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Wie die Katze

von Andreas Löhrer (Autor:in)
269 Seiten

Zusammenfassung

Sven Glanzmann, ein glamouröser Strafverteidiger, wird in einem Wald im idyllischen Appenzellerland erschossen. Die lokale Kriminalpolizei beißt sich am Mordfall die Zähne aus. Es fehlen Spuren, es fehlt ein Motiv. Mit jedem Tag schwindet die Wahrscheinlichkeit, dass der Fall aufgeklärt wird. Er droht zu einem "Cold Case" zu werden. Vielleicht sei es das perfekte Verbrechen, meint der Leiter der Kriminalpolizei. Der Staatsanwalt hingegen macht das Versagen der Ermittler dafür verantwortlich. Die Polizei und die Staatsanwaltschaft stehen unter großem Druck. Gleichzeitig geht die Bundeskriminalpolizei der grausigen Ermordung eines Linksaktivisten im Jura nach, der wegen mutmaßlicher Verbindungen zu Terroristen unter Beobachtung steht. Ist es eine Abrechnung in der Terrorszene? Die entsetzliche und inszenierte Tötung spricht dagegen. Ein zweiter Mord im Schweizer Mittelland nach gleichem menschenverachtendem Muster folgt. Doch dieser Mann war für die Bundeskriminalpolizei ein unbeschriebenes Blatt. Wo liegt der Zusammenhang zwischen den beiden Morden? Dann kreuzen sich die Wege der beiden ermittelnden Behörden.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Wie die Katze

 

Andreas Löhrer

 

 

Kriminalroman

 

Prolog

 

Rosa Horat nahm sich jeden Monat drei Tage Zeit für die Bewegung, die sie Jahre zuvor ins Leben gerufen hatte. Sie nannte sie die Partei der aufrechten Schweiz. Kurz: PDAS. Und betrachtete sich als deren Präsidentin. Eine Partei im rechtlichen Sinne war die PDAS nicht. Sie wollte keine Aufmerksamkeit auf die Bewegung lenken und hatte auf eine offizielle Gründung verzichtet. Zumal sie ihre wahren Absichten ohnehin nicht offenlegen konnte. Die Statuten wären immer eine Farce geblieben.

Im politischen Denken hingegen verstand sie die Bewegung sehr wohl als Partei. Im Handeln war sie radikal. Die selbst ernannte Präsidentin scheute nicht vor grenzwertigen Methoden zurück, um ihre Interessen zu verfolgen. Oft übertrat sie dabei die Gesetze. Man konnte manchmal gar zum Schluss kommen, dass sie nahezu verwerflich vorgehe. Sie hatte keine Probleme damit. Ihre Moral war biegsam, denn sie richtete sich nach dem, was erreicht werden sollte. Dies bedeutete aber gleichzeitig, dass die Gruppierung im Untergrund arbeitete.

Insgesamt zählte die Bewegung knapp dreißig Gefolgsleute, die in ihrem zivilen Leben allesamt in ehrbaren Berufen tätig waren. Wo immer sich aber eine Gelegenheit ergab, kämpften sie mit allen lauteren und unlauteren Mitteln gegen eine Integration der Schweiz in der Europäischen Union.

Als Kopf der Gruppierung scherzte sie jeweils in aller Öffentlichkeit, dass es nur zwei Wege gebe, wie die Schweiz und der Rest von Europa zusammenkämen. Entweder müsse die EU den Antrag stellen, als Kanton der Schweiz beitreten zu dürfen, oder aber die Schweiz müsse wie zu Zeiten der alten Eidgenossenschaft Ländereien erobern und sie als Untertanengebiete dem Land angliedern. Es verstand sich von selbst, dass sie nicht ernst genommen wurde. Der Scherz ist oft das Loch, aus dem die Wahrheit pfeift. Das Sprichwort traf im übertragenen Sinn zu. Und dass sie der Kopf der Bewegung war, wusste niemand.

Horats zweites Ziel war die Bekämpfung der wachsenden Sozialdemokratie. Dieser Auswuchs gesellschaftlichen Neids war ein rotes Tuch für sie. In ihr lag ihrer Meinung nach die Hauptgefahr, dass die Schweiz nicht die Schweiz würde bleiben können. Und immer, wenn ihr dieses Szenario durch den Kopf schoss, fegte Zorn orkanartig durch alle Zellen ihres Körpers.

An den monatlichen „Retraiten“, wie sie die drei Tage nannte, plante sie jeweils die nächsten Aktivitäten. Kleinere Vorhaben führten einzelne Personen aus. Größere wurden sogenannten Projektteams übertragen. In beiden Fällen gab es nie schriftliche Anweisungen.

Die Aufträge übergab sie dem „Dispatcher“ zur Weiterleitung und Instruktion an die entsprechenden Personen. Er stieß jeweils am letzten Nachmittag der Retraite zu ihr und war das Bindeglied zwischen der Planung und der Ausführung der Aktivitäten. Nur sie und er kannten alle Mitglieder der Bewegung. Und was ihr besonders wichtig war: Nur er wusste von ihr. Tauchten bei der Durchführung eines Vorhabens Probleme auf, reichte es, ihren Gehilfen verschwinden zu lassen. Tot bereiteten sie ihr weniger Scherereien. Mit ihrem Ableben war die Verbindung zwischen den Schwierigkeiten und ihr selbst auf einen Schlag gekappt. Auf diesen Plan B konnte sie jederzeit zurückgreifen. Den Dispatcher ließ sie darüber im Ungewissen. Im Gegenteil: Er fühlte sich geehrt, die Vertrauensposition besetzen zu dürfen. Hinzu kam die fürstliche Bezahlung.

Heute war sie wieder in ihrer Retraite und brütete über einem Projekt, das sich schon Jahre ohne Erfolg hinzog. Aufgewühlt ging sie in ihrem Hotelzimmer auf und ab. Sie zerknüllte ein Notizblatt und warf es wütend an die Wand. Die betreffende Person wollte und wollte sich nicht einschüchtern lassen. Mittlerweile waren drastischere Mittel gefordert. Denn im folgenden Jahr sollte es wieder soweit sein. Dann durfte die Person keine Rolle mehr spielen. Das zumindest war der Plan. Ein ausgeklügelter Plan, der einer seriösen, minutiösen Vorbereitung bedurfte.

Er war mit Absicht kompliziert, damit er unglaubwürdig wirkte. Ihr blieben zwar einige Monate Zeit für die Organisation. Aber sie hatte nur einen Schuss.

Es dauerte nicht lange, da hatte sie dem Dispatcher in einer abgeschiedenen Ecke der Hotellobby ihren Willen erläutert. Er lächelte maliziös. Das Vorhaben war clever. Schon fast gemein. Gemein clever und clever gemein gleichzeitig.

Er schaute in Horats Augen. „Wie weit gehen wir?“

„Wenn alles nichts nützt?“

Der Mann nickte.

„Dann wird der Tod die letzte Lebenserfahrung sein.“

Dienstag, ein Jahr später

 

Natürlich erwachte er nicht das erste Mal mitten in der Nacht. Aber dieses Mal war es nicht wie sonst. Nicht der strömende Regen, nicht der laute Donner und nicht der Wind hatten ihn geweckt. Da war etwas anderes. Denn kaum war das Geräusch von seinem Unterbewusstsein in sein Bewusstsein vorgedrungen, riss er die Augen auf und war sofort hellwach. Sämtliche Sinne waren auf Gefahr eingestellt. Und er wusste, der Instinkt des Menschen log nicht. Angespannt blieb er im Bett liegen und horchte in die Dunkelheit.

Jetzt, da war es wieder. Ein eigenartiges, bedrohliches Knurren, wie er es selten von seinem Hund gehört hatte, insbesondere nicht mitten in der Nacht. Wohl kam es ab und zu vor, dass er wegen Wildtieren zu bellen anfing. Aber wenn sein Rottweiler-Rüde auf diese Art knurrte, gab es Grund, beunruhigt zu sein. Schließlich wohnte er alleine in einem Bauernhaus weit ab von Nachbarn und dem nächsten Dorf.

Andererseits, was konnte hier draußen schon geschehen? Hier gab es nichts außer Wald und Wiesen. Sein altes Haus erweckte nicht den Eindruck, für Einbrecher die erste Adresse zu sein. Der Hund hingegen war anderer Meinung. Da ging etwas vor sich, was nicht normal war. Das Tier war unruhig. Das beängstigende Knurren hörte nicht auf.

Kurt Heller entschloss sich zu einem Rundgang durchs Haus. Er kramte eine Taschenlampe aus der Nachttischschublade hervor und schwang sich aus dem Bett. Zwar hatte er überall Licht im Haus, aber im angebauten Schopf gab es die eine oder andere dunkle Ecke. Er schlüpfte in die Hausschuhe und durchsuchte im oberen Stock Zimmer um Zimmer. Sein Hund begleitete ihn, immer wieder knurrend. Anschließend stieg er runter ins Erdgeschoss. Wie erwartet, fand er nichts Außerordentliches.

Bevor er den Schuppen untersuchte, nahm er den Rottweiler an die Leine. Dieser zerrte ihn wie wild durch die Durchgangstüre, die das Haus mit dem Schopf verband. Hier war das Unwetter deutlich intensiver zu spüren. Regen peitschte an die kleinen Scheiben. Blitze ließen am schwarzen Nachthimmel bizarre, zuckende Formen erscheinen. Lauter Donner krachte. Der Wind pfiff durch die Ritzen. Das Holz, aus dem der Stall gebaut war, ächzte und stöhnte. Ein Sommergewitter konnte heftig sein. Er untersuchte alle Räume und leuchtete mit seiner Taschenlampe in jeden dunklen Winkel. Nichts. Er lauschte. Nichts. Aber es kam ihm schon unheimlich vor. Denn sein Hund hatte sich noch nicht beruhigt.

„Was hast du denn?“, fragte er ihn. „Es ist ja nichts.“

Er ging mit dem Tier zurück ins Haus und schaute durch das Küchenfenster in die Finsternis hinaus. In dem Moment, als er sich abwenden wollte, stutzte er. War da nicht ein kleiner Lichtschimmer im nahen Wald? In gleichen Augenblick blitzte es grell. Der Donnerschlag folgte unmittelbar. Geblendet kniff er die Augen zusammen. Es dauerte einige Sekunden, bis er wieder deutlich sah. Ja, da draußen war ein schwaches Licht erkennbar. Was zum Teufel war bei diesem Wetter da los? Da war doch nur Wald mit einer kleinen Lichtung, die vor allem Waldarbeitern als Parkplatz und Holzzwischenlager diente. Sie war von der anderen Seite des Waldes über einen schmalen, befahrbaren Waldweg erreichbar. Sonst fiel ihm nichts ein, was es da gab. Sollte er nachprüfen, was los war? Oder sollte er etwa die Polizei rufen? Aber wenn da nur ein Liebespaar war, das sich im Auto vergnügte? Es war Viertel nach drei in der Nacht. Er überlegte kurz.

Nachschauen.

Sein Entschluss war gefasst. Er wollte sich nicht blamieren. Immerhin hatte er seinen Hund als Schutz dabei. Ein Rottweiler flößte Respekt ein, wenn er die Zähne zeigte. Heller zog sich wetterfest an, griff zur Taschenlampe und schickte sich an, das Tier wieder an die Leine zu nehmen. Da drehte er sich zur Küchenschublade und klaubte ein Messer heraus, dessen Klinge mit einem Etui geschützt war. Jenes, das er dazu benutzte, um die geschlachteten Kaninchen zu zerlegen. Er steckte es in die Jackentasche ein, zur Sicherheit, und ging in den Sturm hinaus.

 

***

 

Auf ihr Läuten und Rufen kam keine Reaktion. Seltsam, er hatte es ausdrücklich gewünscht, dass sie kam.

Es seien die letzten Modalitäten in den finanziellen Angelegenheiten zu regeln. Damit sei die Scheidung endlich abgewickelt und jeder könne wieder seiner eigenen Wege gehen. War die Tür offen? Tatsächlich, es war nicht abgeschlossen.

Als sie das Haus betrat, merkte sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Es herrschte eine gespenstische Ruhe, eine eigenartige Stimmung, obwohl er hier sein musste. Zuverlässigkeit war eine seiner Tugenden. Warum war er nicht hier? Normalerweise lief das Radio, wenn er abends zu Hause war. Sie rief nach ihm.

Keine Antwort.

Sie schaute in der Küche nach. Hier bestätigte sich ihr Gefühl. Es war nicht aufgeräumt. Die Pfannen, das Geschirr, Messer und das geschnittene Gemüse lagen in willkürlicher Anordnung herum. Verlassen mitten bei der Arbeit. Sie ging ins Wohnzimmer. Sein Jackett und der Mantel waren achtlos hingeworfen auf dem Sofa. Komisch. Er, der immer so ordentlich war und bei dem stets alles seinen Platz hatte. Auch im Nebenzimmer war er nicht. Nirgends ein Anzeichen, wo er sein könnte oder was los war. Beunruhigt stieg sie ins obere Stockwerk. Vielleicht war ihm nicht gut und er hatte sich hingelegt. Doch das Schlafzimmer war leer und das Bett unberührt. Er solle sich melden, rief sie in die Stille des Hauses hinein. Aber erneut blieb ihr Rufen unbeantwortet.

Rasch öffnete sie die Tür zum Büro. Verlassen. Im Badezimmer dasselbe. Keine Spur. Was war hier los? Hatten ihn die Stimmungsschwankungen wieder eingeholt? Hoffentlich war er wohlauf. Trotz der Scheidung wünschte sie ihm nichts Schlechtes. Er war ihre Liebe des Lebens gewesen. Die Trennung von ihm war ein rein rationaler Entscheid. Es ging nicht mehr.

Sie stieg wieder hinunter ins Erdgeschoss. Ihr Blick fiel auf das Garderobekästchen. Der Schlüsselbund lag wie gewohnt in der Schale. Zudem waren seine Schuhe hier, alle Jacken und Mäntel ebenfalls. Die Hausschuhe hingegen fehlten. Demzufolge musste er hier irgendwo sein. Im Keller? Sie öffnete die Tür ins Untergeschoss. Doch das Licht für die Kellerstiege war aus. Dennoch stieg sie runter, nur um festzustellen, dass er auch dort nicht war. Wieder oben kam ihr ein Gedanke: die Scheune. Das war die letzte Möglichkeit.

Sie schaute aus dem Stubenfenster. Dichtes Schneegestöber erschwerte die Sicht auf das Nebengebäude, das etwa zehn Meter vom Haus entfernt war. Schwaches Licht drang aus den kleinen Fenstern. Was zum Teufel trieb er denn dort? Sie zog ihre Schuhe und die Jacke an und ging hinaus in den Schnee.

Scheißwetter.

Sie schlug den Kragen hoch. Der Weg führte ums Gebäude. Doch, hier waren Spuren auszumachen, vom Schnee bereits wieder leicht zugedeckt. Es gab nur eine Spur zum Nebengebäude hin, aber keine zurück. Er musste demzufolge noch dort sein. Aber warum behielt er durch den Schnee die Hausschuhe an? Merkwürdig. Ihre Unruhe erhöhte sich.

Sie öffnete langsam die Türe und schaute in die Scheune hinein. Er war nicht zu sehen. Niemand antwortete, als sie seinen Namen rief. Sie trat ein und sah sich um. Das Gebäude bestand nur aus einem einzigen großen, hohen Raum, der fast leer war. In einer Ecke waren einige Gartengeräte und ein Fahrrad verstaut. Unter dem Fenster war eine Werkbank platziert. An der Wand links daneben hingen Werkzeuge, rechts stand ein Regal mit Material, das man für den kleinen Unterhalt eines Hauses brauchte. Erst jetzt fiel ihr die große Bockleiter auf, die umgestürzt mitten im Raum lag. Warum lag die hier?

Ohne etwas zu erwarten, hob sie für einen kurzen Moment den Blick nach oben in Richtung Dachfirst und wollte dann die Scheune weiter absuchen. Doch es hatte sich ein Bild in ihre Netzhaut eingebrannt, das sie nie mehr vergessen würde. Es dauerte einige Sekunden, dann schrie sie los.

 

Schweißgebadet fuhr Karin Fuso hoch. Ihr Herz pochte. Sie atmete schnell und zitterte am ganzen Körper. Die Nachtlampe am Boden beleuchtete mit gedämpftem Licht das Zimmer. Es dauerte einige Augenblicke, bis sie sich der gewohnten Umgebung ihres Schlafzimmers bewusst wurde. Langsam beruhigte sie sich. Wann endlich würde sie wieder normal und ohne Licht schlafen können? Der immer wiederkehrende Albtraum, seit sie vor einem halben Jahr die Leiche ihres Mannes gefunden hatte, raubte ihr jede Nacht den Schlaf. War es nicht schlimm genug gewesen, ihn zu finden? Reichte das denn nicht?

Einige Minuten später stand sie auf und ging in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Die Küchenuhr zeigte zwanzig nach drei in der Nacht. Draußen stürmte es. Nach den letzten heißen Tagen war ein abkühlendes Gewitter willkommen. Es blieben ihr noch drei Stunden, bis ihr Wecker klingeln würde. Vielleicht gelang es ihr, nochmals etwas Schlaf zu finden. Normalerweise kam dieser fürchterliche Traum in einer Nacht nur einmal.

Wie schön, dass sie sich ins warme Bett zurücklegen konnte. Hoffentlich hielt das Unwetter auch Verbrecher davon ab, ihre Untaten zu begehen. Sie hatte in dieser Nacht Bereitschaftsdienst. Die Vorstellung, eventuell ausrücken zu müssen, behagte ihr überhaupt nicht.

 

***

 

Der Sturm tobte noch immer heftig. Der schmale Weg führte von Hellers Haus ungefähr über vierzig Meter Wiese in den Wald. Der Rottweiler knurrte fortwährend und zerrte wild an der Leine. Sie kamen in den Wald. Die Lichtung war schätzungsweise weitere dreißig Meter entfernt. Er sah das Licht jetzt deutlicher. Nach etwa fünfzehn Metern stoppte er. War da nicht ein Knacken von Ästen?

Sein Puls schlug etwas schneller. Vorsichtig näherte er sich der Lichtung. Ein Blitz erleuchtete den Wald für einen Sekundenbruchteil. Da! Schatten hatten sich bewegt. Es rannte jemand! Oder war dies eine Täuschung? Waren nicht Stimmen zu hören?

Verunsichert blieb er stehen und horchte. Nichts, außer starkem Regen, heftigem Wind und dem Lichtschein. Plötzlich hob der Hund witternd die Nase. Und ebenso plötzlich sprintete er bellend auf die Waldlichtung los. Darauf war sein Meister nicht gefasst. Ihm entglitt die Leine.

„Komm zurück!“, schrie er in den Sturm.

Vergebens. Der Hund war verschwunden. Nur sein Gebell war noch zu hören. Heller horchte in den Wind. Abrupt verstummte das Bellen. Was war da nur los?

Langsam schlich er auf die Lichtquelle zu. Bevor er aus dem Wald auf die Lichtung trat, verschaffte er sich im Schutze eines Gebüsches einen Überblick. Eine gespenstische Szenerie bot sich ihm. Zwei Lampen erleuchteten etwa zehn Meter von ihm entfernt am Rand der Lichtung den Ort. Der Lichtstärke nach waren es eher Scheinwerfer oder zumindest sehr starke Taschenlampen. Ein Gerät war halb umgekippt und leuchtete in Richtung der Baumwipfel. Der Sturm sorgte für ein bizarres Schattenspiel. Die Tannen schwankten hin und her. Überall bewegten sich nervöse Schatten wie wilde Dämonen. Der andere Lichtkegel war auf seinen Hund gerichtet, der einen länglichen, schwarz-weißen, etwa vierzig Zentimeter hohen Haufen beschnupperte. Gleich dahinter stieg die Waldlichtung ungefähr zwei Meter steil an. Nach der Erhöhung ging die Lichtung wieder in Wald über.

Er vermochte nicht zu erkennen, was am Boden lag. Der Hund verdeckte ihm die Sicht. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sonst nichts Ungewöhnliches mehr zu sehen war, trat er auf die Lichtung und schlich langsam, sich ständig umschauend auf den Hund zu und kniete sich schließlich neben ihm nieder.

Zuerst begriff er nicht, was er da sah. Dann aber durchfuhr es ihn heiß. Sein Atem stockte. Sofort kamen ihm die Geräusche und Schatten im Wald von vorher in den Sinn. Und die Stimmen. Das waren keine Täuschungen gewesen! Er richtete sich zögernd auf. Seine Nackenhaare stellten sich auf. War noch jemand hier?

Heller schaute sich um und leuchtete zuerst langsam, dann immer unkontrollierter mit der Taschenlampe den Waldrand ab. Ein Knall. Er zuckte zusammen. Es dauerte einen Augenblick, bis er den Knall als Donner wahrnahm. Gewiss, er war kein ängstlicher Mann. Aber jetzt kam selbst bei ihm Panik auf. Warum nur hatte er nicht gleich die Polizei angerufen!

Mit zitternden Händen versuchte er, die Leine seines Hundes aufzunehmen. Aber es gelang ihm nicht auf Anhieb, da er immer wieder voller Angst hektisch fuchtelnd um sich leuchtete und mit weit aufgerissenen Augen etwas zu erkennen versuchte. Jetzt hatte er die Leine in der Hand. Er riss den Hund mit aller Kraft mit sich und rannte, oder vielmehr stolperte, so rasch sein Alter dies zuließ, zurück in Richtung seines Hauses. Mehrmals fiel er hin. War da nicht ein Knacken und Rascheln von Ästen? Kamen die Geräusche nicht immer näher?

Doch, es waren mehrere Verfolger. Sie waren ihm auf den Fersen. Er verfiel in höchste Panik. Kurz bevor er aus dem Wald kam, verlor er bei einem Sturz die Taschenlampe. Angesichts dessen, was sein Hund und er auf der Waldlichtung entdeckt hatten, und da ihm jetzt dunkle Gestalten im Nacken waren, stellte dies Hellers kleinstes Problem dar.

 

***

 

Als Kriminalkommissarin Karin Fuso kurz vor halb fünf in der Früh mit wenig Motivation und schlechter Laune auf der Waldlichtung ankam, war das Gewitter der Nacht nur noch in der Ferne zu hören. Regen fiel in Strömen vom Himmel. Die alarmierte Polizei hatte den Ort schon weiträumig mit Bändern abgesperrt.

Sie hob das Absperrband leicht an und bückte sich unten durch, blieb aber sofort stehen. Die beiden Polizisten hatten bereits Ständerscheinwerfer aufgestellt und eingeschaltet. Aufgrund des Dauerregens der letzten Tage war das Waldsträßchen zur Lichtung in einem miesen Zustand, sodass sie das Fahrzeug etwa hundertfünfzig Meter entfernt stehen lassen und das gesamte Material durch den Morast schleppen mussten. Fuso konnte sich vorstellen, dass sich die Freude der Kollegen in Grenzen hielt. Sie selbst hatte ihren Wagen gleich hinter jenem des Notarztes geparkt, der schon auf dem Platz war. Sie sah ihn in ungefähr zwanzig Meter Entfernung am gegenüberliegenden Rand der Lichtung neben einem leblosen Körper am Boden knien.

„Lasst niemanden unter den Bändern durch, bis die Spurensicherung ihre Arbeit erledigt hat“, sagte sie mürrisch zu den beiden Polizisten.

Sie wäre lieber noch in ihrem warmen Bett. Stattdessen musste sie hier draußen bei garstigem Regenwetter einen Tatort aufnehmen.

„Dir auch einen wunderschönen guten Morgen!“, gab einer der uniformierten Kollegen übertrieben freundlich zurück, obwohl er wusste, dass Fusos Ton und der unterlassene Gruß nicht persönlich zu nehmen waren. Dazu kannte er sie schon zu lange. Sie war im Grunde eine fröhliche Kollegin, mit der man sich gerne unterhielt. Aber wenn sie missgelaunt war, bekamen dies alle zu spüren, die ihr über den Weg liefen.

Ohne auf die Antwort einzugehen, drehte Fuso sich um und sah den Notarzt auf sich zukommen. Sie erkannte Bernd Moser. Ihre Stimmung besserte sich sogleich. Er war erst seit einigen Monaten am Spital in Herisau tätig. Sie hatte im Zusammenhang mit anderen Ermittlungen schon ab und zu mit ihm zu tun gehabt. Er wirkte anziehend auf sie.

Moser war etwa einen Meter neunzig groß, schlank und machte einen sportlichen und kräftigen Eindruck. Seine dezent bräunlich-bronzene Gesichtsfarbe deutete auf eine südländische Abstammung hin, wenngleich in seiner Aussprache nichts darauf schließen ließ. Sein Gesicht hatte auf den ersten Blick eine liebliche, gewinnende Ausstrahlung. Bei näherem Hinschauen drang in den Gesichtszügen jedoch eine gewisse Härte durch. Sein kurzes, gewelltes Haar war schwarz und teilweise grau meliert und trug das seine dazu bei, dass Frauen ihn als attraktiv bezeichneten.

Fuso bedauerte, dass sie bis jetzt nie die Gelegenheit gehabt hatte, sich länger mit ihm zu unterhalten. Denn seit ihrem Schicksalsschlag einige Monate zuvor war er der erste Mann, zu dem sie sich hingezogen fühlte. Wie sollte sie es angehen, mit ihm näher in Kontakt zu kommen? Sollte sie ihn einfach fragen? Musste nicht er als Mann sie ansprechen? Dies aber würde bedingen, dass er sich ebenfalls für sie interessierte. Tat er das?

„Guten Morgen, Herr Moser.“ Die Tonlage in ihrer Stimme war um Stufen freundlicher als noch vor wenigen Sekunden gegenüber dem Polizisten. „Können Sie mich ins Bild setzen?“

„Ah, Frau Fuso. Wie schön, Sie zu sehen“, sagte Moser mit dunkler Stimme und gab ihr die Hand. Sie war wohlig warm. Er hatte einen angenehmen Händedruck.

„Ich kann Ihnen natürlich nur die medizinische Verdachtsdiagnose geben. Leider konnte ich nichts mehr für ihn tun. Er war bereits tot, als ich angekommen bin.“

„Woran ist er gestorben?“

„Ich will der Spurensicherung und der Rechtsmedizin nicht vorgreifen. Aber es ist offensichtlich: Er wurde erschossen. Ein direkter Schuss ins Herz.“

Fuso wollte etwas sagen, jedoch Moser fuhr fort: „Ein Unfall kann ausgeschlossen werden.“

„Wieso ...“

„Darf ich bitten, Platz zu machen und uns das Feld zu überlassen?“ Edgar Kalt, Leiter des kriminaltechnischen Dienstes, kam auf sie zu. „Stellen Sie mal keine voreiligen Vermutungen an, Moser.“

„Aber Sie werden sehen ...“

„Darf ich bitten?“ Kalt hob das Absperrband hoch und winkte Fuso und Moser aus dem abgesperrten Bereich.

Hinter Kalt kamen seine Kolleginnen und Kollegen. Auch sie waren gezwungen, ihre Ausrüstung mühsam zum Tatort zu schleppen. Sie atmeten schwer. Fuso und Moser traten zur Seite, damit die Spurensicherung ihre Arbeit aufnehmen konnte.

„Mussten heute Nacht also Sie in den sauren Apfel beißen?“, fragte Moser Fuso.

„Ja, leider. Gleiches gilt ja für Sie.“

„Nun, bedauerlicherweise finde ich schlecht Schlaf und erwache zudem oft sehr früh. Auch heute war ich schon wach, als der Notruf kam.“

Das Team der Spurensicherung hatte inzwischen am Rande der Lichtung die Arbeit aufgenommen. Zwei Personen stellten eine Überdachung auf, unter der sich das Team auf den bevorstehenden Einsatz vorbereitete. Kalt gab Anweisungen. In seinen Worten lagen Kompetenz und langjährige Erfahrung.

„Sie entschuldigen mich für einen Moment?“, meinte Fuso zu Moser. „Ich muss kurz telefonieren.“

Fuso entfernte sich einige Schritte von dem Arzt. Sie wollte den Staatsanwalt Alexander Stoll anrufen. Die Notrufzentrale hatte ihn nicht erreichen können, wie sie auf der Fahrt hierher erfahren hatte. Leider hatte sie aber keinen Empfang, wie sie feststellen musste. Sie fluchte vor sich hin. So, wie Stoll momentan drauf war, würde er ihr vorwerfen, ihn absichtlich nicht ins Bild gesetzt zu haben. Die Stimmung Fusos sank augenblicklich gegen den Nullpunkt.

Sie wollte sich schon wieder Moser zuwenden, da leuchteten plötzlich die Scheinwerfer der Spurensicherung auf. Die Lichtung und der Waldweg lagen jetzt in gleißendem Licht.

Moser hatte sich mittlerweile unter das Zeltdach der Spurensicherung gestellt. Sie gesellte sich zu ihm. Beide schauten den Spurenexperten bei ihrer Arbeit zu. In der Zwischenzeit war die Verstärkung der uniformierten Kollegen ebenfalls auf dem Platz.

Aus der Distanz präsentierte sich das Ganze wie ein Filmset. Scheinwerfer beleuchteten die Szenerie. Die Schauspieler spielten ihre Rolle. Die Regie stand etwas abseits, um bei Bedarf einzugreifen.

Leider war dies kein Spiel, sondern purer Ernst. Fuso fragte sich, welche Umstände in dieser ländlichen Gegend im Appenzellerland zu einer Leiche mit einem Herzschuss führten. Auch über den Fundort rätselte sie, denn die Waldlichtung konnte kaum zufällig als Ort ausgesucht worden sein. Dafür sprachen die beiden Handscheinwerfer, die zurückgelassen wurden. Der oder die Täter kannten den Platz.

„Müssen Sie nicht zurück ins Spital?“, fragte Fuso den Notarzt, nachdem sie einige Minuten still den Kriminaltechnikern zugeschaut hatten.

„Nein.“ Moser schaute auf seine Uhr „Meine Schicht ist zu Ende. Ein Kollege hat bereits übernommen. Da wir zwei Einsatzfahrzeuge haben, schau‘ ich noch ein bisschen zu, bis es heller wird.“

„Karin, du kannst kommen.“ Kalt winkte ihr zu. „Aber bleib auf dem gekennzeichneten Weg!“

„Bis später!“, sagte Fuso zu Moser und näherte sich vorsichtig auf dem markierten Weg der Leiche.

Der Körper lag auf der rechten Seite, mit leicht nach oben abgedrehtem Oberkörper. Die Hände waren hinter dem Rücken. Die offenen Augen starrten in den Himmel. In ihnen lag eine Art von Melancholie, und Fuso kam es vor, als würde der Blick ein stummes Warum nach oben senden. Die blonden Haare klebten nass am Kopf, dessen rechter Teil leicht mit Erde beschmiert war. Die Oberschenkel lagen in der gleichen Linie wie der Oberkörper, während die Unterschenkel nach hinten angewinkelt waren. An den Knien war die Hose ebenfalls mit Dreck bedeckt. Der Mann trug eine schwarze, sportliche Jacke, die geöffnet und auf der oberen Seite des Körpers auf den Rücken zurückgeschlagen war. Das ursprünglich weiße Hemd war von Blut und Regen durchtränkt und hatte eine hellrote, fast rosa Farbe angenommen. Einzig mitten in der Brust war ein sattroter Punkt auszumachen. Das Einschussloch.

„Moser hat recht. Es war kein Unfall“, begann Kalt zu ihr gewandt. „Seine Hände sind auf dem Rücken gefesselt. Zudem haben wir bis jetzt keine Waffe gefunden. Aber wie will er sich auch gefesselt erschossen haben?“

Fuso umrundete langsam die Leiche. Anschließend begutachtete sie in der Hocke die Fesseln. Es waren schwarze Kabelbinder.

„Er muss gekniet haben, als er vom Schuss getroffen wurde. Danach ist er nach rechts in den Dreck gekippt“, fuhr Kalt fort. „Dies bestätigen auch die beiden runden Vertiefungen im nassen Waldboden. Dort waren wohl seine Knie. Weitere körperliche Schäden haben wir bis jetzt keine ausgemacht, von der Austrittswunde der Kugel mal abgesehen. Aber die Rechtsmedizin wird sich zu allem verbindlich äußern.“

Fuso erhob sich wieder. „Mit Kabelbindern fesseln, hinknien lassen und erschießen. War das eine Hinrichtung?“

Kalt zuckte mit den Schultern.

Sie betrachtete immerzu das Gesicht des Toten. Der Mann kam ihr bekannt vor. Angestrengt dachte Fuso nach. Allerdings erinnerte sie sich nicht, woher sie ihn kannte oder wer er war. Sie drehte sich nachdenklich um und sah hinüber zu Moser. Dieser war etwas außerhalb der Zeltabdeckung im abgesperrten Bereich und band sich einen Schuh.

„Bitte weichen Sie zurück unter die Abdeckung, bis die Spurensicherung hier alles aufgenommen hat“, rief sie ihm zu.

„Oh, das habe ich schon wieder vergessen. Geht in Ordnung.“ Moser ging die paar Schritte zurück.

„Die Sachen, die wir in seinen Kleidern gefunden haben, liegen dort auf dem Tisch unter der Abdeckung. Vielleicht ist ein Personalausweis dabei“, schaltete Kalt sich wieder ein.

„Ja, danke. Wie lange schätzt du, werdet ihr hier noch brauchen? Es ist jetzt halb sechs. Wann können wir auf dem Kommissariat einen ersten Überblick kriegen, was ihr an Spuren gefunden habt?“, fragte Fuso.

„Schwierig zu sagen. Der Regen macht die Spurensuche nicht gerade einfacher. Wir werden wohl eine Weile beschäftigt sein, aber mein Team kommt eine Stunde gut auch ohne mich aus. Ich werde mich melden.“

„Haben Sie schon interessante Spuren gefunden?“

„Bis auf einige Fußabdrücke noch nichts.“

„Okay, bis dann.“

Fuso gab Kalt die Hand und ging über den markierten Pfad zum Tisch mit den Gegenständen aus den Taschen des Toten. Als sie zur Abdeckung kam, sah sie Moser, der sich in Richtung des Waldes abgewandt hatte. Er drehte ihr den Rücken zu und der Neigung des Kopfes nach zu schließen, schaute er auf etwas, das er in den Händen hielt.

„Ist es Ihnen noch nicht verleidet, hier im Regen rumzustehen?“, fragte Fuso ihn, als sie unter die Abdeckplane kam.

Moser zuckte leicht zusammen, drehte sich langsam um und hob mit der linken Hand sein Mobiltelefon ans Ohr. „Ein Moment, ich bin gleich soweit“, flüsterte er ihr zu und verformte den Mund dabei so deutlich, sodass sie die Worte verstand, obwohl sie wegen des Regens, der auf die Abdeckung fiel, nicht alles mitgekriegt hatte. Gleichzeitig streckte er ihr seinen rechten Arm entgegen und gab ihr damit zu verstehen, dass sie auf Distanz bleiben möge.

Sie drehte sich ab und trat ein, zwei Schritte zurück, um dem unausgesprochenen Wunsch zu entsprechen.

„Hallo? Bernd hier“, hörte sie ihn sagen. „Ich werde erst später nach Hause kommen. Leider gab es einen nächtlichen Einsatz ... Okay, wir sehen uns.“ Er beendete das Gespräch und kam auf Fuso zu. „Ich musste privat etwas regeln“, sagt er und hielt ihr kurz, wie zur Bestätigung, das Telefon entgegen.

Sie sah das erleuchtete Display, auf dem deutlich zwei Beschädigungen im Glas zu sehen waren, ein großer und ein etwas kleinerer Sprung.

Oje, das hatte ich auch schon, dachte Fuso.

Moser steckte das Telefon weg. „Es ist nun hell genug. Ich werde den Weg zurück ins Auto jetzt ohne Taschenlampe unter die Füße nehmen können. Hat mich gefreut, Frau Fuso.“

„Mich auch. Und zur Not haben Sie ja die Lampe am Handy.“ Fuso gab Moser lächelnd die Hand und dachte angestrengt nach, wie sie es schaffen konnte, ihn mal außerhalb der Arbeit zu treffen. Sie wollte nicht plump wirken. Und dennoch, ohne einen ersten Schritt würde das nie zustande kommen. Sie zögerte. Moser entfernte sich eilig. Sie nahm tief Luft. Ob er mal Zeit und Lust auf einen Kaffee außerhalb der Dienstzeit habe? Sie hatte sich den Satz zurechtgelegt. Nur war er noch nicht ausgesprochen.

Im gleichen Augenblick drehte sich Moser um, kam wieder auf sie zu.

„Übrigens, hätten Sie mal Zeit und Lust auf einen Kaffee außerhalb der Dienstzeit, Frau Fuso?“ Er zog aus der Innentasche seines Mantels eine Karte und reichte sie ihr. „Rufen Sie einfach an. Wir werden schon einige gemeinsamen freie Minuten finden, oder?“

„Aber ...“ Fuso stand perplex da.

„Natürlich liegt es mir fern, Sie zu drängen. Aber unsere Treffen waren bisher immer negativ geprägt.“ Sofort schob er nach: „Selbstverständlich nicht wegen Ihnen. Es liegt in der Natur der Sache, die uns zusammenbringt. Mich würde es sehr freuen, mit Ihnen auch über anderes zu reden, als nur immer über Tote, Todesursachen und Verletzte. Also, bis bald.“ Er zwinkerte ihr zu, drehte sich erneut um und stapfte auf dem morastigen Waldsträßchen davon.

„Karin!“ Ein Mitarbeiter der Spurensicherung hatte in der Zwischenzeit die Gegenstände des Toten auf dem Tisch einer ersten Untersuchung unterzogen. „Karin, komm doch mal her!“

„Karin ... Haallooo ... Träumst du?“

Endlich drang sein Rufen bis zu ihr durch. Sie fasste sich und wandte sich ihm zu. „Was ist denn?“, fragt sie ihn in ärgerlichem Ton.

„In seiner Brieftasche war der Personalausweis. Das solltest du dir ansehen.“

Mit einigen Schritten war sie bei ihm. Er gab ihr den Ausweis. Sie hielt ihn ans Licht eines Scheinwerfers, damit sie ihn besser lesen konnte. Dann schaute sie den Kriminaltechniker erstaunt an. „Du meinst, das ist der ...“

„Ja, das ist er. Hier, er hatte auch seine Visitenkarten dabei.“

„Du heilige Scheiße!“

„Das kannst du laut sagen.“

 

***

 

Er erschrak. An der Haustür hämmerte es laut. Der Lärm riss ihn aus seinen wirren und inhaltlosen Gedanken. Fast gleichzeitig begann der Hund lauthals zu bellen. Er hörte, dass jemand seinen Namen rief. Nach einigen Augenblicken erhob sich Heller. Er verließ die Küche, ging zur Türe und öffnete sie einen Spalt breit. Sein Hund wollte sich bellend und knurrend an ihm vorbei nach draußen drängen. Doch Heller hielt ihn energisch am Halsband zurück.

Vor der Tür stand eine Frau. Sie trug rote Regenhosen und eine schwarze Regenjacke. Die Kapuze bedeckte den Kopf, sodass Heller von ihrem Haar nur die dunkelbraunen Fransen sah. Trotz des Regenschutzes klebten sie ihr nass an der Stirne. Ihre Füße steckten in olivgrünen Stiefeln. Sie erschrak und trat einen Schritt zurück, als sie seinen Rottweiler erblickte.

„Herr ... Heller?“, fragte die Frau zögerlich und schielte ängstlich auf den Hund, der noch immer laut bellte.

„Ja.“

„Mein Name ist Karin Fuso. Ich bin von der Kriminalpolizei Appenzell Ausserrhoden.“ Während sie dies sagte, hielt sie ihren Dienstausweis hoch. „Es tut mir leid, dass ich einen solchen Lärm veranstaltet habe. Aber ich konnte keine Klingel entdecken.“

„Schon gut, es gibt keine. Kommen Sie wegen dem ... der ...“ Heller kam ins Stottern.

„Haben Sie den Fund der Leiche gemeldet?“

„Er lebt also nicht mehr?“

„Nein, leider konnte der Arzt nur noch den Tod feststellen. Darf ich reinkommen?“

„Natürlich. Kommen Sie.“ Er trat zur Seite und öffnete mit der einen Hand die Türe vollständig. Mit der anderen hielt er den Hund am Halsband straff an seinem Bein. Dieser hatte aufgehört zu bellen, ließ aber ein tiefes Knurren verlauten. „Still!“, befahl Heller streng.

Fuso blieb erstarrt draußen stehen.

Er sah sie einige Sekunden an, begriff und sagte: „Kommen Sie nur, ich werde den Hund im Schopf anbinden.“

Er öffnete die Türe, die vom Korridor aus in die Scheune führte. Fuso bewegte sich jedoch erst wieder, als er alleine zurückkam.

In der Küche fragte Heller: „Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“

„Ja, gerne.“ Sie schloss die Küchentüre hinter sich und prüfte, ob sie wirklich geschlossen war. „Ja, ein Kaffee, das wäre jetzt wunderbar. Ich hatte heute früh leider keine Zeit für ein Frühstück.“

„Ich habe allerdings nur Filterkaffee.“

„Das macht nichts“, meinte Fuso.

Heller bemerkte, wie sie sich umschaute. Er schämte sich. Seine Küche war karg eingerichtet. Es gab keine Küchenkombination. Ein uralter Herd stand isoliert in einer Ecke. Die Schränke, der Tisch und die Stühle waren aus unterschiedlichen, älteren Einzelstücken zusammengewürfelt. In der Spüle lag dreckiges Geschirr, das ebenfalls aus verschiedenen Stilrichtungen kunterbunt zusammengesetzt war. Wie im Trödlerladen.

Die Wände waren dunkelbraun und trostlos leer. Einzig ein Kalender hing an einer Schranktüre. Er wollte eigentlich schon lange etwas Farbe ins Haus bringen. Allerdings war es ihm doch nicht wichtig genug, sich um Bilder zu kümmern oder sich dazu durchzuringen, die Wände wenigstens mit heller Farbe zu streichen. Obwohl draußen der Tag dämmerte, fiel kaum Tageslicht durch die kleinen Küchenfenster. Die nackte Glühbirne an der Decke gab spärliches Licht. Der Tisch in der Mitte der Küche bot knapp vier Personen Platz. Er war nicht bedeckt. Auf ihm stand eine Tasse, die mit Kaffee halb gefüllt war, daneben eine offene Flasche mit klarem Inhalt. Der Raum strahlte keine Wärme aus. Er war nüchtern und funktional.

„Bitte nehmen Sie Platz“, forderte er Fuso auf.

„Danke. Sie leben weit ab vom nächsten Haus. Ist Ihnen dies nicht zu einsam?“

„Ich bin gerne für mich alleine. Mein Hund ist mir Gesellschaft genug. Wissen Sie schon, was da draußen im Wald passiert ist?“

„Nein, die Ermittlungen stehen erst am Anfang“, antwortete Fuso.

Heller nahm zwei Tassen aus einem Schrank und stellte sie auf den Tisch. „Wer ist der Mann?“, fragte er und hob den Krug mit dem Kaffee vom Herd und schenkte der Polizistin und sich ein.

„Wir können dies noch nicht mit Sicherheit sagen. Sie verstehen bestimmt, dass wir zuerst einige Abklärungen vornehmen müssen.“

„Wollen Sie auch ein wenig in den Kaffee?“, fragte er und zeigte auf die Flasche. „Ich brauche einen Schluck, um über den Schrecken hinwegzukommen. Man findet schließlich nicht jeden Tag eine Leiche im Wald.“

„Nein, danke“, sagte Fuso. „Erzählen Sie bitte der Reihe nach, was heute Nacht passiert ist. Darf ich das Gespräch mit dem Mobiltelefon aufzeichnen?“

„Ja, von mir aus“, meinte Heller und schenkte sich großzügig klares Wasser ein. Dann begann er nach einer kurzen Pause mit dem Bericht: „Mein Hund hat mich geweckt. Er war sehr unruhig. Also bin ich aufgestanden und habe mit ihm Haus und Stall abgesucht. Aber hier war alles in Ordnung.“ Er zeigte auf das Küchenfenster. „Mehr zufällig habe ich hinausgeschaut und im Wald hinten ein schwaches Licht gesehen.“

„Um welche Zeit war dies?“, erkundigte sich Fuso und nahm einen Schluck Kaffee.

Heller sah, wie sie das Gesicht verzog.

„Uff, der hat es aber in sich. Damit könnten Tote aufgeweckt werden. Kriegen Sie davon nicht Herzrasen?“, fragte die Kommissarin.

„Ich habe mich daran gewöhnt. Mit jedem Aufwärmen wird er eben etwas stärker.“

Fuso stellte die Tasse zurück auf den Tisch und blickte dann für einen kurzen Moment prüfend zum Kaffeekrug auf dem Herd. Rasch schaute sie wieder zu Heller und fragte erneut: „Um welche Zeit haben Sie das Licht im Wald entdeckt?“

„Ich weiß es nicht mehr. Es ist irgendwie, wie wenn alle Details aus meinem Kopf verschwunden sind. Ich sehe immerfort nur den Mann mit all dem Blut. Schrecklich. Ich kann’s Ihnen nicht sagen.“ Er nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Tasse und schenkte Schnaps nach.

„Ist schon gut. Sie schauten zum Küchenfenster hinaus. Was geschah danach?“

„Ich ging mit meinem Hund über die Wiese in den Wald. Plötzlich war er weg. Auf der Lichtung fand ich ihn wieder, gleich neben“, Heller nahm einen weiteren Schluck seiner Brühe, „dem Mann. Ich habe nicht sofort kapiert, was der Hund gefunden hatte. Es wirkte irgendwie ... irgendwie nicht echt.“

„Haben Sie jemanden gesehen oder gehört?“

„Ja, da waren Schatten und Schritte. Es müssen mehrere Leute gewesen sein.“

„Sind Sie sich dessen sicher?“, hakte die Kommissarin nach. „Es hing ein stürmisches Gewitter über der Region. Ich kann mir vorstellen, dass es aufgrund des Wetters im Wald rauschte und knackte.“

„Ja ... nein.“ Heller zögerte. „Ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Nachdem ich begriffen habe, was vor mir auf dem Boden lag ... mit einem Mal war ich wieder in meinem Haus.“

Fuso wechselte das Thema. „Wozu dient denn die Lichtung im Normalfall? Es gibt dort ja nichts. Warum führt ein Waldsträßchen dahin?“

„Der Platz im Wald wird hauptsächlich von Waldarbeitern benutzt. Sie stellen dort während der Arbeiten ihre Forstfahrzeuge ab. Gelegentlich lagern sie auch Holz, bis es abtransportiert wird.“

„Wem ist der Ort sonst noch bekannt?“

„Was weiß ich, vielleicht Jägern, Pilzsammlern oder Leuten, die mit ihren Hunden spazieren gehen.“

„Ist Ihnen in den letzten Tagen oder Wochen Ungewöhnliches aufgefallen? Haben Sie in der Umgebung unbekannte Personen angetroffen?“

Heller dachte nach. „Nein. Mir ist nichts aufgefallen. Ich bin pensioniert und praktisch immer hier. Fremde Leute würde ich sofort bemerken.“

„Besitzen Sie eine Schusswaffe?“, wollte Fuso wissen.

„Nein. Ich habe keine ... Sie meinen doch nicht, ich hätte ...“ Er war entsetzt.

„Nein, nein.“ Fuso hob beschwichtigend die Hände. „Ich will nur diese Möglichkeit ausschließen. Sollte Ihnen nachträglich noch etwas in den Sinn kommen, melden Sie sich bei uns, auch wenn es nebensächlich oder unwichtig erscheint“, fuhr die Kommissarin fort und legte ihre Karte auf den Tisch. „Es werden zudem Kollegen vorbeikommen, um Ihre Aussage zu protokollieren. Bitte sprechen Sie vorderhand mit niemandem über das Gesehene, insbesondere nicht mit der Presse. Die Polizei wird zu gegebener Zeit die Öffentlichkeit informieren.“

Heller nickte und erhob sich. Mitten in der Bewegung hielt er einen Augenblick still. Ob die Verbrecher wohl zurückkommen werden? Er verdrängte diesen beängstigenden Gedanken sofort.

Fuso stand ebenfalls auf und bedankte sich für das Gespräch. An der Haustüre drehte sie sich nochmals um und fragte: „Haben Sie den Mann angefasst oder bewegt? Wollten Sie ihm helfen?“

Heller schaute sie an und versuchte krampfhaft, sich zu erinnern. Er rang mit den Händen. Nach einigen Sekunden antwortete er verzweifelt: „Ich weiß es nicht mehr.“

 

***

 

Auf dem Rückweg zum Präsidium kaufte Fuso in einer Bäckerei einen Kaffee zum Mitnehmen und ein Kornbrötchen. Sie wollte ihr verpasstes Frühstück nachholen und den Geschmack von Hellers ungenießbarer Plörre loswerden.

Sie setzte sich an den kleinen Besprechungstisch in ihrem Büro, da klingelte ihr Mobiltelefon. Sie meldete sich. Kalt teilte ihr mit, dass er in einer Stunde orientieren könne.

„Gut, ich informiere alle.“

Nach dem Gespräch sank ihre Stimmung augenblicklich wieder gegen Null. Alle zu informieren, bedeutete auch Stoll anzurufen. Der Tag fing ja blendend an. Zuerst wurde sie mitten in einer stürmischen Gewitternacht in einen Wald weitab jeglicher Zivilisation zur Leiche einer Person gerufen, die der Polizei tot bestimmt mehr Schwierigkeiten bereiten würde, als sie es lebendig schon getan hatte. Als ob dies nicht genug wäre, musste sie sich jetzt auch noch den üblen Launen von Stoll aussetzen. Sicher würde er wieder etwas zu schnauzen haben.

Sie biss in ihr Brötchen.

Bis vor einigen Monaten war er anders gewesen. Die Zusammenarbeit zwischen ihm und der Polizei war stets professionell gewesen. Aber in der Zwischenzeit wollte niemand mehr mit ihm zu tun haben, was bei seinem Verhalten nicht weiter erstaunte. Kein Gespräch, in dem er nicht aggressiv, mürrisch oder mit allen und jedem unzufrieden war. Man munkelte, dass er sich vor einiger Zeit ohne Erfolg auf die Stelle des Oberstaatsanwalts in Zürich beworben habe. Nachvollziehbar, dass die Laune dann ein paar Tage, vielleicht auch eine oder zwei Wochen lang etwas getrübt war. Aber gleich über Monate?

Fuso nahm einen Schluck Kaffee.

Was war mit ihm nur los? In ihrer Wahrnehmung hatte er zudem in der letzten Zeit an Brillanz verloren. Seine Arbeit war fahrig geworden. Auch machte er ständig einen unkonzentrierten Eindruck.

Sie aß ihr Brötchen fertig und trank den Kaffee aus. Anschließend stand sie auf, setzte sich unmotiviert an ihren Arbeitsplatz und rief den Staatsanwalt Alexander Stoll an, um ihn über das Verbrechen und die anstehende Besprechung zu orientieren. Er war nicht zu erreichen. Sie hinterließ die Nachricht bei seiner Sekretärin.

Sie legte auf und sagte lächelnd zu sich selbst: „Was für ein Glück!“

 

***

 

Kalt und Fuso saßen schon im Besprechungszimmer, als Peter Tanner, Leiter der Kriminalpolizei des Kantons Appenzell Ausserrhoden, leicht verspätet eintraf.

„Ist Stoll noch nicht da?“, fragte er. Bevor jemand antwortete, fuhr er fort. „Wir starten dennoch, ich habe in einer Stunde wieder einen wichtigen Termin. Also: Wer ist der Tote? Wie ist er gestorben? Was wissen wir schon?“

„Der Tote ist Sven Glanzmann. Und bevor du fragst: Ja, der Sven Glanzmann“, informierte Fuso. „Getötet wurde er …“

„Wer? Der Sven Glanzmann?“, unterbrach Tanner sie. „Steht das ohne Zweifel fest?“

„Ja. Der Personalausweis, den wir bei der Leiche gefunden haben, lautet auf diesen Namen. Er wurde erst kürzlich auf Antrag von Sven Glanzmann, wohnhaft in Wollerau, erneuert. Und der Sven Glanzmann wohnt an der Adresse. Zudem war ein Etui mit Visitenkarten unter seinen Sachen. Auf diesen waren sowohl die gleiche Privatadresse wie auch jene des Büros in Zürich aufgedruckt.“

Kalt legte zur Bestätigung die Beweistüte mit dem Personalausweis Glanzmanns auf den Tisch. Tanner studierte ihn, atmete tief ein, blies seine Backen auf und ließ langsam und deutlich hörbar die Luft zischend wieder raus.

Allen Anwesenden war es bewusst, dass der Fall Staub aufwirbeln würde. Glanzmann war Rechtsanwalt und hatte sich als Strafverteidiger schweizweit einen Namen gemacht. Er vertrat oft Angeklagte aus dem Milieu, die vielfach eine Nähe zu rechtspolitischen Gruppierungen hatten oder offiziell dort einzuordnen waren. Außerdem verteidigte er namhafte Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft in delikaten Situationen, bei denen es jeweils nicht zuletzt darum ging, den Ruf seiner Mandanten zu schützen. Bezeichnenderweise waren auch diese Kunden entweder politisch rechts aktiv. Oder aber sie waren CEOs oder Verwaltungsräte, die sich vielfach mehr oder weniger direkt zur rechten Politik bekannten.

Meistens obsiegte Glanzmann in den Prozessen. In einigen Fällen gelang es ihm gar, den Spieß umdrehen: Am Schluss hatten die Ankläger eine Klage am Hals gehabt, während seine Klientinnen oder Klienten freigesprochen wurden. In der Zwischenzeit hütete sich jedermann, Exponenten aus Politik und Wirtschaft mit rechter Gesinnung allzu aggressiv anzugreifen. Eine Klage folgte bestimmt. Und Glanzmann war zudem ein Meister darin, die Fälle in der Öffentlichkeit im Sinne seiner Mandanten vorteilhaft und wirksam zu inszenieren. Und für sich. Obwohl er als der Hofanwalt des rechten Establishments galt, legte er stets Wert darauf zu betonen, dass er politisch neutral sei und keiner Partei zugehöre.

Wer Glanzmann aber nur mit der rechten Elite in Verbindung brachte, griff zu kurz. Im Gegenteil, denn er hatte ein weitreichendes Beziehungsnetz in alle gesellschaftlichen Bereiche, das er bewusst pflegte und – wenn notwendig – geschickt zu nutzen wusste. Glanzmann galt als intelligent und clever. Er war groß, stets braun gebrannt und hatte kurze, blonde Haare und blaue Augen. Entsprechend war er bei Anlässen und Partys ein gern gesehener Gast. Dort zog er insbesondere die Aufmerksamkeit der Frauen auf sich. Sein Status als Single erhöhte die Anziehungskraft nicht unwesentlich. Kurz: Wer mit Glanzmann zu tun hatte oder mit ihm gesehen wurde, dem waren Schlagzeilen gewiss.

Dessen war sich auch das Ermittlerteam bewusst. Im Interesse von ungestörten Ermittlungen mussten sie daher sehr darauf bedacht sein, so lange wie möglich den Namen des Mordopfers von der Presse fernzuhalten.

„Da stehen uns turbulente Zeiten bevor“, sagte Tanner seufzend.

Fuso nahm das Wort wieder auf: „Wir haben selbstverständlich eine vorläufige Informationssperre veranlasst. Der Mann, der die Leiche gefunden hat, Herr Heller, hat ihn nicht erkannt. Aber zurück zu deiner zweiten Frage. Glanzmann wurde erschossen. Ein Unfall ist auszuschließen. Seine Hände waren auf dem Rücken gefesselt.“

„Gibt es verwertbare Spuren oder Anhaltspunkte?“, fragte Tanner an den Leiter des kriminaltechnischen Dienstes gewandt.

Kalt rückte näher an den Tisch und nahm die Lesebrille ab, bevor er in die Runde schaute und sprach.

„Leider nichts, was uns bereits jetzt eine Lösung liefern würde. Als Fesseln dienten schwarze Kabelbinder, die in jedem Baumarkt erhältlich sind. Es gab einige Fußspuren im Dreck auf der Lichtung. Allerdings waren diese aufgrund des starken Regens nicht mehr deutlich. Wir gehen aber davon aus, dass die Spuren von grobem Schuhwerk herrühren, beispielsweise von Wanderschuhen oder Arbeitsschuhen, die Waldarbeiter vielfach tragen. Oder Springerstiefel. Die unterschiedlichen Größen der Abdrücke lassen darauf schließen, dass es mehr als ein Täter war, sofern denn die Spuren von ihnen stammen.“

„Reifenspuren?“, warf Fuso ein.

„Keine. Der Waldweg war matschig. Und unser ganzer Tross hat ihn ebenfalls befahren und die Wagen darauf abgestellt. Etwaig verwertbare Reifenspuren sind vernichtet worden. Leider.“

„Wie lange war Glanzmann schon tot?“, wollte Fuso von Kalt wissen.

„Die Mitarbeiterin der Rechtsmedizin gab eine Schätzung ab, wonach der Tod unmittelbar vor dem Auffinden der Leiche eingetreten sein muss. Voraussichtlich war er sofort tot. Der Schuss war präzis gesetzt. Mitten ins Herz. Normalerweise tritt der Tod in solchen Fällen sehr schnell ein. Genaueres natürlich erst nach der detaillierten rechtsmedizinischen Untersuchung. Zumindest können wir aber provisorisch daraus schließen, dass der Fundort auch der Tatort ist. Wir haben den Waldboden, auf dem die Leiche gelegen hatte sichergestellt und werden diesen auf Blut untersuchen. Aber andere Spuren weisen darauf hin, dass er gekniet haben muss, als er von der Kugel getroffen wurde. Anschließend ist er seitlich leicht nach hinten in den Dreck gekippt.“ Kalt illustrierte die letzten Worte mit Bewegungen seiner Arme.

„Demnach hat Hellers Hund den Schuss gehört“, meinte Fuso. „Oder er hat die Täter gewittert.“

„Vielleicht hat Glanzmann auch um Hilfe geschrien“, ergänzte Tanner. „Um was für eine Schusswaffe handelt es sich? Und was ist mit der Patronenhülse?“

„Das Einschussloch lässt auf den ersten Blick auf ein kleineres Geschosskaliber schließen. Sicherlich war es keine Neun-Millimeter-Pistole, eher eine Waffe wie das Schweizer Sturmgewehr. Die Hülse haben wir am Tatort leider nicht gefunden. Da es sich um einen Durchschuss handelt, sind wir aber zuversichtlich, die Patrone im Waldboden zu finden. Dieser steigt direkt hinter der Leiche steil an.“

„Womit wir den Täterkreis auf die waffentragenden aktiven und ehemaligen Angehörigen der Schweizer Armee einschränken können“, meinte Tanner spaßeshalber.

„Und all die Waffensammler und Schützenvereine. Und die NATO nicht zu vergessen, die das gleiche Kaliber verwendet“, ergänzte Kalt trocken und fuhr fort, „auch die Scheinwerfer, die der oder die Täter zurückgelassen haben, helfen kaum weiter. Sie sind ebenfalls in jedem größeren Bau- und Hobbymarkt erhältlich. Sie sind für Einsätze ohne Stromanschluss gedacht, das heißt mit Akku-Betrieb.“

„Dann hat die erweiterte Durchsuchung des Geländes wohl auch nichts gebracht, oder?“, fragte Fuso.

„Nicht ganz“, meinte Kalt. „Wir haben im Wald zwischen der Lichtung und dem Haus von Herrn Heller eine Taschenlampe sowie ein Messer gefunden. Vielleicht ergibt sich da noch etwas.“

„Was ist zum Finder der Leiche zu sagen?“, fragte Tanner an Fuso gewandt.

„Er war ziemlich durch den Wind. Pensionierter Mechaniker. Sein Hund hatte ihn geweckt, worauf er das Licht im Wald entdeckt hat und nachschauen ging. Er ist bei uns nicht aktenkundig. Es ist keine Waffe auf ihn registriert. Beim Austritt aus der Armee hatte er zudem seine Armeewaffe zurückgegeben. Sein Notruf wurde um fünf nach halb vier erfasst. Er wohnt in sehr einfachen Verhältnissen, macht aber einen redlichen Eindruck. Nichts Außergewöhnliches, außer dass er wohl eine Weile brauchen wird, um sich vom Schrecken zu erholen. Allerdings werden wir ihn noch nicht aus dem Kreis der Verdächtigen ausschließen. Es wäre nicht das erste Mal, dass der Finder der Leiche auch der Täter ist.“

„Allzu viele Hoffnungen mache ich mir ja nicht, aber haben wir Vermutungen, wer die Täter sein könnten?“, fragte Tanner.

„Leider nein. Wir hatten noch keine Gelegenheit, uns mit Glanzmann zu befassen. Aber ich kann mir vorstellen, dass der eine oder andere nicht sehr traurig über sein Ableben sein wird“, antwortete Fuso. „Gleich nach unserer Sitzung werde ich mich ihm widmen. Die Polizei in Zürich und in Schwyz habe ich bereits ins Bild gesetzt.“

„Haben wir weitere Erkenntnisse, die erwähnenswert sind?“, fragte Tanner und blickte in die Runde.

Als die beiden anderen den Kopf schüttelten, stand er auf, ging zum Fenster, schaute hinaus und sagte: „Ich fasse zusammen. Ein erfolgreicher Strafverteidiger wird auf einer abgelegenen Waldlichtung fernab seines Wohnorts und seines Arbeitsorts erschossen. Er ist gefesselt und kniet zum Zeitpunkt des Schusses im Dreck. Der Tatort wird durch zwei Scheinwerfer beleuchtet. Es ist möglich, dass diese für eine bewusste Inszenierung verwendet worden sind, denn jemanden still um die Ecke zu bringen, sieht meines Erachtens anders aus. Zusammen mit dem Umstand, dass das Opfer aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit bestimmt einige Feinde hatte, könnte eine gezielte Abrechnung die Motivation für die Tat sein. Die Spuren lassen zudem auf mehrere Täter schließen.“ Tanner unterbrach sich, drehte den Blick wieder ins Zimmer und fragte. „Hat jemand Ergänzungen ...“

In diesem Moment sprang mit einem lauten Knall die Tür auf und Staatsanwalt Alexander Stoll stand im Sitzungszimmer. „Warum habt ihr nicht auf mich gewartet und warum bin ich erst vor einigen Minuten informiert worden?“, bellte Stoll in das Zimmer, schlug die Türe wieder zu und nahm am Tisch Platz.

„Ich muss leider gleich weiter. Daher habe ich beschlossen, schon zu starten, sodass ich ebenfalls Bescheid weiß. Karin und Edgar werden Sie ins Bild setzen“, antwortete Tanner ruhig.

„Sie stellen also Ihre Interessen über meine“, gab ihm Stoll gereizt zur Antwort. „Also, was ist Sache?“

„Sven Glanzmann, der bekannte Strafverteidiger, wurde heute Nacht in einem Waldstück in Hundwil getötet. Er war ...“ Weiter kam Tanner nicht.

„Glanzmann? Der Glanzmann?“, unterbrach ihn Stoll schroff.

„Ja.“

Stoll wurde bleich, noch fahler als er sonst schon war. Er ließ sich zurück in den Stuhl fallen und sagte in einem betroffenen Ton: „Oh Gott, oh Gott!“

„Bis jetzt deutet alles darauf hin, dass ...“, wollte Tanner weiterfahren.

Stoll hatte sich wieder gefasst. Energisch setzte er sich aufrecht hin und unterbrach den Leiter der Kripo erneut. „Totale Informationssperre. Alles geht über meinen Tisch. Ermittlungen. Akten. Ergebnisse. Alles. Verstanden?“ Stoll war aufgebracht.

In diesem Moment meldete sich das Mobiltelefon von Fuso. Sie nahm es vom Tisch und drückte den Anruf hastig weg.

„In meinen Sitzungen sind die Handys abgeschaltet!“ Der Staatsanwalt reagierte zornig.

Im gleichen Augenblick klingelte ein weiteres Handy. Stoll fuhr herum und schaute mit wütender Miene um sich. Doch niemand griff zum Telefon. Erst jetzt realisierte er, dass der Klingelton aus seinem Jackett kam. Energisch fasste er in die Innentasche. „Ja?“, blaffte er ungeduldig ins Gerät und hörte zu. Einige Sekunden später wich jeglicher Rest von Farbe aus seinem Gesicht. Er fragte: „Woher wissen Sie das?“

 

***

 

„Warum haben Sie mich nicht bereits in der Nacht über die Tat informiert?“, legte Stoll los, kaum öffnete Fuso die Türe zu seinem Büro. Er stand hinter dem Schreibtisch. Er hatte sie im Anschluss an das Meeting zum Rapport in sein Büro zitiert.

„Die Notrufzentrale hatte Sie nicht erreichen können. Ich hatte es dann nochmals versucht. Dort draußen hatte ich jedoch keinen Empfang.“

Und weil sie sich um vier Uhr in der Früh im verschissenen dunklen Wald, im stürmischen Regen und mitten im Matsch stehend den Tag nicht mit seiner Stimme noch mehr versauen wollte, fügte sie in Gedanken hinzu.

„Papperlapapp, es gibt überall Empfang!“ Stoll nahm am Bürotisch Platz.

Fusos Augen funkelten. Ihr Blut geriet noch mehr in Wallung, als es schon war. Sie drohte zu explodieren. Nicht umsonst war sie in ihrer Kindheit bei den Pfadfindern Vesuva getauft worden. Nur mit großer Mühe gelang es ihr, sich zu beherrschen. „Soll ich Ihnen eine ehrliche Antwort geben oder eine, die Sie hören möchten?“, stieß sie hervor.

„Am liebsten keine. Sie sind mir zu streitsüchtig und uneinsichtig. Und offensichtlich auch nicht fähig, einen Fall richtig anzugehen. Man könnte gar zum Schluss kommen, Sie ignorieren meine Anweisungen absichtlich. Ich gehe davon aus, dass Sie mich verstanden haben.“

Jetzt war es vorbei mit Fusos Beherrschung. Der Vulkan brach aus. Sie schoss aus dem Stuhl hoch und lehnte sich über den Tisch, sodass ihr Gesicht Stoll gefährlich nahekam.

Darauf war er offenbar nicht gefasst. Er erschrak und wich zurück. Ein gerahmtes Foto auf dem Schreibtisch fiel um.

Fuso legte los. „Verflucht nochmal, Sie meinen wohl, Sie müssen keinen Anstand wahren? Alles und jeden kritisieren Sie, ob begründet oder nicht. Seit Monaten. Offenbar sind Sie nur von Unfähigen umgeben. Sie sollten sich mal fragen, ob es wirklich an der Kripo liegt oder ob nicht eher Sie ein Problem haben. Ihnen ist jeglicher Anstand abhandengekommen. Schauen Sie sich doch an. Sie sind nur noch ein Schatten dessen, was Sie mal waren ...“

„Es reicht, Fuso. Sie werden die Konsequenzen ...“

„Jetzt aber Schnauze, Stoll!“ Fuso war in Rage. „Sie werden die Konsequenzen tragen müssen. Mir reicht's! Bis jetzt habe ich nur in Gedanken damit gespielt. Aber die Zeit ist reif für eine Beschwerde beim Regierungsrat und beim Parlament. Und glauben Sie ja nicht, ich stehe alleine da. Es gibt unzählige Situationen mit Zeugen. Es wird wohl die längste Beanstandung, mit der sich der Regierungsrat je zu befassen hatte. Ein detailliertes Zeugnis Ihrer Unfähigkeit ...“

Die Türe öffnete sich langsam und Stolls Sekretärin streckte den Kopf rein. „Ist alles in Ordnung?“ Ihr Blick haftete dabei auf dem Staatsanwalt.

„Ja, ist es!“, fuhr Fuso sie an. „Stoll braucht Sie nicht.“

Der Staatsanwalt saß mit hochrotem Kopf da. Wenn er jetzt ein Glas Wasser getrunken hätte, wäre ihm der Dampf explosionsartig aus Nasen und Ohren gezischt.

„Herr Stoll?“ Die Sekretärin ließ sich nicht so leicht abschieben.

„Ja, sonst rufe ich Sie.“

Stoll schien sich zu beherrschen. Das Wort Beschwerde hatte in ihm offenbar etwas ausgelöst. Er nahm einen tiefen Atemzug und schnaufte deutlich hörbar wieder aus.

„Ja. Danke.“

Die Sekretärin schaute Stoll kritisch an, zögerte einen kurzen Augenblick und schloss die Türe wieder.

Es herrschte eine angespannte Ruhe, in der Fuso ihren feurigen, wütenden Blick nicht eine Sekunde von Stoll ließ. Er hielt ihm uneingeschränkt stand.

In Fuso kam nun so etwas wie Respekt auf, obwohl sie das nie zugegeben hätte. Denn es war selten, dass jemand diesen Blick aushielt. Insbesondere, wenn ein heftiger Streit vorausgegangen war.

„Nun, Frau Fuso, ich schlage vor, wir streichen den heutigen Vormittag und beginnen ihn sozusagen neu.“ Stolls Stimme klang noch immer erregt. Aber die Aussicht auf behördliche Schwierigkeiten dämpfte seine Emotionen sichtlich. „Einverstanden?“

Fuso brauchte zuerst etwas Überwindung, vom wütenden Modus in den sachlichen zu wechseln. Aber nach und nach beruhigte sie sich wieder. Nachdem sie Stoll ins Bild gesetzt hatte, lehnte sich dieser in seinem Sessel zurück und wiederholte, was er schon in der vorangehenden Sitzung gesagt hatte.

„Alles über meinen Tisch. Ergebnisse, Beweise, Indizien. Ausnahmslos alles. Ein Fall, bei dem Sven Glanzmann das Opfer ist, bedeutet große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit.“

Ja, und bietet dir die Gelegenheit, dich selbst in Szene zu setzen. Fuso sprach diesen Gedanken nicht aus. Stattdessen nickte sie.

Gleichzeitig meldete sich Stolls Telefon. Er nahm ab. Während er zuhörte, blickte er über den Tisch zu Fuso. „Ja, ich werde ihr dies mitteilen.“ Er legte auf.

„Da ist noch etwas ...“ Stoll unterbrach sich und suchte nach Worten. „Sie werden, hmmm ... Unterstützung brauchen. Tanner möchte, hmmm ... einem Ihrer Kollegen eine letzte Chance geben. Tanner wird Sie ins Bild setzen.“

„Auch das noch!“, entfuhr es Fuso. Ihr schwante Fürchterliches. Sie stand auf und schickte sich an, das Büro zu verlassen.

„Und rufen Sie diese eigensinnige Journalistin nochmals an, die mich während der Sitzung angerufen hat. Sie will Glanzmanns Tod publik machen. Verhindern Sie dies und fragen Sie, woher sie die Info hatte.“

Stoll nahm sein Handy, schaute die Nummer nach, schrieb sie auf einen Zettel und gab ihn Fuso.

Sie nickte und verabschiedete sich mit einem knappen Murmeln. Beim Verlassen des Büros ließ sie die Türe offen.

 

„Muss das wirklich sein?“ Fuso kam sichtlich genervt ins Büro von Tanner und ließ sich in den Besucherstuhl plumpsen. Der Leiter der Kripo wusste sofort, worauf sie hinauswollte. Er hatte fest damit gerechnet, dass sie gleich, nachdem sie bei Stoll fertig war, mit der entsprechenden Stimmungslage bei ihm auftauchen würde.

„Ja, der Fall wird anspruchsvoll sein. Lanker wird dich bei den Ermittlungen unterstützen.“

„Das sagst du so leichtfertig. Du musst ja nicht mit ihm zusammenarbeiten. Den wohl notorischsten Einzelgänger und am wenigsten teamfähigen Polizisten der ganzen Kripo weist du mir zu.“

„Du wirst froh sein! So wie sich die Fakten derzeit präsentieren, wird uns der Fall Glanzmann alle sehr fordern.“

Fuso erhob sich aus dem Stuhl. „Du denkst wohl, ich sei noch nicht wieder auf der Höhe. Aber du täuschst dich. Ich bin voll einsatzfähig, wie übrigens der Bericht der Psychologin bestätigt.“

„Das steht nicht zur Diskussion. Ansonsten wärst du nicht hier. Du bist eine sehr gute Ermittlerin.“

„Willst du den Fall rasch und ohne Verluste gelöst haben? Dann zieh Lanker davon ab. Es geht bestimmt schneller und ohne weiteren Schaden. Er ist ein Risiko.“ In Fusos Stimme lag Sarkasmus.

„Keine Widerrede. Ich habe entschieden. Wir haben hier kein Wunschkonzert. Lanker bekommt eine letzte Chance. Er ist scharfsinniger als alle denken. Und ich hoffe, dass er etwas dazugelernt hat.“

 

Nachdem Fuso Tanners Büro verlassen hatte, stand sie auf dem Korridor des Präsidiums.

Sollte sie zur Beruhigung zuerst einen Kaffee trinken? Oder sollte sie gleich das Unangenehme hinter sich bringen? Der Tag hatte offenbar beschlossen, dass er ihr nicht wohlgesonnen war. In der Nacht der Albtraum. Dann ließ sich dieser Depp von Glanzmann mitten im Nirgendwo erschießen, worauf sie, noch bevor der Tag begann, in Sturm und Regen im Wald stand. Und anschließend wurde sie von Stoll zur Schnecke gemacht.

Stoll. Wie der sich in den letzten Monaten verändert hatte. Schade, er war ein sehr guter Staatsanwalt gewesen, von allen geschätzt. Aber dann wurde er zusehends jähzornig und unbeherrscht. Auch seine äußerliche Erscheinung hatte sich gewandelt. War er früher gepflegt, adrett und stets korrekt gekleidet, trug er heute die Hemden meist mehr als nur einen Tag. Oft steckten sie nicht einmal richtig in den Hosen. Die Krawatten waren fast immer schludrig und locker gebunden. Zu locker für einen Staatsanwalt. Hosen und Anzug waren eine Nummer zu groß. Hatte er abgenommen? Sicher, denn die Kleider waren nicht neu. Auch mit der Körperpflege nahm er es nicht mehr so genau. Dass seine Frau nichts sagte? Die restlichen grauschwarzen Haare, die er am unteren Rand des ansonsten kahlen, länglichen, ovalen Kopfes noch hatte, benötigten dringend einen Haarschnitt. Sie waren unordentlich und ungepflegt. Was war mit ihm geschehen?

Und jetzt wurde ihr auch noch Lanker zugewiesen. Der war die Vollendung der heutigen Pechsträhne. Offenbar war er zurück aus dem Zwangsurlaub, den er zur Besinnung verordnet erhalten hatte. Zwei vergangene Fälle hatten durch seine Geheimniskrämerei fast im Desaster geendet. Er konnte von Glück reden, dass er nicht suspendiert und keine interne Untersuchung wegen absichtlicher Behinderung von Ermittlungen eingeleitet worden war.

Fuso seufzte und bewegte sich in Richtung Lankers Büro.

Sollte er doch beweisen, dass er kommunikativer geworden war und die Erkenntnisse aus seinen Nachforschungen mit dem Ermittlerteam teilte. Sie würde ihm das Gespräch mit der Journalistin übergeben, entschied Fuso.

Über ihr Gesicht huschte ein kleines Lächeln.

 

Nachdem Lanker von Fuso über den Stand der Dinge informiert worden war, erteilte sie ihm den Auftrag, eindringlich mit der Journalistin zu sprechen. Sie vereinbarten, sich in einer halben Stunde auf dem Parkplatz zu treffen, um zu Glanzmanns Haus nach Wollerau zu fahren.

Es regnete noch immer. Der Himmel war düster und dunkel. Der Sturm, der in der Nacht gewütet hatte, war jedoch abgeflaut. Lanker verschlang auf dem Beifahrersitz als Erstes ein Sandwich, das er sich vor der Abfahrt besorgt hatte. Nachdem sie eine Viertelstunde ohne miteinander zu reden gefahren waren, brach Fuso das Schweigen.

„Was hat sie gesagt?“

„Wer?“

„Die Journalistin?“

„Ich konnte sie noch nicht anrufen. Wir sind ja gleich losgefahren.“

„Aber dir ein Sandwich besorgen. Dazu hat die Zeit dann aber gereicht.“

Lanker schwieg betreten.

„Ruf sie jetzt an.“ Fusos Ton war forsch, denn ihre Wut auf Stoll war noch nicht völlig abgeflaut. Auch der düstere Regentag trug nicht zu einer besseren Laune bei. „Und schalte auf Lautsprecher.“

Er knurrte etwas Unverständliches, tat aber wie ihm geheißen.

„Hartmann“

„Tag, Frau Hartmann, hier ist Albert Lanker von der Kriminalpolizei Appenzell Ausserrhoden. Sie haben vor Kurzem mit unserem Staatsanwalt, Herrn Stoll, gesprochen. Es ging um Sven Glanzmann.“

„Hallo Herr Lanker. Sie meinen den netten Herrn, dessen Manieren einen an eine dreckige Stalltüre erinnern lässt?“

„Ehm ... Er bittet Sie eindringlich, auf das Veröffentlichen der Story vorläufig zu verzichten.“

„Und warum sollte ich dies tun?“

„Eine solche Geschichte würde unsere Ermittlungen unnötigerweise verkomplizieren und erschweren.“

„Selbst, wenn ich wollte, es ist zu spät. Ich arbeite als freie Journalistin und habe die Story schon an verschiedene Redaktionen weitergegeben. Sie wird an den heutigen Redaktionssitzungen für Aufregung sorgen. Die Frontseiten von morgen werden sich diesem Fall widmen. Etwas anderes ist bei dem Bekanntheitsgrad von Glanzmann nicht zu erwarten. In einigen Onlineausgaben sind vor wenigen Minuten erste Beiträge veröffentlicht worden. In der Welt des Journalismus‘ ist eben erfolgreich, wer der Erste ist. Eine solche Chance konnte ich mir nicht entgehen lassen. Nicht bei dem Opfer. Sie verstehen dies bestimmt.“

Fuso verdrehte die Augen. Ein Aufmarsch einer sensationshungrigen Meute am Wohnort und in der Kanzlei Glanzmanns war ihnen sicher. Wie sie das hasste.

„Aus Ihrer Sicht ja. Aber versetzen Sie sich in unsere Lage. Schade“, antwortet Lanker. „Woher haben Sie überhaupt die Information zu Glanzmanns Tod?“

„Erwarten Sie, dass ich meine Quelle preisgebe? Wohl nicht ernsthaft, oder?“

„In diesem Fall allerdings sehr ernsthaft. Wir hatten eine Informationssperre verfügt. Folglich haben wir entweder ein internes Leck oder Sie wurden von jemandem informiert, der Täterwissen hat oder der dem Täter nahesteht. In beiden Fällen wird es nicht weit her sein mit Ihrem Quellenschutz. Es liegt in Ihrer Entscheidung, ob ich unmittelbar nach unserem Gespräch die Untersuchung einleite.“

Fuso hob leicht überrascht die Augenbrauen. Von Lanker hätte sie diese Antwort nicht erwartet. Direkt mit der Pistole auf die Brust.

„Das ist Erpressung. Ich werde mich ...“

„Nennen Sie es, wie Sie es wollen. Es geht um ein Tötungsdelikt, in dem Sie uns möglicherweise den Zugang zur Täterschaft verwehren.“

Am anderen Ende der Leitung blieb es für einen Augenblick still.

„Und wenn meine Quelle nichts mit der Täterschaft zu tun hat und sich auch nicht als internes Leck herausstellt?“, fragte sie.

„In diesem Fall werden Sie wie auch Ihre Quelle nichts zu befürchten haben. Selbstverständlich behandeln wir im Rahmen der Ermittlungen alles vertraulich.“

Langes Schweigen.

„Okay. Aber Sie werden enttäuscht sein. Ich kenne meine Quelle selbst nicht. Der Hinweis kam anonym per E-Mail. Die Absenderadresse ist mir unbekannt. Entsprechend wollte ich per E-Mail zurückfragen und versuchen, mehr Angaben oder einen Kontakt für ein Gespräch zu kriegen. Aber ich habe eine Meldung erhalten, dass die Nachricht unzustellbar sei, weil kein solcher Account bestehe. Ein anonymer Hinweis alleine reicht für eine Veröffentlichung nicht aus. Deshalb habe ich versucht, Glanzmann auf allen Wegen zu erreichen. Leider ohne Erfolg. Auch seine Sekretärin konnte mir keine Auskunft über sein Verbleiben geben. Er hatte selbst in der Kanzlei Termine verpasst. Dass er tot ist, hat aber definitiv Ihr genialer Staatsanwalt bestätigt, als ich ihn heute Morgen angerufen habe.“

„Woher wussten Sie, dass Sie bei uns anrufen mussten?“

„In der E-Mail stand, wo die Leiche lag. Entsprechend habe ich mich an Ihre Behörde gewandt. Ich werde Ihnen die Nachricht weiterleiten.“

Lanker gab seine E-Mail-Adresse an und verabschiedete sich von ihr. „Das kann ja heiter werden“, meinte er. „Wir werden jedenfalls am Wohnort nicht alleine sein.“

„Hmmm.“

Fuso grübelt vor sich hin. Wenn es kein internes Leck war, wer war es sonst? Die Täter? Kaum, denn eine E-Mail konnte zurückverfolgt werden. Damit stieg das Risiko der Entlarvung. Das würde sie an der Stelle der Täter nicht riskieren. Hingegen wurde der Fall auf diese Weise öffentlich und die Täterschaft war über die kommende Berichterstattung zumindest etwas informiert, wie weit die Ermittlungen waren. Oder wurde mit der Veröffentlichung eine Botschaft platziert? Eine Warnung an andere, die mit Glanzmann in Beziehung standen? In diesem Fall musste verständlicherweise dafür gesorgt werden, dass über sein unnatürliches Ableben berichtet wurde.

 

***

 

Lanker betrachtete Fuso von der Seite. Wie meistens hatte sie ihre etwas über schulterlangen, leicht gewellten, dunkelbraunen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Heute allerdings ziemlich unordentlich. Angesichts der knappen Zeit für die Morgentoilette konnte man in dieser Hinsicht nachsichtig sein. In ihrem leicht südländischen Teint spiegelten sich die sizilianischen Wurzeln ihres Vaters. Gleichen Ursprungs musste, wenn auch symbolisch, eine andere Eigenschaft sein. Sie konnte sehr unbeherrscht sein. Hatte sich genug aufgestaut, folgte der explosive Ausbruch. Sie schien im Augenblick angespannt zu sein, konzentriert, auf eine Art abwesend. Schon oft hatte sie mit ihrem Scharfsinn Ermittlungen entscheidend weitergebracht.

Lanker war froh, dass Fuso nach dem Suizid ihres Ex-Mannes und ihrer darauffolgenden Auszeit wieder in den Dienst zurückgekehrt war. Selbst wenn er ihr dies nie sagen würde, das war nicht sein Ding. Er hatte zwar den Eindruck, dass sie sich noch nicht ganz erholt hatte, was aber angesichts der Umstände nur zu verständlich war. Sie hatte ihn gefunden, erhängt in der Scheune neben dem Haus. Obwohl sie sich erst kurz davor hatte scheiden lassen, war dies dennoch ein großer Schock für sie. Selbst eine starke Persönlichkeit wie Fuso konnte dabei ins Wanken geraten.

Auf ihr Können und ihre Erfahrung verzichten zu müssen, wäre für die Kriminalpolizei des Kantons Appenzell Ausserrhoden ein schwerer Rückschlag. Und zudem mochte er sie sehr. Auch dies würde er ihr nie sagen. Er war nicht der Typ für solche Worte. Aber er mochte sie wirklich. Selbst wenn sie keinen Hehl daraus machte, dass sie nicht darauf erpicht war, ihn als Ermittlungspartner dabeizuhaben. Wie alle anderen, die nicht mit ihm zusammenarbeiten wollten. Aber daran hatte er sich gewöhnt.

 

Wie zu erwarten war, wohnte Glanzmann standesgemäß. Sein Haus lag am Ende einer kleinen Quartierstraße am Hang mit freier Sicht auf den Zürichsee. Sogar bei schlechtem Wetter wirkte die Aussicht eindrucksvoll. Der Bau war von moderner Architektur. Kubische und schlichte Form. Er war alleinstehend und hatte einen gepflegten Garten mit Rasen, blühenden Blumen, Sträuchern und ein paar Bäumen. Da Glanzmann kaum Zeit hatte, ließ er den Umschwung wöchentlich durch eine Gärtnerei pflegen.

Als Fuso in die Straße einbog, sahen Lanker und sie schon von Weitem emsiges Treiben. Einige eilten eifrig mit Fotoapparaten in den Händen umher, andere warteten geduldig bei ihren Stativen. Einzelne wiederum gaben vor Mikrofonen und Kameras ihre Kommentare ab. Journalisten.

Unter dem Deckmantel des Rechts auf Information wird einmal mehr die Gier nach Sensation befriedigt, dachte Fuso.

Da Fuso und Lanker zivil unterwegs waren, wurden sie nicht als Polizisten erkannt. Erst als sie ihrem Kollegen am Absperrband ihre Dienstausweise zeigten, brach eine Flut von Fragen über sie herein. Sie entzogen sich ihr schnell und kommentarlos.

Im Haus war die Spurensicherung der Kantonspolizei Schwyz bereits am Werk.

Stoll hatte hier seinen Job jedenfalls gemacht. Die Zusammenarbeit klappte hervorragend, stellte Fuso fest, das musste man ihm lassen. In diesem Punkt war auf ihn Verlass.

„Wer ist der Verantwortliche hier auf dem Platz?“, fragte sie eine Kriminaltechnikerin.

Diese wies auf ein Zimmer und sagte: „Dort, Sie finden ihn im Wohnzimmer.“

Der Leiter der Ermittlung saß auf einem Polstersessel und machte sich Notizen. Er stellte sich als Max Meli vor.

„Bis jetzt haben wir nichts gefunden, was im Zusammenhang mit dem Verbrechen an Glanzmann stehen könnte“, führte er aus. „Allerdings haben die Arbeiten erst vor einer Stunde begonnen.“

„Wir vermuten, dass die Tat in Verbindung mit der beruflichen Tätigkeit stehen könnte. Haben Sie seine Arbeitsunterlagen schon sichten können?“, fragte Fuso.

„Wir arbeiten daran. Auf den ersten Blick hatte er jedoch nichts Geschäftliches hier im Haus aufbewahrt. Bis jetzt haben wir nur Unterlagen gefunden, die Glanzmann als Privatperson betreffen.“

Lanker ließ nur ein Wort verlauten: „Computer?“

„Ja, einen Laptop.“ Meli wies mit dem Kopf auf den Tisch im Wohnzimmer. „Wir haben ihn noch nicht analysiert. Ich nehme an, er wird passwortgeschützt sein. Da wird sich ein Spezialist drum kümmern müssen.“

„Wenn es Ihnen nichts ausmacht, werde ich diesen mitnehmen und selbst untersuchen“, hakte Lanker hier ein.

Fuso war froh, dass ihr Ermittlungskollege in diesem Punkt die Initiative ergriff. Denn schließlich war Informatik sein Steckenpferd. Bei der Kripo in Herisau gab es niemanden, der nur annähernd an seine Kenntnisse herankam.

„Kein Problem, solange Sie mir den Erhalt des Computers bestätigen.“

Lanker nahm den Laptop vom Tisch, setzte sich auf die Couch und startete ihn sogleich.

„Ich schau mich dann mal um. Selbstverständlich werde ich nichts anfassen“, meldete sich Fuso.

Meli nickte.

 

Fuso ging langsam durchs Haus und ließ die Räume und den Garten auf sich wirken. Sie war nicht zuletzt deswegen hier, um einen Eindruck von Glanzmanns privatem Leben zu erhalten. Der Stil der Einrichtung, die Ordnung oder Unordnung, die vorherrschte, wie die Dinge arrangiert waren, erkennbare Vorlieben oder auch Düfte konnten sehr viel über die Bewohner eines Hauses aussagen. Sie war überzeugt, dass diese Eindrücke und Wahrnehmungen eine Art Aura um eine Person entstehen ließen. Die Empfindungen dabei waren Futter für das Bauchgefühl. Manchmal deckte sich das gewonnene Bild mit jenem, das man von der Person bis dahin hatte. Manchmal traten Widersprüche auf. Für Ermittler waren genau diese besonders interessant und boten Ansatzpunkte fürs weitere Vorgehen.

Soweit Fuso sah, passten das Haus und die Einrichtung zu Glanzmann, wie sie ihn einschätzte. Sie hatte nirgends Widersprüche oder Besonderheiten entdeckt, die ihre Aufmerksamkeit erregten. Es war in einem schlichten, aber dennoch modernen und kostspieligem Stil eingerichtet. Elektronik hatte Glanzmann das Leben erleichtert. Über eine zentrale Steuerung konnte er alles im Haus regeln: Rollläden, Licht, Alarmanlage, Überwachungskameras, Heizung, Klimaanlage, Multimedia. Tische, Zimmer und Schränke waren aufgeräumt und sauber. Aber dennoch war erkennbar, dass jemand hier regelmäßig gewohnt hatte.

Auch sein Drang nach Publizität war unverkennbar. Auf seinem Arbeitstisch und auf einem Büroschrank standen eingerahmte Fotos, die ihn auf Partys, Theaterpremieren und Opernbällen mit allerlei Berühmtheiten zeigten. Alles in allem ergab sich ein Bild, das auf einen Menschen schließen ließ, der Wert auf Status und Ordnung legte. Und dafür war Glanzmann bekannt.

Sie teilte Meli ihre Einschätzung mit. „Ich habe nichts Besonderes entdeckt. Gerne erwarten wir Ihren Bericht zur Durchsuchung“, meinte Fuso.

„Selbstverständlich werden wir ihn euch sofort zukommen lassen.“

Fuso bedankte sich und fügte an: „Eine letzte Frage hätte ich noch. Hatte Glanzmann jemanden für die Reinigung engagiert? Das ganze Haus ist sauber und aufgeräumt und ich glaube nicht, dass er diese Arbeit selbst erledigte.“

„Ich weiß es nicht“, antwortete Meli. „Vielleicht ergibt die Befragung der Nachbarn dazu mehr.“

Sein Mobiltelefon ertönte. Bevor er abnehmen konnte, verabschiedeten sich Fuso und Lanker von ihm. Meli entfernte sich von ihnen und nahm das Gespräch entgegen.

„Lass uns schauen, ob die Nachbarn zu Hause sind“, sagte Fuso zu Lanker. „Wir gehen hinten durch den Garten. So sehen uns die Raubritter der Sensation nicht.“

Lanker nickte, klappte den Laptop zu und folgte Fuso nach draußen. Fuso bemerkte ihre Fehleinschätzung sofort. Hinter den Sträuchern und Bäumen waren sie zwar vor den Blicken der Presseleute geschützt. Dafür aber mussten sie über den Gartenzaun klettern. Fuso überwand das Hindernis spielend. Für Lanker hingegen war es die Herausforderung des Tages. Seine Figur ließ darauf schließen, dass er Sport höchstens vom Hörensagen kannte. Nach mehreren Versuchen und mithilfe von Fuso gelang es ihm schließlich, den Zaun ebenfalls zu überwinden. Sein Atem ging merklich schneller. Er tupfte sich mit dem Taschentuch die kleinen Schweißperlen ab, die sich auf seiner Stirn gebildet hatten.

Fuso betrachtete ihn, wie er dastand und sich von der körperlichen Anstrengung erholte. Ein Kopf, rund wie ein Fußball. Das war der erste Ball mit Schnauz, den sie kannte. Und wie kindlich sein Gesicht war, wenn man das Gestrüpp unter seiner Nase wegdachte. Auch die Kleider passten zum Bild. Bluejeans. Weiße Socken. Sandalen. Das Bouquet war das knallgelbe Hemd. Sie musste schmunzeln.

Im Nachbargarten war niemand zu sehen. Sie überquerten den Rasen zum Sitzplatz und schauten durch die Fenstertüren ins Wohnzimmer. In der angrenzenden, offenen Küche war eine ältere Frau mit Kochen beschäftigt. Fuso klopfte an die Scheibe. Die Frau erschrak und drehte sich um. Als sie sich wieder gefasst hatte, kam sie energisch durch das Zimmer und riss die Türe zum Sitzplatz auf.

„Ich habe Ihnen doch deutlich gesagt, dass ich keine Fragen beantworten werde. Scheren Sie sich zum Teufel und lassen Sie mich in Ruhe. Verlassen Sie sofort das Grundstück oder ich rufe die Polizei!“, sagte sie laut in bestimmtem Ton.

Fuso und Lanker schauten sich kurz irritiert an.

„Das wird nicht nötig sein. Wir sind keine Journalisten, sondern von der Polizei“, beschwichtigte Fuso sie. Sie zeigte ihren Dienstausweis und fuhr fort: „Mein Name ist Fuso und dies ist mein Kollege Lanker. Wir sind beide von der Kriminalpolizei des Kantons Appenzell Ausserrhoden.“

Lanker zückte ebenfalls seinen Ausweis.

Fuso schob gleich nach: „Sie wissen sicherlich, was Herrn Glanzmann zugestoßen ist. Dürfen wir Ihnen einige Fragen stellen?“

Die Frau nahm beide Ausweise entgegen, studierte sie skeptisch und gab sie zurück. „Sie können sich vorstellen, was hier los ist. Seit Stunden klingelt ununterbrochen die Türglocke oder das Telefon. Schlimm, was mit Sven passiert ist, ich kann es kaum fassen.“

Ihre Abwehrhaltung war verschwunden. Die Nachbarin war offenkundig betroffen. Sie öffnete die Fenstertüre vollständig und lud beide in ihr Wohnzimmer ein. Sie zogen die nassen Schuhe aus und traten ein. Der Geruch von Essen lag in der Luft. Lanker hob die Nase und schnupperte wie ein Jagdhund, der die Fährte aufnahm. „Mmmm, hier riecht es aber gut. Stören wir Sie beim Kochen?“

„Nein, aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, werde ich weiterkochen, während Sie mir Ihre Fragen stellen.“

Ohne auf eine Antwort zu warten, begab sich die Frau zurück zum Herd.

„Lassen Sie sich nicht stören“, antwortete Fuso. „Wir werden Sie nicht lange beanspruchen. Allerdings werden sich die Kollegen der Schwyzer Polizei ebenfalls noch bei Ihnen melden und ihre Aussage zu Protokoll nehmen.“

„Wenn’s sein muss.“ Die Frau war sichtbar wenig begeistert.

„Wie war denn Glanzmann als Nachbar?“, fragte Fuso.

„Sven war beruflich ein Mann der Öffentlichkeit. Er liebte sie. Hier aber lebte er sehr zurückgezogen und legte Wert darauf, dass seine Privatsphäre respektiert wurde. Im Quartier oder im Ort war er selten zu Fuß unterwegs. Auch als Nachbar war er kaum spürbar. Er genoss es zwischendurch auch, wenn er mal für sich alleine auf seinem Sitzplatz sein konnte. Dies kam allerdings selten vor.“

„Haben Sie in der letzten Zeit Ungewöhnliches festgestellt? Waren zum Beispiel Leute hier, die Sie bis jetzt nie gesehen hatten? Hatte er mit irgendjemandem Streit?“, wollte Lanker wissen.

„Von einem Streit habe ich nichts mitbekommen. Auch sind mir keine fremden Leute aufgefallen. Sie müssen wissen, dass ich für Sven den Haushalt und die Wäsche gemacht habe, drei Mal die Woche. Aber auch im Haus ist nichts vom Normalen abgewichen.“

Fuso schaute mit einem erfreuten Blick zu Lanker. „Hatte Glanzmann oft Besuch?“, fragte sie.

„Nein ... ja ... Wie soll ich’s sagen. Er war nicht verheiratet und hatte aktuell auch keine Partnerin. Zu mir hat er einmal gesagt, ihm fehle schlicht die Zeit dafür. Zudem war er der Meinung, dass alle Frauen, die sich ihm aufdrängten, hauptsächlich an seiner Bekanntheit interessiert seien. Sie erhofften sich, in seiner Nähe selbst etwas Berühmtheit ergattern zu können.“

„Hatte er nun Besuch oder nicht?“, hakte Fuso nach.

„Nein oder nur sehr selten, wenn Sie von Freunden und Bekannten sprechen.“

„Aber ...?“ Fuso ließ nicht locker.

Die Frau zierte sich ein bisschen. „Na ja, ... ab und zu ... Ich meine, das ist ja verständlich ... also ungefähr einmal wöchentlich kam Damenbesuch, wenn Sie wissen, was ich meine.“

„Sie meinen, Glanzmann bestellte Call-Girls zu sich?“, brachte Lanker es auf den Punkt.

Die Frau blickte auf den Boden und nickte etwas verlegen.

„Wissen Sie zufällig, von welcher Agentur sie waren?“

Entsetzt schaute die Nachbarin Lanker an, sagte aber nichts und schüttelte den Kopf.

„Wie sind seine familiären Verhältnisse?“, fragte Fuso.

„Seine Eltern sind beide verstorben. Geschwister hatte er keine“, antwortete die Frau rasch und sichtlich erleichtert, das Thema wechseln zu können. „Mir gegenüber hat er vor Jahren einzig einmal einen Onkel erwähnt, der im Tessin in einem Altersheim wohnt. Keine Ahnung, ob der noch lebt.“

Das weitere Gespräch mit der Nachbarin ergab nichts Neues. Fuso und Lanker verabschiedeten sich. Vom Sitzplatz aus gingen sie auf das nächste Grundstück. Diesmal stellte sich ihnen kein Zaun in den Weg. Fuso registrierte Lankers Erleichterung. Von dort gelangten sie in wenigen Schritten zu ihrem Auto. Eine Journalistin entdeckte sie erst, als sie schon beim Wagen waren. Wie ein Schwarm Zugvögel bewegte sich die Meute in ihre Richtung. Fuso und Lanker gelang es aber, unbehelligt einzusteigen und loszufahren.

„Hast du auf dem Laptop etwas gefunden?“, fragte Fuso nach einigen Minuten.

Lanker schüttelte den Kopf. „Nein, er ist zugriffsgeschützt. Glanzmann hat die minimalen Regeln für ein Passwort befolgt, keine Geburtsdaten oder was unmittelbar mit ihm persönlich zusammenhing. Ich werde mit dem Passwort-Cracker arbeiten müssen.“

„Was schlägst du als Nächstes vor?“

Die Antwort kam schnell. „Essen!“

 

Auch Fusos Magen schrie nach Nahrung. Wenige Minuten später stellte sie den Wagen vor einem Restaurant ab. Nachdem sie die Karte studiert hatten, bestellte Fuso einen Caesar-Salat. Lanker verschlang ein Cordon bleu mit Pommes, für die er zwei Mal Mayonnaise nachbestellte. Sie trank stilles Wasser, er Cola.

Während des Essens erhielt Fuso vom Institut für Rechtsmedizin des Spitals in St.Gallen die Mitteilung, dass die Autopsie Glanzmanns vorgenommen worden sei. Sie vereinbarten, dass sie in zwei Stunden im Institut sein wollten. Anschließend koordinierte Fuso mit der Kantonspolizei Zürich die Untersuchung der Büroräumlichkeiten Glanzmanns.

„Wir werden morgen Vormittag in der Kanzlei in Zürich einen Augenschein nehmen. Glanzmanns Assistentin wird ebenfalls anwesend sein“, orientierte sie Lanker.

 

In der Rechtsmedizin stellte sich die verantwortliche Ärztin als Regula Heimann vor.

„Zuerst das Offensichtliche: Die Todesursache war der Schuss. Er ging waagrecht durch den Körper durch, verletzte das Herz tödlich und ist zwischen zwei Rippen aus dem Rücken wieder ausgetreten.“ Heimann zeigte ihnen ein Foto der Leiche von vorne mit dem Einschussloch und eines von hinten mit der Austrittswunde. Sie fuhr fort: „Also: Herzschuss. Rascher Blutverlust. Kreislaufversagen. Fehlende Blutversorgung des Hirns. Der Tod dürfte innerhalb weniger Minuten eingetreten sein. Ein paar Zentimeter mehr rechts oder links und er hätte reelle Überlebenschancen gehabt.“ Die Rechtsmedizinerin deutete mit dem Zeigefinger auf die entsprechenden Stellen. „Der Schuss war nicht aufgesetzt. Die Stanzmarke fehlt. Auch war am Hemd kein verbrannter Stoff zu entdecken. Der Todeszeitpunkt dürfte zwischen Viertel vor und Viertel nach drei Uhr in der Nacht liegen.“

„Gab es denn auch weniger Offensichtliches?“, wollte Fuso wissen.

„Ja. Es gab noch andere Anzeichen von körperlicher Gewalt. Am Hals habe ich leichte Würgemerkmale entdeckt. Nicht, wie wenn jemand erdrosselt wird. Dafür fehlen die eindeutigen Druckpunkte. Würgemerkmale ist eigentlich auch der falsche Ausdruck. Die Haut war gerötet, leicht aufgeschürft.“

„Woher kann das kommen?“, fragte Lanker.

„Nun, ich denke, freiwillig wollte sich das Opfer ja nicht töten lassen. Solche Spuren können entstehen, wenn jemand zum Beispiel von hinten den Arm um den Hals schlingt, kräftig zudrückt und das Opfer sich wehrt und windet. Oder er wurde im Schwitzkasten festgehalten.“

„Glanzmann hat sich also gewehrt“, stellt Fuso fest. „Oder haben Sie chemische Substanzen festgestellt, die auf ein Betäuben hinweisen?“

Die Ärztin fuhr fort: „Nein, keine. In gleiche Richtung deuten Spuren an Armen und auf dem Rücken. Es haben sich dort Hämatome gebildet. Dem Entwicklungsstadium nach zu urteilen, waren diese bis maximal zehn Stunden vor dem Todeszeitpunkt entstanden.“

„Die Abdrücke an den Armen dürften sich durch kräftiges Festhalten gebildet haben. Wie aber erklären Sie sich die Spuren auf dem Rücken?“, warf Lanker fragend ein.

„Ein Punkt in der Mitte, gleich unter den Schulterblättern, ist besonders augenfällig. Dort muss der Druck sehr groß gewesen sein. Eine mögliche Erklärung ist, dass das Opfer am Boden lag und ihm jemand mit vollem Gewicht das Knie in den Rücken gepresst hat.“

„Wahrscheinlich um ihn zu fesseln“, mutmaßte Fuso.

„Möglicherweise“, fuhr Heimann fort. „Die Handgelenke schließlich waren von den Kabelbindern aufgeschürft. Der Zustand der Schürfungen bestätigt den Entstehungszeitpunkt der Hämatome. Weiter habe ich Rötungen an den Mundwinkeln festgestellt, die sich in Richtung Wangen ziehen. Ein typisches Merkmal dafür, dass das Opfer fest geknebelt wurde. Allerdings habe ich dort keine textilen Spuren entdeckt. Hingegen an den Augenbrauen, in den Haaren und im unteren Nasenbereich schon.“

„Was meinen Sie damit?“, wollte Fuso wissen.

„Ich habe einige schwarze Stoffpartikel gefunden, die nicht durch den Regen fortgeschwemmt wurden und alle gleich ausschauen. Sie sind hier in der Plastiktüte. Gerne können Sie sie zur genaueren Untersuchung durch die Spurensicherung mitnehmen. Es ist möglich, dass die Partikel von einer Wollmütze stammen.“ Sie übergab Lanker die Tüte.

„So kalt war es denn trotz des grässlichen Wetters auch wieder nicht“, meinte Fuso etwas verwundert.

„Wäre es möglich, dass dem Opfer eine Mütze über den Kopf gezogen worden ist, sodass es nichts sehen konnte?“, fragte Lanker Heimann.

„Darauf wollte ich hinaus. Aber das ist nur eine Vermutung. Sie sind hier zwar die kriminologischen Fachleute, aber das wäre eine Erklärung, wie die Partikel dorthin gelangt sind. Insbesondere trug das Opfer keine Kleidung mit dieser Beschaffenheit.“

„Haben Sie weitere Spuren gefunden? Gab es außergewöhnliche Nachweise im Blut?“, fragte Fuso nach.

„Nein, die erste Untersuchung hat nichts Abnormes ergeben. Die vertiefte Analyse läuft jedoch noch. Sie werden die definitiven Resultate wie auch alle anderen Details in meinem Bericht finden.“

Fuso und Lanker bedanken sich bei Heimann und verabschiedeten sich. Als sie durch die Gänge der Rechtsmedizin gingen, sah Fuso zufällig durch eine offene Türe in ein anderes Büro. Es durchfuhr sie nicht heiß, aber doch reichlich warm.

„Geh doch schon mal zum Wagen. Ich komme gleich nach“, sagte sie zu Lanker.

„Was hast du denn?“

„Ich muss kurz auf die Toilette dahinten.“

„Gut, in diesem Fall hole ich mir etwas zu essen aus der Spitalkantine. Wir hatten schließlich kein Dessert. Möchtest du auch etwas Süßes?“

„Nein, danke“, sagte Fuso und dachte: „Geh jetzt endlich!“

Lanker trottete gemütlich davon. Sie wartete, bis er durch die nächste Tür verschwunden war, machte kehrt und näherte sich zögerlich dem Büro. Jetzt war die Gelegenheit günstig. Das letzte Mal hatte er sie angesprochen. Sollte sie heute den ersten Schritt tun? Was hatte er im Wald gesagt? Auf eine Tasse Kaffee? Warum nicht gleich ein Nachtessen in einem gemütlichen Lokal? Sie war seit Monaten kaum mehr mit jemandem aus. Sie wollte ihn fragen. Aber was sagen? Was war denn schon dabei, wenn sie ihn ansprach. Schließlich hatten sie beruflich miteinander zu tun. Nur nicht verkrampfen, schön locker bleiben. Endlich überwand sie sich, in den Türrahmen zu treten.

Sie schaute etwas zögerlich ins Zimmer. Er saß am Pult und studierte vertieft irgendwelche Akten. Seinen Kopf stützte er mit dem linken Arm, die Hand an der Stirn. Er war so ruhig, so besonnen. Dennoch hatte sie den Eindruck, dass er immer in Bewegung war. Mit den Beinen, mit dem anderen Arm, mit dem Oberkörper. Auf der Nase trug er eine silberne Lesebrille. Sollte sie wirklich?

„Hallo, Herr Moser, auch schon wieder auf den Beinen?“, sprach sie ihn an, in der überzeugten Meinung, dass er ihr leichtes Zittern in der Stimme bemerkt haben musste.

Er hob bedächtig den Kopf, nahm die Lesebrille von der Nase und schaute zur Türe. Die konzentrierten Gesichtszüge entspannten sich und hellten sich auf. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „Oh, Frau Fuso, schön, Sie wiederzusehen. Was machen Sie hier in der Rechtsmedizin?“

„Ehm, wir ... ich ...“

„Aber natürlich. Die Leiche von heute Nacht. Wie konnte ich auch nur fragen.“

„Ja, die Ergebnisse der Autopsie liegen vor und ...“, fand Fuso die Sprache wieder.

„Haben Sie schon darüber nachgedacht? Ich meine das mit dem Kaffee außerhalb der Dienstzeit?“, fiel Moser ihr ins Wort.

Ihr Herz schlug schneller. „Ich wollte eben vorschlagen, dass wir auch in einem Restaurant etwas essen gehen könnten.“

„Gute Idee, hätten Sie morgen Abend Zeit? Ich habe dienstfrei.“

„Es hängt von den Ermittlungen ab. Ich denke aber, dass ich es auf acht Uhr richten kann. Wo wollen wir hingehen?“

„Ich schlage vor, dass ich Sie zu Hause bei Ihnen abholen komme. Mir wird ein gemütliches Lokal einfallen. Lassen Sie sich überraschen.“

Sie nannte ihm ihre Adresse und fragte anschließend: „Warum arbeiten Sie hier? Sie sind doch als Notarzt in ...“

In diesem Moment betrat ein jüngerer Mann in einem weißen Kittel das Büro. „Oh, Entschuldigung ...“, sagte er, als er bemerkte, dass Moser nicht alleine war.

„Kommen Sie nur“, forderte der Arzt ihn auf einzutreten. „Wir sind fertig.“ Er winkte Fuso zum Abschied.

Als sie wieder auf dem Gang war, stand sie einen Augenblick still. Sie musste ihren Puls beruhigen und atmete tief durch. Dabei hörte sie, wie der Mann zu Moser sagte: „Könnten Sie den Bericht bitte überarbeiten. Einzelne Passagen sind schwer zu deuten.“

„Klar“, antwortete Moser. „Zeigen Sie mir, wo ich unverständlich formuliert habe.“

Fuso setzte sich in Bewegung. Puh, sie hatte es geschafft!

 

***

 

Als Fuso und Lanker einige Minuten vor halb sieben ins Besprechungszimmer kamen, war Stoll schon anwesend. Nach der knappen Begrüßung nahmen sie möglichst weit von ihm entfernt Platz und schwiegen. Er studierte ein Dokument und schien sie kaum zu bemerken. Kalt und Tanner trafen kurze Zeit später ein.

Stoll sah vom Blatt auf. „Wo stehen die Ermittlungen?“, eröffnete er die Runde und schaute jeden für einen Moment an.

Er hatte sich seit dem Morgen etwas beruhigt. Als er Fuso in seinem Blickfeld hatte, veränderte sich sein Gesichtsausdruck aber schlagartig.

„Verdammt nochmal, Fuso. Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen die Veröffentlichung des Berichts zum Leichenfund stoppen“, sagte er erbost. „Können Sie sich vorstellen, was hier den ganzen Tag über abging?“

Lanker räusperte sich und antwortete zögerlich: „Ich habe mit der Pressefrau gesprochen. Allerdings war es zu spät. Die Online-Meldung war schon draußen. Aber ...“

„Schweigen Sie. Keine Entschuldigungen.“

„Es war nicht Alberts Schuld. Die Journalistin hatte eine E-Mail mit dem Hinweis auf den Tod Glanzmanns erhalten. Anschließend hat sie hier angerufen und Sie haben die Dame gefragt, woher sie das wisse, was einer Bestätigung gleichkam. Der Anruf bei der Kanzlei Glanzmann gab ihr dann die letzte Sicherheit.“ In Fuso kam wieder Wut auf. Stoll fiel offenbar in sein altes Muster zurück.

„Sie unterstellen mir Inkompetenz?“, explodierte Stoll. „Was erlauben ...“

„Stopp!“ Tanners Ausruf war messerscharf und reichte, um selbst Stoll zu unterbrechen. „Dies ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für Geplänkel. Lasst uns die Ermittlungsergebnisse durchgehen.“

Der Staatsanwalt schaute den Leiter der Kripo lange an. Man sah, dass es in seinem Kopf arbeitete. Dann drehte er sich um und sagte wirsch an Lanker gewandt: „Fahren Sie fort.“

Lanker erzählte vom Gespräch mit der Journalistin und der anonymen Mitteilung, die sie erhalten hatte. Er berichtete von den vergeblichen Bemühungen, mit dem Absender der Mail in Kontakt zu treten.

„Alles deutet darauf hin, dass die Nachricht aus dem Darknet kam. In diesem Teil des Internets wird, wie ihr wisst, alles gehandelt, was Gott verboten hat. Waffen, Drogen, Medikamente, gehackte Software. Auch können Einschüchterungsaufträge erteilt werden. Der Preis variiert je nach Person und Bedrohungsstufe. Ein Tummelfeld für lichtscheue Gestalten, aber auch von Aktivisten irgendwelcher Art, die in ihren Ländern verfolgt werden“, beendete er seine Ausführungen.

„Du bist doch bei uns der Spezialist in der Fahndung im Internet“, hakte Tanner bei Lanker nach. „Kannst du den Absender ermitteln?“

Dieser schüttelte den Kopf. „Hier wird es für mich aussichtslos sein. Da müsste ein richtiger Spezialist ran, der sich ausschließlich mit dem Darknet befasst. Aber selbst dann bezweifle ich, dass wir Erfolg haben werden. Dieser dunkle Teil des Internets ist voll von Verhöhnung und Spott über die Ermittler. Es ist in seiner Wirkung, keine Spuren entstehen zu lassen, leider sehr effektiv. Die E-Mail wird uns kaum weiterführen.“

„Dennoch weist sie darauf hin, dass jemand stark daran interessiert ist, dass der Fall von Beginn weg öffentlich ist“, übernahm Fuso.

„Warum?“, fragte Kalt.

„Vielleicht ist die Tat als Botschaft für andere gedacht. Oder ...“

„... oder der Täter möchte über die Berichterstattung ein Mindestmaß an Informationen zu den Ermittlungen erhalten“, vollendete Stoll.

Fuso schaute ihn erstaunt an. Nicht, weil er sie unterbrochen hatte, sondern weil für einen kurzen Moment sein Scharfsinn durchschimmerte, der ihm in den letzten Wochen und Monaten abhandengekommen zu sein schien.

Sie nahm den Faden wieder auf und fasste die vorläufigen Ergebnisse der Rechtsmedizin zusammen. Am Schluss übergab sie Kalt die Tüte mit den Spuren, die ihr Regula Heimann für die Untersuchung durch die Kriminaltechniker mitgegeben hatte.

„Danke“, sagte Kalt. „Aber wir haben diese Textilfasern ebenfalls gesichert. Es ist wie bei den Kabelbindern. Dieser Typ von Fasern wird in unzähligen Textilien eingesetzt, die in allen möglichen Läden erhältlich sind. Aufgrund des Fundortes am Körper tippe ich auf eine Kappe oder Sturmmütze, die dem Opfer über das Gesicht gezogen wurde.“

„Demnach haben wir auch hier keine bahnbrechenden Erkenntnisse“, hielt Tanner leicht enttäuscht fest. „Habt ihr an seinem Wohnort etwas in Erfahrung gebracht, das uns weiterhilft?“

Wieder ein Kopfschütteln.

„Wir haben nichts Besonderes festgestellt, was nicht dem Bild von Glanzmann entsprochen hätte. Allerdings warten wir noch auf den Bericht der Schwyzer Kollegen“, fuhr Fuso fort. „Vielleicht geben uns die Aufzeichnungen der Überwachungskameras Aufschlüsse. Wir bleiben dran.“

Lanker ergänzte: „Glanzmann hatte bis auf einen Onkel mütterlicherseits keine Familienangehörigen mehr. Die Eltern sind beide relativ früh verstorben. Sein Onkel ist achtzigjährig und lebt in der Demenzabteilung eines Alters- und Pflegeheimes in Locarno. Nach Auskünften der Heimleitung besuchte Glanzmann ihn ein- oder zweimal im Jahr. Unser Opfer hatte regelmäßig Call-Girls bei sich zu Hause, wie uns die Nachbarin erzählte. Konntet ihr euch schon Zugang zu seinem Handy verschaffen?“, fragte er an Kalt gewandt.

„Nein, noch nicht. Wir lassen es euch sofort wissen.“

„Habt ihr vom Tatort Neuigkeiten zu berichten?“, wollte Tanner vom Leiter des kriminaltechnischen Dienstes wissen.

„Wenig, was uns direkt weiterhelfen könnte. Die Bodenanalyse hat ergeben, dass Glanzmann am Fundort erschossen worden ist. Weiter lagen im Wald in Richtung des Hauses von dem Mann, der die Leiche gemeldet hat, eine Taschenlampe und ein Messer in einem Etui. So wie die beiden Sachen auf dem Boden gelegen hatten, konnten sie noch nicht lange dort gewesen sein. Anzunehmen, dass sie erst gestern Nacht dahin gekommen sind. Wir werden eine Patrouille der Kollegen bitten, bei ihm vorbeizuschauen und ihn dazu zu befragen.“

Fuso nickte. „Ja, macht das. Vielleicht kann er sich wieder besser erinnern als heute früh. Übrigens: Die Rechtsmedizin hat festgestellt, dass es kein aufgesetzter Schuss war. Dennoch kommt mir das Ganze wie eine Hinrichtung vor.“

Kalt bestätigte: „Wir haben an seinen Kleidern keine Schmauchspuren gefunden. Auch deutet die Art der Eintrittswunde in die gleiche Richtung. Der Schuss wurde nicht aus allernächster Nähe abgefeuert. Die Schussdistanz können wir erst einschätzen, wenn wir die Waffe kennen. Zudem muss bedacht werden, dass die Leiche lange im strömenden Regen lag, was sich auf die Qualität der Spuren auswirkt. “

„Kriegen wir das denn je raus?“, fragte Lanker skeptisch.

„Eine kleine Hoffnung habe ich. Wenn wir Glück haben, finden wir das Projektil im ansteigenden Waldboden. Meine Leute arbeiten daran.“

 

***

 

Kurz vor Mitternacht lag Fuso zu Hause in ihrem Bett und ging den langen Tag gedanklich nochmals durch. Sie war erst um neun Uhr aus dem Büro gekommen. Seit sie in den Polizeidienst eingetreten war, hatte sie viele Verbrechen gesehen. Aber keines war wie dieses, mit dem sie sich seit heute beschäftigten. Meist waren es Geld, Eifersucht, Neid, Gier, Enttäuschungen oder Machtansprüche, die zu solchen Übeltaten führten. Dies kam häufig rasch zum Vorschein, denn die Schuldigen waren nicht selten im unmittelbaren Umfeld der Opfer zu suchen. Die Vergehen wurden zudem weit weniger dramatisch begangen, vielfach im Affekt. Der Moment war zufällig.

Geplante Morde gab es bis jetzt in ihrem geografischen Zuständigkeitsbereich selten. Aber hier? Entführt, gefesselt, mitten in der Nacht im Wald erschossen, mit Scheinwerfern beleuchtet. Und sie hatten zudem keine brauchbaren Spuren und Ansatzpunkte. Wenn das nicht geplant war. Wollte der Täter auf etwas Bestimmtes hinweisen oder eine Botschaft platzieren? Wo lag das Motiv? Sie musste morgen die Tatortfotos genauer anschauen. Vielleicht hatte sie an Ort und Stelle etwas übersehen.

Fuso verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf.

War es eine Abrechnung? Ein unzufriedener Kunde Glanzmanns? Morgen in seiner Kanzlei würden sie hoffentlich mehr erfahren. Denn alle Nachforschungen, die sie nach der Abendsitzung noch angestellt hatten, führten ins ermittlerische Abseits. Es blieb zu hoffen, dass sie auf sein berufliches Umfeld setzen konnten.

Und auf den Escort-Service in Zürich, den Glanzmann regelmäßig beanspruchte. Obwohl ihre Hoffnung gering war. Denn nachdem der technische Dienst am Abend auf sein Handy hatte zugreifen können, war die Agentur rasch ermittelt worden. Sie war, wie von Glanzmann zu erwarten war, in der höheren Preiskategorie einzuordnen und bei der Polizei nicht aktenkundig. Der Service-Anbieter machte einen seriösen Eindruck. Eine Nachfrage bei der Kantonspolizei in Zürich bestätigte dies, sofern dieses Geschäft überhaupt als seriös bezeichnet werden konnte.

Und warum genau dieses Waldstück? Hatte Glanzmann eine Beziehung dazu? Selbst anhaltendes Grübeln brachte keine Antworten.

Sie drehte sich auf die Seite und zog die Bettdecke bis zu den Ohren hoch. Sie war müde. Schließlich war es ein langer Tag gewesen.

Sie wünschte sich, endlich wieder ohne diese schrecklichen Bilder schlafen zu können. Wie er oben am Dachbalken am Strick gehangen hatte. Manchmal sprach er in den Träumen vorwurfsvoll zu ihr. Es sei ihre Schuld, dass es so weit gekommen sei. Mit dem letzten Sauerstoff in der Lunge presste er die Worte aus dem sich windenden, nach Luft ringenden Leib. Seine Stimme war jeweils eine Mischung aus Krächzen und Keuchen.

Es durfte nicht ewig so weitergehen, denn sie spürte, dass die ständig unterbrochenen Nächte an ihren Kräften zehrten.

Sie gähnte.

Plötzlich waren ihre Gedanken bei Moser, wie er sie in der Rechtsmedizin angelächelt hatte. Sofort entspannte sie sich. Sie wälzte sich auf die andere Seite. In ihrem Bauch kribbelte es leicht. Morgen Abend würde sie mit ihm ausgehen. Scheinbar war sie ihm ebenfalls sympathisch. Sonst hätte er nicht so erfreut zugesagt.

Sie überlegte, was ihr denn an ihm gefiel. Er sah aus wie ein bekannter Schauspieler. George Clooney? Ja, eine gewisse Ähnlichkeit, wenn auch entfernt. Die schwarzen, grau melierten Haare stimmten zwar überein. Er trug sie etwa in der gleichen Länge wie der berühmte Filmdarsteller.

Sein Gesicht hingegen war etwas runder und hatte Züge, die einerseits anmutig waren. Oder gütig. Andererseits lag gleichzeitig eine gewisse Verbitterung in ihnen. Auf den ersten Blick war sie unscheinbar. Aber wenn Fuso mit ihm sprach, kam sie in seiner Mimik zum Ausdruck. Unbewusst spürte sie, dass die Bitterkeit durch das Leben ins Gesicht geschrieben worden war. Es war schwierig zu beschreiben.

Sein Teint ließ auf arabische Wurzeln schließen. Oder eher süditalienisch? Wie groß war Clooney? Egal, sie mochte große Männer – und Moser war groß. Zudem schien er Sport zu treiben, denn er machte einen kräftigen und trainierten Eindruck. Glich er ihm jetzt oder nicht? Wie dem auch sei, sie fand ihn anziehend und attraktiv.

Als sie realisierte, dass sie mit anderen Gefühlen über ihn nachdachte als über die sonstigen Männer in ihrer privaten und beruflichen Umgebung, wurde ihr flau zumute. Durfte sie dies? Schließlich war erst ein halbes Jahr seit dem scheußlichen Tod ihres Ex-Mannes vergangen? Was, wenn sie gesehen wurden?

Fuso richtete sich innerlich auf, und automatisch spannte sich ihr Körper. Warum denn nicht, letztlich war sie nicht auf ewig dazu verdammt, ohne neue Beziehung mit einem Mann zu leben. Sie hatte die doppelte gesellschaftliche Akzeptanz. Erstens wurden sie zivilrechtlich schon vor seinem Tod geschieden. Zweitens hieß es vor dem Traualtar, bis der Tod euch scheidet. Kurz vor dem Eindösen kam ihr ein dritter Grund in den Sinn. Was kümmerten sie die anderen!

Das erste Mal seit Monaten schlief sie mit einem angedeuteten Lächeln auf ihrem Gesicht ein.

Mittwoch

 

Am nächsten Morgen standen Fuso und Lanker kurz vor acht Uhr vor der Kanzlei Glanzmanns in Zürich. Während der Fahrt dorthin dachte sie über die vergangene Nacht nach. Zwar war sie durch ihren üblichen Albtraum aus dem Schlaf gerissen worden, aber auf eine Art war es anders gewesen. Weniger schlimm. Aber konkret fassen konnte sie nicht, was den Unterschied ausmachte.

Jetzt warteten sie im vierten Stock eines Zürcher Geschäftshauses vor der versiegelten Türe, bis die Kollegen der Kantonspolizei Zürich eintrafen. Der Aufzug öffnete sich.

„Verflucht, der hat uns gerade noch gefehlt!“, zischte Fuso leise zu Lanker.

Dieser drehte sich um und seufzte leise. Stoll kam mit grimmiger Miene auf sie zu. Wie üblich mit zerknitterter Kleidung und schludrig geknoteter Krawatte. Das Hemd hatte er schon gestern getragen.

Mit ihm kam eine adrett gekleidete, etwa fünfundfünfzigjährige Frau aus dem Aufzug. Sie trug einen dunkelblauen Rock, der ihr bis kurz über die Knie reichte, eine weiße Bluse mit feinen Stickmustern und einen Blazer in gleichem Farbton wie der Rock. Der Stoff hinterließ den Eindruck, dass er nicht billig war. Edles Dunkelblau. Um den Hals trug sie eine dezente, matt silberne Halskette, die bestens zu den gleichfarbigen Knöpfen des Blazers passte. Die eleganten Schuhe waren in der Farbe perfekt abgestimmt mit dem Rock und dem Jackett. Ihr blondes Haar war hochgesteckt. Das Gesicht war diskret geschminkt. Hatte sie Lippenstift aufgetragen oder nicht? Es war kaum erkennbar. Das Inbild einer Anwaltssekretärin. Die Diskretion in Person. Fuso schloss im Geiste mit sich eine Wette ab. Hundert zu eins, dass sie Glanzmanns Sekretärin war.

Sie hatte recht. Die Dame kam auf den Eingang zur Kanzlei zu.

Fuso grüßte den Staatsanwalt mit einem kaum merkbaren Nicken. Lanker grummelte etwas, was man als Gruß interpretieren konnte.

Noch ehe Stoll reagieren konnte, sagte die Frau: „ Guten Morgen. Sind Sie von der Polizei? Mein Name ist Kathrin Bollen. Ich bin ...“, sie stockte kurz. „Ich war Herr Glanzmanns Assistentin.“

Das Entsetzen war ihr ins Gesicht geschrieben.

„Es tut uns leid, was mit ihm passiert ist. Wir sind von der Kantonspolizei Appenzell Ausserrhoden. Das ist Albert Lanker und mein Name ist Karin Fuso. Wir ermitteln in diesem Fall. Alexander Stoll“, Fuso zeigte auf ihn, „ist der zuständige Staatsanwalt. Wann haben Sie Herrn Glanzmann das letzte Mal gesehen?“

„Nicht hier!“, fuhr Stoll forsch dazwischen, „Treppenhäuser haben Ohren.“

„Ja, warten wir, bis wir in die Kanzlei können“, meinte Fuso verärgert über sich selbst. Sie könnte sich ohrfeigen, dass ihr dieser Lapsus vor den Augen Stolls passierte.

Der Aufzug fuhr wieder nach unten.

„Hoffentlich sind das unsere Zürcher Kollegen“, dachte Fuso laut. Sie hatte den Drang, möglichst rasch in Glanzmanns Büro zu kommen, damit sie nicht weiter mit Stoll vor der Türe warten musste.

Einige Augenblicke später öffnete sich die Aufzugstüre erneut und eine Frau kam aus dem Lift. Fusos Wunsch ging in Erfüllung. Sie war von der Kantonspolizei Zürich. Nachdem sie sich gegenseitig vorgestellt hatten, brachen sie das Polizeisiegel und traten ein.

„Dürfen wir Sie bitten, am Besprechungstisch Platz zu nehmen und uns für Fragen zur Verfügung zu stehen?“, bat Fuso Frau Bollen. „Wir werden zuerst alles durchsuchen und uns anschließend mit Ihnen unterhalten.“

Zusammen mit den anderen machte Fuso einen Durchgang durch die Kanzlei, um einen ersten Eindruck zu erhalten. Es gab neben einer Küche, einem Abstellraum und dem Bad insgesamt vier Zimmer. Das größte diente als Archiv. In einem Raum war der Arbeitsplatz Glanzmanns, in einem anderen, etwas kleineren, jener seiner Assistentin. Ein Zimmer war für Besprechungen ausgestattet. Fuso stellte fest, dass die Anwaltskanzlei sehr gut organisiert war. Alle Dossiers und Unterlagen zu den einzelnen Mandaten waren fein säuberlich beschriftet und geordnet abgelegt. Nichts lag unnötigerweise auf den Tischen. Einige Schränke enthielten Rechtsschriften, Gesetzestexte, weitere juristische Literatur und Büromaterial.

In Glanzmanns eigenem Arbeitszimmer erkannte die Kommissarin die Eleganz, die er auch an seinem Haus pflegte. Moderne Einrichtung, die trotz ihrer Schlichtheit nicht verbergen konnte, dass sie im oberen Preissegment anzusiedeln war. Er mochte Ordnung. Sein Arbeitstisch war aufgeräumt. Nur das Notwendigste lag darauf: Telefon, Schreibmatte, Notizblock. Ein gerahmtes Foto in Schwarz-Weiß mit ihm und einiger Politprominenz auf einem Opernball. Für die Arbeit am Computer nutzt er einen separaten Tisch gleich neben seinem Bürotisch.

Fuso schaute in Richtung der Fenster. Dort stand zusätzlich ein kleiner, quadratischer Tisch, bei dem sie nicht sicher war, ob er der Zier oder Besprechungen diente. In seiner Mitte war eine schlichte Skulptur von Giacometti platziert, die eine Menschengruppe darstellte. Die beiden Bilder an der Wand waren ebenfalls abstrakte Darstellungen von Menschen. In dem sonst in dunklem Anthrazit gehaltenen Büro fielen sie als dezente Farbkleckser auf. Leicht überbetonte Pastellfarben. Glanzmann mochte nicht nur Ordnung, er hatte auch Stil.

 

***

 

Lanker und Stoll durchsuchten das Büro des Strafverteidigers nach brauchbaren Hinweisen für die Ermittlungen, während sich Fuso zusammen mit der Zürcher Kollegin dem Arbeitsplatz von Frau Bollen widmete.

„Nehmen Sie den Schrank dort unter die Lupe. Ich werde den Schreibtisch untersuchen“, wies Stoll Lanker an.

Seit er Stoll aus dem Aufzug hatte kommen sehen, lag Lanker eine Frage auf der Zunge. Da sie alleine im Zimmer waren, konnte er sie aussprechen, ohne dass zwischen Fuso und Stoll gleich wieder die Fetzen flogen. „Warum sind Sie persönlich hier? Üblicherweise beteiligen Sie sich nicht an der Spurensuche. Dies ist nicht Ihre Aufgabe.“

„Können Sie sich das nicht selbst vorstellen?“ Stoll klang genervt. „Dieser Fall ist anders. Ich will aus erster Hand erfahren und sehen, was Sache ist. Schließlich trage ich die Verantwortung über die Anklageerhebung. Der Mord an Glanzmann steht im Fokus der Öffentlichkeit. Unsere Beweisführung muss hieb- und stichfest sein. Journalisten sind wie Hyänen. Da will ich ohne Zeitverzögerung im Bilde sein.“

„Aber Sie könnten jederzeit ...“

„Keine Diskussion. An die Arbeit. Je rascher wir hier fertig sind, desto eher können wir weitere Ermittlungen anstellen. Wir brauchen einen schnellen Erfolg. Und da Sie und Fuso nun mal nicht das Dream-Team sind ...“ Stoll ließ den Satz unvollendet.

Da war er wieder der winzige, gemeine Wink, der kleine Stich mit der Nadel. Aber es gab schon Schlimmere.

Lanker wandte sich ab und öffnete den Schrank, der neben dem Pult an der Wand stand, und ging die Dokumente durch. Hinter ihm durchsuchte Stoll den Schreibtisch. Er zog jede Schublade raus, wühlte darin herum, überflog hastig den Inhalt und warf alles wieder zurück.

Lanker drehte sich zu ihm um. Oh Gott, arbeitete der unkoordiniert und unprofessionell. Und damit wollte er bessere Resultate als er oder Fuso erzielen? Da musste er wohl selbst noch einmal durch. Er widmete sich erneut den Dokumenten im Schrank. In seinem Rücken wütete Stoll weiter.

Nach einer Viertelstunde verließ Lanker das Büro, um auf die Toilette zu gehen.

„Seid ihr fündig geworden?“, fragte Fuso.

Er schüttelte nur den Kopf.

„Bei uns hat sich bis jetzt auch nichts ergeben.“

 

Als Lanker wieder in Glanzmanns Büro zurückkam, saß der Staatsanwalt am Tisch. Vor ihm lag ein geöffnetes Dossier. Er sah gerade noch, wie Stoll einige Blätter in seine Aktenmappe steckte.

„Haben Sie etwas gefunden?“, fragte er ihn noch immer im Türrahmen stehend.

Dieser zuckte zusammen und drehte sich hastig zu Lanker um. „Nein, bis jetzt leider Fehlanzeige.“

„Ich dachte nur, weil Sie Dokumente eingesteckt haben.“

Ruhe.

Ruhe vor dem Sturm.

Stolls Gesicht wurde rot.

„Glauben Sie, ich lasse Dokumente mitlaufen?“ Stoll dämpfte mühsam seine Stimme. „Unterstehen Sie sich! Es geht Sie zwar nichts an, aber das waren meine bisherigen Notizen zum Fall. Kümmern Sie sich um Ihren Haufen dort im Schrank.“

Lanker zuckte leicht zusammen und drehte seinen Kopf in Richtung von Bollens Büro. Er sah, wie die Zürcher Polizistin Fuso einen fragenden Blick zuwarf. Lanker hörte seine Kollegin leise flüstern: „Nur nicht einschüchtern lassen. Wir haben uns in der Zwischenzeit an seine liebliche Art gewöhnt.“

Lanker wandte sich erneut dem Aktenschrank zu und fuhr mit der Suche fort. Stoll blätterte weiter in den Unterlagen, die er vor sich auf dem Tisch hatte. Lanker schaute immer wieder verstohlen zu ihm hin. Nach einigen Minuten packte der Staatsanwalt das Dossier zusammen und legte es ins Hängeregister in der Schublade zurück. Danach stand er auf und wechselte ins Büro von Bollen, in dem Fuso sich durch die Akten wälzte. Lanker drehte sich ab und widmete sich wieder seinem Haufen.

„Haben Sie etwas Brauchbares entdeckt?“, fragte Stoll fast erstaunlich freundlich.

„Nein“, hörte Lanker Fuso knapp antworten.

„Ich muss zurück. Halten Sie mich auf dem Laufenden. Und Sie wissen, dass ich alles Relevante auf meinem Tisch haben will.“ Stoll verließ die Kanzlei, ohne sich weiter zu verabschieden.

Die Zürcher Kollegin war inzwischen in Glanzmanns Büro gekommen. Sie schaute fragend zu Lanker. „Was war das denn nun?“

„Das war Stoll.“

 

***

 

Sie durchsuchten die Kanzlei weitere drei Stunden, ohne einen Anhaltspunkt zu finden. Danach unterhielten sie sich zu einem Kaffee mit Kathrin Bollen, die schon seit der Gründung der Kanzlei als Glanzmanns Assistentin arbeitete.

„Wo waren Sie in der Nacht von Montag auf Dienstag?“, begann Fuso.

Bollen erschrak zuerst und sagte dann: „Ach ja, ich weiß. Sie müssen diese Frage stellen.“

Fuso nickte.

„Ich besuchte meine Eltern in Bern. Mein Vater hatte Geburtstag. Ungefähr um Mitternacht bin ich nach Hause gekommen. Mein Nachbar, Herr Kohler, kann dies bezeugen. Er kam gleichzeitig vom nächtlichen Spaziergang mit seinem Hund zurück. Etwa um halb eins bin ich ins Bett gegangen.“

„Sie leben alleine?“

„Ja.“

„Wann waren Sie am nächsten Morgen im Büro?“

„Ich schätze um sieben Uhr. Sie müssten sich die Videoaufzeichnungen der Garage ansehen.“

„Wann haben Sie Herrn Glanzmann das letzte Mal gesehen?“, wiederholte Fuso ihre Frage, die sie vor der Tür schon gestellt hatte.

„Er verließ vorgestern Abend etwa um fünf Uhr das Büro, da er um halb sechs im Restaurant Kaufleuten einen Termin hatte. Doch er ist dort nicht erschienen. Der Mandant hatte mich um Viertel vor sechs angerufen und gefragt, ob Herr Glanzmann das Treffen vergessen hätte.“

„War in den vergangenen Tagen etwas Besonderes vorgefallen oder war irgendetwas nicht wie sonst?“

„Mir ist nichts aufgefallen. Alles war wie üblich, nichts Unerwartetes oder Eigenartiges, wenn Sie das meinen.“

„Wurde Glanzmann bedroht?“

„Nein, nicht im eigentlichen Sinne. Ab und zu verstieg sich der eine oder andere Prozessgegner zu einer Drohung. Diese wurden meiner Meinung nach aber meist in einer Situation erhöhter emotionaler Anspannung ausgestoßen. Sobald diese Leute beispielsweise spürten, dass sie den Prozess verlieren werden. Die Spannungen lösten sich jeweils wieder in Luft auf, wenn sich die Situation etwas beruhigt hatte. Wiederkehrende Drohungen über längere Zeit gab es keine.“

„Hatte Glanzmann Feinde?“, hakte Fuso nach.

Bollen stand auf und fragte, wer nochmals einen Kaffee wolle. Alle lehnten dankend ab. Sie ging mit ihrer Tasse zur Kaffeemaschine und schürzte nachdenklich ihre Lippen. Nachdem sie die Taste gedrückt hatte, nahm sie das Gespräch wieder auf. „Feinde? Wie soll ich sagen. Seine Erfolgsquote vor Gericht war hoch. Wenn Sie alle Personen, die den Prozess gegen ihn verloren haben, auch dazuzählen, dann ist dies eine lange Liste.“

„Bitte stellen Sie uns eine Übersicht mit Personen zusammen, die Glanzmanns Sieg vor Gericht persönlich stark getroffen haben“, bat Lanker die Assistentin.

„Wie soll ich da vorgehen? Eine Niederlage ist eine Niederlage.“

Bollen nahm die Tasse von der Maschine, goss etwas Milch in den Kaffee und kam zurück zu den anderen.

„Beispielsweise Personen, die zu Haftstrafen verurteilt worden sind. Oder solche, die mit der Verurteilung einen großen Gesichtsverlust erlitten oder ihren Job verloren haben oder die eine bedeutende Summe haben bezahlen müssen“, präzisierte Fuso. „Wo dabei die Grenzen zu ziehen sind, müssen wir allerdings Ihnen überlassen. Sie kennen die emotionale Seite der Fälle, nicht wir. Auch können wir Ihnen nicht sagen, wie weit Sie zeitlich zurückgehen sollen.“

„Puuh, das wird mich aber einige Tage Arbeit kosten.“ Bollen lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und sah nicht sehr glücklich aus.

„Nehmen Sie sich die Zeit, die Sie brauchen. Wir wären jedoch sehr dankbar, wenn Sie uns jeden Abend die aktualisierte Liste mailen könnten. So können wir rasch und kontinuierlich Nachforschungen anstellen“, fügte Fuso an.

„Da wir Ihren und Glanzmanns Rechner vorläufig behalten müssen, werden wir Ihnen eine Kopie der Daten Ihrer Harddisk zukommen lassen, sodass Sie zu Hause arbeiten können“, sagte Lanker. Zu Fuso gewandt meinte er erwartungsvoll: „Ich schlage vor, dass wir Mittag machen und etwas essen gehen. Wir fahren am Nachmittag fort. Was hältst du davon?“ Er tätschelte sich den Bauch und wie auf Bestellung meldete sich dieser mit einem Knurren.

„Nein!“, antwortete seine Kollegin. „Wir brauchen nicht mehr lange. Du wirst schon nicht sterben, glaub mir.“

„Wenn du meinst. Aber ich warne dich. Wenn ich Hunger habe, werde ich unberechenbar.“

Demzufolge hatte er in den letzten beiden Fällen öfters Hunger gehabt. Fuso unterließ die Bemerkung. Sie richtete sich wieder an Bollen: „War Glanzmann in irgendwelche dubiosen Machenschaften oder Geschäfte verwickelt? Ein Teil seiner Klientel lässt zumindest diesen Gedanken aufkommen.“

„Geschäftlich ... nein. ‚Wenn du einmal auch nur in die Nähe krummer Geschäfte kommst, wird sich dies über kurz oder lang rächen‘, pflegte er zu sagen. Aber wissen Sie, die Grenzen sind manchmal nicht deutlich gezogen. Oft kommt es auf die Darstellung und die Geschichte dazu an. Er hatte das Flair, dubiose Fälle so darzustellen, dass sie sich eben nicht als solche präsentierten.“

„Und privat?“

Bollen schüttelte den Kopf.

„Ich kann mir dies nicht vorstellen. Als seine Assistentin habe ich über die letzten Jahre auch alle seine privaten Angelegenheiten koordiniert. Wäre da etwas nicht in ordentlichen Bahnen verlaufen, hätte ich dies früher oder später gemerkt.“

„Wie hat er denn die Freizeit verbracht?“

„So spektakulär sein berufliches und öffentliches Leben auch manchmal war, so unaufgeregt war sein Privatleben. Er genoss die knappe Zeit, die ihm bei sich zu zu Hause blieb. Wenn es der Terminkalender zuließ, trieb er zwei Mal wöchentlich Sport. Meist ging er joggen oder er war mit seinem Mountainbike unterwegs.“

„Wussten Sie, dass sich Glanzmann regelmäßig Damen eines Escort-Services zu sich bestellte?“

In Bollens Gesicht kam leichte Beschämung auf. „Obwohl diese Termine nicht über mich gelaufen sind, habe ich davon gewusst, ja. Wie schon gesagt. Wenn Sie mit jemandem derart lange eine vertrauensvolle Zusammenarbeit haben, bleibt auch das nicht verborgen. Direkt hat er mir das aber nie erzählt. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen, da ich damit wirklich nichts zu tun hatte.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752120516
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Oktober)
Schlagworte
fesselnd Kriminalroman Thriller packend Krimi Spannung Nervenkitzel

Autor

  • Andreas Löhrer (Autor:in)

Andreas Löhrer wurde 1968 geboren. Er ist verheiratet und Vater einer erwachsenen Tochter und eines erwachsenen Sohnes. Die Familie lebt in der beschaulichen Appenzeller Landgemeinde Hundwil im Osten der Schweiz. Andreas Löhrer ist als Professor (Fokus Finanzmanagement und Controlling) an der OST – Ostschweizer Fachhochschule am Institut für Unternehmensführung tätig.
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Titel: Wie die Katze