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Lenara: Der Geschmack des Blutes

von Dominique Heidenreich (Autor:in)
260 Seiten
Reihe: Lenara, Band 1

Zusammenfassung

Der Auftakt einer neuen Urban-Fantasy Serie. Klappentext: Lenara dachte, sie hätte ihr Leben endlich im Griff. Ihr Viertel in St. Louis ist nicht das beste, ihre Arbeit als Kellnerin in einem Stripclub bringt nicht viel ein. Aber sie hat eine Wohnung und einen Job. Doch ihre Versuche ein normales Leben zu führen, werden schlagartig zunichtegemacht, als Dämonen sie angreifen und ein Gargoyle ihr das Leben rettet. Lenara gerät zwischen die Fronten eines jahrhundertelangen Krieges und muss sich entscheiden, wem sie wirklich vertrauen kann. Eine Geschichte über Vertrauen, Liebe und einer unerwarteten Freundschaft. Inmitten eines Krieges zwischen Gut und Böse, wird der Kampf um Lenaras Leben, auf mehr als nur einer Front, ausgetragen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Copyright © 2017 Dominique Heidenreich. Alle Rechte vorbehalten

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Alle in diesem Roman vorkommenden Personen, Charaktere, Schauplätze, Ereignisse und Handlungen entstammen der Vorstellungskraft der Autorin, oder sind fiktiv. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden, oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

2. Auflage

 

Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss, www.juliane-schneeweiss.com

Korrektorat: Pia Euteneuer und Lillith Korn

Selbstverlag: Isabel Heidenreich, BA
Kampfstraße 4, 1140 Wien

Heidenreich, Dominique

Der Geschmack des Blutes

Band 1 der Reihe - Lenara

Mehr Informationen finden sie auf www.dominiqueheidenreich.at

Besucht mich auf Facebook und Instagram: @DominiqueHeidenreich

 

Prolog

 

Sie war paranoid.

Einfach nur paranoid. Der Drang, über die Schulter zu sehen, war seit Jahren so übermächtig, dass Leute sie darauf ansprachen, weil sie es alle paar Sekunden tat und sich kaum auf ein Gespräch konzentrieren konnte.

Sie hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, überall nach den Ausgängen zu sehen, mögliche Fluchtwege zu finden. Alles andere endete in einer halben Panikattacke, vollkommen egal, ob sie alleine unterwegs war oder nicht. Inklusive Schweißausbrüchen, nervösem Gezappel, und wenn es ganz schlimm wurde, kratzte sie an ihren Narben. Es war ein nahezu unbezwingbarer Drang. Sie brauchte keinen Arzt, um zu wissen, dass sie unter Zwangsstörungen litt.

Es schränkte sie ein, hatte dafür gesorgt, dass sie fünf Jobs in zwei Monaten verloren hatte, weil sie Kunden und Gäste so nervös machte.

Dabei war es schon viel besser geworden. Die Albträume hatten bereits vor Jahren aufgehört.

Das Ausspähen von Fluchtwegen wurde subtiler, die nervösen Ticks weniger. Dafür hatte sie jetzt immer einen Rucksack mit Essen, Wechselkleidung, etwas Bargeld, einer Landkarte und Haarfärbemittel gepackt. Einmal die Woche überprüfte sie den Inhalt, vergewisserte sich, dass alles noch genau dort war, wo sie es gelassen hatte.

Es war schon so viel besser und sie hielt sich auch die kleinsten Erfolge so oft wie möglich vor Augen. Die Bücher über Zwangsstörungen, Zwangshandlungen und Panikattacken hatten geholfen. Ein bisschen.

Sie hatte es geschafft, eine Wohnung zu mieten, und ihren aktuellen Job im Nachtclub hatte sie beinahe ein halbes Jahr. Auch ihre Schwindelanfälle waren nahezu verschwunden. Sie versuchte, darauf zu achten, ausreichend zu essen, und wenn die Angst wieder zu stark wurde, lief sie, so lange und so schnell sie konnte, bis ihre Nerven sich endlich beruhigten.

Ihre Wohnung war penibel aufgeräumt. Alles hatte seinen richtigen Platz. Jede Form der Unordnung verstärkte die Panikattacken, sie kannte die Anzeichen. Je früher sie sie wahrnahm, desto früher konnte sie gegensteuern, ohne komplett durchzudrehen. Also ging sie mindestens einmal am Tag ihre kleine Wohnung ab, schlichtete Regale, Schubladen und machte sauber. Sie schloss immer ab, sperrte wieder auf, nur um noch einmal zuzusperren. Es war eine Kurzschlussreaktion, als wäre sie sich, in dem Moment, in dem sie den Schlüssel umgedreht hatte, nicht mehr sicher, ob sie es auch tatsächlich getan hatte. Das Laufen half auch. Sogar mehr als vieles andere.

Wenn das Laufen nicht ausreichte, verschlang sie Bücher, verlor sich in anderen Welten und Geschichten.

In den letzten zwei Monaten hatte sie genug Geld zur Seite legen können, um ein Online-Spiel zu spielen. Auch das half. Nicht immer. Aber immer wieder.

Manchmal fühlte sie sich so einsam und allein, dass sie am liebsten geschrien hätte.

Manchmal ertrug sie es kaum, zur Arbeit zu gehen, weil sie mit den vielen Menschen nicht zurechtkam.

Manchmal fühlte sich alles normal an.

Manchmal fühlte sie sich gut.

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1

 

Lenara

 

Lenara zog das Headset von ihrem Kopf und legte es parallel zu ihrer Tastatur. Genauso penibel schob sie ihren Schreibtischsessel zum Tisch, bevor sie in die Küche ging. Unruhig tippte sie mit den Fingern gegen die offene Kühlschranktür, während sie in die leeren Fächer starrte. Sie hatte keinen Hunger, aber sie musste etwas essen.

Mit einem Blick auf die Uhr schloss sie die Kühlschranktür und öffnete das Tiefkühlfach darüber. Kurz darauf landete ihre letzte Lasagne in der Mikrowelle. Während ihr Abendessen seine Runden drehte, arrangierte sie Teller und Besteck parallel zur Tresenkante. Um die Zeit totzuschlagen, schnappte sie sich die Zeitung vom Vortag und blätterte gelangweilt durch die Seiten. Das Kreuzworträtsel weiter hinten hatte sie gestern schon gelöst, also gab sie sie schließlich zum Altpapier. Als das ‚Bing‘ der Mikrowelle erklang, richtete sie ihr Abendessen auf dem Teller an und ging mit ihrem Essen zurück zu ihrem PC.

Sie schob die Tastatur weiter nach hinten, richtete sie wieder parallel aus. Stellte ihren Teller davor, mittig zur Tastatur, und setzte ihr Headset auf. Das Mikrofon schaltete sie auf stumm und schob es dann aus dem Gesicht. Ihre Gilde diskutierte gerade die Gruppenkonstellation für den ersten Boss.

Vorsichtig aß sie die heiße Lasagne und bewegte ihre Priesterin zum Treffpunkt für den Bosskampf.

„Len, bist du da?“, kam die Frage aus ihrem Headset von Daniel MacClaine, kurz genannt Dan. Ein Grinsen zuckte automatisch um ihren Mund, als sie seine Stimme hörte. Sie legte ihr Besteck zur Seite und zog ihr eingeschaltetes Mikro wieder zum Mund. Ihre Freude darüber, ihn zu hören, war irrational. Aber nicht viel in ihrem Leben war von rationalen Reaktionen geprägt.

„Ja, hab mich gerade auf den Weg gemacht.“

„Wann beginnt deine nächste Schicht?“

Dan wusste, dass sie mit ihrem Job am Abend nur begrenzt Zeit hatte. Len kellnerte. In einem Striplokal. Aber das wussten ihre Gilde und Dan nicht. Das Trinkgeld an den Wochenenden machte die miese Bezahlung meistens wieder wett. Und wenn sie nervös wurde, stellte kaum jemand Fragen. Generell wurde bei dem Einstellungsgespräch wenig von ihr verlangt und noch weniger gefragt. Das machte Len das Leben etwas einfacher. Würde sie sich ausziehen, würde sie mehr verdienen. Würde sie praktisch nackt kellnern, auch. Aber weil sie zu keinem von beidem bereit war, kam sie mit dem Geld oft nur knapp über die Runden.

Doch dafür hatte sie den Job zum ersten Mal länger als zwei Wochen halten können. Und solange sie sich nicht ausziehen musste, war alles halb so schlimm. Abgesehen von einer knappen Uniform, war es ein ganz normaler Job, wie in jedem anderen Lokal auch.

Übergriffige Kunden gab es auch in normalen Cafés, wie sie aus leidvoller Erfahrung wusste. Im Club gab es wenigstens Sicherheitspersonal das auf sie aufpasste.

Trotzdem käme sie im Traum nicht darauf, jemandem aus der Gilde zu erzählen, womit sie tatsächlich ihr Geld verdiente.

Sie mochte die Menschen in ihrer Gilde, und sie mochte die zwei Abende in der Woche, die sie für die Spielevents frei hielt.

Kauend griff sie nach ihrem Handy, um auf die Uhr zu sehen, und legte es dann wieder rechts neben ihr Mousepad. Parallel zur Tischkante. Schweigend aß sie auf, bevor sie ihren Teller und das Besteck in den Geschirrspüler räumte.

Drei Stunden später hätte sie ein Red Bull vertragen können. Aber ihr letztes Red Bull hatte sie vor zwei Tagen ausgetrunken, und Kaffee schmeckte einfach ekelhaft. Ihr Geld reichte nicht für mehr. Zumindest nicht in dieser Woche. Wenn sie nächste Woche mehr selbst kochen würde, könnte sie vielleicht ein bisschen Geld zur Seite legen. Für ein paar Dosen oder vielleicht doch neue Schuhe. Ihre Sneakers hatten schon bessere Tage gesehen. Gerade als sie ihr Headset vom Kopf ziehen wollte, hörte sie Dans Stimme.

„Len, bleib noch kurz da, ich zieh dich eben in einen anderen Channel.“

Sie rieb ihre Hände aneinander, um ihre kalten Finger aufzuwärmen. Zu viel Spielen, zu wenig Bewegung, und ihre Finger waren eisig.

„Was gibt’s, Dan?“, fragte sie ihn, als sie sich aus dem Spiel ausloggte und nachsah, ob noch jemand mit ihnen im Channel war. Nope, wir sind allein. Wohoo!

„Hast du jemanden, der dich nach Hause fährt?“, fragte Dan und brachte sie damit erneut zum Lächeln. Seit letzter Woche wusste sie, dass Dan und sie in derselben Stadt wohnten. Ihr Puls beschleunigte sich. Sie mochte Dan und flirtete gern mit ihm. Vor allem, weil es harmlos war. Es war leicht, sich mit ihm zu unterhalten. Solange sie sich nicht an einem Gildentreffen beteiligte, was sie nicht vorhatte, war alles im grünen Bereich. Trotz des Gilden-Forums hatte sie nie ein Foto von sich dort gepostet.

Ihre lächerliche Idee von Sicherheitsvorkehrungen. Sie brachte es einfach nicht über sich. Vor allem wegen ihrer Augen. Unheimlich war noch die freundlichste Bezeichnung, an die sie sich erinnern konnte. Sie hätte ihre Kontaktlinsen für ein Foto tragen können, aber irgendetwas hielt sie davon ab. Also, nicht irgendetwas, sondern die kleine, verrückte Stimme in ihrem Hinterkopf, die ihr restliches Leben zur Hölle machte. Kein Grund, irgendjemanden wegen ihrer Augen nervös zu machen. Nervös war sie auch so schon, dass es für die halbe Weltbevölkerung reichte. Aber Dan ein Foto zu zeigen, war eine Versuchung, der sie nur schwer widerstand. Sie wollte endlich eine Beziehung, einen Freund, Dates, Sex und alles, was dazu gehörte.

Sie wollte ihr eigenes Happy End, eine Familie, ein kleines Haus mit Garten. Ein halbes Dutzend Kinder und einen Hund für jedes Kind – Game-of-Thrones-Style.

Nicht dass irgendetwas davon in greifbarer Nähe war, aber das hielt sie nicht davon ab, sich das alles mit Dan vorzustellen. Verrückt? Absolut.

„Danke, dass du dir Sorgen machst, Dan, aber ich hab den Job nicht erst seit gestern, das weißt du. Um die Uhrzeit fährt sowieso niemand mit dem Bus. Mir passiert nichts“, versicherte sie ihm. Der letzte Bus fuhr kurz vor ihrer Schicht, deswegen ging sie immer zu Fuß nach Hause. Aber das musste sie ihm ja nicht auf die Nase binden.

Sie hörte ihn seufzen und ein Geräusch, das sich anhörte, als würde er sich am Bart kratzen. Dan hatte sehr wohl ein Foto gepostet. Er hatte dunkelbraune Haare, grüne Augen, ein sexy Lächeln und im Gegensatz zu anderen Gamern machte er Sport. Bizeps, Baby. Was gab es an Dan nicht zu mögen? Außer dass er nachts nicht nackt neben ihr im Bett lag und ihr huldigte?

„Kann dich nicht jemand von der Arbeit nach Hause bringen?“

Sie schüttelte den Kopf, obwohl er es nicht sehen konnte. Er fragte sie nicht zum ersten Mal danach, und es war irgendwie süß, dass er sich Sorgen machte. Nervig, aber süß.

„Nein. Sorry, Dan, ich muss mich jetzt umziehen und los, sonst komm ich zu spät und krieg Ärger mit meinem Boss“, sagte sie und sah dabei auf die Uhr. Den letzten Bus würde sie verpassen, also musste sie heute zu Fuß gehen. Das war unbequemer, aber mit dem Bus kam sie dafür immer zu früh an.

„Len, eine Frau sollte nachts nicht alleine auf den Straßen herumlaufen. Was, wenn dir was passiert?“, ließ er nicht locker.

Er meinte es nur gut, aber je mehr er darauf bestand, desto unruhiger wurde sie.

„Lass den Ritter in der Burg. Mir passiert nichts.“ Bisher war ihr tatsächlich noch nie was passiert. Es war auch nicht unbedingt eine Gegend, die dafür bekannt war, dass man nachts nicht allein auf die Straßen gehen konnte. Trotz ihrer andauernden Paranoia lief ihre Angst, im Dunkeln nach Hause zu gehen, gegen Null.

Irrational? Absolut.

„Du weißt, dass du unvernünftig bist, oder?“

Unvernünftig? Nein. Nur ein bisschen plemplem.

„Ich muss jetzt wirklich los“, wich sie ihm mit einem weiteren Blick auf die Uhr aus.

„Schreib dir wenigstens meine Nummer auf. Wenn was passiert, ruf mich an, und ich komme.“

Er klang so ruhig und ernst, als er es sagte, dass ihr Herz einen Schlag aussetzte.

„Die werde ich nicht brauchen.“ Aber sie schrieb die Nummer trotzdem auf. Schließlich war sie nicht unvernünftig. Und sie hatte überhaupt kein Flattern im Bauch, weil Dan ihr seine Telefonnummer gab.

Sie verabschiedeten sich, ehe Len ihren Computer herunterfuhr, ihre farbigen Kontaktlinsen einsetzte, bevor sie sich schnell umzog und dann das Haus verließ. Sie erachtete es als Errungenschaft, nur zweimal zugesperrt zu haben. Es war warm draußen, aber sie hatte einen Mantel an, weil sie ausgesprochen vernünftig war und nicht einfach nur in ihren Hotpants und einem bauchfreien Shirt durch die Straßen wanderte.

Mit ihren High Heels in der Hand lief sie los. Sie liebte es, zu laufen. Sie war schnell, hatte Ausdauer, und an ihren guten Tagen, an den Tagen, an denen sie nicht von Angst getrieben war, da war es das Beste in ihrem Leben. Wenn sie lief, fühlte sie sich frei, stark, und es machte sie glücklich. Warum sollte man gehen, wenn man laufen konnte?

Sie erreichte das ‚PaddysNox‘ fünfzehn Minuten vor ihrer Schicht. Len grinste von einem Ohr zum anderen, als sie hineinging. Heute war einer der guten Tage. Jack und Nick, die Türsteher, begrüßten sie an der Tür.

In einem separaten Raum, wo sich die Mädels für ihre Auftritte umzogen, wechselte sie die löchrigen Sneakers gegen ihre High Heels. Nach einem Monat blutiger Blasen auf den Füßen und abendlicher Wadenkrämpfe, sobald sie wieder aus den Schuhen kam, hatte sie sich endlich daran gewöhnt. Ihr Rücken tat ihr nicht mehr so weh, und immerhin sah sie jetzt auch nicht mehr aus wie ein Storch auf Stelzen. Na ja, vielleicht doch ein bisschen, dachte sie ironisch.

Sie befeuchtete ein Tuch und wischte damit über ihr Gesicht, um den leichten Schweißfilm zu entfernen. Dann frischte sie ihr Deo auf, als Jessy lachend hinter ihr hereinkam.

„Nick ist so ein schlimmer Fuchs“, bemerkte sie kopfschüttelnd, grinste aber dabei.

„Erzähl mir etwas, das ich noch nicht weiß.“ Lenara wollte gerade hinausgehen, doch Jessy hielt sie am Arm zurück.

„Lenny, heute entkommst du mir nicht.“

„Ach, komm schon, ist das wirklich notwendig?“, jammerte sie und wollte ihren Arm wegziehen. Es war ein guter Tag. Kein panisches Wegreißen in Sicht. Herzschlag normal. Alles war gut. Sie konnte das übliche Geplänkel mit Jessy sogar genießen.

„Beeindruckte Männer geben mehr Trinkgeld!“ Sie drückte Len bestimmt in einen der Sessel, direkt vor den beleuchteten Spiegeln. „Willst du deine Haare so lassen?“ Jessy kramte in ihrem Make-up-Beutel, nachdem sie sich neben Len gesetzt hatte.

„Äh … ja?“ Len spürte die Wärme auf ihren Wangen, als sie verlegen zu ihrem Zopf griff. Die honigbraunen Haare reichten ihr bis über die Schulterblätter, aber sie hatte selten Lust, den Aufwand zu betreiben, sie zu stylen.

Cassidy kam herein. Nein, Jessy und Cassidy waren nicht ihre richtigen Namen, sondern ihre Bühnennamen.

Es nannte sie auch sonst niemand Lenny. Aber Lenara fühlte sich wohler, anonymer, wenn jeder dachte, Lenny wäre ihr echter Name. Auch so eine Sache, die ihr ein sehr irrationales Gefühl von Sicherheit gab.

„Hey, Cass, kümmere dich mal um Lennys Haare, während ich ihre Augen mache.“ Eine Runde Gänsehaut wegen des Kommentars zu ihren Augen, dann war alles wieder gut.

„Yey, mein persönliches Test-Püppchen!“ In die Hände klatschend machte Cass sich ans Werk.

Zehn Minuten später hatte Len Mascara, lila glitzernden Kajal und rosa Lipgloss im Gesicht. Eine Hochsteckfrisur hielt ihre Haare zusammen, und einzelne Strähnen umspielten ihr Gesicht. Einmal die Woche überredeten die Mädels sie dazu. Ihre Beschwerden wurden von Mal zu Mal halbherziger. Sie hatten recht, das Trinkgeld war einfach besser, wenn sie sich zurechtmachte. Oder zurechtgemacht wurde.

„Viel besser“, kommentierte Cassidy und drehte ihr Gesicht zu sich. „Lächle mal, Lenny.“ Sie zog an ihren Wangen, bis Len nicht mehr anders konnte, als zu gehorchen. Lenara bekam einen geräuschvollen Schmatzer auf die Wange, und sie lachten gemeinsam, während Jessy versuchte, den Lippenstiftabdruck von ihrer Wange zu wischen. Wäre sie der Mensch, der sie sein wollte, hätte Len sie umarmt.

Das Klopfen an der Tür sagte ihr, dass sie nach draußen mussten, weil die ersten Gäste kamen.

Lenara schnappte einen Block und Stift und ging zu den Männern, die sich in einer Sitzecke mit gutem Blick zur Bühne niederließen.

Eine halbe Stunde später war das Lokal gerammelt voll, und die Musik dröhnte so laut aus den Lautsprechern, dass sie manchmal den Bass bis in die Zehen spüren konnte.

Cassidy räkelte sich in Spitzenunterwäsche auf der Bühne und schwang um die Pole-Dance-Stange herum. Es war ein guter Tag, und Len setzte ihr freundlichstes Lächeln auf.

Die Nacht verlief relativ harmlos, ein paar schmutzige Witze, ein paar anzügliche Bemerkungen und ein Klaps auf ihren Hintern. Gutes Trinkgeld. Ein sturzbetrunkener Mann Mitte fünfzig versuchte gerade, zu Cassidy auf die Bühne zu klettern, um ihr einen Geldschein zwischen die Brüste zu stecken. Len sah sich nach Nick um und stellte erleichtert fest, dass sich dieser bereits einen Weg durch die Menge bahnte. Kurz darauf zerrte er den Mann von der Bühne und schaffte ihn nach draußen.

Als Nick zurückkam, stellte Mandy, die hinter der Bar stand, ihm ein Glas Wasser hin, das er in einem Zug austrank. Alkohol war während der Schicht verboten.

Len machte wieder eine Runde durch die Bar, als eine Hand ihren Oberarm umschloss und sie festhielt. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als sie sich umdrehte. Ihr Gehirn stürzte ab und fror sie an Ort und Stelle fest.

Len war auf den High Heels über einen Meter achtzig groß und überblickte dadurch im Normalfall die Menge. Der Mann, der jetzt vor ihr stand und seine Hand immer noch auf ihrem Oberarm hatte, war ein Riese. Sie hatte das Bedürfnis, den Kopf in den Nacken zu legen.

Sie setzte ihr professionellstes Lächeln auf, auch wenn ihr ein Schauer über den Rücken lief. Du schaffst das! Es ist ein guter Tag!

„Hi, ich komme gleich zu Ihnen und nehme Ihre Bestellung auf. Wo ist Ihr Tisch?“ Sie bemühte sich um einen freundlichen Ton. Er war keiner der Stammgäste, sie hatte ihn hier noch nie gesehen. Das allein war zwar nicht ungewöhnlich, beruhigte aber auch nicht gerade ihre Nerven.

„Süße, wann bist du auf der Bühne?“ Der Typ kam einen Schritt näher, als sich jemand an ihm vorbeidrängte. Er war ihr jetzt definitiv zu nah. Sie konnte den Whiskey in seinem Atem riechen. Alarmglocken gingen in ihrem Kopf los, Gänsehaut kroch ihre Arme hoch.

„Tut mir leid, ich bin nicht auf der Bühne zu sehen. Aber Jessy hat gleich ihren Auftritt und wird Ihnen sicher eine tolle Show bieten“, versuchte sie, ihn von sich abzulenken. Als sie ihren Arm wegziehen wollte, festigte sich sein Griff unangenehm.

„Lassen Sie mich bitte los“, sagte sie so ruhig wie möglich, obwohl sie innerlich bereits zitterte. Sie hatte gelernt, ihr Gesicht neutral zu halten, sodass man ihr die Gefühle nicht ansah. Manchmal half es. Manchmal machte es die Situation noch schlimmer.

„Schätzchen, ich habe einen Haufen Eintritt bezahlt, du musst mir schon was bieten für mein Geld!“ Er zog ihren Arm hinter sich und presste sie damit an sich. Sie wollte nicht einmal daran denken, was sie da in seiner Hose spüren konnte, und konzentrierte sich stattdessen auf sein Gesicht. Dunkelblond, braune Augen, kantiges Kinn. Sie konnte der Polizei eine perfekte Beschreibung liefern. Sofern sie nicht vorher in Panik die Stadt verließ.

„Sir, lassen Sie mich los, oder Nick, unser Türsteher, wird Ihnen etwas bieten.“ Immer noch zerrte sie an ihrem Arm, in dem Versuch, von ihm wegzukommen. Nick, verdammt noch mal, wo bist du?

Hektisch sah sie sich nach Nick und Jack um, während sie sich krampfhaft darum bemühte, nicht in Panik zu geraten. Die beiden wechselten sich immer ab. Einer an der Tür, einer im Club, um seine Runde zu drehen. Wo waren die zwei?

„Ach, komm schon, entspann dich, Süße.“ Der Mann – Blondie – grinste breit und griff dann mit der anderen Hand nach ihrem Hintern. In dem Moment, als sie seine Finger spürte, schlug sie ihm ins Gesicht. Es passierte so schnell, dass Len nur perplex blinzeln konnte, während sich seine Wange rot färbte. Sein Gesichtsausdruck wurde hart, sein Griff brutal, ehe er sie plötzlich losließ.

„Was bildest du dreckige Schlampe dir ein!“

Dann schlug er zurück.

Len taumelte nach hinten und griff sich an die brennende Wange. Aber bevor sie ihr Gleichgewicht zurückhatte, schubste er sie zu Boden, und sie geriet in Panik. Keiner der Herumstehenden griff ein. Blondie war gebaut wie der gottverdammte Terminator und konnte ihr wahrscheinlich mit Leichtigkeit den Hals umdrehen. So schnell wie möglich, kroch sie rückwärts von ihm weg und versuchte, sich an einer der Sitzbänke neben ihr hochzuziehen. Keine einfache Aufgabe mit zehn Zentimeter hohen Absätzen, die keinen Halt auf dem Boden finden wollten. Als der Riese ihr hinterherkam und ausholte, schrie sie aus Leibeskräften nach Nick.

Die Musik war immer noch laut, aber die Gespräche und das Gelächter von den umstehenden Gästen waren verstummt, ein Kreis hatte sich um sie gebildet. Alle sahen perplex zwischen ihnen hin und her. Als seine Faust auf sie zukam, riss Len panisch die Hände nach oben.

Zu spät. Der Schlag streifte ihren Unterarm, ehe er auf ihrer Nase landete. Sie krachte wieder auf ihren Hintern zurück. Tränen schossen ihr von dem Schmerz in die Augen.

Dann endlich tauchten Nick und Jack auf. Sie zerrten ihn von ihr weg, was keine leichte Aufgabe zu sein schien, da er sich gewaltvoll zur Wehr setzte.

Mandy kam hinter der Bar hervorgelaufen und stürzte zu ihr. Zitternd wischte Len sich das Blut weg, das von der Nase auf die Lippen lief. Vorsichtig half Mandy ihr aufzustehen und brachte sie zurück zur Umkleide. In der Zwischenzeit begann Len, am ganzen Körper zu zittern. Kurz darauf war Jack wieder da.

„Mandy, hol uns bitte einen Eisbeutel und geh dann wieder zurück zur Bar, ich mach das hier.“ Jack führte Len zu einem der Sessel. Vorsichtig betastete er ihre Nase, was sie zusammenzucken ließ. Sie biss die Zähne zusammen und sagte sich stumm ihr Mantra vor, dass dies ein guter Tag wäre.

„Scheint nichts gebrochen zu sein.“ Mit einem nassen Tuch wischte er das Blut ab. „Tut mir leid, Lenny.“ Schuldbewusst sah er ihr in die Augen, während er den kleinen Schnitt auf ihrer Nase desinfizierte. Mandy kam mit dem Eisbeutel zurück, den Jack Len sofort aufs Gesicht legte. Er linderte zwar den pochenden Schmerz, aber sie musste den Beutel kurz darauf wieder herunternehmen. Hirnfrost. Ihre Zähne klapperten vor Kälte. Sie schob es auf den Eisbeutel. Es war ein guter Tag.

„Ist schon gut“, flüsterte sie leise und versuchte, ihre Nerven zu beruhigen. War nicht der erste Schlag. War nicht der schlimmste. Kein Grund, so ein Theater zu veranstalten, schalt sie sich gedanklich.

Zähneknirschend unterdrückte sie den Drang, ihre Narbe zu kratzen. Sie juckte sowieso nur, weil sie überhaupt daran dachte.

„Ist jemand bei dir zu Hause?“, fragte Jack und strich ihr fürsorglich über den Arm. Sie zuckte wieder zusammen. Len wollte nicht, dass er sie anfasste.

„Nein, aber das macht auch keinen Unterschied. Ich brauche das Geld.“ Jack drückte sie nach unten, als sie Anstalten machte, aufzustehen. Sie atmete langsam und vorsichtig durch. Kein Grund, schreiend davonzulaufen. Er meinte es nur gut.

„Ich rede mit dem Boss. Dass das passiert ist, ist Nicks und meine Schuld. Das sollte nicht auf deine Kosten gehen.“ Len zog den Eisbeutel wieder herunter, weil sie langsam das Gefühl bekam, dass er ihr mehr wehtat als half.

„Schön drauflassen, es wird morgen auch so schon böse genug aussehen. Wir wollen nicht, dass dir deine Nase zuschwillt.“ Damit drückte Jack den Eisbeutel wieder in ihr Gesicht, ohne auf ihren Protest zu achten.

„Kann dich jemand abholen?“

Seufzend schüttelte sie den Kopf. „Nein.“

Sie dachte an Dan. Schüttelte wieder den Kopf, diesmal mehr für sich selbst. Sie würde ihn da nicht mit hineinziehen. Sie kam sich auch so schon blöd vor.

„Ich habs nicht weit nach Hause.“

„Es ist zwei Uhr morgens, ich lass dich um die Uhrzeit in deinem Zustand nicht zu Fuß nach Hause gehen.“ Gereizt starrte sie in seine Augen. Ein guter Tag. Gereiztheit war gut. Gereiztheit war besser als Panik. Viel besser. Jack sah aus wie ein Bulldozer mit Glatze. Nicht unattraktiv, aber er bestand von oben bis unten nur aus Muskeln.

Mindestens die Hälfte aller Mädels im Club hatte schon Sex mit ihm gehabt. Wahrscheinlich, weil er der Beschützer-Typ war, und welche Frau fand diese Eigenschaft nicht anziehend? Aber Len machte er manchmal nervös. Nicht die Sorte „Steht er vielleicht auf mich?“-nervös, sondern die Sorte „Hat er Leichen im Keller?“-nervös.

„Mach nicht so einen Aufstand, Jack, was soll schon noch passieren?“ Nein, sie würde jetzt nicht alle Möglichkeiten durchgehen, was tatsächlich passieren konnte.

Mit zitternden Knien wich sie Jacks Griff aus, als sie aufstand. Innerlich fluchend setzte sie sich wieder hin, wechselte ihre Schuhe und stand erneut auf. Das Zittern ließ ein wenig nach.

„Lenny, ich mein es ernst. Entweder du rufst dir ein Taxi, oder jemand holt dich ab. Vorher lass ich dich nicht weg.“

Sie hatte kein Geld für ein Taxi. „Du hast einen Job zu machen, also geh raus und pass auf Jessy und die anderen auf. Ich bin ein großes Mädchen.“ Auch wenn sie sich fragte, wen von ihnen beiden sie damit zu überzeugen versuchte. Als sie ihren Mantel schnappte, griffen ihre Hände nach Dans Nummer. „Ich rufe einen Freund an.“ Sie hoffte, der Bluff funktionierte, und begann, die Nummer in ihr Handy einzutippen. „Ich muss raus, hier drin hab ich keinen Empfang.“ Bevor er wieder Einspruch erheben konnte, lief sie an ihm vorbei.

„Bye, Nick“, rief sie im Vorbeigehen. Sie hörte ihn hinter sich herrufen, eilte aber schnell weiter und zog im Gehen ihren Mantel an. Halbwütend stellte sie fest, dass sie immer noch zitterte. Unruhig befingerte sie ihr Handy, holte tief Luft und blieb ein paar Straßen weiter schließlich stehen.

Weit und breit war kein Mensch zu sehen, es war still, dunkel, und bevor sie es sich anders überlegte, wählte sie Dans Nummer. Es war vernünftig, sagte sie sich. Nach dem zweiten Läuten hob er ab.

„Hallo?“, fragte er verschlafen und Len wurde rot. Seine Stimme klang anders durchs Telefon als über das Headset. Besser, realer, falls das überhaupt möglich war. Wie war sie nur auf die blöde Idee gekommen, ihn anzurufen?

„Hey, Dan. Hier ist Len, sorry, ich wollte dich nicht wecken. Schlaf weiter“, beeilte sie sich, sofort zu sagen, und legte auf, bevor er ihr antworten konnte. Ich bin so ein Idiot! Ich wollte dich nicht wecken? Es ist Freitag um zwei in der Früh! Dachte ich, dass er noch wach ist und Bingo spielt? Wütend und verlegen setzte sie sich wieder in Bewegung. Ihr Handy vibrierte.

Dan. Er rief zurück. Sie blieb erneut stehen und hielt den Atem an, als sie abhob.

„Len, was ist passiert? Wo bist du? Ich kann in zehn Minuten dort sein“, erklärte er am anderen Ende der Leitung, und sie hörte Rascheln im Hintergrund.

„Entschuldige, kein Grund zur Aufregung, Dan. Leg dich wieder hin. Es ist nichts passiert. Ich bin gerade auf dem Weg nach Hause und wollte einfach nur währenddessen mit jemandem reden. Du weißt schon, man wird nicht angegriffen, wenn die Leute glauben, jemand bekommt den Überfall mit.“ Sie versuchte, scherzhaft zu klingen, stattdessen klang ihr nasaler Ton erbärmlich. Ihre Nase blutete erneut und tat wieder weh. Ach was, ihr ganzes verdammtes Gesicht tat weh.

Sie klemmte das Handy zwischen Ohr und Schulter, in der einen Hand ihre High Heels, während sie mit der anderen nach einem Taschentuch kramte.

Als sie es fand, stopfte sie es kurzerhand in ihre Nase, um die Blutung zu stillen. Dann ging sie weiter.

„Len, ich meins ernst. Sag mir, wo du bist, warte in einem Diner, und ich komm dich holen!“

Sie hörte, wie bei ihm im Hintergrund eine Tür ins Schloss fiel. Ihre Nackenhaare richteten sich auf.

„Dan, bitte mach kein Theater, ich wollte nur reden“, flehte sie, versuchte, das Zittern aus ihrer Stimme zu halten. Wenn sie jetzt wie die hysterische dumme Kuh klang, nach der sie sich fühlte, würde er sie nie in Ruhe lassen. Noch eine Tür fiel ins Schloss.

„Du klingst nicht, als wäre alles in Ordnung. Hältst du dir die Nase zu?“ Er versuchte, sie abzulenken, während es sich anhörte, als ob er durch ein Treppenhaus lief und die letzten Stufen übersprang.

„Nein.“ Ich hab nur ein Taschentuch in meiner blutenden Nase stecken. Völlig normal.

„Hör mal, es gibt nicht viele Läden, die um diese Uhrzeit noch offen haben. Ich weiß, dass deine Schicht noch nicht zu Ende ist, also muss was passiert sein. Es wäre mir recht, wenn du mich nicht die ganze Stadt nach dir absuchen lässt. Sag mir, wo du bist!“ Er klang gereizt, und sie konnte hören, dass sich sein Atem beschleunigt hatte. Er lief. Automatisch blieb sie stehen. Es war eine saublöde Idee gewesen, ihn anzurufen. Der Gedanke, dass er sie jetzt so sah, machte sie unruhig. Es ist ein guter Tag. Alles ist in Ordnung!

„Okay.“ Sie holte tief Luft und zuckte zusammen, weil sie ihre Nase dabei bewegt hatte. „Okay. Kennst du das Café –“ Sie unterbrach sich, als sie Schritte hörte. Fast hätte sie panisch aufgeschrien und das Handy fallen lassen. Den Atem anhaltend, drückte sie sich an die nächste Mauer.

„Dan?“, fragte sie leise ins Telefon, als ein Mann mehrere Meter von ihr entfernt stehen blieb. Die Telefonverbindung wurde unterbrochen. „Scheiße“, fluchte sie und zögerte nicht mehr länger. Sie rannte los.

„Len“, rief der Mann hinter ihr. Sie beschleunigte ihr Tempo. Er hatte sie fast eingeholt, als er noch mal ihren Namen rief. Da erst dämmerte es ihr, und sie sah über die Schulter. Als sich die Panik lichtete, blieb sie unter einem Lichtmast stehen und drehte sich um. Dan kam vor ihr zum Stehen, stützte seine Hände auf seine Oberschenkel, während er nach Luft rang.

„Scheiße, Dan, du hast mich zu Tode erschreckt!“ Erleichtert atmete sie auf, während sie ihr Handy zurück in ihre Manteltasche gleiten ließ. Er sah zu ihr auf, und ihr stockte der Atem.

Die Fotos wurden ihm nicht gerecht. Er sah in echt noch viel besser aus, denn seine grünen Augen strahlten geradezu. Er trug nur ein T-Shirt, Jeans und Chucks, sie konnte die Muskeln an seinen Oberarmen sehen. Schön definierte Muskeln. Nicht zu viel, nicht zu wenig. Als er sich aufrichtete, sah sie, dass er größer war als sie, sie reichte ihm kaum zur Schulter.

„Was zum Teufel ist mit deinem Gesicht passiert?“, rief er aus und überbrückte die kurze Entfernung zwischen ihnen. Noch bevor sie reagieren konnte, hatte er eine Hand unter ihrem Kinn und hob ihr Gesicht an. Sie errötete, als ihr einfiel, dass ihr Taschentuch noch in ihrer Nase steckte. Hastig zog sie es weg.

„Ich bin gegen einen Türstock gelaufen?!“

Sie hatte es als Scherz gemeint, aber der finstere Zug um seinen Mund sagte ihr, dass er ihn nicht komisch fand. Er hatte einen schönen Mund. Als sie sich dabei ertappte, wie sie ihn anstarrte, sah sie schnell wieder weg. Sie entzog sich seinem sanften Griff und wandte den Kopf ab.

Len konnte seine warmen Finger noch auf der Haut spüren. Ein guter Tag. Sag ich doch! Ihr beschleunigter Puls erhöhte jedoch auch den Blutfluss aus ihrer Nase, weswegen sie das Taschentuch wieder daran hielt.

„Du wohnst also hier in der Nähe“, stellte sie etwas plump fest, um das Thema von sich abzulenken. Ihr entging der unwahrscheinliche Zufall nicht, dass er sie so zielsicher gefunden hatte. Aber das war die Paranoia, die aus ihr sprach. Scheiß auf Paranoia. Alles war gut.

„Lenk jetzt nicht vom Thema ab“, knurrte er wütend. O Mann, Dan war sexy, wenn er wütend wurde. Sein Ton sollte sie nervös machen. Keinesfalls sollte er ihr ein Gefühl von Sicherheit vermitteln. Der Typ in der Bar hatte ihr das letzte bisschen Verstand aus dem Kopf geschlagen.

„Können wir das woanders besprechen, und nicht hier auf der Straße?“ Öffentlichkeit war gut. Andere Menschen waren auch gut.

„Zu dir oder zu mir?“, fragte er sofort zurück, und sie warf ihm einen seltsamen Blick zu. Er meinte es ernst. Da war die Gänsehaut wieder. Aber ob es die angenehme oder unangenehme Sorte war, konnte sie nicht mit Sicherheit sagen. Vertrauen wir der Paranoia? Nein. Nur manchmal. Ein bisschen.

„Wir könnten auch da drüben ins Diner gehen“, meinte Len ausweichend und zeigte in die Richtung.

Sie mochte Dan, aber sie war nicht verrückt. Nicht sehr.

„Klar“, antwortete er und griff nach ihr, um sie mit sich zu ziehen. Sie zuckte zusammen und riss ihre Hand weg. Er hatte genau die Stelle erwischt, die von der Faust getroffen war.

„Sorry“, murmelte sie und eilte an ihm vorbei. Sie spürte, wie sich sein Blick in ihren Rücken bohrte. Er sagte aber nichts und folgte ihr.

Sie waren fast die Einzigen im Diner. Len setzte sich zu einem Tisch im hinteren Teil des Raumes. Der Tisch, der dem Notausgang am nächsten war. Es wäre ihr peinlich, ihm in ihren Hotpants und mit einem zu tief geschnittenen Oberteil gegenüber zu sitzen, also ließ sie den Mantel an. Sie konnte sich auch so schon denken, was er von ihr hielt.

Als sie bestellt hatten und die Kellnerin wieder verschwand, natürlich nicht, ohne eine Runde zu gaffen, griff Dan wieder nach ihrem Arm, vorsichtiger diesmal, und zog den Ärmel des Mantels hoch. Er machte keinen Ton, starrte nur länger als notwendig auf den blauen Fleck, der sich dort bildete. Schließlich ließ er ihren Arm los und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Sein Haar war vom Schlaf noch zerzaust. Len wünschte, sie würde zerzaust nur halb so gut aussehen wie Dan.

„Erzähl“, verlangte er und deutete mit einer Handbewegung auf ihr Gesicht.

„Es war einmal ein Türstock“, fing sie an und unterbrach sich, als er die Lippen wütend zusammenpresste. Sie verdrehte die Augen. „Es war einfach ein dummer Unfall.“ Defensiv verschränkte sie die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück.

Er glaubte ihr kein Wort. Langsam beugte er sich vor und stützte die Unterarme auf den Tisch. Sein Blick ging ihr durch und durch. Sie unterdrückte den Wunsch, auf ihrem Sitz herumzurutschen.

„Ein Gast hat mich angepöbelt. Ich hab ihm eine Ohrfeige verpasst, als er mich nicht in Ruhe lassen wollte. Nick und Jack, unsere Türsteher, waren nicht rechtzeitig bei mir, bevor er zurückgeschlagen hat. Sie haben ihn rausgeschmissen, Jack hat meine Nase versorgt und mich nach Hause geschickt.“ Sie tat es mit einem Schulterzucken ab, während sie innerlich bei der Erinnerung schrie. „Ich hab die Situation falsch eingeschätzt, und hätte ich ihn nicht geohrfeigt, wäre auch nichts passiert.“ Das klang gut. Sogar vernünftig.

Er ballte die Hände zu Fäusten, bis die Knöchel weiß hervortraten. Nervös befeuchtete sie ihre Lippen und begann, mit dem rechten Fuß zu wippen.

Die Kellnerin brachte ihren Tee und Dans Kaffee und verschwand wieder. Len richtete den Aschenbecher am Tisch mittig aus, dann den kleinen Löffel neben ihrer Tasse, dann die Tasse selbst.

„Es tut mir leid, ich hätte dich nicht anrufen sollen.“ Sie ließ den Teebeutel ins heiße Wasser gleiten, während Dan unruhig seinen Kaffee umrührte. Als ihr Wasser Farbe annahm, zog sie den Beutel heraus, drückte ihn aus und ließ ihn in den Aschenbecher fallen. Vorsichtig nahm sie einen Schluck.

„Bist du Stripperin?“

Erschrocken über seine plötzliche Frage, verschluckte sie sich. Hustend rang sie nach Luft, während er sie weiter unumwunden anstarrte. Ihre Nase bedankte sich für den Zwischenfall mit schmerzhaftem Pochen. Ihr Herz rutschte eine Ebene tiefer. Es war eine wirklich dumme Idee gewesen, Dan anzurufen.

„Nein.“ Seine Schlussfolgerung war logisch, kränkte sie aber trotzdem. „Ich habe nicht gelogen, als ich gesagt habe, dass ich Kellnerin bin.“

„Gut.“ Etwas von seiner Anspannung löste sich, seine Fäuste lockerten sich.

Wütend auf sich selbst, dass sie dem Drang nachgegeben hatte, ihn anzurufen, blickte sie zum Fenster und bemerkte darin ihre Reflektion. Sie sah scheiße aus. Ihr Gesicht verfärbte sich bereits, und sie spürte ihren Puls unangenehm stark in ihrem Gesicht. Sie schloss kurz die Augen, versuchte, den Schmerz zu ignorieren. Und Dan, der sie immer noch anstarrte. Kein Wunder, du siehst aus, als hätte dich ein Elefant ins Gesicht geboxt!

„Arbeitest du im PaddysNox?“, fragte er schließlich, als sie ihn wieder ansah. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. Alarmglocken schrillten in ihr los.

„Und woher kennst du bitte das PaddysNox?“

Statt einer Antwort grinste er.

„Klar. Blöde Frage.“ Genervt verdrehte sie die Augen. Er war also schon einmal in einem von drei Stripclubs der Stadt gewesen. Na und? Die anderen beiden waren nur mit dem Auto zu erreichen. Es war also logisch, dass er auf das Paddys tippte. Oder nicht?

Er hatte Grübchen in den Wangen, wenn er lächelte. Unruhig kaute sie auf ihrer Unterlippe herum. Ihre Finger zuckten. Bloß nicht kratzen. „Wie kommst du auf das PaddysNox?“

„Ausschlussverfahren. Wie gesagt, es gibt nicht sehr viele Clubs, die jetzt noch offen haben. Trägst du Kontaktlinsen?“

Len wäre am liebsten aus der Haut gefahren. Wie zum Teufel fielen ihm diese Dinge auf? Wieso musste er so verdammt gut aussehen und auch noch in der Lage sein, zu beobachten und zu denken? Konnte er nicht einfach unverschämt gut aussehen und ein bisschen dumm sein? Nicht viel. Nur ein bisschen, damit er keine scharfsinnigen Fragen stellte.

Es war unfair. Zähneknirschend gab sie es zu. Sie hätte es sowieso nicht verbergen können.

Außerdem, sagte sie sich, gab es auch keinen Grund, ein Drama daraus zu machen. Viele Frauen trugen Kontaktlinsen.

Er beugte sich über den Tisch, näher zu ihr. Len gab ihrem Drang nach, sich ebenfalls vorzulehnen, in der Hoffnung, er würde sich dann zurücklehnen. Aber natürlich tat er ihr diesen Gefallen nicht. Ihre Gesichter waren sich so nah, dass sie die goldenen Sprenkel in seinen grünen Augen sehen konnte.

„Farbige?“, fragte er weiter, ohne auch nur zu blinzeln. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und sie musste sich zwingen, nicht auf seine Lippen zu sehen.

„Ja.“

„Braune?“ Er klang ungläubig, obwohl er den Beweis direkt vor Augen hatte. „Warum nimmt man braune Kontaktlinsen?“

Len zuckte mit den Schultern. Was hätte sie darauf sagen sollen? Sie fiel nicht gerne auf. Braun war unverfänglich. Außerdem konnte man die Farbänderung darunter bei Braun nicht so leicht erkennen. Trotzdem lehnte sie sich wieder zurück, weg von ihm. Das war definitiv nicht das Thema, das sie mit ihm besprechen wollte. Bei ihrem ersten Treffen, das wahrscheinlich sowieso das letzte sein würde. „Ich falle nicht gern auf.“

„Nun, das wird dir in den nächsten Tagen sicher schwerfallen.“ Der Zug um seinen Mund wurde wieder ernst.

„Witzig.“ Er hatte recht. Und das würde sie im Club Trinkgeld kosten.

„Nimm die Kontaktlinsen raus.“

Sie schnaubte innerlich. „Nein.“

„Hast du eine Sehschwäche?“ Er brachte sie langsam, aber sicher auf die Palme. Konnte er nicht einfach lockerlassen? Musste er so stochern? Was ging ihn das überhaupt an?

„Selbst wenn nicht, würde ich sie trotzdem nicht rausnehmen.“ Len biss die Zähne zusammen, auch wenn ihre Wangenmuskulatur dafür sorgte, dass ihre Nase wieder mehr schmerzte. Ihre Finger trommelten lautlos in einem unsteten Rhythmus auf ihrem Oberschenkel.

„Warum nicht?“

„Ich glaube, ich sollte jetzt doch besser gehen“, sagte sie abweisend und griff nach ihren High Heels.

„Sorry, sorry!“ Entschuldigend hielt er die Hände hoch. „Ich hör schon auf“, versprach er.

Sie ließ die High Heels wieder sinken und lehnte sich zurück. Eine Haarnadel stach in ihren Hinterkopf, und genervt fing sie an, sie alle herauszuziehen. Als ihre Haare offen herunterfielen, zog sie ein Zopfgummi vom Handgelenk, sie hatte dort immer mindestens zwei, und band die Haare damit nach hinten. Sie bemerkte Dans Blick und Hitze stieg in ihre Wangen. Warum zum Kuckuck hat er nur diese Wirkung auf mich?

„Was ist?“

„Du bist mir ein Rätsel“, erklärte er ernst und brachte sie damit unfreiwillig zum Lachen. Sie hatte eher das Gefühl, als wäre sie viel zu leicht zu durchschauen.

„Ich bin ein offenes Buch“, widersprach sie deshalb.

„Dann sag mir, warum du farbige Kontaktlinsen trägst“, verlangte er wieder. „Bitte.“

Sie trank einen Schluck Tee und wog ihre Antwortmöglichkeiten ab, ohne ihn noch mehr auf das Thema einzuschießen.

Ihr fiel nichts Vernünftiges ein, und er schien sowieso nicht lockerzulassen. Lügen wollte sie auch nicht. „Weil meine Augen creepy sind.“

„Was kann an deinen Augen schon unheimlich sein?“

Ihr Griff um die Teetasse festigte sich. „Sie wechseln die Farbe.“ Obwohl sie sich um Ruhe bemühte, klang ihre Stimme gepresst. Es war kein Geheimnis im eigentlichen Sinne, aber es führte zu Reaktionen, die sie normalerweise lieber umging. Warum sie bei Dan so einfach damit herausrückte, wusste sie nicht. Wahrscheinlich war es ein Fehler. Wahrscheinlich würde sie es bereuen.

„Zeigs mir.“ Er klang nicht skeptisch, wie sie erwartet hatte, nicht mal überrascht, sondern neugierig. Das kam selten vor. Nein, eigentlich kam das nie vor. Es machte die Leute, die wenigen, die davon wussten, argwöhnisch. Aber es war auch selten, dass sie es überhaupt jemandem zeigte. Sowohl freiwillig als auch unfreiwillig.

„Hörst du dann auf, mich auszufragen?“ Sie zweifelte nicht daran, dass er einen Abgang machen würde, sobald er ihre tatsächliche Augenfarbe sehen konnte. Darüber zu reden war eine Sache, die Wirklichkeit eine andere.

„Versprochen.“ Dan grinste von einem Ohr zum anderen. Seine Aufregung machte sie nervös.

Unruhig nahm sie die Kontaktlinsen heraus und ließ sie in den Aschenbecher am Tisch fallen. Dann lehnte sie sich bemüht ruhig auf den Tisch und sah ihn an. Ihm klappte der Mund auf. Seine Lippen formten ein tonloses ‚Scheiße‘.

„Eines ist blau und eines grün“, flüsterte er und beugte sich vor. Ihre Gesichter waren sich schon wieder viel zu nah. Er strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht.

Sein Daumen streifte dabei sanft über ihre Wange, und sie schloss für eine Sekunde die Augen, genoss die Berührung, vergaß ihre fehlenden Kontaktlinsen. Als er seine Hand wegzog, sah sie ihn wieder an.

„Jetzt ist eines silbergrau und eines fast türkis.“ Er machte eine viel zu lange Pause. „Cool.“

Ihre Brauen zogen sich verärgert zusammen, bis sie sich zwang, ihr Gesicht zu entspannen, und in ihre neutralste Miene zurückfand. Sie lehnte sich wieder zurück. Wahrscheinlich sollte sie froh sein, dass er nicht schreiend davonlief. Aber sein ‚Cool‘ klang fast unbeeindruckt. Ihre Augen waren nicht ‚cool‘. Seine Bemerkung ärgerte sie. Auch wenn sie nicht wusste warum, aber seine Reaktion gefiel ihr trotzdem nicht. In einem Zug trank sie den Tee aus und griff in ihre Manteltasche nach Geld.

„Lass es. Ich mach das schon“, unterbrach Dan sie und legte einen Zehner auf den Tisch. Len murrte ein „Danke“ und stand auf. Sie wollte nicht, dass er für sie bezahlte. Sie wollte überhaupt nichts von ihm. Sie wollte bloß hier weg. Weg von ihm. Weg von diesem surrealen Moment.

„Ich begleite dich nach Hause.“ Hörte sie da eine Herausforderung in seiner Stimme?

„Danke, aber nein, danke“, antwortete sie bestimmt. „Ich kenne dich …“ Sie sah auf die Uhr im Café. „… Seit einer halben Stunde, und ich bin nicht blöd.“ Nur Irre. Er lächelte sie strahlend an und wuschelte ihr durchs Haar. O Gott, sie hätte ihn in diesem Moment erwürgen können.

„Braves Mädchen.“

Sie riss ihren Kopf weg und starrte ihn noch finsterer an. Du kannst dir dein ‚Brav‘ sonstwohin stecken.

„Ich bringe dich zu mir“, sagte er, als er hinter ihr aus dem Café kam und nach ihrer Hand griff. Schnaubend zog sie ihre weg. „Sicher nicht.“ Sie war allein und hin und wieder einsam, aber sicher nicht verzweifelt. Oder verrückt. Okay, vielleicht ein bisschen verrückt. Aber nicht so verrückt.

Warum hatte sie die Kontaktlinsen für ihn herausgenommen? Sie überlegte, ob es klug wäre, ihm die High Heels über den Kopf zu ziehen und wegzulaufen.

„Du kannst das Bett haben, ich schlafe auf der Couch“, versicherte er ihr und griff wieder nach ihrer Hand.

„Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du stur bist? Ich werde nicht mit dir mitgehen.“

„Mein Ehrenkodex erlaubt es einfach nicht, eine Jungfer in Nöten nachts allein nach Hause zu schicken, nachdem sie bereits angegriffen wurde.“ Er lächelte charmant.

Jungfer. Richtig. Sie hätte ihre Hand fast wieder weggerissen bei diesem Wort. Aber das wäre eine starke Reaktion für etwas, dass im einundzwanzigsten Jahrhundert so unwahrscheinlich war, wie am helllichten Tag vom Blitz getroffen zu werden. Er hätte es dann gewusst. Kann der Abend noch schlimmer werden?, fragte sie sich, und ihr Verstand spielte verschiedenste Varianten, von Vergewaltigung bis Raubmord, durch.

Sie arbeitete in einem Strip-Lokal, war zweiundzwanzig Jahre alt und Jungfrau. Und sie hasste es. Selbst wenn sie einen One-Night-Stand mit Dan gewollt hätte, sie hätte das nicht gekonnt. Nicht beim ersten Mal. Nicht so. Die Jungfräulichkeit sollte ihr nichts bedeuten, sie war nicht religiös. Trotzdem. Würde sie es, wenn sie keine Jungfrau wäre? Könnte sie? Sie hatte keine Ahnung. „Ich sollte das nicht tun“, murmelte sie neben ihm, als sie die Straßen entlanggingen. Dan blieb stehen und sah sie an. Len hingegen betrachtete eingehend den Asphalt unter ihren Füßen.

„Vertraust du mir?“, fragte er, und ihr Gehirn spielte ihr die Szene von Aladdin vor, wo er genau das Prinzessin Jasmin fragte.

Genervt von sich selbst und dem ganzen gottverdammten Abend, hätte sie sich am liebsten geohrfeigt. Offensichtlich verlor sie jetzt endgültig den Verstand. Ihr Leben war kein Disneyfilm. Dan war kein Prinz. Sie war keine Prinzessin.

„Ich sollte es nicht“, wiederholte sie. Aber sie wollte es. Der paranoide Teil in ihr war scheinbar taub und stumm geworden. Sie wusste nicht, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war.

„Vertraust du mir?“, wiederholte er.

Unschlüssig sah sie zu ihm auf. „Ja.“

Beruhigend drückte er ihre Hand, bevor sie weitergingen. In ihrem Kopf erwachte plötzlich der paranoide Teil von neuem und schrie, dass sie verrückt sei und leichtsinnig und dumm, ihm zu folgen. Musste sie ihr Schicksal heute Nacht wirklich weiter herausfordern? Anscheinend ja.

Kurz darauf blieben sie vor einem Wohngebäude stehen, vor dessen Tür ein Hund saß. Ein ausgesprochen schöner Hund. Er hatte ein bisschen was von einem Wolf, und das Fell ähnelte farblich einem Husky. Schöne blaue Augen, dachte sie bei sich.

„Hey, Rack“, sprach er den großen Hund an. „Kommst du heute wieder mit rein?“ Ein sanftes, leises ‚Wuff‘ war seine Antwort. Sehr höflich, wenn man bedachte, dass es mitten in der Nacht war. Gut erzogen. Dann sah der Hund zu ihr, stand auf und wedelte mit dem Schweif.

Sie hielt ihm die Hand hin, damit er daran schnüffeln konnte, während Dan die Tür aufsperrte.

„Ist das erlaubt?“

„Ja, klar, er weiß sich zu benehmen.“

Wie eine streunende Katze. Sie hätte Dan nicht für den Typ gehalten, der Streuner aufnahm.

Langsam fragte sie sich, wo der Haken war. Er mochte Hunde, sie mochte Hunde, na und? Sie sollte das nicht überbewerten.

Len folgte Dan durch einen Innenhof zu einer weiteren Tür, dicht gefolgt von dem schönen Hund.

Ihre Alarmglocken klingelten erneut, lauter diesmal. Innerlich seufzte sie über ihr eigenes Verhalten. Sie war verrückt. Verrückter als sonst, versteht sich. Im dritten Stock schloss Dan eine Tür auf und ließ sie eintreten. Er drehte das Licht auf und schloss die Tür. Ihre Nackenhaare richteten sich auf, weil er direkt hinter ihr stand.

Ein schmaler Gang, vier Türen, zwei links, eine rechts und eine am Ende des Gangs. „Klo“, erklärte er einsilbig und tippte mit der Hand auf die erste Tür links. „Schlafzimmer.“ Zweite Tür links. „Badezimmer.“ Tür am Ende des Gangs. „Wohnzimmer und Küche“, schloss er und ging in den Raum.

Len zog ihre Schuhe aus, stellte ihre High Heels daneben und folgte ihm barfuß. Die gegenüberliegende Wand im Wohnzimmer bestand aus einer Fensterfront, die zur Straße hinauszeigte. Durchs Fenster im dritten Stock zu stürzen wäre nicht die beste Wahl. Aber möglich.

Alles war sauber und ordentlich. Wer hätte das gedacht? Eine kleine, offene Küche befand sich in der Ecke des Raumes. Die Couch stand groß und bequem vor einem riesigen Fernseher. Während Dan die Couch leer räumte, starrte sie auf seinen Rücken. Sie überlegte immer noch, ob es nicht klüger wäre, wenn sie einfach nach Hause ginge. Allein.

„Willst du den Mantel nicht ausziehen?“

Sie zuckte zusammen. „Nein, danke.“

Fragend zog er eine Augenbraue nach oben.

„Meine Uniform ist nicht alltagstauglich.“

Sein Grinsen war entwaffnend. Unsicher blickte sie sich weiter im Raum um, nur um ihn nicht ansehen zu müssen.

„Ich borge dir was von mir.“

Der Hund stand immer noch im Vorzimmer und beobachtete sie mit offenem Maul und treuen Augen. Grinste er sie etwa auch an? Klar. Völlig normal.

„Wann musst du heute zur Uni?“, fragte Dan über die Schulter, als er ins Schlafzimmer verschwand. Sie folgte ihm, blieb aber im Türrahmen stehen. Nervös kaute sie auf ihrer Unterlippe, während er in einer Kommode nach einem T-Shirt griff. Links in der Ecke stand ein Tisch mit zwei Bildschirmen und Dans PC. An der rechten Wand befand sich in der Mitte ein großes Bett, von dem sie möglichst schnell wieder wegsah. Der Rest des Raumes war mit Schränken und Kommoden verstellt. Kein Fenster.

„Gar nicht“, antwortete sie ihm ausweichend und fing das weiße T-Shirt auf, das er ihr zuwarf. Sie ging nicht zur Uni, denn sie hatte nicht das Geld dafür und war definitiv nicht klug genug für ein Stipendium. „Ich kann ruhig auf der Couch schlafen.“ Misstrauisch beäugte sie das Bett. Sie hatte noch nie im Bett eines anderen geschlafen, schon gar nicht in dem eines Mannes.

„Das Schlafzimmer kann man absperren, das Wohnzimmer nicht.“ Aber im Wohnzimmer kann ich aus dem Fenster springen, wenn ich mir das Genick brechen möchte. Sie blieb immer noch ihm Türrahmen stehen, das T-Shirt in der Hand, als Dan an ihr vorbei zurück ins Wohnzimmer spazierte. Aus einem nicht sehr rationalen Grund beruhigte es sie, dass er ihr die Möglichkeit gab, ihn auszusperren. Der Hund kam zu ihr, setzte sich vor sie hin und leckte ihre freie Hand.

Ihr Blick wurde weicher, während sie ihn hinter einem Ohr kraulte. Dan kam mit Tape und einem kleinen Kühlpad bewaffnet zurück.

„Für deine Nase“, fügte er erklärend hinzu, weil sie ihn verständnislos ansah. Ach ja. Ihre Nase. Sie hätte es fast vergessen. Mit der Erinnerung kam auch der pochende Schmerz zurück in ihr Bewusstsein. Super.

„Ich muss vorher mein Gesicht waschen. Hast du Olivenöl?“ Diesmal war er es, der sie verständnislos ansah. „Zum Abschminken, außer du hast Abschminktücher zu Hause.“

Kommentarlos schüttelte er den Kopf über sie und ging es holen. „Hier. Sag Bescheid, wenn du noch was brauchst.“

„Mach ich. Danke“, murmelte sie verlegen und verschwand im Badezimmer. Sie zog sich aus, wusch sich das Make-up runter und verzog das Gesicht bei dem Anblick im Spiegel. Ihre Augen wechselten die Farbe, und ihre Nase zeigte das ganze Spektrum des Regenbogens. Toll.

Sie überlegte, ob sie den BH anlassen sollte, und entschied sich in einem kurzen rebellischen Akt dagegen, bevor sie sich Dans T-Shirt über den Kopf zog. Es reichte ihr fast bis zu den Knien. Wenn Dan ihr etwas tun wollte, hätte er schon genug Gelegenheit gehabt, versuchte sie sich zu beruhigen. Notdürftig putzte sie mit Zahnpasta und ihren Fingern ihre Zähne – nein, sie würde nicht Dans Zahnbürste verwenden – und ging dann mit ihren Klamotten raus. Weil sie Dan nicht sah, verschwand sie direkt ins Schlafzimmer. Sie faltete ihre Sachen ordentlich zusammen und legte sie neben das Bett auf den Boden. Der, wie sie feststellte, staub- und schmutzfrei war, und ihre nackten Füße dankten es ihm.

Als sie sich wieder aufrichtete und umdrehte, erstarrte sie. Dan hatte die Arme über dem Kopf an den Türrahmen gelehnt und stand mit nacktem Oberkörper und wundervoll tiefsitzender Jogginghose vor ihr. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen, und sie musste sich zwingen, den Mund wieder zu schließen, um nicht zu sabbern. Ihr Herzschlag katapultierte nach oben und hämmerte ihr gegen die Brust. Sie bemühte sich, ruhig zu atmen, hatte aber das Gefühl, so laut zu schnaufen wie ein Nashorn.

Waschbrettbauch! Ihre verrückte innere Stimme schlug Rad und schrie vor Freude über den Anblick, der sich ihr bot.

Die Paranoia blieb wieder stumm. Oh. Mein. Gott. Dan war heiß! Und dank ihres schamlosen Starrens breitete sich ein laszives Grinsen auf seinem Gesicht aus, das seine Grübchen zum Vorschein brachte. Ihr Mund war plötzlich wieder staubtrocken, als er die Arme sinken ließ und auf sie zukam.

Sie bekam eine Gänsehaut, eine von der angenehmen Sorte, und ihre Bauchmuskeln zogen sich nervös zusammen. Direkt vor ihr, viel zu nah und nicht nah genug, blieb er stehen.

Len wagte es nicht, wegzusehen, und konzentrierte sich mit aller Macht auf sein Gesicht und die strahlend grünen Augen, mit denen er sie ansah. Oh, er weiß genau, was er tut, dachte sie und schluckte schwer.

Als eine gefühlte Ewigkeit verging und sich keiner von ihnen bewegte, trat sie schließlich einen Schritt zurück und spürte das Nachtkästchen in ihren Kniekehlen. Sie war so perplex, dass sie fast das Gleichgewicht verlor. Dan zog sie mit einer kräftigen Hand wieder einen Schritt nach vorn, und bevor sie Zeit hatte, irgendetwas zu verarbeiten, legte sich etwas Eiskaltes auf ihre Nase und sie hörte Tape reißen. Er klebte das Kältepad auf ihrem Gesicht fest.

Ach ja, ihre Nase. Enttäuschung machte sich in ihr breit. Sie hatte gehofft, er würde sie küssen. Im gleichen Moment hätte sie sich zum tausendsten Mal heute ohrfeigen können. Ein Wunder, dass sie es geschaffte hatte, ihr Höschen oben zu behalten, bevor sie aus dem O-mein-Gott-Dan-ist-ein-Sex-Gott-Koma erwachen konnte.

Dan grinste immer noch von einem Ohr zum anderen.

„Gute Nacht“, sagte er mit tiefer Stimme, die etwas rauchiger klang als vorher, und wuschelte ihr durchs Haar. Arghhh! Ja, rauchiger, klar. Er ist einfach nur müde und klingt nicht rauchig, weil er auf dich steht. Er hat dir die Haare gewuschelt. Schon wieder!

Wenn er etwas von dir wollte, fiele ihm sicher etwas Besseres ein, als deinen Kopf zu tätscheln.

Sie wünschte, ein Loch täte sich auf und sie könnte sich verkriechen.

„Gute Nacht“, brummte sie und sah zu, wie er hinter sich die Tür zuzog. Sofort ging sie hin, öffnete sie wieder und drehte das Licht ab. Sie hatte ein Problem mit geschlossenen Türen, außer sie waren wirklich notwendig. Und Dan hatte gerade bewiesen, dass es nicht notwendig war, sie geschlossen zu halten. Zumindest hoffte sie das. Als sie sich ins Bett legte, kam der Hund zur Tür herein und sprang zu ihr aufs Bett. Sie kraulte ihn noch mal hinter dem Ohr, bevor sie sich in die Kissen zurücksinken ließ und Dans Duft einatmete. Sein Bett roch nach ihm. Nach Mann und nach Sex. Also nein, nicht nach Sex, aber sexy, nach einer gesalzenen Prise Testosteron. Andererseits, woher sollte sie schon genau wissen, wie Sex roch?

„Das wird eine lange Nacht“, flüsterte sie leise und schloss die Augen.

 

Sie rannte durch den Wald, als wäre der Teufel hinter ihr her. Sie konnte die Bäume und den erdigen Boden riechen. Das Laub raschelte unter ihren Füßen, Äste knackten hinter ihr. Der Mond schien nicht, und es war stockdunkel. Aber sie sah trotzdem gut genug, um ihr Tempo zu beschleunigen. Sie hatte Angst. Ihr war heiß und kalt zugleich. Ihre Muskeln zitterten. Sie lief schon zu lange. Sie durfte nicht langsamer werden. Sie wusste nicht, wo sie war. Jemand – etwas – verfolgte sie. Sie bekämpfte die Panik, die in ihr aufstieg. Es holte auf. Sie bemühte sich, schneller zu werden, aber ihr Körper versagte ihr den Dienst. Sie änderte die Richtung und sah kurz über die Schulter, als plötzlich etwas auf sie zusprang.

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 2

 

Daniel

 

Es war halb eins, als Dan von der Arbeit nach Hause kam und auf leisen Sohlen in sein Schlafzimmer ging. Len lag noch immer in seinem Bett und schlief.

Rack hob den Kopf von seinen Pfoten und sah ihn an. Dan legte einen Finger an die Lippen, um ihm zu bedeuten, leise zu sein, und Rack legte sich wieder hin.

Schweigend lehnte er sich mit der Schulter an den Türrahmen und grinste bei dem Anblick ihrer nackten Beine. Es war ewig her, seit eine Frau bei ihm im Bett geschlafen hatte. Die Decke hatte sie von sich gestrampelt, aber Len hielt sie in einem Würgegriff, als müsste sie sich verteidigen. Das T-Shirt, das er ihr gegeben hatte und das viel zu groß für sie war, war nach oben gerutscht, und er konnte ihren schwarzen Slip sehen.

Ihrem Gesicht nach zu urteilen, schien sie schlecht zu träumen, also ging er zu ihr und beugte sich über sie. Sanft strich er ihr über die Wange, darauf bedacht, ihr nicht wehzutun. Es fiel ihm erstaunlich schwer, seine Finger bei sich zu behalten.

Als er sie in der Nacht, nur in seinem T-Shirt bekleidet, neben seinem Bett hatte stehen sehen, hatte es alle seine Willenskraft gebraucht, sie nicht besinnungslos zu küssen, bis sie beide nicht mehr wussten, wer und wo sie waren.

Das hier läuft definitiv nicht so wie geplant, dachte Dan seufzend. Er sollte Abstand halten, anstatt goldbraune Haarsträhnen aus ihrem Gesicht zu streichen und sich zu fragen, welche Farbe ihre Augen haben würden, wenn sie sie jetzt aufschlug.

Das Kühlpad war trotz Klebeband in der Nacht abgefallen und gab die Sicht auf ihre grün und blau verfärbte Nase frei. Ihre Wangenknochen stachen durch den Farbunterschied noch stärker hervor. Sie wirkte so verletzlich und erinnerte ihn schmerzhaft an seine Vergangenheit.

Plötzlich schoss Len hoch und verpasste ihm einen Kinnhaken, der hart genug war, dass er einen Schritt zurück machte. Er grunzte und rieb über die schmerzende Stelle. Aus zusammengekniffenen Augen beobachtete er, wie sie sich gehetzt umsah, ihr Atem ging viel zu schnell, und sie kroch hektisch von ihm weg. Rack war erschrocken vom Bett heruntergesprungen, winselte leise und sah unschlüssig zwischen ihnen beiden hin und her.

Als Dan nach ihr greifen wollte, um sie zu beruhigen, fiel sie rückwärts vom Bett und rutschte so lange zurück, bis sich der Kleiderschrank in ihren Rücken bohrte. Ihre Augen waren weit aufgerissen und so dunkel, dass sie fast schwarz wirkten. Beide.

„Len“, sprach er sie vorsichtig an. Er wollte zu ihr gehen, wollte ihr aber auch nicht noch mehr Angst machen. Sie blinzelte mehrmals, ihre zu Fäusten geballten Hände lockerten sich langsam. Ihre Brust hob und senkte sich hektisch.

„Len, alles in Ordnung, du bist bei mir zu Hause“, versicherte er ihr, in der Hoffnung, dass es sie beruhigen würde. Sie blinzelte wieder und er konnte sehen, wie sich die Farbe ihrer Augen veränderte, heller wurde.

Bis das rechte dunkelgrün und das linke türkisgrün war. Ihre Hand zitterte, als sie sich durch die Haare fuhr. Immer noch leicht panisch sah sie ihn an, machte aber keine Anstalten, aufzustehen.

„Was ist passiert?“ Ihre Stimme klang kratzig, verängstigt. Langsam ging er um das Bett herum.

„Du hast geträumt“, erklärte er, so ruhig er konnte, und ging einen Meter vor ihr in die Hocke.

Er konnte sehen, wie sie ihre Atmung kontrollierte und sich um Ruhe bemühte. Sie schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Als sie sie wieder öffnete, hatte sie sich anscheinend wieder gefangen.

„Ich hab dich geschlagen“, stellte sie bitter fest und starrte auf sein Kinn.

„Du hast einen netten rechten Haken“, kommentierte er grinsend, um die Anspannung in der Luft zu mildern.

„Nett ist die kleine Schwester von Scheiße“, knurrte sie und biss sich dann auf die Lippen.

Hmmm, er würde gern an ihrer Stelle in ihre Unterlippe beißen, schob den Gedanken aber schnell wieder zur Seite. Das war nicht der richtige Zeitpunkt.

„Entschuldige. Ich wollte dich nicht schlagen“, sagte sie, und er sah ihr an, wie sie sich innerlich wand. Da war mehr als nur Verlegenheit, sie schämte sich. Ihre Hände zitterten immer noch, und er konnte die Gänsehaut sehen, die die feinen Härchen auf ihren Armen zum Stehen brachte.

„Nichts passiert“, versicherte er ihr und streckte die Hand nach ihr aus, um ihr aufzuhelfen. Ihr Blick wanderte zwischen ihm und seiner Hand hin und her, bis Len sie schließlich mit eisigen Fingern ergriff. Er zog sie mit hoch und hielt sie an der Taille fest, als ihre Beine nicht gleich gehorchten.

Ihre Hände waren dabei auf seine Oberarme gewandert, und er mochte das Gefühl ihrer Finger auf seiner Haut. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie keinen BH trug. Sie wurde rot, und er wollte sein Grinsen gar nicht erst zurückhalten.

„Sorry“, murmelte sie leise und starrte auf seine Brust. Sein Grinsen wurde breiter. Sie war zu verlegen, ihm in die Augen zu sehen, und er genoss es. Eine Strähne war ihr ins Gesicht gefallen, und er konnte, wie schon zuvor, den Impuls nicht unterdrücken, sie wegzustreichen. Seine Finger strichen dabei wie zufällig über ihren Kiefer, und er ließ seine Hand in ihrem Nacken liegen. Sie sah zu ihm auf, und ihm stockte der Atem. Eines ihrer Augen wirkte jetzt fast gold, das andere blieb in einem dunklen Grün, das seiner eigenen Augenfarbe nicht unähnlich war.

 

Lenara

 

Len schluckte schwer, als er sie wieder so durchdringend ansah, als könnte er mit einem einzigen Blick alle ihre Geheimnisse sehen.

„Das hast du sicher schon oft gehört, aber deine Augen sind wunderschön.“

Ihre Gesichtszüge verhärteten sich mit einem Schlag.

„Nein.“ Hatte sie nicht. „Sind sie nicht“, sagte sie, trat einen Schritt zurück. Ihre Finger waren noch warm von seiner Haut.

Um sich abzulenken, starrte sie auf seine Brust. Er trug ein schwarzes T-Shirt, auf dem die Tasten Ctrl, Alt und Del abgebildet waren.

„Ich sollte nach Hause gehen.“

Jetzt sahen seine Augen genauso finster aus, wie sie sich fühlte. Mit einem nervösen Blick auf seine grimmige Miene griff sie nach ihrer Kleidung und ging an ihm vorbei ins Bad, um sich umzuziehen. Es dauerte länger, als sie geplant hatte, weil ihre Finger so stark zitterten. Als sie wieder ins Vorzimmer kam, stand Dan vor der Tür.

Sie wollte an ihm vorbeigehen, aber er stellte sich ihr in den Weg. Sie war viel zu aufgewühlt. Von dem Traum und von ihm. Es juckte sie in den Fingern, sich zu kratzen, zu laufen, zu fliehen. Alles, nur nicht hier bei ihm zu bleiben.

„Hast du heute schon was vor?“ Er vereitelte ihre Versuche, an ihm vorbeizukommen, nahezu mühelos.

„Ja“, log sie. Lauf! Lauf! Lauf! Sie drängte sich an ihm vorbei und streifte hektisch ihre Schuhe über. Dan sagte nichts, aber sie spürte, wie sich sein Blick in ihren Rücken bohrte, bevor sie hinauseilte und nach Hause rannte.

 

***

 

Kaum war sie dort angekommen und hatte drei Mal zugesperrt, sprang sie als erstes unter die Dusche, um einen klaren Kopf zu bekommen. Zwanzig Minuten später zog sie ihre Laufsachen an und band die Haare in einem ordentlichen Zopf nach hinten. Sie setzte ein neues Paar Kontaktlinsen ein, packte ihren alten MP3-Player ein und unterdrückte den Wunsch, die komplette Wohnung durchzuchecken. Sie sperrte fünfmal zu, bevor sie nach draußen ging und sich aufwärmte, um ihre gewohnte Strecke entlangzulaufen.

Sie steckte die Ohrstöpsel des MP3-Players in ihre Ohren und hätte fast gelacht, als ‚Run Away‘ von Linkin Park erklang. Es war angenehm warm, und der Wind blies ihr ins Gesicht.

Len blendete den Stadtverkehr und die Passanten in ihrer Umgebung aus und konzentrierte sich nur aufs Laufen. Sie beschleunigte ihr Tempo und rollte angespannt mit den Schultern. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Auch wenn sie es gewohnt war, im Freien zu laufen, fühlte sie sich heute nicht wohl dabei. Sie legte noch einen Zahn zu und schloss kurz die Augen, spürte ihren Puls, ihren Atem, der schwerer ging.

Als sie die Augen öffnete, legte sie ihre ganze Kraft in die Beine, um noch schneller zu laufen. Ihre Muskeln brannten und plötzlich hatte Len wieder ihren Traum vor Augen. Sie meinte fast, den Wald riechen zu können und die feuchte Luft auf ihrem Gesicht zu spüren. Die Haare in ihrem Nacken richteten sich unheilverkündend auf, und Len blieb wie angewurzelt stehen. Sie zog die Kopfhörer aus ihren Ohren und sah sich um. Aber sie war allein, weit und breit keine Menschenseele. Also schüttelte sie das unangenehme Gefühl ab und wartete, bis sich ihre Atmung wieder einigermaßen normal anfühlte. Sie konnte ihren Puls unangenehm in der Nase spüren und biss die Zähne zusammen.

Nervös kaute sie auf ihrer Unterlippe herum, während sie überlegte, ob sie weiterlaufen oder nach Hause gehen sollte. Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche und sah auf die Uhr. Seufzend drehte sie um und beschloss, unterwegs ein paar Lebensmittel zu kaufen, nachdem sie gestern ihre letzte Lasagne gegessen hatte.

Trotzdem verließ sie das Gefühl nicht, beobachtet zu werden, weswegen sie immer öfter über die Schulter sah. Als sie an der Kasse stand, war sie bereits so nervös, dass sie hektisch an ihrer Narbe kratzte.

Erst als ihr Wohnblock in Sicht kam, verlangsamte sie ihr Tempo und beruhigte sich etwas.

Sie eilte in ihre Wohnung, schloss sechsmal hinter sich ab und räumte ihren Einkauf weg. Für die nächsten drei Tage würde es Spaghetti geben. Ihr knurrender Magen erinnerte sie daran, dass sie heute noch nichts gegessen hatte. Ihre Mundwinkel verzogen sich nach unten, während sie am Herd stand und darauf wartete, dass das Wasser zu kochen begann.

Sie war rastlos, müde und hungrig. Keine gute Kombination für ihre Ticks. Trotzdem zwang sie sich, den Blick von der Tür abzuwenden und ihrem Wunsch, noch einmal ihr Schloss zu überprüfen, nicht nachzugeben. Um sich abzulenken, schaltete sie ihren Computer ein und sprang erneut unter die Dusche.

Es war kurz nach vier, als ihr Essen endlich fertig war. In über sieben Stunden begann ihre Schicht im Paddys.

Viel zu viel Zeit zum Nachdenken.

Viel zu viel Zeit in ihren eigenen vier Wänden.

Sie gähnte und rieb sich die Augen, als sie ihren Teller mit zur Couch nahm und den Fernseher einschaltete. Nachdem sie keinen Bissen mehr herunterbrachte, packte sie die Überreste in den Kühlschrank, bevor sie sich vor den PC setzte. Den Fernseher ließ sie laufen, in der Hoffnung, dass die Hintergrundgeräusche sie beruhigen würden. Len fühlte sich, als würde sie jeden Moment aus der Haut fahren oder die Wände hochgehen.

Dan war noch nicht online, stellte sie fest. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, sie wäre gestern nicht mit ihm mitgegangen. Unruhig googelte sie seinen vollen Namen, Daniel MacClaine. Woher hatte er gewusst, wo sie war? In welche Richtung sie unterwegs war? Dass er das PaddysNox kannte, war eine Sache. Dass er wusste, in welche Richtung sie nach Hause ging, eine andere. War er ihr nur zufällig so schnell über den Weg gelaufen? Aber sie glaubte nicht an solche Zufälle. War das die Paranoia, die aus ihr sprach, oder war ihre Sorge gerechtfertigt? Sie hatte schon alle möglichen Horrorgeschichten über Online-Dating gehört. Stalkte er sie vielleicht?

Social-Media-Seiten und die Mitarbeiterseite eines IT-Konzerns aus England sprangen ihr entgegen. Theoretisch stalkte er sie nicht, und sie war wie immer nur paranoid. Praktisch machte er sie nervös. Auf die gute und auf die schlechte Art. Vor allem die gute Art verunsicherte sie.

Dan war der älteste Sohn der MacClaines. Zwei Brüder, Markus und James. Eine Schwester namens Lindsey. Zähneknirschend schluckte sie den Neid um eine so große Familie herunter.

Als sie nichts weiter Spannendes fand, setzte sie ihr Headset auf und loggte sich ins Teamspeak ein.

So unauffällig wie ein Elefant im Porzellanladen fragte sie nach Dan und ob jemand wusste, wann er vorhatte, heute online zu gehen.

Aber keiner wusste etwas. Unruhig trommelte sie mit den Fingern auf ihrem Tisch.

Hätte er den Nachmittag mit ihr verbracht, wenn sie ihn nicht angelogen hätte? Warum wollte er überhaupt den Tag mit ihr verbringen? Es ergab keinen Sinn für sie. Interessierte er sich für sie? Warum sonst sollte er Zeit mit ihr verbringen wollen? Verhielten sich Männer nicht so, wenn sie mehr von einer Frau wollten? Oder war das Durch-die-Haare-Wuscheln brüderlich gemeint? Liefen Männer halb nackt vor Frauen herum, wenn sie sich nicht für sie interessierten? Oder war sie einfach nur in seiner Friendzone gelandet und zu blöd, um es zu verstehen?

Irgendjemand stellte ihr eine Frage im Teamspeak, als ihr Telefon plötzlich läutete und sie erschrocken zusammenfuhr.

„Sorry, Telefon“, gab sie Bescheid und rannte in die Küche, selbstverständlich erst, nachdem sie hektisch das Headset auf seinen Platz gelegt und den Sessel zurechtgeschoben hatte.

Als sie ihr Handy endlich in der Hand hielt, hatte der Anrufer bereits aufgelegt. Sie wollte gerade zurückrufen, als es an ihrer Tür klopfte. Ihr Telefon klingelte wieder.

Sie sah auf das Display. Dan. Sie hob ab.

„Dan, ich ruf dich gleich zurück, da ist jemand an der Tür“, sagte sie und wollte schon auflegen.

„Geh nicht hin“, schrie er durchs Telefon, und sie legte das Handy wieder ans Ohr.

„Was?“, fragte sie verdutzt.

Wieder das Klopfen. Etwas energischer diesmal.

„Pack deine Sachen und hau sofort von dort ab!“ Sie hörte ihn im Hintergrund laufen.

„Dan, beruhig dich. Was ist überhaupt los?“

Das Klopfen wurde zu einem lautstarken Hämmern.

„Miss Blair, machen Sie bitte auf“, erklang eine Stimme. „Wir wissen, dass Sie da sind.“

„Wer ist da?“, erkundigte sie sich und sah durch den Spion. Vor ihrer Wohnung standen zwei Männer in Polizei-Uniform und sahen nicht sehr freundlich aus. Ihr Herz rutschte in die Hose. Was war hier los?

„Len, egal, was du machst, mach ihnen nicht auf“, verlangte Dan von ihr. „Ich bin in fünf Minuten da!“

Die Verbindung brach ab. Die Haare in ihrem Nacken richteten sich auf. Sie steckte das Handy in die Gesäßtasche und atmete tief durch. Panik breitete sich in ihr aus, ihr Herzschlag verdreifachte sich, bis sie ihr Blut in den Ohren rauschen hörte.

„Miss Blair, wir müssen in einer äußerst dringenden Angelegenheit sofort mit Ihnen sprechen“, polterte einer der Polizisten.

„Geht es um den Angriff im PaddysNox?“, fragte sie nervös, weil es die einzig logische Erklärung war. Hatte der Mann sie wegen der Ohrfeige angezeigt? Eine lange Pause folgte. Zu lange, schrie ihre innere Stimme.

„Nein.“

„Können Sie sich ausweisen?“, verlangte Len, um Zeit zu schinden. Die beiden hielten ihre Dienstmarken hoch. Nicht, dass Len das etwas brachte. Sie hatte keine Ahnung, wie man echte von gefälschten Marken unterschied.

„Hören Sie, ich war gerade unter der Dusche und bin nicht entsprechend bekleidet. Warten Sie kurz einen Moment, dann ziehe ich mir etwas an“, log Len und rannte ins Schlafzimmer, wo sie nach ihrem Fluchtrucksack griff. Kaum hatte sie einen der Gurte um ihre Schulter geschlungen, lief sie durchs Vorzimmer ins Wohnzimmer, als etwas lautstark gegen ihre Tür krachte. Erschrocken erstarrte sie zur Salzsäule und überlegte fieberhaft, ob sie einen Sprung aus dem zweiten Stock riskieren sollte. Stattdessen rannte sie in die Küche und zog zwei Messer aus ihrem Messerblock. Sie rannte gerade durchs Wohnzimmer, als das Holz ihrer Eingangstür barst, ihre Tür vollends nachgab und die zwei Männer hereinkamen.

 

~~~*~~~

 

„Mon cher? Aktivitäten beim letzten Zielobjekt.“

„Was soll das heißen Aktivitäten? MacClaine hat sie doch schon getroffen. Warum überwacht er sie noch?“

Er zuckte die Schultern. „Sie bekommt gerade Besuch. MacClaine ist ebenfalls auf dem Weg zu ihr.“

„Behalt die Situation im Auge. Und finde heraus, was an der da so besonders ist.“

„Willst du eine Wache für sie abstellen, mon cher?“

„Nein, wir haben sowieso niemanden zu entbehren. Verständige mich, sobald du mehr über sie herausgefunden hast.“

„Oui oui.“

 

 

Lenara

 

Als sie die gezogenen Waffen in den Händen der Polizisten sah, reagierte sie, bevor sie nachdenken konnte, und warf das erste Messer.

Ein Schrei und lautes Fluchen folgte, doch Len zögerte nicht, sah sich nicht einmal um, ehe sie ihren Rucksack nach draußen warf.

Sie schwang gerade ein Bein aus dem Fenster, als der andere Mann sie an den Haaren packte und wieder in den Raum hineinzog. Erschrocken schrie sie auf und stach in seine Richtung. Ihr Angreifer wich aus, ließ dafür aber ihre Haare los. Taumelnd kam sie wieder auf die Beine. Adrenalin pumpte durch ihre Adern, während der Mann versuchte, ihr die Waffe aus der Hand zu schlagen, und sie gerade noch rechtzeitig zurückwich. Dann sprang er sie plötzlich an, und ihr Kopf knallte gegen den Boden.

Er entwand ihr die Waffe aus den Fingern, und sie wehrte sich zu langsam. Seine Hand vergrub sich in ihren Haaren, und ein Arm legte sich um ihren Hals. So schleifte er sie Richtung Ausgang, während sie hektisch strampelte, um von ihm loszukommen. Plötzlich war sie frei und hörte einen erstickten Schrei, gefolgt von einem gurgelnden Geräusch. Alles drehte sich, als sie sich aufsetzte. Das Erste, was sie sah, war das Messer, das sie verloren hatte, also krabbelte sie auf allen Vieren so schnell wie möglich dorthin.

Kaum hatten sich ihre Finger um den Griff geschlossen, drehte sie sich um, und hätte sie gestanden, wären ihr vor Erleichterung die Beine weggeknickt. Dan stand in ihrem Wohnzimmer und rammte ihrem Angreifer die Faust ins Gesicht.

Der Mann, nach dem sie das Messer geworfen hatte, lag am Boden, und um ihn herum breitete sich eine rote Pfütze aus. Blutlache, korrigierte sie ihre Beobachtung, völlig unter Schock. Alles verschwamm vor ihren Augen, und sie verpasste sich selbst eine Ohrfeige. Als ihr Blick sich wieder klärte, wurde Dan gerade zu Boden geworfen, und Len löste sich aus der Schockstarre.

Bevor sie wusste, was sie tat, stand sie auf und hechtete nach vorn. Len rammte die Klinge mit voller Wucht in die Schulter des Polizisten. Ein schmerzverzerrtes Brüllen folgte, bevor sie sich halb auf seinen Rücken warf und den Mann an den Haaren zog, um ihn von Dan wegzubekommen. Aber er ließ sich nicht aufhalten und schaffte es irgendwie, sie zu packen und durch den Raum zu werfen, als wöge sie nichts.

Sie krachte gegen den Couchtisch, der unter ihr zerbrach, und konnte einen Moment lang nicht atmen, weil es ihr die Luft aus der Lunge presste. Ihre Sicht verschwamm und wurde dann durch schwarze, tanzende Punkte vor ihren Augen ersetzt. Sie rang nach Atem, schaffte es irgendwie, sich zur Seite zu rollen, und hustete unkontrolliert.

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 3

 

Lenara

 

Nach einer gefühlten Ewigkeit fing sie wieder an, ihre Umgebung wahrzunehmen. Sie lag auf den Scherben des zerbrochenen Glastisches, hörte ein gurgelndes Geräusch und rang hustend nach Luft. Plötzlich war Dan neben ihr.

„Len“, rief er ihren Namen, doch sie brachte keinen Ton heraus, versuchte immer noch, Luft in die Lunge zu bekommen. Jemand hob sie hoch, Glas knirschte, und dann lag sie auf der Couch, Dan über sie gebeugt.

„Len, kannst du mich hören?“, fragte er und sie nickte schwer. Sie hörte ihn fluchen, irgendetwas über Kontaktlinsen sagen, und Len schmeckte unerwartet Blut in ihrem Mund. Sie hatte sich bei ihrem Sturz auf die Zunge gebissen. Als sie ihr eigenes Blut herunterschluckte, musste sie gegen den Brechreiz ankämpfen.

Dan war wieder weg, und sie rollte vorsichtig zur Seite. Sie schaffte es, sich aufzusetzen, bevor ihr erneut schwarz vor Augen wurde.

„Len! Len, komm schon.“ Sie hörte ihn schnipsen und blinzelte, versuchte, ihren Körper dazu zu zwingen, wieder scharf zu sehen.

„Trink einen Schluck“, befahl er und half ihr, sich aufzusetzen, bevor er ihr ein Glas Wasser reichte. Sie trank vorsichtig und musste augenblicklich husten.

„Was ist passiert?“, krächzte sie, als sie endlich ausreichend Luft bekam.

„Das erklär ich dir später. Versuch, dich auszuruhen“, erklärte er. „Ich muss kurz ein paar Anrufe machen“, sagte er und verschwand aus ihrem Sichtfeld.

Sie atmete schwer und drehte langsam den Kopf, wartete darauf, dass ihre Augen sich abermals scharf stellten. Dann erst sah sie das Blut auf ihrem Parkettboden, die Pfützen um die Männer, die regungslos am Boden lagen. Sie fing an zu zittern, als ihr Gehirn zu verarbeiten begann, was sie sah.

„O Gott“, flüsterte sie leise und spürte Tränen in sich aufsteigen. Ihre Zähne fingen an, zu klappern, und dann war Dan plötzlich wieder da und versperrte ihr die Sicht. Er schlang eine Decke um sie, setzte sich auf die Couch und zog sie auf seinen Schoß.

„Shh, alles wird gut“, versuchte er, sie zu beruhigen, und rieb ihr über den Rücken. Bei der Berührung zuckte sie heftig zusammen, und Dan fluchte. Er zog ihr die Decke weg, und bevor sie ein Wort sagen konnte, lag sie auf dem Bauch und hörte Stoff reißen.

„Dan?“ Ihre Stimme klang weinerlich, verängstigt. Warum hörte das Zittern nicht auf?

„Alles gut“, sagte er sanft. „Ich muss die Splitter aus deinem Rücken ziehen. Beiß da drauf“, verlangte er, und presste ihr ein Stück Stoff an die Lippen. Sie gehorchte, und Dans Hand legte sich in ihren Nacken. Er drückte sie mit dem Knie auf ihrem Po in die Couch, und sie schrie, als er den ersten Splitter rauszog. Zehn Minuten später war sie schweißüberströmt, fror erbärmlich und konnte die Tränen, die ihre Wangen hinunterliefen, nicht stoppen.

Dan verschwand aus ihrem Blickfeld. Als er zurückkam, half er ihr, sich vorsichtig aufzusetzen. Er verband ihren Rücken und wickelte sie wieder in die Decke. Diesmal zog er sie vorsichtig auf seinen Schoß und legte einen Arm um ihre Taille.

Er flüsterte leise Worte der Beruhigung, als sein Handy läutete. Noch vor dem zweiten Klingeln hob er ab.

„Mark? Ja, ich bin bei ihr. Ein paar Schnittwunden, sie steht unter Schock.“

Sie hörte nicht, was der Mann am anderen Ende der Leitung sagte. Mark. Markus? Dans Bruder? Warum rief er nicht die Polizei an? Arbeitete Markus bei der Polizei? Waren die Männer, die sie angegriffen hatten, wirklich Polizisten? Die Fragen in ihrem Kopf überschlugen sich. Plötzlich fiel ihr etwas ein, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Woher wusste Dan, wo sie wohnte? Sie erstarrte in seinen Armen und hatte Mühe ruhig zu atmen.

„Nein, ich bringe sie zu mir, sie kann hier nicht bleiben“, sagte Dan stählern ins Telefon, und Len versuchte, von seinem Schoß zu rutschen. Dan verstärkte seinen Griff und drückte sie an seine Brust. Sie kämpfte wieder mit der Panik und biss sich auf die Lippen, um nicht hysterisch zu lachen. Dan beendete das Gespräch und legte auf.

„Len“, sprach er sie an, doch sie rührte sich nicht. „Ich muss ein paar deiner Sachen zusammenpacken“, erklärte er ihr in dieser ruhigen Stimme, die sie vor ein paar Stunden noch sexy gefunden hatte und die ihr jetzt eine Gänsehaut machten. Nicht die angenehme Sorte.

„Mein Rucksack“, flüsterte sie erstickt.

„Ja, wo hast du ihn?“, fragte er und drehte ihr Gesicht zu sich. Seine grünen Augen sahen sie unglaublich warm an, sodass Len nicht glauben konnte, was gerade geschehen war.

Sie schluckte schwer.

„Fenster“, keuchte sie, und er ließ sie von seinem Schoß gleiten, um aufzustehen. In dem Moment, als er ihr den Rücken zudrehte, schnellte Len hoch, ließ die Decke fallen und sprintete los.

Glasscherben bohrten sich in ihre nackten Fußsohlen, sie stolperte, rannte weiter, selbst nachdem sie Dan hinter sich fluchen hörte. Sie sprang die Stiegen hinunter und hatte es fast zur Eingangstür geschafft, als Dan sie um die Taille packte und seine Hand auf ihren Mund legte, bevor sie schreien konnte. Sie biss zu, doch außer einem Grunzen bewirkte es nichts. Wild trat sie um sich und wand sich, bis er sie plötzlich losließ. Sie landete auf dem Rücken und schnappte nach Luft. Und dann war Dan wieder da, drückte ihre Handgelenke mit einer Hand über ihren Kopf und hielt die zweite auf ihren Mund gepresst.

Tränen nahmen ihr die Sicht. Nein! Nein! Nein! Nicht! Bitte nicht!

„Len, du musst dich beruhigen“, verlangte er bestimmt, und sie kniff die Augen zusammen. „Versprich mir, dass du nicht schreist, wenn ich meine Hand wegnehme.“

Sie nickte hektisch, und er zog seine Hand weg. Noch bevor sie zum Schreien ansetzen konnte, landete seine Hand wieder auf ihrem Mund.

„Du bist bei mir in Sicherheit“, versprach er, doch sie glaubte ihm kein Wort, und er wusste es. „Ich werde jetzt langsam aufstehen und dich loslassen. Du hast keinen Grund, Angst zu haben“, erklärte er ruhig.

Len schaffte es nur, stumm zu nicken.

Er ließ sie los und stand auf. Sie brachte sofort so viel Abstand zwischen Dan und sich, wie sie konnte, kroch nach hinten, bis sie die Wand im Rücken spürte.

„Ich hol jetzt deinen Rucksack“, erklärte er wieder, rührte sich jedoch nicht vom Fleck.

Sie zitterte heftig und ihr fiel auf, dass sie oben herum außer ihrer Unterwäsche und dem Verband nichts anhatte. Dan sah es auch, und sie zuckte erschrocken zusammen, als er sein T-Shirt auszog und ihr zuwarf.

„Warte hier“, befahl er und verschwand nach draußen. So schnell es ihre zitternden Finger erlaubten, zog sie das T-Shirt über den Kopf und hätte am liebsten wieder angefangen zu weinen, als ihr Dans Duft in die Nase stieg. Sie versuchte, nicht darüber nachzudenken, dass die nassen Stellen auf seinem T-Shirt Blut waren. Sie machte einen Versuch, aufzustehen. Erstickt schrie sie auf und plumpste wieder nach hinten. Ihre Füße. Sie biss die Zähne zusammen und begann zitternd, die blutigen Splitter aus ihren Füßen zu ziehen.

Dan reagierte mit lauten Kraftausdrücken, sobald er zurückkam. „Lass mich das machen, bevor du dich noch weiter verletzt“, knurrte er, während er sich zu ihr hinhockte und ihre Hände beiseiteschob.

Nachdem er fertig war, hob er Len auf seine Arme, doch sie hatte nicht die Kraft, zu protestieren. Ihr war schwindlig und kalt, und ihr tat jeder Knochen im Leib weh. Sie schloss die Augen, weil sie kaum etwas erkennen konnte und es zu anstrengend war, sie offen zu halten. Ihr Kopf lehnte an Dans nackter Schulter, und auch wenn sie sich in diesem Moment dafür hasste, sie genoss seine Wärme auf ihrer Haut. Das Zittern ließ etwas nach.

„Ich bin nicht dein Feind, Lenara“, hörte sie Dan sagen.

„Woher weißt du, wo ich wohne?“, fragte sie ihn. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Warum war sie mit ihm mitgegangen?

„Ich habe dein Handy lokalisiert“, erklärte er ungerührt, als wäre es das Normalste auf der Welt.

Sie war kein bisschen paranoid gewesen. Dan war ein Stalker. „Wer bist du wirklich? Was willst du von mir?“ Sie schluckte die Tränen herunter, die ihr aufsteigen wollten. Vor vierundzwanzig Stunden war ihr Leben noch vollkommen normal gewesen.

„Daniel MacClaine ist mein echter Name“, versicherte er ihr.

„Das beantwortet aber nicht meine Frage.“

Er seufzte. „Versuch etwas zu schlafen, Len.“

„Du hast zwei Menschen in meinem Wohnzimmer umgebracht.“ Ihr wurde schlecht, als sie an die letzten Minuten dachte. Aber sie war zu kaputt, um die nötige Schärfe in ihre Stimme zu legen. Len wusste nicht, wie sie dieses Wissen verarbeiten sollte und, was sie viel mehr beunruhigte, ob es ihr überhaupt etwas ausmachte.

„Und ich würde es wieder tun.“ Seine Stimme klang vollkommen gleichgültig. „Sie haben versucht, dich zu töten, und wäre ich auch nur ein paar Minuten später gekommen, wäre es ihnen auch gelungen. Du solltest dir also weniger Gedanken darüber machen, woher ich deine Adresse habe, als darüber, woher die deine Adresse hatten. Und warum sie versucht haben, dich umzubringen.“

Das Zittern wurde heftiger. Aber wenn die fremden Männer versucht hatten, sie umzubringen, warum war sie von ihnen dann nicht erschossen worden, als sie die Gelegenheit dazu gehabt hatten? War es ein Entführungsversuch gewesen? Aber wozu? Warum?

 

***

 

Als sie das nächste Mal aufwachte, lag sie in einem Bett und neben ihr lag Rack. Dans Schlafzimmer erkannte sie sofort und setzte sich vorsichtig auf. Sie versuchte, durch den Schmerz zu atmen, und verzog das Gesicht.

Rack setzte sich mit ihr auf und winselte leise. Es war Nacht, stellte sie mit einem Blick auf die Uhr am Nachttisch fest. Halb zehn. In ungefähr einer Stunde begann ihre Schicht.

Sie schlug die Bettdecke zurück und fluchte in Gedanken. Das T-Shirt war weiß, ohne Blutspuren, und sie trug keine Hose. Dan hat mir die verdammte Hose ausgezogen, fluchte sie still. Rack sprang vom Bett und bellte zweimal, als Len aufstehen wollte.

Sie hatte gerade ihre bandagierten Füße auf den Boden gestellt, als Dan hereinkam und das Licht einschaltete. „Verräter“, sagte sie zu Rack und hielt ihre Hand gegen das Licht. Trotzdem sah sie verschwommen. Shit, sie hatte mit ihren Kontaktlinsen geschlafen.

„Wie geht es dir?“

„Es geht schon“, antwortete sie und nahm ihre Kontaktlinsen heraus. Sie rieb sich über die schmerzenden Augen und war erleichtert, als sie wieder normal sah.

Dan legte seine Hände um ihr Gesicht und zwang sie, ihn anzusehen. Sie bemühte sich, ruhig zu bleiben, nicht wegzuzucken, kontrollierte ihre Atmung.

„Wie schlimm sind die Schmerzen?“ Er ließ die Hände sinken. Seine Berührung sollte sich nicht so gut anfühlen. Nicht nach allem, was sich zugetragen hatte.

„Reden wir jetzt darüber, was passiert ist?“ Dan drückte sie sofort ins Bett zurück, als sie versuchte, aufzustehen. Ihre Augen schossen Blitze, weswegen er seine Hände abwehrend hochhielt.

„Du bist nicht in der Verfassung, aufzustehen.“

Sie setzte sich ans Kopfende des Bettes und zog die Decke höher. „Ich muss in einer Stunde zur Arbeit.“

„Ich habe dich krank gemeldet.“

„Du hast was?“ Erneut wollte sie aufstehen, aber er drückte sie prompt zurück. Panisch stieß sie seine Hände weg, heftiger als beabsichtigt.

„Sie waren sehr verständnisvoll wegen deiner Nase. Sie kommen schon ein paar Tage ohne dich aus.“ Immer noch ungerührt, immer noch beherrscht. Er setzte sich im Schneidersitz aufs Bett, sodass er ihr direkt gegenübersaß.

Auch heute trug er ein schwarzes T-Shirt, auf welchem stand: ‚Bazinga!‘ Ihr Mund war wie ausgetrocknet, als sie auf seine Lippen starrte. Was stimmte nur nicht mit ihr? Dan war ein Stalker! Sie musste hier weg und zwar sofort. Stattdessen lehnte sie sich erschöpft nach hinten.

„Kann ich ein Glas Wasser haben?“

Plötzlich war Dan über ihr, und ihr Puls schoss in die Höhe.

Sie konnte seine Hände durch die Decke direkt neben ihrer Taille spüren, ihre Knie berührten sich. Doch dann war der Moment genauso schnell wieder vorbei, und Dan saß ihr wieder gegenüber und hielt ihr eine Wasserflasche hin. Sie blinzelte verwirrt. Er zeigte zum Nachtkästchen, auf dem noch zwei weitere bereitstanden.

Zähneknirschend riss sie ihm die Flasche aus der Hand und trank sie dann auf einen Zug fast aus. Als sie das Wasser zur Seite stellte, war sein Blick nicht mehr ganz so ungerührt, er sah wirklich wütend aus.

„Was?“ Warum war er wütend? Sie hatte schließlich nicht sein Vertrauen missbraucht! Sie hatte ihn nicht gestalkt und zwei Menschen in seinem Wohnzimmer umgebracht.

„Len, du hättest sterben können“, fauchte er aus zusammengebissenen Zähnen und rieb seinen Nacken.

Ihr rann ein kalter Schauer über den Rücken. Vor ihren Augen tauchten die Bilder der beiden toten Männer auf. All das Blut.

„Er hat dich zu Boden geworfen, und ich hatte noch das Messer. Ich konnte nicht einfach danebenstehen und zusehen, wie er dich totprügelt.“ Warum rechtfertigte sie sich vor ihm? Frustriert fuhr sie mit der Hand über ihr Gesicht und versuchte, die Bilder, die auf sie einstürmten, zu verdrängen. Sie wollte nicht an das Gefühl denken, wie sich das Messer durch Haut und Muskeln gedrückt hatte. Warum war er nicht verletzt? Keine Schramme im Gesicht, keine blutige Lippe.

Erneut ging ein Zittern durch sie hindurch.

Dan setzte sich zu ihr ans Kopfende und zog sie schweigend in seine Arme. Len protestierte nicht.

Sie sollte ihm nicht vertrauen, aber weder ihre Paranoia-Stimme noch sonst irgendeine Stimme schienen sich in diesem Moment an Daniel zu stören. Wenn er nicht da gewesen wäre …

„Mir ist fast das Herz stehen geblieben, als er dich durch die Luft geworfen hat“, erklärte er kehlig und presste seine Lippen auf ihren Scheitel.

„Mir auch“, erklärte sie und schloss die Augen.

„Wie schlimm sind die Schmerzen?“

„Hab schon Schlimmeres erlebt.“ Und das stimmte. Abgesehen von ein paar Schnittwunden, ging es ihr gut. Es tat zwar weh, ziepte aber nur unangenehm, wenn sie eine falsche Bewegung machte. Unbewusst griff sie sich an die Schulter, kratzte unter dem T-Shirt über die Narbe.

Sie wusste nicht, wie viel Zeit verging, während Dan sie so hielt, es kümmerte sie auch nicht.

Als es an der Tür klopfte, fuhr Len erschrocken zusammen.

„Keine Angst. Das wird Mark sein“, beruhigte er sie und stand auf. Während er zur Tür ging, griff Len nach ihrem Rucksack, der neben dem Bett lag, und zog schnell eine neue Hose an. Schnell war in diesem Fall die Übertreibung des Jahrhunderts. Ihre Füße brannten höllisch, und sie biss sich auf die Unterlippe, weil ihre Haut am Rücken über den Wunden spannte.

Auf leisen Sohlen ging sie zur Schlafzimmertür und lauschte.

„Habt ihr die Tür reparieren können?“, fragte Dan gerade.

„Ja, sollte fürs Erste reichen. Das Blut haben wir nicht wegbekommen. Die Scherben haben wir weggeräumt und die Leichen entsorgt. Es wird dich nicht überraschen, zu hören, dass die Ausweise gefälscht waren. Ich lasse die Wohnung für die nächsten Tage überwachen, sollte jemand die zwei vermissen. Sie sollte bis dahin nicht unbeaufsichtigt bleiben.“

„Danke, Mark.“

Len zog die Tür auf und trat zu den beiden ins Vorzimmer. Einen kurzen Moment lang herrschte Schweigen zwischen den dreien.

„Len, darf ich dir meinen Bruder Markus vorstellen? Mark, das ist Lenara.“

Markus war unmerklich größer als sein älterer Bruder, hatte die gleichen braunen Haare, dieselbe Statur wie Dan, aber hellbraune Augen und weichere Gesichtszüge.

„Hi“, murmelte Len und nahm die ihr entgegengestreckte Hand zögerlich an.

„Freut mich, dich endlich persönlich zu treffen.“ Er starrte sie einen Tick zu lange an, beobachtete, wie sich ihre Augenfarbe veränderte. Es schien ihn genauso wenig zu beeindrucken wie Dan. Jedoch wurde sie das Gefühl nicht los, dass sein Blick von Sekunde zu Sekunde bohrender wurde. Ihre Nackenhaare richteten sich auf.

„Endlich?“ Misstrauisch zog sie die Augenbrauen nach oben. Dan und sie kannten sich noch keine vierundzwanzig Stunden persönlich. Markus sah zwischen ihnen beiden hin und her, ehe er antwortete.

„Er hat mir viel von dir erzählt.“

Wirklich? Neugier kroch, neben ihrem Misstrauen, in ihr hoch, machte sie hibbelig. Ihr Blick flog zu Dan. „Was hat er denn erzählt?“, fragte sie, bevor sie sich zurückhalten konnte. Sie sah wieder zu Mark, dessen Mund sich etwas gequält verzog.

„Er hat gehofft, dich schon früher zu treffen.“

„Ist das so?“ Immer noch skeptisch, bemühte sie sich, ihre Freude und Aufregung zu unterdrücken. Schon wieder eine völlig unangebrachte Reaktion.

„Ich hatte darauf spekuliert, dass du beim Gildentreffen auftauchst.“ Daniel zuckte mit den Schultern.

„Wann kann ich zurück in meine Wohnung?“

„Du solltest dort nicht allein bleiben“, wich Mark aus und warf einen Seitenblick zu Dan.

„War die Polizei schon da?“

„Mark ist von der Polizei“, antwortete Dan ihr.

Wie praktisch. Warum wurde sie das Gefühl nicht los, dass das nicht ganz der Wahrheit entsprach? Dass da mehr hinter der Sache steckte?

„Aha.“ Sie machte eine Pause. „Aber die Kerle in meiner Wohnung …?“

„… waren keine Polizisten. Das habe ich überprüft“, gab Mark ihr Auskunft.

„Wer waren sie dann?“

„Das versuchen wir gerade, herauszufinden. Gibt es jemanden in deinem Leben, der dir schaden will? Verwandte, rachsüchtiger Ex, Arbeitskollegen? Oder hast du bei jemandem Schulden?“, zählte er auf.

Len dachte darüber nach. Der Typ aus der Bar fiel ihr ein, aber sie verwarf den Gedanken sofort wieder. Kein Motiv. Sie hatte keine Familie, keine Schulden, keinen Ex und ihre Arbeitskollegen kamen auch nicht in Frage.

„Nein.“

„Denk darüber nach, vielleicht hat jemand eine offene Rechnung mit dir. Möglicherweise schon länger. Gefälschte Polizeimarken brauchen Planung. Das hier sieht nicht nach einem Zufallsverbrechen aus“, führte Mark weiter aus.

Das wurde ja immer besser.

„Woher wusstest du eigentlich, dass sie zu mir kommen?“ Ihre Augen verengten sich, als sie Dan zum ersten Mal rot werden sah und er verlegen seinen Nacken rieb.

„Ich hab eine Kamera vor deiner Eingangstür installiert.“

Len blieb der Mund offen stehen.

„Als ich die Gesichter der zwei Männer mit unserer Datenbank abgeglichen hatte, wusste ich, dass etwas nicht stimmen konnte.“

Darauf fiel ihr beim besten Willen keine Antwort ein. Sie war überhaupt nicht paranoid, er stalkte sie tatsächlich! Und was meinte er mit ‚unsere Datenbank‘? Wer war hier der vermeintliche Polizist?

„Das ist krank. Absolut krank.“ Sie wich einen Schritt zurück. Stalker. Mörder, fuhr es ihr durch den Kopf, aber sie brachte keinen Ton mehr heraus. Sie konnte nicht glauben, dass sie vorhin noch Trost in seinen Armen gesucht hatte. Ihre Muskeln verspannten sich, zogen an ihren Wunden und bereiteten sie auf die Flucht vor.

„So ist es nicht“, fing Dan an, doch Len schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab.

„Ich werde jetzt meine Sachen holen und hier verschwinden, und sollte ich jemals wieder dein oder dein Gesicht sehen“, verdeutlichte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen und zeigte mit dem Finger auf Dan und Mark, „dann rufe ich die Polizei. Die echte Polizei.“ Len rannte die wenigen Schritte ins Schlafzimmer fast und warf sich den Rucksack über die Schulter. Im Vorzimmer griff sie nach ihren Schuhen und warf den beiden Männern einen letzten warnenden Blick zu. Kaum war sie aus der Tür, schlüpfte sie hastig in ihre Schuhe und rannte, so schnell sie konnte, nach Hause.

Jeder Schritt sandte eine schmerzhafte Schockwelle durch ihren Körper, aber sie lief weiter. Vor der Eingangstür sah sie sich suchend nach der Kamera um. Nachdem sie jetzt wusste, wonach sie Ausschau halten musste, dauerte es nicht lange, bis sie sie entdeckt hatte. Wütend riss sie die Kamera herunter und trat mit aller Kraft darauf.

Es tat höllisch weh, aber sie hatte das Bedürfnis, noch viel mehr kaputt zu machen. Als sie in ihre Wohnung ging, durchsuchte sie jeden Winkel nach versteckten Kameras, konnte aber, zu ihrer großen Erleichterung, keine entdecken. Ein großer Blutfleck prangte auf ihrem Boden im Wohnzimmer und ließ sie erstarren. Ihr Glastisch war verschwunden. Sie holte ein weiteres Messer aus ihrem Messerblock in der Küche, verriegelte ihre Tür, schob Sessel davor.

Dann wartete sie zitternd und mit klopfenden Herzen im Vorzimmer. Als nach einer Viertelstunde niemand kam, wagte Len es endlich, von der Tür wegzugehen. Mit regelmäßigen Blicken über die Schulter, konzentriert auf jedes Geräusch im Raum, ging sie duschen und versorgte ihre Wunden.

Immer noch mit dem Messer bewaffnet, legte sie sich schließlich ins Bett. Sie konnte sich eingestehen, dass sie Angst hatte, am Rande zur Panik stand. Wenn Dan ihr etwas hätte antun wollen, hätte er ausreichend Gelegenheiten dafür gehabt. Dennoch beruhigte dieser Fakt nur einen kleinen Teil in ihr. Auch dass der Abend so glimpflich für sie ausgegangen war, verdankte sie seinem Auftauchen und der Tatsache, dass er sie beobachtet hatte. Aber das beruhigte ihre Nerven trotzdem nicht.

Obwohl sie solche Angst hatte, schaffte sie es nicht, die Tür zu ihrem Zimmer zu schließen. Irgendwann fiel sie in einen unruhigen Schlaf.

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 4

 

Lenara

 

Sie stand am Rande des Waldes. Mit dem Rücken zu einer Lichtung, auf der gerade ein blutiger Kampf stattfand. Sie hörte die Schreie, konnte das Blut riechen und den Tod. Jemand rief ihren Namen. Zornerfüllt und wütend. Sie drehte sich nicht um, sondern lief los, so schnell ihre Beine sie trugen. Direkt in den Wald hinein. Der Mann, der sie verfolgte, schrie ihr etwas hinterher, doch sie verstand die Worte nicht, wurde nur noch schneller. Sie wusste, sie konnte nicht ewig so weiterlaufen und ihr Verfolger wusste es auch. Sie konnte ihm nicht entkommen. Ihre Muskeln zitterten. Panisch stellte sie fest, dass sie die Orientierung verloren hatte. Er holte auf! Sie konnte es hören, spürte es in ihren Knochen.

 

Die Dämmerung hatte begonnen. Sie stand vor einem Fluss und sah ihr blutüberströmtes Spiegelbild. Ein Auge hatte eine silberne Farbe angenommen, das andere war strahlend blau. Und dann erst erkannte sie, was nicht ins Bild passte.

Sie war ein Wolf.

 

Len saß, obwohl ihr eiskalt war, schweißüberströmt im Bett. Ihr Atem kam stoßweise, während die Bilder aus ihrem Traum noch einmal auf sie einstürmten, inklusive der Gerüche und Geräusche.

Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie spät dran war. Sie hatte sich für eine Lesung in der Bibliothek angemeldet und weigerte sich, alles stehen und liegen zu lassen, um sich zu Hause zu verkriechen. Sie hatte zu lange, zu hart daran gearbeitet, einen Hauch von Normalität in ihr Leben zu bringen, um das jetzt einfach wegzuwerfen.

Als sie aufstand, zog sie zischend die Luft ein. Die Schnittwunden auf ihren Fußsohlen brannten. Fluchend humpelte sie ins Badezimmer, versorgte ihre Wunden und verband sie notdürftig.

Kurz darauf stürmte sie aus der Wohnung. Nicht, ohne diese entsprechend zu verriegeln. Achtmal. Mit ihrer Handtasche, in die sie hastig Notizblock, Stift und Handy gestopft hatte, rannte sie zum Bus. Sie drückte auf den Knopf, der die Türen öffnete, doch es geschah nichts. Entnervt starrte sie in den Innenraum, als der Bus direkt vor ihrer Nase und ohne sie losfuhr. Fluchend zeigte sie dem Fahrer den Finger, bevor sie sich auf die Wartebank fallen ließ. Fast hätte sie erschrocken aufgeschrien, als neben ihr ein Hund bellte. Eine Hand auf die Brust gepresst, starrte sie ihn an. Rack.

„Wie das Herrchen, so der Hund, hm?“ Stalker, dachte sie. Nervös warf sie einen Blick über die Schulter, stellte sicher, dass besagtes Herrchen nicht in der Nähe war.

Rack stand auf und drückte seine feuchte Nase in ihre Hand. Sie schaffte es ungefähr fünf Sekunden lang, ihn böse anzustarren, ehe sie ihn hinter dem Ohr kraulte.

„Wartest du auf ihn?“

Rack warf den Kopf zurück und sah sie mit einem Als-ob-Blick an, der sie unfreiwillig zum Grinsen brachte. Wieder sah sie über die Schulter. Weit und breit niemand zu sehen.

Der nächste Bus fuhr in die Haltestelle. Sie tätschelte Rack den Kopf, ehe sie aufstand und einstieg. Rack folgte ihr, blieb aber vor der Bustür sitzen, als wüsste er genau, dass er nicht einsteigen durfte. Als sie losfuhren, winkte Len ihm zum Abschied.

Mit halb offenem Mund ließ sie die Hand sinken, denn der Wolfshund begann, neben dem Bus herzulaufen. Unruhig sah sie sich um, aber niemand schien auf den Hund zu achten. Er hielt das Tempo, als wäre es nichts, und wartete geduldig, so lange sie in einer Haltestelle hielten. Seine Zunge hing ihm aus dem Maul, aber er sah aus, als würde er grinsen und als würde es ihm Spaß machen. Fasziniert und verwirrt schüttelte Len den Kopf.

Bei der Station vor der Bibliothek stieg sie aus und starrte Rack kommentarlos an. Der rollte seine Zunge wieder in den Mund und stieß seine Schnauze gegen ihre Hand.

„Du bist auch nicht ganz richtig im Kopf, was?“

Trotzdem streichelte sie ihn, bevor sie sich wieder in Bewegung setzte. Sie warf einen nervösen Blick über die Schulter. Alles okay. Alles gut.

„Du musst draußen bleiben“, sagte sie zu Rack vor dem Eingang. Die Leute starrten sie an, als wäre ihr ein dritter Kopf gewachsen. Das war Len gewohnt, wenn auch aus anderen Gründen.

Der Tag zog sich schleppend dahin. Len hatte Mühe, sich auf die Lesung zu konzentrieren. Sie ertappte sich mehrmals dabei, wie sie prüfend in der Menge Ausschau hielt, ob ihr niemand gefolgt war.

Ihre Nerven waren völlig überreizt, als sie am späten Nachmittag wieder aus der Bibliothek heraustrat, ein paar neue Bücher in der Handtasche. Nicht dass sie sich diese leisten konnte, aber sie brauchte die Ablenkung und Essen war auf ihrer Prioritätenliste weit nach unten gerutscht.

Len drängte sich in eine Gruppe, die Richtung Haltestelle marschierte. Ein Blick über die Schulter sagte ihr, dass Rack ihr auch diesmal folgte. Okay, das war definitiv nicht mehr normal.

Sie stieg in den Bus, blieb aber nahe an der Tür stehen, während ihr Blick durch den Innenraum schweifte.

Rack lief wie zuvor neben dem Bus her und sorgte diesmal dafür, dass sich ein paar Kinder lachend über ihn unterhielten, auf ihn zeigten. Zwei Stationen später sah sie sich im Bus um und erstarrte. Abrupt sah sie wieder weg. Hatte sie sich das gerade eingebildet? War das der Typ aus dem Club?

Sie drängte sich nach vorne zur nächsten Tür, ehe sie es noch einmal wagte, zu dem Platz zu sehen, auf dem er gesessen hatte. Erleichtert seufzte sie, als dort ein blonder, etwas bulliger Student saß. Schalt einen Gang runter, Len, schimpfte sie sich selbst. Du wirst noch verrückt.

Hastig stieg sie, bei ihrer Station angekommen, aus. Rack war nirgends zu sehen. Vielleicht war er nach Hause gelaufen, überlegte sie. Nervös beschleunigte sie ihre Schritte.

Der Griff um ihre Tasche festigte sich, während sie nach Hause eilte. Als ihre Wohnung in Sicht kam, blieb sie wie angewurzelt stehen.

Da stand jemand vor der Tür. Len hatte keine Waffe bei sich und verfluchte ihre Naivität. Sie hatte das Messer zu Hause gelassen, weil sie nicht geglaubt hatte, es zu brauchen. Sie haderte mit sich, was sie ohne Waffe tun konnte, sollte es zu einer Konfrontation kommen.

Spontan griff sie nach ihrem Handy und wählte Dans Nummer. Während es läutete, beobachtete sie die Person vor dem Wohnkomplex. Der Mann reagierte nicht, als Dan abhob.

„Len“, meldete er sich, doch sie legte wieder auf. Sie schaltete ihr Handy auf lautlos und tat, als würde sie telefonieren, ehe sie sich in Bewegung setzte.

„Ja, ja, klar, das können wir machen“, sagte sie, als sie zu dem Mann trat. Er drehte sich zu ihr um. Schwarze Haare, blassblaue Augen, schwarze Lederjacke. Nach Lens Geschmack starrte er sie etwas zu intensiv an.

„Wart mal kurz eine Sekunde“, sagte sie in die tote Leitung. „Darf ich?“, sprach sie den Mann an und gestikulierte, damit er sie zur Tür ließ. Er trat zur Seite, starrte sie weiterhin durchdringend an. Len sperrte auf und schloss direkt hinter sich die Haupteingangstür. Im Treppenhaus nahm sie immer zwei Stiegen auf einmal und wiederholte dann die Barrikaden-Aktion vom Vorabend. Sie schloss viermal auf und wieder zu. Sie wollte es öfter tun, hatte aber zu viel Angst, dass jemand genau dann versuchte, hereinzukommen, während sie die Tür wieder aufsperrte. Mit einem Blick auf ihr Handy sah sie, dass Dan mehrere Male zurückgerufen hatte.

Sie ignorierte es. Vielleicht gehörte der Typ ja sogar zu ihm.

Als sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, ging sie in die Küche, um sich die Spaghetti vom Vortag aufzuwärmen.

Sie widerstand dem Drang, ihren PC einzuschalten und sich ins Spiel einzuloggen. Nachdem sie gegessen hatte, packte sie ihre Uniform in eine Tasche und machte sich auf den Weg zur Arbeit.

Alle Fortschritte der letzten Monate schienen null und nichtig geworden zu sein, denn alle fünf Meter sah sie über die Schulter.

Sie war früher dran als sonst, damit sie sich im Club umziehen konnte, denn sie wollte heute lieber kein Risiko eingehen, und im Club fühlte sie sich einigermaßen sicher. Außerdem war es definitiv der bessere Ort, um sich zu beruhigen, als zu Hause, wo Blut am Fußboden klebte.

„Hi, Nick“, begrüßte sie den Türsteher am Eingang.

„Hey, gehts dir wieder gut?“ Wegen der Besorgnis in seiner Stimme zwang sie sich zu einem Lächeln.

„Alles in Ordnung, tut mir leid, dass ich euch gestern hab hängen lassen.“

„Kein Problem. Der Boss will dich allerdings sehen.“

Len nickte ihm zu und fluchte innerlich, bevor sie nach drinnen ging, um sich umzuziehen. Len bat die Mädels, die Reste ihrer blauen Flecken zu überschminken, ehe sie sich an die Arbeit machte. Dann drängte sie durch den bereits vollen Club, um zum Büro ihres Chefs zu kommen. Zehn Minuten später kam sie wieder heraus und knirschte mit den Zähnen. Er gab ihr die Schuld an dem Vorfall, zog ihr den Tag und die Stunden, die sie gefehlt hatte, vom Gehalt ab und erinnerte sie daran, dass er sie auch feuern konnte. Es wäre sein gutes Recht, hatte er gesagt.

Len machte gute Miene zum bösen Spiel und hasste die Tatsache, dass sie jetzt ihr erbärmliches Erspartes würde angreifen müssen, um etwas zu Essen auf den Tisch zu bekommen.

Sie hätte die verdammten Bücher nicht kaufen sollen. Vielleicht konnte sie sie wieder zurückgeben oder heute etwas mehr Trinkgeld machen.

Stolz straffte sie die Schultern und setzte ein Lächeln auf, als sie sich wieder durch die Menge zur Bar schob.

Sie schnappte sich ein Tablett und drehte ihre erste Runde. Jack hielt sie dabei genauso sehr im Auge wie sie ihn. Die Blicke über ihre Schulter ließen nach.

Um zwei in der Früh nahm sie ihre erste Pause und gesellte sich zu Mandy hinter die Bar.

„Was macht die Nase?“

„Fast wie neu, aber ich bin ein bisschen hibbelig seitdem. Leicht paranoid.“ Len verzog das Gesicht bei der Untertreibung des Jahrhunderts.

„Kein Wunder, Schätzchen.“ Mandy schenkte gerade Whiskey ein und zapfte danach Bier ab.

„Ja, ich sehe dauernd über die Schulter.“ Sie demonstrierte es. „Um sicherzugehen, dass mir nicht irgendein Psychopath auflauert.“ Ihr Scherz klang in ihren eigenen Ohren hohl. Unruhig versuchte sie, ihre verkrampften Schultern zu lockern.

„Wenn du willst, kannst du für ein paar Tage bei mir schlafen.“

Überrascht blinzelte sie, damit hatte sie nicht gerechnet. Dankend lehnte sie ab. Sie wollte niemanden in ihre Probleme mit hineinziehen. Wo auch immer die falschen Polizisten herkamen, gab es wahrscheinlich noch mehr. Und dann war da noch ihr Stalker Dan und der Mann vor ihrer Tür heute.

„Fährst du immer noch mit dem Bus hierher?“

„Ja, oder ich gehe zu Fuß.“

„Hmm“, machte Mandy. „Hast du ein Pfefferspray?“

„Nein, aber ich hab mir auch schon überlegt, mir eins zu kaufen. Hast du eins?“

„Yep. Jede Nacht fest in der Hand, wenns nach Hause geht.“

„Kannst du mir auch eins besorgen? Ich hab keine Ahnung, wo man die Dinger bekommt.“

„Nimm meins. Ich kann mir morgen ein neues kaufen, und Jack bringt mich sicher nach Hause“, sagte Mandy lachend und wackelte mit den Augenbrauen.

Len schüttelte grinsend den Kopf. „Danke. Was bin ich dir schuldig?“

„Lass stecken, Schätzchen.“

„Ich schulde dir was“, versprach Len und Mandy zwinkerte ihr zu.

Seufzend beendete Len ihre Pause, griff nach dem vollen Tablett und verteilte die Getränke. Danach marschierte sie weiter zu einem frisch besetzten Tisch.

„Hallo, Jungs, was darf ich euch bringen?“ Block und Stift in der Hand, ihr Tablett unter den Arm geklemmt, lächelte sie in die Runde. Alles wird gut, sagte sie sich.

„Hi … Lenny“, las einer ihr Namensschild vor und starrte dabei auf ihre Brüste. „Wir hätten gern eine Runde Bier.“

Sie zählte ihnen die Auswahl auf und notierte die Bestellung.

„Klar, kommt sofort.“ Sie sammelte leere Gläser bei den anderen Tischen ein und arbeitete sich durch die Menge zur Bar.

Mit fünf Bier machte sie sich auf den Rückweg und teilte sie aus.

„Lenny, ich bin Joe“, sprach sie der Mann an, der bestellt hatte. Er war in ihrem Alter, gut aussehend und überraschend höflich. Vor allem Letzteres brachte ihm Pluspunkte ein. Die wenigsten stellten sich einer Kellnerin namentlich vor. Wozu auch?

„Freut mich, Joe.“ Ihr Lächeln war echt, während sie das letzte Bier abstellte.

„Dürfen wir dich auch auf etwas einladen?“ Er zwinkerte ihr zu und grinste charmant.

„Das ist sehr nett, Joe, aber nicht erlaubt. Clubvorschrift.“ Mit dem Daumen zeigte sie über die Schulter zu einem Schild an der Wand, das man von ihrer Stelle aus nicht lesen konnte.

„Sie setzen uns ein hübsches Ding wie dich vor die Nase, und wir dürfen ihr keine Runde spendieren?“ Er klang übertrieben schockiert, griff sich sogar theatralisch an die Brust, was Len zum Lachen brachte.

„Sorry“, sagte sie grinsend und zuckte die Schultern. „Ich muss weiter. Trinkt einen auf mich.“ Sie zwinkerte zurück und verschwand wieder in der Menge. Hoffentlich gaben Joe und seine Freunde gutes Trinkgeld. Sie konnte das Geld jetzt mehr brauchen denn je.

Die nächsten Stunden vergingen wie im Flug. Der Club leerte sich langsam und Len brachte gerade die siebte Runde an Joes Tisch.

„Letze Runde, Jungs, die Bar schließt gleich“, teilte sie ihnen mit, immer noch lächelnd und flirtend. Joe hatte ihr bereits einen Zehner zugesteckt und das ganz, ohne zu grabschen. Noch mehr Pluspunkte für Joe.

„Heißt das, du darfst dich jetzt zu uns setzen?“ Er gab nicht auf, und Len überlegte ernsthaft, es für ein kräftiges Trinkgeld zu riskieren. Der Blick zur Bar war frei, und Mandy winkte ihr aufmunternd zu, gab ihr ein stilles Okay.

„Aber nur kurz“, betonte sie, und ein selbstzufriedenes Grinsen breitete sich auf Joes Gesicht aus. Seine Kumpel rutschten zusammen, damit Len sich setzen konnte. Erleichtert atmete sie auf. Nach den vielen Stunden auf den High Heels taten ihr auch in den bequemsten Schuhen die Füße weh.

Still hoffte sie, dass die Schnittwunden an ihren Füßen nicht wieder bluteten.

Joe stellte sie seinen Freunden vor und erklärte ihr, dass dies der Junggesellenabend für seinen Freund Dave war.

„Was, kein privater Striptease für den Bräutigam?“ Erstaunt sah sie in die Runde.

„Den hatte er schon im letzten Club. Außer du möchtest“, schlug einer vor und wackelte anzüglich mit den Augenbrauen.

„Sorry, ich passe.“ Grinsend schüttelte sie den Kopf.

„Ach, komm schon“, bettelte einer.

„Keine Chance, Jungs, aber ich frag gern eins der Mädels. Jenny ist wirklich gut“, schlug sie ihnen vor, um von sich abzulenken.

„Lass nur. Sie hat einen Freund“, sagte der Bräutigam in die Runde, und sie machte sich nicht die Mühe, ihn zu korrigieren. So war es leichter für sie. Auch wenn sie sich fragte, wie er darauf kam.

„Ein Verlust an die Männerwelt“, seufzte einer, und Len lachte laut.

„Ihr übertreibt maßlos!“ Ihr Grinsen wurde breiter. „Danke“, fügte sie geschmeichelt hinzu und zwinkerte ihnen wieder zu.

„Ich hoffe, er weiß, was er an dir hat“, kommentierte Joe.

„Das hoffe ich auch!“ Sie sah auf, als Jack an den Tisch trat.

„Alles in Ordnung, Lenny?“ Er richtete seinen bösesten Türsteher-Blick in die Runde, der allen klarmachte, dass er als Hobby Knochen brach. Und Spaß dabei hatte. Er hatte sie den ganzen Abend nicht aus den Augen gelassen, und Len war ihm unendlich dankbar dafür.

„Alles prima.“ Er verschwand nach einer weiteren Runde böser Blicke wieder, blieb aber in Sicht- und Hörweite.

„Der Riese ist dein Freund?“, fragte Joe mit einer Kopfbewegung zu Jack.

„Er passt gut auf mich auf“, umging sie eine direkte Antwort.

Sie schnaubten fast synchron.

„Das bezweifeln wir nicht“, kommentierte Dave und warf einen vielsagenden Blick zu Jack.

„So, Jungs, ich muss jetzt leider abräumen. Wir schließen gleich.“ Len nahm die leeren Gläser mit zur Bar und kam mit der Rechnung zu ihnen zurück.

„Zahlt ihr zusammen oder getrennt?“, fragte sie wie gewohnt und bekam kurz darauf fünfzig Dollar Trinkgeld.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739374710
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Januar)
Schlagworte
romance fantasy urban gargoyles prophezeiung werwolf romantasy paranormal Urban Fantasy Liebesroman Liebe

Autor

  • Dominique Heidenreich (Autor:in)

Meine Bücher, genau wie ich, haben einen Hang zu Sarkasmus und schwarzem Humor. Trotzdem: Ohne Liebe und Romantik komme ich persönlich genauso wenig aus, wie ohne Happy-End. Ich mag meine Geschichten fernab von Kitsch und tue mein Bestes meinen Protagonistinnen ein Rückgrat zu verpassen, das sie nicht beim ersten Anblick eines Mannes vergessen. Egal ob sie in dieser Welt spielen, einer fantastischen Umgebung oder auf fremden Planeten.
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Titel: Lenara: Der Geschmack des Blutes