch nicht sein, dem Weg zu folgen.«

»Ich weiß nicht, Bray«, gab Eila ebenfalls zu bedenken. »Ich habe kein gutes Gefühl dabei. Unterwegs kann so viel Unerwartetes geschehen.«

»Aber wir können auch nicht warten, bis sich dein Gefühl irgendwann gebessert hat«, widersprach Bray. »Das wird vielleicht nie geschehen. Du hast doch bei allem von vornherein ein schlechtes Gefühl. Was soll schon groß geschehen? Es könnte höchstens sein, dass wir uns an den ersten paar Tagen zu Tode langweilen, weil wir keine Unterhaltung haben und nicht unterrichtet werden.« Er schaute herausfordernd in die Gesichter der Runde. »Also, wer ist dabei?«

»Wenn wir schon einmal zum Aufbruch bereit sind, können wir auch los.« Rion schwang sich in den Sattel seines Pferdes und ergriff die Zügel. »Ich habe keine Lust, mich noch einmal von meinen Eltern zu verabschieden.«

Froh, in Rion einen Verbündeten gefunden zu haben, tat Bray es ihm gleich und stieg ebenfalls auf sein Tier. Abermals schaute er Eila und Germo herausfordernd an. »Worauf wartet ihr? Bleibt ihr hier oder kommt ihr mit uns?«

Brays Tatendrang schien Eila und Germo zu überzeugen. Mit einem vernehmlichen Seufzen schwangen sich die beiden ebenfalls in den Sattel.

Endlich geht es los, Viur. Ich kann es kaum erwarten, die Gilde zu sehen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783967410938
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Altago Kampf Magie Element Monster Wesen Gott Reise Bauer Fantasy

Autor

  • Michael Meiser (Autor:in)

Michael Meiser wurde 1993 in Saarbrücken geboren, wo er auch heute lebt. In seiner Kindheit hat er unzählige phantastische Geschichten verschlungen und ist seitdem von dieser Art der Literatur begeistert. Während seines Informatikstudiums kam ihm die Idee des eigenen Romans, die ihn nicht mehr losließ. Fortan verbrachte er jede freie Minute damit, die Welt von Altago zu erschaffen.
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Titel: Elementum