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Das Echo des Herzens

von Brigitte Kaindl (Autor:in) Brenda Leb (Autor:in)
535 Seiten

Zusammenfassung

Blut. Überall war Blut. Niemand hat etwas gesehen. Niemand hat etwas gehört. Als die 47-jährige Marie am Arbeitsplatz einen Unfall erleidet, erkennt sie, dass sie sich ihrer Vergangenheit stellen muss. Auch wenn sie die Schuld, die sie auf sich geladen hat, kaum ertragen kann. Doch auch die 25-jährige Lena steht eines Tages vor den Scherben ihres Glücks. Als der junge Wirtschaftsprüfer Christian Gottlieb im Leben dieser Frauen auftaucht, wird Marie augenblicklich in seinen Bann gezogen. Seine rätselhafte Aura berührt aber nicht nur sie. Lediglich Lena hat bloß Spott für den jungen Mann übrig. Bis auch sie ihm verfällt ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Buch

Seelische Abgründe, verborgene Geheimnisse, ein schreckliches Verbrechen. Mit Tiefgang und Humor offenbart dieser sozialkritische Roman wie Krusten aufbrechen können. Bei denen, die es zulassen. Weil die Liebe die Macht in sich trägt, sich zu vergrößern, wenn sie geteilt wird.

Die 47-jährige Marie wird von ihrem herrischen Chef zerrieben, die 25-jährige Lena bringt nicht nur ihren Freund zur Verzweiflung, während ein alternder Schauspieler seinen Verfall nicht realisiert. Am Arbeitsplatz wird intrigiert, im Privatleben betrogen und eine Bluttat bleibt lange Zeit unerkannt. Als der junge Wirtschaftsprüfer Christian Gottlieb im Leben dieser Menschen aufkreuzt, drängen tief verborgene Geheimnisse ans Licht und seelische Abgründe sowie Verletzungen werden genauso sichtbar wie selbstlose Liebe. Durch seine Güte führt dieser außergewöhnliche Mann dramatische Veränderungen herbei.

Dieser Roman ist Teil 1 der Echo-Trilogie, eines romantischen Dramas, das in die Tiefen der menschlichen Seele blickt. Im Mittelpunkt steht Christian Gottlieb, ein geheimnisvoller, junger Mann, der durch seine rätselhafte Aura sein gesamtes Umfeld verändert. Jeder Roman kann ohne Vorkenntnisse für sich allein gelesen werden, obwohl die Geschichte fortlaufend erzählt wird.

Teil 1: „Das Echo des Herzens“: Christian Gottlieb erscheint im Leben der 47-jährigen Marie und der 25-jährigen Lena. Als tief verborgene Geheimnisse und ein Verbrechen sichtbar werden, verändert sich wie durch ein Wunder nicht nur Maries Leben völlig.

Teil 2: „Das Echo des Rosenmordes“: Christian Gottlieb ist nicht mehr da und ein schrecklicher Mord bringt der 48-jährigen Marie, aber auch der 27-jährigen Lena unermessliches Leid.

Teil 3: „Das Echo von Gottlieb“: Das Mysterium um Christian Gottlieb lüftet sich, während die 28-jährige Lena in tödliche Gefahr gerät. Am Ende offenbart sich ein Geheimnis, das nicht nur die 50-jährige Marie heftig erschüttert.

Unter dem Titel „Christians Geheimnis“ gibt es die drei Romane der Echo-Trilogie als Sammelband.

Autorin

Brigitte Kaindl wurde 1960 in Wien geboren. Die Autorin und Musikerin ist verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen Kindern. 

Impressum

© urheberrechtlich geschütztes Material

Text von Brigitte Kaindl © Copyright by Brigitte Kaindl

www.brigittekaindl.at

Alle Rechte vorbehalten

Coverdesign und Umschlaggestaltung: Florin Sayer-Gabor - 
www.100covers4you.com
Unter Verwendung von Grafiken von Adobe Stock: fergregory, Astrosystem, 
Siwakorn1933

Prolog

Blut. Überall war Blut. Sie begann am ganzen Körper zu zittern und sah sich um. Niemand hatte sie gesehen. Niemand hatte etwas gehört.

Wie immer.

Niemand hörte oder sah jemals irgendetwas.

Das Drama ihres Lebens.

Glorreiche Idee 2015

Christians Vater legte ihm da ein ordentliches Ei. Schon wieder schickte er ihn hierher, um nach dem Rechten zu sehen.

Schon wieder!

Und ausgerechnet hierher!

Dabei hatte ihm sein erster Auftrag doch eigentlich gereicht.

Schrecklich, echt schrecklich ist das damals gewesen.

Und gebracht hat es eigentlich nichts.

Ja. Schon. Eine Zeit lang hatte es so ausgesehen, als hätten seine Arbeit und sein Einsatz Früchte getragen.

Es hatte sogar sehr verheißungsvoll gewirkt!

Doch schon nach kurzer Zeit war wieder alles beim Alten gewesen. Wobei Zeit natürlich relativ war, aber inzwischen war es sogar schlimmer als jemals zuvor.

Und schon kam Christians alter Herr abermals auf die glorreiche Idee, ihn einzuschalten.

Dabei wollte er nicht.

Lass den Kelch doch an mir vorübergehen!

Aber wenn sich sein Vater etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte er eine Beharrlichkeit an den Tag legen, die ihresgleichen suchte.

Was für eine Ehre April 2015

Mein neuer Chef ist ein imposanter Mann. Sein legendärer Ruf eilt ihm voraus. Karl Porter ist ein durchschlagskräftiger Geschäftsmann, ausgezeichneter Rhetoriker und er leitet bereits zwei Unternehmen in Prag als Vorstandsdirektor. Unsere ‘Unito-Versicherung’ wird er ab heute auch leiten. So nebenbei. Kein Problem für einen Mann seines Kalibers. Das erledigt er im Vorübergehen mit einem Fingerschnipsen. Hoffentlich kann ich seine Erwartungen erfüllen, dachte Marie Haller voll Ehrfurcht.

Leicht angespannt kam sie an jenem April-Morgen ins Büro. Am Tag zuvor hatte sich ihr gütiger Vorgesetzter in den Ruhestand verabschiedet und heute war der erste Arbeitstag mit ihrem neuen Vorgesetzten. Sie kannte Porter nur flüchtig, hielt aber große Stücke auf ihn und fühlte sich geschmeichelt, für ihn tätig sein zu dürfen.

Wenn sie diesen so bedeutenden Mann früher am Gang getroffen hatte, hatte sie stets mit einem devoten Kopfnicken reagiert, das er salbungsvoll entgegengenommen hatte, um majestätisch weiterzuschreiten. Nun würde sie die Assistentin dieses angesehenen und hochdekorierten Mannes sein. Was für eine Ehre!

„Frau Haller, bitte kommen Sie zum Diktat“, rief Porter in leicht ungeduldig wirkendem Ton, kaum dass er Maries Schritte im Sekretariat vernommen hatte. Noch nicht gesehen, noch nicht gegrüßt, doch schon am frühen Morgen in Eile? Verständnisvoll und bemüht, diesen vielbeschäftigten Mann nicht unnötig warten zu lassen, schlüpfte Marie eilig aus ihrem Mantel und fuhr nebenbei ihren PC hoch. Eigentlich hätte sie sich gerne mit einem Kaffee in Schwung gebracht und ihre E-Mails gecheckt. Doch das musste wohl warten.

„Gerne“, rief sie, während sie nach einem linierten Schreibblock suchte.

Zum Diktat soll ich kommen? Das letzte Stenogramm habe ich in den 90er Jahren aufgenommen. Wie viel besitze ich von dieser Fertigkeit nach so vielen Jahren noch? Sicherlich mehr als jemand, der es nie erlernt hat, zuckte sie entspannt mit der Schulter, weil sie als ehemalige Gerichtsstenografin auf solides Basiswissen vertrauen konnte.

Porters Vorgänger, Paul Strepping, hatte nie diktiert. Auch nicht sein Vorgänger, der Vorgänger seines Vorgängers und der Vorgänger seines Vorgängers des Vorgängers, genauso wenig. Marie dachte wehmütig an Strepping. Hätte sie ihm den Ruhestand nicht von Herzen gegönnt, hätte sie ihm den Abschied vom aktiven Arbeitsleben übelgenommen. Wie sie ihn schon jetzt vermisste! Strepping hatte den Arbeitstag stets mit einem Scherz begonnen, aber Porters barscher Ton läutete ziemlich anschaulich eine neue Ära ein. Maries Nackenhaare sträubten sich unwillkürlich.

Das Leben besteht aus Veränderungen. Fühle dich geschmeichelt und gib diesem bedeutenden Mann das Gefühl, in dir nicht nur eine rechte, sondern gleich zwei rechte Hände bekommen zu haben, motivierte sie sich, während sie einen Block suchte. Sie musste zum Diktat.

Wie in den Filmen der Nachkriegszeit, schossen Marie uralte Filmsequenzen aus den 50er Jahren durch den Kopf. ‘Fräulein XY: kommen Sie bitte zum Diktat.‘ Und schon trippelte das toupierte Fräulein XY im grauen Kostüm auf spitzen Stöckelschuhen, bewaffnet mit Block und gespitztem Bleistift zum Chef, kritzelte in Steno mit und setzte sich danach an die klappernde, mechanische Schreibmaschine. Als sich diese Schwarz-Weiß-Erinnerung vor Maries geistigem Auge abspulte, entspannte sie sich plötzlich.

Ich Närrin! Porter hat wohl einen erlesenen Humor und will unsere Zusammenarbeit mit einem Scherz beginnen. Wer diktiert denn 2015 noch? Das kann doch nur ein Scherz gewesen sein! Ein Lächeln schlich sich in ihr Gesicht, während sie nach dem linierten Block griff. Diesen Scherz war sie gerne bereit, mitzuspielen.

„Guten Morgen“, grüßte sie beschwingt, als sie das Büro ihres Vorgesetzten betrat. „Frau Haller ist bereit zum Diktat“, zwinkerte sie und setzte sich diensteifrig auf den Platz gegenüber ihrem Chef. Doch er blickte nicht einmal hoch.

„Schließen Sie die Tür!“, befahl Porter stattdessen schroff und kramte in seiner Aktentasche.

Marie bekam einen ersten Eindruck, wie ‘offen‘ ihr neuer Chef sein Amt handhaben wollte und wie wenig er von einem morgendlichen Gruß hielt.

„Es muss niemand hören, was hier gesprochen wird“, erklärte er, als er sie erstmals eines Blickes würdigte.

„Ja, natürlich“, antwortete Marie, stand auf und schloss folgsam die Tür zum Sekretariat. Er will wahrscheinlich ein vertrauliches Gespräch führen, war sie sich nun sicher. Wir kennen einander noch nicht und seine neue, persönliche Assistentin will er wohl kennenlernen. Da mag er keine Zuhörer. Verständlich!

Marie war bereit.

Doch, nichts da! Kein Kennenlernen. Kein Gespräch. Kein Scherz.

Stattdessen ein Diktat. Willkommen in den 80ern! Block auf den Tisch und Stift in die Finger. Porter begann wie aufgezogen zu diktieren.

„Also, Frau Haller. Beginnen wir mal mit einem Brief an Herrn Doktor Steigenbügel, dem Direktor des Unternehmens Steinschlag und Berghau, die Adresse lassen Sie sich bitte von meiner Sekretärin in Prag geben. Wir schreiben folgenden Text: Sehr geehrter Herr Doktor Steigenbügel! Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihr geschätztes Entgegenkommen in der Vereinssache Springschnurspringen für fortgeschrittene Rheumakranke. Dass wir die Springschnüre durch ihr über alle Maßen bewährtes Engagement zu einem erstklassigen Vorteilspreis erhalten, den ausschließlich langdienende Vereinsmitglieder in Aussicht gestellt bekommen und erst nach gründlicher Prüfung durch alle Aufsichtsratsmitglieder des Vereins und der zuständigen Magistratsabteilung, auch erhalten, ehrt mich im außerordentlichen Maße. Als Leiter des Vereins für Öffentlichkeitsarbeit für Schwerhörige ...“

Porters verbale Ergüsse gingen in ähnlicher Art und Weise weiter. Mit der Unito-Versicherung hatte keiner seiner ersten Briefe, die er diktierte, etwas zu tun. Er schien offenbar in mehreren Vereinen leitende Positionen zu unterhalten und war in deren Funktionen sehr gefordert. Maries Hochachtung wuchs ins Unermessliche.

Sie kam mit nur einem Job an die Grenze ihrer Belastbarkeit. Porter leitete drei Unternehmen und hatte daneben sogar noch Zeit, um einige Sport- und Kultur-Vereine zu betreuen. Was machte sie falsch? Hektisch schmierte sie in ihrem eingerosteten Steno das diktierte Gesülze mit und arbeitete hart an sich, nicht in schallendes Gelächter auszubrechen.

Muss ich vor dem Versenden auf das Briefpapier Blümchenbilder kleben und das Kuvert mit Wachs versiegeln?, fragte sich Marie und amüsierte sich über Porters gekünstelte Sprache. Er war zwar etwas älter als sie, doch so alt auch wieder nicht.

Trotzdem schien seine Ausdrucksweise in der K&K-Monarchie hängen geblieben zu sein. Der gute alte Kaiser Franzl hatte seiner Sisi vielleicht solche Liebesbriefe geschrieben. Obwohl, wenn er das wirklich getan hätte, wäre für Marie klargewesen, warum die Gute so oft nach Korfu abgeschwirrt war.

War an Porter vorübergegangen, dass man im Geschäftsleben kurz und sachlich kommunizierte? Man kam zum Punkt. Höflich schon, aber kurzgehalten. In den sieben Briefen, die Porter in der ersten halben Stunde diktiert hatte, wimmelte es hingegen von Schachtelsätzen in A4-Seitenlänge.

„So, das wäre es mal fürs Erste. Bitte, bringen Sie mir die Briefe, wenn Sie sie getippt haben, zum Redigieren und verbinden Sie mich zuvor noch mit Herrn Direktor Schneemann, Frau Magistra Himmelschlüssel, Herrn Kommerzialrat Schnapsdrossel, Frau Diplomkaufmann Holzbein, dann noch mit Herrn Professor Querkopf und zuallererst mit Herrn Oberbürgermeister Zipfelmütz aus Purzelhausen. Er hat nämlich heute Geburtstag“, steuerte er diese unheimlich wichtige Information bei. So viele wichtige Leute kennt mein neuer Chef, dachte Marie beeindruckt.

„Ach ja! Und ich hätte gerne einen Kaffee mit Milch und Zucker.“

„Gerne“, knirschte Marie mit den Zähnen, weil es in ihrem Kopf zu schwirren begann. „In welcher Reihenfolge soll ich tätig werden? Wollen Sie den Kaffee vor den Telefonaten mit Direktor, Professor, Diplomkaufmann, Oberbürgermeister, Magistra und Diplomkaufmann, aber nach den Briefen? Oder zwischen den Telefonaten, denkbar eventuell zwischen Bürgermeister und Professor und nach den Briefen. Oder aber, ...“ Sie wollte noch einige Varianten anbieten, da zwang sie Porters echauffierter Blick aus seinem bärtigen Gesicht augenblicklich zum Schweigen.

Dieser Humor kam bei ihm nicht gut an. Seine Mundwinkel wischten bereits die Arbeitsplatte ab, als auch Marie ihre gute Laune verlor.

„Natürlich zuallererst den Kaffee. Kommt sofort - ich habe bloß scherzen wollen“, ruderte sie zurück und versuchte ein so ernstes Gesicht wie er aufzusetzen.

„Verbindlichsten Dank“, konterte er trocken, „und schließen Sie die Tür wieder.“ Humor war ihm also fremd. Und offene Türen mochte er auch nicht. Was für eine Ehre und welch ein Genuss, für so einen imposanten Mann arbeiten zu dürfen!

Warum nur ist mir plötzlich so kalt, wunderte sie sich, als sie ihre zitternden Hände versuchte warm zu reiben und einen Rollkragenpulli überzog, bevor sie in die Kaffeeküche eilte.

Indirektes Verhältnis Juli 2015

Der gesamte Vorstand und alle zusammengetrommelten Abteilungsleiter waren im Konferenzsaal versammelt. Marie sollte den Wirtschaftsprüfer empfangen, begrüßen und danach zu den Sitzungsteilnehmern in den Besprechungsraum führen.

Sie atmete schwer. Es war erst neun Uhr, doch Marie war bereits völlig erschöpft und zitterte wie Espenlaub. Seit sieben Uhr war sie im Büro. Diese frühe Stunde war seit einigen Monaten ihr neuer Arbeitsbeginn.

„Frau Haller, wo bleibt denn Ihr reizendes Lächeln?“, hatte Porter nach zwei Monaten gefragt. „Meine Batterie ist leer! Soll ich mir vielleicht Zahnstocher zwischen die Wangen klemmen?“, hätte sie am liebsten gerufen, als sie Porter zu mehr Fröhlichkeit anfeuern hatte wollen. Doch letztlich konnte sie das weder sich selbst noch ihm eingestehen. Stattdessen hatte sie gehofft, dass ihr vielleicht noch ein paar Hände aus den Schultern rauswachsen würden.

Seufzend nutzte sie die seltene Ruhe, die sich erst einstellte, nachdem Porter in den Sitzungssaal marschiert war, um ihr Stenogramm zu entziffern und auf Papier zu bringen. Konnte sie einen ihrer hektisch mitgeschmierten Kringel nicht lesen, erfand sie eine poetische Abwandlung frei nach Goethe. Ausgeschmückt mit schleimigen Schmeicheleien, lag sie mit diesen dichterischen Ergüssen meist gar nicht so falsch. Aufgefallen waren Porter ihre kreativen Ergänzungen bisher jedenfalls nie.

Das schrillende Telefon riss Marie aus einem Glückwunschschreiben, das sie soeben an die Gattin des Direktors Zuckerschlecker, dem Schirmherrn des Vereins für Diabetikerhilfe, tippte.

„Hier ist der Empfang! Herr Gottlieb steht vor mir und sagt, dass Sie ihn erwarten. Kann ich ihn raufschicken?“, fragte das junge Fräulein.

„Ja! Bitte schicken Sie den Herrn zu mir ins Sekretariat“, bat Marie und wurde hektisch. Weit bin ich ja noch nicht gekommen, seufzte sie, als sie die noch offenen Diktate durchblätterte.

Sie schloss das geöffnete Word-Dokument und öffnete Outlook, um die Termine von Porter zu checken. Es stand lediglich die Sitzung mit dem Wirtschaftsprüfer in seinem Kalender. Demgemäß lautete der Plan: Wirtschaftsprüfer rasch im Besprechungsraum abliefern und hurtig zurück zum Fließband, wie sie inzwischen ihren PC nannte. Anderenfalls würde es wieder eine Nachtschicht geben. Obwohl: Heute geht es gar nicht! Ich muss unbedingt pünktlich gehen, fiel Marie ein. Raffael, ihr Mann, würde sie abholen und gemeinsam wollten sie essen gehen.

Beim Gedanken an Raffael und den gemütlichen Abend, der vor ihr lag, musste sie unwillkürlich lächeln. Er war ihr Fels in der Brandung. Wenn sie von Raffaels Ruhe nicht hätte zehren können, hätte sie die vergangenen Monate kaum überstanden. Raffael hatte sie stets aufgerichtet. Doch in letzter Zeit waren seine Blicke eindringlicher und sorgenvoller geworden.

„Du musst auf dich aufpassen, Marie! Lasse nicht zu, dass dich dieser Job auffrisst! Du gefällst mir in letzter Zeit gar nicht mehr.“

„Danke, sehr nett!“, tat sie, als hätte sie nicht verstanden, was er meinte.

„Du weißt genau, was ich sagen will: Du kommst jeden Abend spät nach Hause und weinst in letzter Zeit wegen jeder Kleinigkeit. In der Nacht schläfst du zu wenig und am Morgen läufst du genauso nervös außer Haus, wie du heimgekommen bist.“

„Was soll ich denn machen? Ich kann doch schlecht das Büro verlassen, wenn noch Arbeit liegt! Porter ist so fordernd. Er lässt ein ‘das geht sich nicht mehr aus’ einfach nicht gelten.“

„Aber man kann aus einem Ein-Liter-Gefäß doch nicht zwei Liter schöpfen!“

„Sag das meinem Chef, der will am liebsten zehn Liter aus mir rausquetschen! Und das jeden Tag!“

„Dann sage ihm einfach mal, dass dir das zu viel wird!“

„Damit er mich auswechselt? Du vergisst, ich bin 47 Jahre alt. Auf mich wartet niemand mehr. Der Arbeitsmarkt ist brutal geworden und ich muss mitschwimmen.“

„Aber du weißt schon, dass man einem Esel, der, ohne zu murren brav große Lasten zieht, immer mehr auflädt?“

„Ja, das weiß ich, aber ...“

„Nichts aber! Deine Gesundheit ist das Wichtigste. Versprich mir, auf dich zu achten! Vergiss nicht, ich brauche dich!“ Er zog sie in seine Arme und sie genoss die Geborgenheit, die sie umfing, als ihr Kopf an seiner Schulter lag.

„Ich weiß, du meinst es gut und ich verspreche, ich gebe auf mich acht. Aber es ist wirklich nicht einfach ...“

„Psst!“, zischte er und legte seinen Finger auf ihren Mund: „Morgen hole ich dich um 17 Uhr ab, dann gehen wir essen. Ich will jetzt keine Widerrede hören! Du hast ein Recht auf ein Privatleben und nach zehn Stunden Arbeit ist es auch keine pflichtverletzende Ungeheuerlichkeit, wenn du nach Hause gehst.“ Als Raffael spürte, dass Marie trotzdem widersprechen wollte, fuchtelte er mit dem aufgestellten Zeigefinger vor ihren Augen herum.

„Ich schwöre dir: Solltest du um 17 Uhr nicht beim Portier stehen, komme ich rauf und schiebe dich auf deinem Schreibtischstuhl einfach aus dem Büro.“

Daran musste Marie nun denken, doch als sie den Block mit ihrem Stenogramm in Händen hielt, hatte sie keine Idee, wie sie bis 17 Uhr fertig werden sollte! Sie hatte erst zwei von zwölf Briefen tippen können, ihr E-Mail-Postfach zeigte 150 ungelesene Nachrichten und davon war sicherlich die Hälfte dringend. In einer Stunde würde Porter wieder da sein und dann kam sie zu gar nichts mehr.

Eine beklemmende, ihr inzwischen wohlbekannte Unruhe verstärkte sich bei diesem Gedanken. Sie begann noch heftiger zu zittern, ihr Herz raste und sie versuchte diese Panikattacke durch Bauchatmung in den Griff zu bekommen.

Tief Luft holen. In den Bauch atmen. Fest ausatmen. Ich bin ganz ruhig. Ich bin ganz ruhig.

Die Selbstsuggestion half nicht. Also lief sie zum Fenster, öffnete es und ließ frische Luft hereinströmen. Vor dem Fenster sprang eine Meise auf einer Birke herum und schien sich zwischen den Birkenkätzchen wohlzufühlen. Das kleine Vögelchen hing kopfüber und pickte voll Hingabe irgendwelche Köstlichkeiten.

Wie gerne wäre ich jetzt diese Meise. Kein Diktat, kein Druck, kein Stress. Ihre Sehnsucht nach Natur und dem einfachen Leben wurde so übermäßig, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten, als sie das Naturschauspiel beobachtete. Raffael hat recht! Ich weine in letzter Zeit wirklich leicht und zu den unmöglichsten Zeiten. So wie jetzt eben. Heulerei am Arbeitsplatz war das absolute No-Go. Der Wirtschaftsprüfer kommt doch jeden Augenblick! Marie, du musst dich sofort in den Griff bekommen. Lass dich doch nicht hängen! Was soll denn das? Los: tüchtig sein! Funktionieren, schalt die pflichtbewusste Marie in ihrem Inneren die geschwächte Ausgabe, die soeben schlappmachen wollte. Marie zog einen heftigen Atemzug von der sauerstoffreichen Luft in ihre Lungen, wischte ihre Augen trocken und schloss das Fenster. Die Morgenluft war noch kühl und ihr war bereits den ganzen Morgen kalt gewesen. Und das im Juli! Maries Finger hätten einen Kühl-Akku auf Minustemperatur halten können.

Als sie sich vom Fenster wegdrehte, trat ein junger Mann in heller Kleidung in den Raum. Er blieb im Türrahmen stehen und gleichzeitig mit seinem Erscheinen spürte Marie einen leichten, angenehmen Lufthauch ins Zimmer wehen.

„Grüß Gott! Ich werde von Karl Porter erwartet. Bin ich bei Ihnen richtig?“ fragte er.

„Ja! Herr Porter erwartet Sie bereits.“ Marie ging auf den Gast zu.

„Grüß Gott und willkommen!“ Sie reichte ihm die Hand und als er sie nahm, spürte sie Wärme durch ihren Körper fließen. Wie angenehm. Ihre soeben noch eiskalten Hände wurden augenblicklich durchblutet und sogar ihr Zittern, ihre Panik und die Nervosität verschwanden.

Ist das tatsächlich der erwartete Wirtschaftsprüfer?, wunderte sich Marie. Sie hätte eher auf einen gottbegnadeten Yogi, der einem per Handschlag Entspannung durch den Körper jagen konnte, getippt.

„Bitte folgen Sie mir, ich bringe Sie in den Besprechungsraum! Kaffee, Mineralwasser und Kekse finden Sie auf dem Tisch vor. Sollten Sie Extrawünsche haben, lassen Sie es mich bitte wissen!“, überspielte sie ihre Verwunderung.

„Danke, Frau ...“

„Haller! Marie Haller“, stellte sie sich vor.

„Christian Gottlieb“, nannte nun auch der Wirtschaftsprüfer seinen Namen, obwohl sie wusste, wer er war. Wie ein Yogi sah er doch wirklich nicht aus. Wie ein Wirtschaftsprüfer aber auch nicht!

„Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen“, hieß sie ihn willkommen. Man freut sich nicht darüber, einen Wirtschaftsprüfer kennenzulernen, außer man will unbedingt das Arbeitsamt von innen sehen, rechnete ihr prompt die strenge Marie vor, weil es am wirtschaftlichsten wäre, ältere Dienstnehmer auszusortieren.

Während Marie den Gang entlang ging, blickte sie ihn verstohlen von der Seite an. Irgendwie erinnerte er sie an jemanden. Sein Gesicht kam ihr seltsam bekannt vor. Doch ihr fiel einfach nicht ein, an wen er sie erinnerte. Die Assoziationen in ihrer verschwommenen Erinnerung waren aber eindeutig positiv.

Mit dem kurzgeschnittenen, gepflegten Vollbart, den etwas zu langen, aber gepflegten dunkelbraunen Haaren und den ebenmäßigen Gesichtszügen wirkte er jedenfalls ganz anders als die anderen Wirtschaftsprüfer.

Mit Schaudern erinnerte sie sich an die geschniegelten Uni-Abgänger, die mit ihren genagelten Schuhen und eng geschnittenen Anzügen bisher aufgekreuzt waren, um in der Firma so richtig umzurühren. Aalglatt hatten sie gewirkt und nach jedem Abschlussbericht dieser Prüfer hatte es ein ausführliches Köpferollen in der Firma gegeben. Abteilungen waren durcheinander gewürfelt und Mitarbeiter versetzt worden. Eine wilde Mischkulanz sollte mit weniger Mitarbeitern mehr Leistung erwirken.

Noch nie etwas vom ‘umgekehrten Verhältnis’ gehört? fragte sich Marie oft. In Gedanken sah sich Marie als Achtjährige vor folgender Mathematik-Hausaufgabe brüten: Zehn Arbeiter brauchen acht Stunden, um eine Straße zu asphaltieren. Frage: Wie viele Stunden brauchen fünf Arbeiter dafür? Ohne lange Nachzudenken, war sie damals auf vier Stunden gekommen und hatte sich sogar noch gefreut, dass sie sich beim Dividieren nicht verrechnet hatte. Sie war allerdings Schülerin gewesen, als sie bei der Textaufgabe in diese Gedankenfalle getappt war. Und sie hatte daraus gelernt! Logisches Denken!

Die Wirtschaftsprüfer der letzten Jahre waren jedoch zu ähnlichen Ergebnissen gekommen wie die achtjährige Marie. Ihre Endberichte versprachen ebenfalls eine Effizienzsteigerung durch weniger Mitarbeiter! Und die Vorstände hatten akzeptiert, unterschrieben und die Ergebnisse auch prompt umgesetzt. Ohne es zu merken, seufzte sie auf.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“

„Warum?“

„Sie haben geseufzt.“

„Habe ich das? Keine Sorge, es ist alles in Ordnung, ich war nur in Gedanken.“

Dann aber ritt sie der Teufel und sie fragte aus dem Bauch heraus: „Kennen Sie eigentlich das umgekehrte Verhältnis?“

„Was für ein Verhältnis?“, wirkte er irritiert.

„Diese Textaufgabe, auf die fast jeder Schüler zuerst mal reinfällt, bis er die dahintersteckende Logik erkennt. Das umgekehrte Verhältnis in der Mathematik.“ Gottliebs Gesicht war ein einziges Fragezeichen. Da dämmerte Marie, dass er ihre soeben gewälzten Gedanken nicht kennen und diese Frage daher gar nicht verstehen konnte.

Sie wurde demnach konkreter: „Ich spreche von der Tatsache, dass weniger Arbeiter länger für eine Tätigkeit brauchen als mehr Arbeiter.“

„Sie meinen das indirekte Verhältnis?“

„Ja, das indirekte oder umgekehrte Verhältnis! Genau das meine ich! Sie können sich also daran erinnern?“, freute sich Marie.

„Ja, natürlich! Nur, wie kommen Sie jetzt darauf?“

„Nun. Also ...“, stotterte Marie herum, „... ich wollte nur sichergehen, dass Sie es auch wirklich kennen.“

„Warum?“

„Weil es die Wirtschaftsprüfer vor Ihnen scheinbar nicht kannten.“ Gottlieb sah sie an und lächelte. Wissend. Verstehend.

„Wahrhaft klug sind alle, die danach tun.“

„Ihr Wort in Gottes Ohr“, erwiderte Marie mit leichter Skepsis.

„Wir sind vor den heiligen Hallen angelangt!“, erklärte Marie lächelnd, während sie die schwere Mahagonitür öffnete. „Bitte folgen Sie mir!“

„Wie ein Schaf dem Schäfer!“, scherzte er gutgelaunt.

Tat das gut! Ein Lächeln! Mit Freundlichkeit und Humor war Marie, seit sie für Porter arbeitete, nicht gerade gesegnet. Eigentlich war sie seit einigen Monaten regelrecht am Vertrocknen. Daher zog sie diese Brise Humor auf wie ein Wüstenboden den ersten Regentropfen.

Was für eine ungewöhnlich warmherzige Aura diesen Mann umgibt, dachte sie beeindruckt. Da schaltete sich wieder die strenge Marie ein: Als Wirtschaftsprüfer ist er mit Sicherheit ein Wolf im Schafspelz. Lasse dich doch nicht von warmen Händen und beruhigenden Gefühlen täuschen! Offensichtlich ist er lediglich sehr geübt im Umgang mit Schäfchen, und du Schaf gehst ihm prompt auf den Leim, nur weil du plötzlich warme Hände hast.

Marie gab ihrer inneren Stimme recht. Sie durfte sich nicht blenden, musste stattdessen Vorsicht walten lassen. Ihre derzeitige nervliche Schwäche durfte auf keinen Fall sichtbar werden. Gut, dass Gottlieb ihre Tränen nicht entdeckt hatte.

Heulende Assistentinnen jenseits der Vierzig verspeisen Wirtschaftsprüfer wahrscheinlich schon zum Frühstück, ätzte wieder jemand in ihrem Kopf giftig herum.

Trotzdem spürte sie so viel Herzenswärme von diesem Mann abstrahlen. Auch jetzt, als sie mit ihm vor dem Besprechungsraum stand. Normalerweise konnte sie sich auf ihr Bauchgefühl verlassen. Sie war äußerst empfindsam und ihr Körper reagierte auf andere Menschen stets früher als ihr Verstand.

Seit sie beispielsweise für Porter arbeitete, fröstelte sie ständig. Und das lag nicht am Wetter. Dieser Juli zeigte sich bislang von seiner schönsten, wärmsten und sonnigsten Seite!

Wovon sie genau nichts hatte! Wenn sie zwischen 19 und 21 Uhr ausgelaugt nach Hause wankte, hatte die Sonne bereits ihre meiste Kraft verströmt und die Wochenenden verbrachte sie damit, den vernachlässigten Haushalt auf Vordermann zu bringen.

Gottlob war Raffael verständnisvoll und zum ersten Mal in ihrer Ehe bereute sie es nicht, dass ihnen gemeinsame Kinder verwehrt geblieben waren. Hungrige Mäuler stopfen und Schularbeiten kontrollieren, wäre gar nicht mehr möglich gewesen. Marie war heilfroh, dass Raffael nach seinem Dienst ab und zu etwas Warmes kochte, sonst hätten sie von Wurstbroten leben müssen.

Wenn ihr der Job, so wie früher, wenigstens Spaß gemacht hätte, wäre das aber noch verkraftbar gewesen! Doch seit sie für Porter arbeitete, fühlte sie sich wie ein hirnamputierter Handlanger. Sie brauchte nur mehr rasche Finger und absoluten Gehorsam. Ihren Verstand hätte sie auf den Garderobehaken neben den Mantel hängen können und es wäre überhaupt nicht aufgefallen. Mitdenken oder Vorschläge machen war verpönt, Scherzen strengstens untersagt.

Porter saß in seinem Büro wie eine Kreuzspinne im Netz und schleuderte mit bissiger Miene seine Befehle ins Sekretariat. Er ließ sich jedes Telefongespräch verbinden, jedes E-Mail tippen. Sein Handy benutzte er nur, damit sie aus dessen Kontakten die Telefonnummern rausschreiben konnte. Korrektur: Musste!

An ihrem zweiten Arbeitstag hatte sie sich ihren letzten, kühnen Scherz erlaubt und ihren Geist noch benutzt. Porter hatte ihr wieder einmal eine Telefonnummer aus seinen Handy-Kontakten unter die Nase gehalten. „Schreiben Sie sich diese Nummer ab, gehen Sie ins Sekretariat und verbinden Sie mich mit Frau Direktor Sumpfdotterblume!“, war seine Order gewesen. Ohne nachzudenken hatte Marie eine logische Handlung gesetzt und auf die angezeigte Telefonnummer getippt. Vielleicht weiß er nur nicht, wie einfach es ist, mit einem Handy zu telefonieren?

Als die Verbindung zustande gekommen war, hatte sie ihm sein Smartphone ans Ohr gehalten: „Bitte sehr, jetzt können Sie direkt mit Frau Direktor Sumpfdotterblume sprechen!“ Sie hatte gestrahlt, während er wohl sein erstes Handy-Telefonat geführt hatte.

Porters Freude über die kostenlose Einschulung hatte sich damals allerdings sehr in Grenzen gehalten. Mit ihrer nett gemeinten Nachhilfe hatte sie ihn nämlich unbeabsichtigt um seine größte Freude betrogen: Machtdemonstration! Porter hatte eine Assistentin! Er musste nicht selbst telefonieren! Er hatte diese Aktion von Marie wohl als heimtückische Gemeinheit empfunden, denn künftig las er ihr die Telefonnummern aus seinen Kontakten selbst vor. Damit Derartiges nie mehr passieren konnte.

Dem kleinen Karli müssen in der Sandkiste offenbar sehr oft seine Spielsachen weggenommen worden sein. Nach dieser Episode hängte Marie ihren Verstand jeden Morgen neben den Mantel und nahm ihn erst wieder ab, wenn sie das Büro verließ. Doch Freude machte ihr dieses hirnlose Dienen nicht mehr. Es laugte nur mehr aus.

‘Ich verbinde mit Herrn Direktor Karl Porter’, brabbelte sie damals wohl sogar im Schlaf. Zu ihren regulären Arbeiten, die sie eigenverantwortlich aus der Vor-Porter-Ära zu erledigen hatte, und auch weiterhin ausführen sollte, kam sie nur mehr, wenn Porter unterwegs war.

Zu ihrer Erleichterung war er zwei Tage in der Woche in Prag. Zwar riefen dann seine dort tätigen, ebenfalls überlasteten Assistentinnen alle zehn Minuten an. Doch dazwischen konnte sie ihre Arbeit erledigen. Und an diesen Tagen war ihr auch nicht kalt. Porter wäre hervorragend als Klimaanlage verwendbar gewesen, denn er verströmte stets eisige Kälte.

Christian Gottlieb hingegen sonnige Wärme. Aber er war nun einmal Wirtschaftsprüfer! Vergiss das nicht! Nein, strenge Marie: Ich vergesse es nicht.

Trotzdem, in Gottliebs Gegenwart fühlte sie sich wohl. Unheimlich, unverständlich, aber übersinnlich wohl. Das war einfach so!

Angst

Sie war soeben wach geworden. Irgendein Geräusch hatte sie geweckt. Nein, bitte, nicht.

Nicht schon wieder.

Voll Panik sah sie zur Tür und griff unter ihr Kopfkissen. Sie spürte den Holzgriff und fühlte sich plötzlich stärker.

Heute würde er ihr nichts antun.

Heute nicht!

Die Sitzung Juli 2015

Marie öffnete die schwere Mahagonitüre und ließ Christian Gottlieb den Vortritt. Nachdem sie das Tor geschlossen hatte, führte sie den Wirtschaftsprüfer zu ihrem Chef, der am Kopfende des Besprechungstisches stand.

„Herr Gottlieb, darf ich Ihnen den Vorstandsvorsitzenden unseres Unternehmens, Direktor Karl Porter vorstellen?“, übernahm Marie die Vorstellung.

Porter lächelte erhaben.

„Sehr erfreut, Herr Gottlieb. Ich begrüße Sie im Namen aller Vorstandsmitglieder und Abteilungsleiter der Unito-Versicherung“, ertönte der satte Bariton ihres Vorgesetzten.

„Ich freue mich auch, Sie kennenzulernen!“ Die beiden schüttelten einander die Hände, während man im Raum eine Stecknadel hätte fallen hören können. Sofort nach dem Eintreten waren alle Anwesenden aufgesprungen, um Gottlieb ihren Respekt zu erweisen.

„Grüß Gott, meine Herrschaften. Ich freue mich, hier sein zu dürfen. Bitte, setzen Sie sich doch!“, lächelte Gottlieb bescheiden in die Runde und unterstrich mit einer sanften Handbewegung seine Aufforderung. Genauso gut hätte er gar nichts sagen brauchen. Sie starrten weiter, als sähen sie einen Geist. Alle, außer Porter, wirkten kurzfristig wie gelähmt.

Also ist es nicht nur mir so ergangen, dachte Marie. Sie fühlte sich durch das seltsame Benehmen der Arbeitskollegen in ihrer eigenen Wahrnehmung bestätigt. Eine außergewöhnliche Ausstrahlung umhüllte diesen Mann und er berührte Menschen. In irgendeiner, unerklärbaren Weise. Gut, nicht jeden. Porter schien offenbar immun zu sein. Ausstrahlungen, Stimmungen sowie Schwingungen ließ er ungerührt an sich vorbeischwingen.

„Ich würde vorschlagen, dass wir beginnen!“, machte er Druck und wies Gottlieb an, sich auf den freien Stuhl neben sich zu setzen.

„Dann gehe ich wieder ins Sekretariat zu meiner Arbeit“, nahm Marie die Gelegenheit beim Schopf, um sich rasch aus dem Staub zu machen. “Wenn irgendetwas benötigt wird, Anruf genügt!“

„Nein, Sie bleiben hier!“

„Aber ich muss doch ins Sekretariat zurück. Das Telefon ist unbesetzt und es liegt ...“

„Ich brauche Sie für das Protokoll. Setzen Sie sich und schreiben Sie mit! Das Telefon kann die Sekretärin von Doktor Gutmann übernehmen!“

Er wandte sich Peter Gutmann zu, der die Augen aufriss, wie ein Goldfisch das Maul, nachdem er aus dem Wasser gesprungen war. Gutmann wusste offenbar nicht, wie ihm geschah. Porter half ihm auf die Sprünge.

„Herr Doktor Gutmann, rufen Sie Ihre Assistentin an, damit sie in mein Sekretariat geht und das Telefon zu sich umleitet. Sie soll eine Telefonliste aufnehmen und diese dann Frau Haller bringen, die danach alle Anrufer zurückruft“, beauftragte er den Leiter des Schadendienstes.

„Frau Molden ist aber allein im Sekretariat und hat bereits ...“

„Herr Gutmann, unsere Zeit ist kostbar. Rufen Sie einfach Ihre Sekretärin an und sagen Sie ihr, was sie zu tun hat! Wir warten.“ Gutmann riss eine ungesunde Farbe auf. Er ballte seine Hände zu Fäusten, versteckte diese jedoch unter der Tischplatte. Jeder spürte, wie viel Disziplin es ihm abverlangte, die Contenance zu wahren.

Doch um Fassung bemüht, stand er nach einer Schrecksekunde auf. Beherrscht schritt er zum Telefon, das auf einem Beistelltisch in Fensternähe stand und wählte die Telefonnummer seiner Assistentin.

„Frau Molden, bitte gehen Sie in das Sekretariat von Herrn Porter und leiten Sie die Anrufe zu sich. Die Telefonliste bringen Sie nach unserer Besprechung bitte Frau Haller“, bat er höflich. Offensichtlich war Frau Molden damit nicht ganz einverstanden. Jedenfalls zuckte es in Gutmanns Gesicht, während alle im Raum gespannt an seinen Lippen hingen.

„Frau Molden, ich weiß, dass Sie auch schon die Telefonate von der kranken Kollegin der Personalabteilung übernehmen müssen. Doch Herr Porter bittet Sie sehr eingehend darum. Also bitte, tun Sie es.“ Danach kam relativ rasch ein „Danke, Frau Molden!“, und Gutmann legte auf.

„Sie müssen noch lernen, etwas bestimmter aufzutreten, Herr Gutmann! Wenn Sie Ihrer Assistentin einen Auftrag erteilen, hat diese ihn umgehend zu erledigen. Ohne Widerrede!“ Gutmann schien etwas erwidern zu wollen, überlegte es sich aber dann doch anders. Er setzte sich schweigend auf seinen Platz und tat Marie in diesem Moment fast noch mehr leid als sie sich selbst.

„Man kann sich doch nicht von seinen Untergebenen auf der Nase herumtanzen lassen! Finden Sie nicht auch, Herr Gottlieb, dass man mit seinen Angestellten klipp und klar reden sollte?“, wollte sich Porter bei seinem Gast Rückendeckung holen.

„Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch!“, erwiderte der Angesprochene etwas pathetisch, doch unmissverständlich. Dabei lächelte er seinen Gesprächspartner so sanft an, als hätte er ihm nach dem Mund geredet und nicht widersprochen.

Marie spürte, wie ihr warm ums Herz wurde. Sie freute sich, dass sich Gottlieb nicht den Namen der widersprechenden Sekretärin für die Kopf-Roll-Liste notiert hatte. Porter hingegen gefiel diese Antwort schon etwas weniger. Und das, obwohl sie in der Sprache formuliert war, die seinem lyrischen Anspruch gerecht wurde.

Er starrte Gottlieb eine Zeitlang an, als hätte er die Worte gar nicht gleich verstanden. Erst als sich seine Augen verengten, wurde erkennbar, dass die Botschaft in sein Bewusstsein gesickert war. Doch er fasste sich relativ rasch.

„Nun, denn. Jeder nach seiner Art“, resümierte er und fuhr Marie an.

„Frau Haller, was ist jetzt mit Ihnen? Sie stehen noch immer herum!“, ließ er seine schlechte Laune an Marie aus. Wozu ist eine Assistentin denn sonst da?

Diese suchte den Tisch mit ihren Augen ab und überlegte, wo sie sich am wohlsten fühlen würde. Sie wählte den freien Stuhl zwischen der Betriebsrätin Elisabeth Leuberg und Peter Gutmann.

„Lisi, borgst du mir bitte einen Block und hast du vielleicht auch einen zweiten Kuli für mich dabei? Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich als Protokoll-Führerin dabei sein soll, daher kam ich unbewaffnet hierher“, flüsterte sie ihr zu.

„Natürlich, du kannst doch das Protokoll schlecht auf die Tischplatte kratzen“, lächelte die leicht mollige Mittvierzigerin, riss von ihrem Block einige Zettel runter und drückte Marie einen Kugelschreiber in die Hand. Die Vorstellung von der ritzenden Betty Geröllheimer ließ Marie kurz kichern. Ein warnender Blick ihres Vorgesetzten brachte sie jedoch rasch wieder in die Gegenwart. Der große Auftritt des Vorstandsvorsitzenden begann. Porter erhob sich aristokratisch.

„Meine Damen und Herren: Ich stelle Ihnen hiermit offiziell unseren neuen Wirtschaftsprüfer, Herrn Christian Gottlieb vor. Er wird die Arbeitsabläufe in unserem Unternehmen durchleuchten und Verbesserungsvorschläge für eine Optimierung der Arbeitsvorgänge ausarbeiten. Wie Sie wissen, konnten wir in den vergangenen Jahren die Gewinne jährlich zwischen fünf und zehn Prozent steigern. In dieser wirtschaftlich so schwierigen Zeit und, um im Konkurrenzkampf bestehen zu können, ist es jedoch unumgänglich, an der Kostenschraube zu drehen. Nur wenn wir Kosten und Personal sparen, können sich unsere Gewinne jährlich verdoppeln, was unser aller Streben sein sollte. Aus diesem Grund ersuche ich Sie alle, meine hoch geschätzten Vorstandsmitglieder und Gruppenleiter, Herrn Gottlieb bei seiner Tätigkeit zu unterstützen und ihm hilfreich zur Hand zu gehen!“

Unerträgliche Stille kühlte den Raum um einige Grade ab. Offenbar wussten die Mitarbeiter, vom Abteilungsleiter bis zum Vorstandsdirektor bis soeben nicht, dass eine Wirtschaftsprüfung stattfinden sollte. Die Überraschung in den Gesichtern der Mitarbeiter sprach Bände, während Porter seinen Auftritt in vollen Zügen zu genießen schien. Peter Gutmann fasste sich als erster.

„Aber Herr Porter! Bei allem Respekt: Wir verdanken unsere Gewinne und das Florieren des Unternehmens unseren tüchtigen Mitarbeitern, die wir leistungsorientiert entlohnen und angemessen schulen und fördern sollten. Der Mitarbeiterstab ist die Säule unseres Erfolgs. Unsere Mitarbeiter sind engagiert und leisten viele Überstunden. Freiwillig, aber leider auch notwendig. Wir schaffen den Arbeitsaufwand nur mit Hilfe dieser Kollegenschaft. Mitarbeiterkosten sparen heißt doch nichts anderes, als Mitarbeiter zu entlassen. Abgesehen vom menschlichen Aspekt: Wie sollen wir denn mit noch weniger Mitarbeitern in Zukunft Gewinne verdoppeln können? Und das, wo wir doch sehr gute Gewinne liefern!“, ereiferte sich der junge Mann, dessen blonde Haarpracht durch seine roten Hautflecken im Gesicht noch heller wirkte.

„Herr Gottlieb“, schnitt Porter Gutmann das Wort ab, „darf ich Ihnen unseren Leiter des Schadendienstes, Doktor Peter Gutmann vorstellen? Er ist so voll Enthusiasmus und ich entschuldige mich für sein impulsives Temperament.“

„Aber nein!“, ergriff Gottlieb das Wort. „Bitte entschuldigen Sie sich nicht für diesen Mitarbeiter! Es interessiert mich sehr, was Herr Gutmann zu sagen hat.“ Er lächelte Gutmann an, ging um den Tisch auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. „Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen. Bitte fahren Sie fort!“ Gutmann wirkte kurz irritiert, nahm jedoch seine Hand und lächelte zurück.

„Es freut mich auch, Sie kennenzulernen und ich hoffe, Sie nehmen meine offenen Worte nicht persönlich! Aber, nachdem Sie mich dazu auffordern: In unserem Unternehmen hatten wir in den vergangenen Jahren bereits drei Wirtschaftsprüfungen und jedes Mal wurde danach der Mitarbeiterstand verkleinert. Das bedeutete für die verbliebenen Kollegen stets belastende Mehrarbeit.“

„Nicht nur belastende, sondern auch unbezahlte Mehrarbeit“, rief Elisabeth Leuberg, die zwischen Marie und Gutmann saß, dazwischen. Elisabeth kam resolut auf Gottlieb zu und hielt ihm ihre Hand hin.

„Elisabeth Leuberg, Betriebsrats-Obfrau. Entschuldigen Sie, dass ich Gutmann ins Wort falle, aber als Betriebsrätin ist es meine Pflicht, mich vehement gegen weiteren Mitarbeiterabbau auszusprechen. Die Kollegen und Kolleginnen, die seit Jahren die Tätigkeiten der gekündigten Mitarbeiter einfach aufs Auge gedrückt bekommen, neben ihrer eigentlichen Arbeit wohlgemerkt, bekommen nicht einmal Gehaltserhöhungen. Sie müssen lediglich mehr arbeiten. Der Druck, der auf unsere Belegschaft ausgeübt wird, wird immer größer und die satten Gewinne kommen allein den Aktionären zugute. Diese fordern stattdessen immer mehr und mehr, während die, die sich dafür den Arsch aufreißen, irgendwann ...“

„Frau Leuberg! Mäßigen Sie sich!“, rief Porter, in dessen Gesicht nun auch hektische Flecken in sämtlichen Rottönen wucherten.

„Herr Gottlieb: Ich muss mich auch für Frau Leuberg entschuldigen“, ergänzte Porter seinen Entschuldigungsreigen. Schweiß stand ihm auf der Stirn.

„Herr Porter, das ist schon in Ordnung! Sie brauchen sich überhaupt nicht für Ihre Mitarbeiter entschuldigen! Weder für Herrn Gutmann noch für Frau Leuberg. Immerhin ist der Grund unseres Meetings, dass ich Sie, Ihre Kollegen und Sie alle mich kennenlernen. Sie selbst, Herr Direktor Porter, haben am Beginn dieser Besprechung dazu aufgefordert, dass mir die Mitarbeiter mit Informationen zur Hand gehen sollen. Ich bin froh, wenn offen gesprochen wird. Nur so kann ich mir ein objektives Bild machen!“

Porter wollte etwas erwidern, ließ es aber bleiben. Er setzte sich stattdessen, wischte sich mit einem Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn und blickte weiterhin mit autoritärem Blick zur Betriebsrats-Obfrau.

Diese stutzte. Der warnende Blick des Vorstandsvorsitzenden verfehlte seine Wirkung nicht. Verunsichert sah sie zu Boden und schien nachzudenken, ob es tatsächlich klug wäre, Porters Willen öffentlich zu ignorieren. Der Mut schien sie zu verlassen. Sie seufzte, zuckte mit den Schultern und resignierte.

„Eigentlich habe ich bereits alles gesagt.“

Dem Mitarbeiterstab wird offenbar regelmäßig das Recht auf freie Meinungsäußerung abgesprochen. Das war das erste, aufschlussreiche Resümee, das Christian Gottlieb bereits in der ersten viertel Stunde ziehen konnte.

„Bitte, Frau Leuberg, sprechen Sie weiter!“, ermunterte Gottlieb daher die Betriebsrätin, fortzufahren. „Ich glaube, Sie wollten noch etwas sagen.“ Doch offenbar war es den Mitarbeitern nicht erlaubt, nach einer Zurechtweisung ihres Chefs weiterzusprechen. Leuberg zögerte weiterhin. Sie blickte zu Porter, der ihre Augen zu durchlöchern versuchte.

Also trat Gottlieb zu ihr und legte seine Hand auf ihren Arm. Er stellte sich so vor Elisabeth, dass sie nicht mehr zu Porter sehen konnte. Als sie in Gottliebs Augen sah, wurden ihre Züge plötzlich viel weicher. Ihre Haltung veränderte sich merkbar, die Schultern senkten sich, ihr Rücken wurde aufrechter und ihre Lippen umspielte ein erfassendes Lächeln.

„Bitte, sprechen Sie weiter, es interessiert mich wirklich!“, forderte sie Gottlieb auf, fortzusetzen.

„Okay! Ich wollte nur noch sagen, dass es so doch nicht funktionieren kann! Im Vorjahr erlitten zwei Kollegen aus der Schadenabteilung am Arbeitsplatz einen Herzinfarkt. Eine Kundendienstmitarbeiterin, ein Abteilungsleiter und eine Telefonistin schlitterten allein im letzten Jahr in ein Burnout und sind seit Monaten krank. Unsere Mitarbeiter werden bewusst und ohne Skrupel an die Grenze ihrer Belastbarkeit getrieben!“ Als Porter sie nicht wieder zurückblies, kam sie so richtig in Fahrt.

„Und zum Drüberstreuen kommt alle paar Jahre ein Wirtschaftsprüfer daher, der an irgendeiner Uni theoretisches Wissen erlangt hat und nach einigen Wochen zu dem Endergebnis kommt, dass man am besten spart, indem man noch ein paar Mitarbeiter auf die Straße setzt. Am effektivsten natürlich die Alten und Teuren; die also, die das Wissen und die Erfahrung mitnehmen. Und die unerfahreneren Kollegen, die nach so einer Säuberungsaktion übrigbleiben, die nicht einmal mehr Wissensträger fragen können, werden weiterhin fertiggemacht. Machen sie verständliche Fehler, werden sie auch noch von ihren Vorgesetzten niederbetoniert. Das geht so weit, bis sie krank werden, am Arbeitsplatz das Zeitliche segnen, oder bis der nächste Wirtschaftsprüfer kommt und diese ausgesaugten Kreaturen aussortiert ...“

„Komm, Elisabeth, sei bitte jetzt nicht zu emotional! Wir sollten sachlich über dieses Thema sprechen und Herrn Gottlieb nicht angreifen. Er macht doch nur seine Arbeit.“ Gutmann tätschelte Elisabeths Hand und sie wurde ruhiger.

„Entschuldigen Sie, Herr Gottlieb. Ich wollte keinesfalls persönlich werden und Sie schon gar nicht vorverurteilen“, wurde ihr Ton etwas sanfter. „Aber, wenn ich als Betriebsrätin etwas von Wirtschaftsprüfung höre ... und ... so wie in diesem Fall sogar ohne Ankündigung ...“, dabei funkelte sie zornig in Porters Richtung, „... dann geht mein Temperament mit mir durch. Sie wissen ja nicht, wie viel Leid ich in den letzten Jahren gesehen habe!“

„Papperlapapp!“, schob plötzlich eine Blondine einen Zwischenruf in den Raum. Elisabeth funkelte wütend zur zarten, grell geschminkten Lena Kessler, die neben Peter Gutmann saß. Sie hatte aufreizend ihre schlanken Beine übereinandergeschlagen und die ganze Zeit wie gelangweilt an ihren dreifärbig manikürten Nägeln herumgezupft.

Gutmann tätschelte intensiver die Hand der Betriebsrätin und gab gleichzeitig Lena ein Zeichen, sich zu mäßigen. Wahrscheinlich saß er aus gutem Grund zwischen den beiden Damen. Elisabeth schüttelte den Kopf und setzte sich seufzend.

„Mein Name ist Lena Kessler. Ich bin Büroleiterin in der Personalabteilung und, entschuldigen Sie meine aufrichtigen Worte: Ich kann dieses Gesülze einfach nicht mehr hören. Wenn jemand für seinen Job nicht geeignet ist, kann er doch etwas anderes machen. Auch dieses ausgelutschte Wort ‘Burnout’! Pah! Das kann ich schon gar nicht mehr hören. Jeder, der ein bisschen überfordert ist, lässt sich gleich für einige Monate krankschreiben. Da ist es doch kein Wunder, dass nichts weitergeht. Aus meiner Sicht braucht es Männer wie Sie, Herr Gottlieb, die in dieses Unternehmen Zucht und Ordnung bringen. Ich stehe Ihnen jedenfalls jederzeit mit Rat und Tat und für jede Auskunft gerne zur Verfügung.“

Lena reichte Gottlieb mit einem aufreizenden Blick ihre schmale Hand zur Begrüßung. Elisabeth atmete indes schwer.

„Wie sie sich jedem Mann mit Rat und Tat zur Verfügung stellt, kann ich mir schon denken“, entfuhr es Elisabeth böse.

„Nicht, Elisabeth, versündige dich nicht! Ich weiß, du bist jetzt aufgebracht. Aber lasse dich nicht von Vorurteilen leiten! Manchmal täuscht der äußere Eindruck“, tadelte Marie ihre Kollegin.

„Hast du nicht gehört, was die für einen Schwachsinn von sich gibt?“, rebellierte Elisabeth.

„Sie ist noch so jung und unerfahren und weiß wohl gar nicht, was sie da gesagt hat.“

„Glaube mir, die ist überhaupt nicht unerfahren. Die ist mit allen Wässerchen gewaschen.“

„Sehr erfreut, Frau Kessler“, begrüßte Gottlieb währenddessen die junge Kollegin.

„Darf ich Ihnen nun auch noch die anderen Herrschaften vorstellen?“ Porter versuchte das Regiment wieder an sich zu ziehen, bevor sich Kessler noch weiter in den Vordergrund schieben konnte, Leuberg ganz den Verstand verlor oder Marie sowie Gutmann die Arme von Leuberg bis auf die Knochen abstreichelten.

„Der Herr zu meiner Rechten ist unser Personalchef, Vorstandsmitglied und Firmengründer, Diplomkaufmann Gabriel Seeliger.“ Der rundliche, gemütlich wirkende Herr mit schütterem Haar nickte schwach, behielt aber seinen Platz.

„Es freut mich, Sie kennenzulernen, wiewohl das Vergnügen für mich von kurzer Dauer sein wird. Ich stehe kurz vor meinem Urlaub und dem darauffolgenden Ruhestand. Für mich ist dies meine letzte Sitzung.“

Seeliger war ein gütiger und gerechter Personalchef gewesen. In den vergangenen Monaten schien er jedoch merkbar gealtert zu sein. Seine einst so dynamischen Schritte waren einem schleppenden Gang gewichen und seine Gesichtsfarbe nahm an manchen Tagen eine ungesunde Graufärbung an.

Alter? Stress? Krankheit? Die Gerüchteküche brodelte. Obwohl jeder Mitarbeiter im Unternehmen seinen Abgang bedauerte, gönnte ihm trotzdem auch jeder seinen Ruhestand.

„Wir sind gerade auf der Suche nach einem Nachfolger und haben bereits einige aussichtsreiche Kandidaten an der Hand“, erläuterte Porter.

„Ach so?“ Lena schob interessiert eine Augenbraue hoch.

„Darf man wissen, wer im Gespräch ist?“

„Nein, darf man nicht“, antwortete Porter entnervt, ohne sie auch nur anzusehen.

„Ich fahre nun fort in meiner Vorstellung.“ Dermaßen ignoriert verzog Lena ihr Gesicht, als hätte sie in eine unreife Zitrone gebissen. Aus dem Augenwinkel sah Marie, dass Peter Lenas Hand tätschelte. Allerdings etwas zärtlicher als zuvor die der Betriebsrätin.

„Also, hier zu meiner Linken finden Sie unseren Vorstandsdirektor fürs Rechnungswesen, Herrn Diplomingenieur Kurt Lugner.“

Der Angesprochene nickte kurz, als sein Name genannt wurde. Mit glasigen Augen stierte er vor sich hin und wirkte leicht entrückt. Seine Hände zitterten deutlich. Offenbar dauerte die Besprechung bereits länger als es seinem Alkoholspiegel förderlich war. An seiner Seite saß eine ältere Dame, die jede seiner Bewegungen zu kontrollieren schien. Die beiden waren offenbar ein Team und deshalb stellte Porter auch die Dame vor.

„Neben Herrn Diplomkaufmann Lugner sitzt Fräulein Winter, die als Büroleiterin und Assistentin tätig ist. Sie ist die gute Seele im Rechnungswesen.“ Das grauhaarige Fräulein mit unzähligen Falten erhob sich und nickte in alle Richtungen.

„Zu meiner Rechten stelle ich Ihnen Herrn Vorstandsdirektor Doktor Wolfgang Braun vor. In seine fachlichen Kompetenzen fallen die Personenversicherungen.“ Braun, ein hagerer Mann in den Fünfzigern erhob sich zackig. Seine beim Militär verbrachten Jugendjahre konnte er nicht verleugnen.

„Last, but not least, Frau Magistra Gerta Benesch. Sie ist unser fünftes Vorstandsmitglied und für den Bereich der Sachversicherungen zuständig.“ Die dürre Mittvierzigerin mit brünettem Pagenkopf erhob sich und lächelte in die Runde, wobei das Lächeln ihre eiskalten Augen nicht erreichte.

„Herr Vorstandsdirektor Diplomkaufmann Gabriel Seeliger, Herr Vorstandsdirektor Diplomkaufmann Lugner, Herr Vorstandsdirektor Magister Doktor Braun und Frau Vorstandsdirektorin Magistra Benesch: Ich fühle mich geehrt, in Ihrer Runde als Vorstandsvorsitzender tätig sein zu dürfen!“

Also ist Porter noch nicht lange der Vorstandsvorsitzende, entnahm Gottlieb dieser Bemerkung. Außerdem liebt er offenbar Titel über alles. Bewundernswert, wie ausführlich Porter all die sperrigen Titel deklamiert, lächelte Gottlieb milde.

„Nun, Herr Gottlieb, nachdem ich Ihnen den Vorstand vorgestellt habe, mache ich Sie auch noch mit den hier anwesenden Abteilungsleitern bekannt: Herrn Doktor Manfred Grabner, den Leiter der Rechtsabteilung, der seine Sekretärin Susi Schmid mitgebracht hat, Frau Silvia Schneider, die Leiterin des Telefonkundendienstes, Herr Max Kent, den Leiter der Betriebsorganisation, sowie die Leiterin der Betriebsküche, Frau Treissing und den Leiter der Buchhaltung, Herrn Magister Thomas Kaufmann.“ Jeder der Angesprochenen nickte kurz.

„Doktor Peter Gutmann, den Leiter der Schadenabteilung und Elisabeth Leuberg vom Betriebsrat, kennen Sie ja bereits.“ Als Porter daraufhin seine Vorstellungsrunde beenden wollte, stand Lena Kessler auf.

„Mich haben Sie vergessen!“

„Ich habe die Vorstandsdirektoren und Abteilungsleiter vorgestellt. Sie sind Büroleiterin der Personalabteilung und haben sich zudem bereits selbst vorgestellt.“

Lena wirkte wie eine Handgranate kurz vor dem Detonieren. Ihre Augen traten aus den Höhlen und ihre dunkelrot bemalten Lippen verzogen sich zu einer Fratze. Gutmann kam mit dem Tätscheln nicht mehr nach. Porter besaß jedoch die Gabe, emotionale Unzufriedenheiten nicht zu bemerken und fuhr unbeeindruckt fort.

„Nachdem die Vorstellung beendet ist und bevor wir nun zum fachlichen Teil der Besprechung kommen, möchte ich kurz darauf hinweisen, dass ich leider nur eine Stunde Zeit habe, da ich morgen zu einer wichtigen Sitzung verreisen und dafür noch einige Vorbereitungen treffen muss. Ich würde daher vorschlagen, dass wir mit den vorrangigen personellen Themen beginnen. Die fachlichen Inhalte können dann die Abteilungsleiter mit Herrn Gottlieb in Einzel-Sitzungen verhandeln.“ Gottlieb nickte und Porter setzte seine Rede fort.

„Ach, noch etwas, Herr Gottlieb: Wenn Sie die Dienste von Frau Haller benötigen, kommen Sie bitte noch heute auf sie zu, denn morgen ist meine Assistentin nicht hier.“ Marie blickte irritiert aus ihren Aufzeichnungen hoch.

„Ich verstehe nicht“, stammelte sie, weil sie zwar Urlaub bräuchte, jedoch keinen beantragt hatte. Oder konnte Porter Gedanken lesen? Wollte er sich bei Marie mit einem freien Tag für ihre Mühen bedanken? Natürlich! Warum sonst sollte er behaupten, sie sei morgen nicht da? Wie nett! Voll Vorfreude strahlte sie ihren Chef an und dachte an das Abendessen mit Raffi. Wenn sie morgen ausschlafen konnte, würde sie den Abend in vollen Zügen genießen.

„Ich brauche Sie morgen auf meiner Dienstreise. Wie Sie wissen, hat der Verein der Handschuhmacher für Fingerlose eine zweitägige Tagung in Rust am Neusiedlersee anberaumt. Ich konnte Ihnen heute Morgen noch nicht kundtun, dass ich Sie als persönliche Assistentin für die Protokolle benötige. Die Sekretärin des Vereinsvorsitzenden wurde nämlich von einem Mähdrescher überfahren und ich habe angeboten, eine meiner Assistentinnen mitzunehmen. Für meine Prager Sekretärin ist die Anreise zu weit, doch aus Wien fährt man zwischen einer, höchstens zwei Stunden. Daher hat meine Prager Assistentin in meinem Auftrag bereits ein Hotelzimmer für Sie gebucht. Die erste Sitzung beginnt um neun Uhr am Vormittag. Bitte erscheinen Sie pünktlich und bedenken Sie, dass am Morgen viel Verkehr ist, Sie also mit Stau rechnen müssen!“

„Aber ...“, stotterte Marie.

„Was aber?“

„Aber ...“

„Was ist mit ‘Aber’?“

Nein, aber sicher nicht! Was glauben Sie denn, wer Sie sind? Das waren ihre Gedanken.

„Nichts ... es ist nichts!“ Das waren ihre Worte.

Wie feige!

Der Zorn über die geringschätzende, demütigende, einfach menschenverachtende Behandlung ihres Vorgesetzten erzeugte einen Brand in ihrem Innersten. Die Knechtschaft der vergangenen Monate hatte ihre letzten Ressourcen aufgebracht und ihr Nervenkostüm war filigran geworden, wie die Flügel einer Schmeißfliege.

Dünnhäutig und ausgelaugt, brach durch die Worte ihres Sklaventreibers in ihrem Inneren etwas auf. Heftig und unbeherrschbar, trotz der strengen Marie, die sich in ihrem Geiste schon wieder wichtigmachen wollte. Marie schnappte nach Luft, spürte, wie ihr Tränen der grenzenlosen Wut hochstiegen und gewaltiger Zorn von ihrer Seele Besitz ergriff. Sie fixierte die Schere, die auf dem Tisch lag und in ihrem Inneren tobte dieser zerstörende Orkan, der eine Schneise der Verwüstung ziehen wollte. Der Krug ging so lange zum Brunnen, bis er brach. In Maries Innerem zerbarsten soeben einige Krüge, denn in ihrer Fantasie wurde Marie nun zu Grace Kelly in ‘Bei Anruf Mord’ und sie stach so viele Löcher in ihren Chef, dass er als Nudelsieb Verwendung gefunden hätte.

Zack, zack.

Immer wieder.

Als in Marie diese ungeahnte Mordlust hochgestiegen war, bemerkte sie, wie Gottliebs Blick auf ihr ruhte. Wie lange sah er sie schon an? Schuldbewusst zuckte sie zusammen, fühlte sich ertappt. Wenn er wüsste, wie viele Liter Blut sie in ihren Gedanken soeben verspritzt hatte! Er nickte unmerklich, als wüsste er es. Nein! Das war nicht möglich. Der junge Mann konnte doch nicht Gedanken lesen!

Gottlieb schüttelte jedoch sacht den Kopf und Marie starrte ihn wie gebannt an. Er lächelte ihr verheißungsvoll zu. Da passierte etwas in Marie, das sie sich nicht erklären konnte: Sie wurde ruhig. Einfach so.

Obwohl sie soeben von Porter vor allen Anwesenden wie ein hirnloser Befehlsempfänger herumkommandiert worden war, er ihr nicht nur den Abend, sondern auch gleich die nächsten beiden Tage versaut hatte und sie fast zur Amokläuferin geworden wäre! Viel hätte nämlich fürwahr nicht gefehlt und sie wäre bewaffnet auf Porter losgestürmt. Logisches Denken, gute Erziehung und sogar ihre angeborene Sanftmut - alles war soeben tatsächlich kurzfristig total ausgeblendet gewesen.

Doch ein Blick aus den Augen dieses jungen Mannes genügte und sie fühlte sich wie weichgespült. Was war das? Dieses Gefühl, das sie durchströmte, wenn er sie ansah, hatte eine unheimlich tiefe Kraft. Einzig durch seinen Blick ging eine Welle durch ihren Körper, der jeden Zorn und alles Böse aus ihrem Körper schwemmte. Ihre Fäuste lösten sich von selbst und was blieb, war ein Gefühl der Friedfertigkeit, die ihren Körper und ihre Seele nun durchflutete.

Warum hatte dieser junge Mann so eine unheimliche, fast übersinnliche Macht über sie? Wie machte er das? Was war mit diesem Mann los?

Marie kam jedoch nicht mehr dazu, ihre Gedanken zu ordnen, denn plötzlich machte sich Unruhe im Raum breit. Der Aufruhr ging von der schlecht gelaunten Lena aus.

„Ich brauche noch Kaffee!“, fauchte sie Marie zu. Jetzt erst erkannte Marie, dass im Raum eine sonderbare Ruhe entstanden war. Die meisten Anwesenden starrten Gottlieb an und Marie fragte sich, ob die anderen das Gleiche spürten wie sie. Die meisten wohl: Ja! Aber nicht alle. Lena schien gegen das, was Gottlieb verströmte, resistent zu sein.

„Schon gut, ich bringe frischen Kaffee“, erhob sich Marie. Sie konnte es sowieso nicht erwarten, aus diesem Raum zu kommen. Wenn das Kaffeepulver durch den Filter rinnt, muss ich Raffael anrufen, plante sie ihre nächsten Schritte, während sie die gläserne Kaffeekanne schnappte, aufstand und sich auf den Weg machte. Das geplante Abendessen mit Raffael musste sie nämlich zeitgerecht, also sofort, absagen.

Als Marie gerade an Lenas Stuhl vorbeiging, rückte diese ruckartig ihren Sessel so unerwartet und heftig nach hinten, dass Marie mit ihrem Fuß am Stuhlbein hängen blieb. Marie wirbelte um die eigene Achse und wankte. Verzweifelt versuchte sie das Gleichgewicht zu halten, doch der heftige Schmerz, der ihr plötzlich vom Fuß bis in die Hüfte hochjagte, brachte sie zu Sturz. Die Glaskanne in ihrer Hand verhinderte, dass sie sich abstützen konnte und Marie schlug wie ein Bauklotz mit dem Gesicht voraus auf den Boden. Die Kaffeekanne zerbrach in tausend Scherben und Marie blieb benommen liegen.

„Haben Sie das absichtlich gemacht?“, schrie Elisabeth Lena an. Währenddessen lief sie zu Marie und versuchte ihr zu helfen, auf die Beine zu kommen.

„Komm, stütz dich auf mich!“ Sie wollte ihr die Hand reichen, doch Marie blieb regungslos liegen.

„Marie, komm! Hörst du mich? Um Gottes Willen, bitte sag doch etwas!“ Offenbar konnte Marie nicht antworten. Stattdessen drehte sie leicht den Kopf zur Seite und öffnete den Mund. Doch über ihre Lippen kam keine Silbe. Panisch riss Marie die Augen auf und konnte offensichtlich nicht atmen.

„Entschuldigung ...“, stotterte Lena, „... das habe ich wirklich nicht absichtlich gemacht. Ehrlich nicht.“

„Das können Sie sagen, wem Sie wollen! Ich glaube es Ihnen jedenfalls nicht. Was hatten Sie denn eigentlich für einen Grund, so rasch aufzustehen?“

„Ich musste auf die Toilette“, rechtfertigte sich Lena. „Bitte, Frau Haller, glauben Sie mir!“

„Merken Sie nicht, dass sie keine Luft bekommt? Mann oh Mann, Sie bekommen doch tatsächlich überhaupt nichts auf die Platte. Frau Haller ist voll auf ihren Brustkorb geknallt. Wahrscheinlich ist ihre Lunge zusammengefallen. Schenken Sie sich Ihre falschen Entschuldigungen!“ Dann zu Marie gewandt: „Marie, komm, versuche Luft zu holen!“

Elisabeth fasste Marie leicht an der Schulter und Marie machte einen ersten tiefen Atemzug. Ihr schmerzverzerrtes Gesicht offenbarte, wie schwer ihr das Atmen fiel. Sie hielt sich mit der Hand das Zwerchfell und keuchte beängstigend. Elisabeth strich ihr über den Rücken, als wolle sie damit das Atmen unterstützen. Scheinbar erfolgreich. Bald setzte Maries Atmung wieder normal ein.

Inzwischen waren auch Gutmann und Kaufmann zu Marie gelaufen und versuchten ihr aufzuhelfen. Marie wollte sich an den bereitgestellten kräftigen Händen ihrer Kollegen hochziehen, doch als sie das rechte Bein auf den Boden stellte, sank sie mit einem Schmerzschrei wieder auf den Boden zurück.

„Mein Bein! Ich kann mein Bein nicht belasten!“, rief sie panisch. Gutmann tastete ihren Knöchel ab und schüttelte den Kopf.

„Das sieht nicht gut aus und schwillt auch ziemlich stark an. Ich glaube, Sie haben eine Bänderverletzung.“

„Was soll das heißen? Ich brauche Frau Haller! Sie soll gefälligst aufstehen, helfen Sie ihr halt, wenn sie es nicht allein schafft!“, meldete sich nun Porter zu Wort.

„Ich bin zwar kein Arzt, aber ich glaube, Frau Haller ist ernsthaft verletzt“, erklärte nun auch Kaufmann und sah Porter dabei verständnislos an.

„Aber, das darf doch nicht wahr sein!“, rief Porter und enthüllte ein Einfühlungsvermögen, das jeden Depressiven zum raschen Springen aus dem zehnten Stock getrieben hätte. 30 Augen starrten ihn fassungslos an.

„Ich meine, Frau Haller, Sie sind doch eine gesunde, kräftige Frau, so etwas kann Sie doch nicht ernsthaft umwerfen!“, wollte er seine Hartherzigkeit etwas kaschieren, um gleich danach so richtig ins Fettnäpfchen zu springen.

„Also, stehen Sie jetzt bitte auf und bringen Sie uns den Kaffee! Ich habe nicht endlos Zeit!“ Da wandte sich Gottlieb an den Vorstandsvorsitzenden.

„Herr Porter: Der Mensch wünscht sich Güte. Lassen Sie diese Güte Frau Haller zuteilwerden in ihrer Not!“

„Was für eine Not? Nur, weil sie zu tollpatschig ist, um eine Kaffeekanne aus dem Zimmer zu tragen?“

„Wie können Sie nur so kaltherzig sein?“, echauffierte sich Elisabeth.

„Frau Leuberg, in diesem Ton sollten Sie nicht mit unserem Vorstandsvorsitzenden reden!“, gab Lena ihren Senf dazu.

„Sie sollten überhaupt ihren dummen Schnabel halten! Wenn Sie ihr nicht absichtlich den Sessel in den Weg geschoben hätten, dann ...“

„Bitte, Elisabeth, lasse sie in Ruhe! Sie hat es sicherlich nicht absichtlich gemacht. Dafür hätte sie doch keinen Grund“, stöhnte Marie, die noch immer am Boden saß und vor Schmerzen Tränen in den Augen hatte.

„Ja, nimm sie nur schon wieder in Schutz! Ich weiß ehrlich nicht, warum du dich jedes Mal so schützend vor diese Person stellst. Aber, egal. Wir müssen etwas unternehmen. Ich rufe einen Krankenwagen.“ Sie schritt zum Telefon und begann medizinische Hilfe zu organisieren.

„Aber das geht doch nicht!“, stöhnte Porter auf. „Ich brauche Frau Haller morgen in Rust!“

„Herr Porter, machen Sie sich keine Sorgen! Ich werde Sie begleiten“, bot Lena an und wartete offenbar auf heftiges Freudengeschrei.

„Wie bitte?“, zog Porter seine Braue hoch, „können Sie überhaupt stenografieren?“

Ich habe ein Smartphone mit Aufnahme-App. Wozu brauche ich da stenografieren können?, dachte Lena und war überrascht, wie wenig Gegenliebe ihr so selbstloser Vorschlag hervorrief.

„Ich kann alles, was Sie wollen!“, zirpte sie, ohne ihre letzten Gedanken preiszugeben und schlug ihre Beine so übereinander, dass ihr Rock etwas höher rutschte.

„Nun denn, dann soll es so sein!“, gab sich Porter missmutig geschlagen, „aber seien Sie nur ja pünktlich!“

„Aber selbstverständlich“, nickte Lena. Das Gesicht von Gutmann wurde während dieses Gespräches immer länger und Maries Schmerzen immer heftiger. Ihr Knöchel war während der letzten Minuten aufgegangen wie ein warmgestellter Hefeteig. Verzweifelt hockte sie am Boden und wartete auf den Krankenwagen.

Henne oder Ei Juli 2015

Was für ein Abgang! Als die Sanitäter Marie auf die Trage hoben, fühlte sie sich so richtig armselig. Ihr Knöchel sah aus wie eine riesige Wurst und vom Fuß aus breitete sich der pochende Schmerz durch ihren ganzen Körper. Alles war so schnell gegangen. Ein Sesselbein am falschen Platz und schon war alles von einem Moment zum nächsten ganz anders.

Nichts war mehr wichtig. Die Dienstreise nicht. Karl Porter nicht. Er hatte sich nicht einmal von ihr verabschiedet. Das schmerzte. Fast so sehr wie das verletzte Bein. Mit mürrischem Blick hatte er während ihres Abtransportes am Tischende gestanden und sauertöpfisch realisiert, dass der Glanz seiner Präsentation durch den Unfall eine unwillkommene Trübung erlangt hatte. Wie konnte sie ihm nur seinen Auftritt so sehr vermiesen?

Peter Gutmann und Thomas Kaufmann waren hingegen so hilfsbereit gewesen. Gutmann hatte ihr Bein hochgelagert, während Kaufmann aus der Küche Eiswürfel geholt, sie in ein Tuch gewickelt und versucht hatte, durch Kälte die enorme Schwellung zu mindern. Zwei tolle Kerle, war Marie gerührt. Bevor sie auf der Bahre aus dem Sitzungssaal getragen wurde, war Gottlieb an ihre Seite getreten und hatte seine Hand auf ihre gelegt. Prompt war der Schmerz erträglicher geworden. Vielleicht war sie aber nur von seinen Worten abgelenkt gewesen.

„Wenn sich irgendwo ein Fenster schließt, öffnet sich woanders eine Tür. Es wird alles gut werden!“ Sein Blick war der letzte, der sie verfolgte, als sie liegend abtransportiert worden war.

Elisabeth begleitete Marie ins Krankenhaus. Sie hatte Maries Handtasche und ihren Mantel aus dem Sekretariat geholt und während der Autofahrt reichte sie ihr das Handy, damit sie Raffael anrufen und informieren konnte.

„Vielleicht bin ich am Abend schon wieder daheim“, verabschiedete sich Marie hoffnungsvoll von ihrem Mann.

Nachdem sie Röntgen und MRT hinter sich gebracht hatte, wurde sie in das Sprechzimmer des diensthabenden Arztes gebracht. Der graumelierte Mittfünfziger sah über seine schmale Lesebrille, als sie auf einem fahrbaren Bett zu ihm gerollt wurde. Er vertiefte sich in die Untersuchungsergebnisse, seufzte tief und Marie hoffte, dass er lediglich eine schlechte Nacht gehabt hatte und nicht wegen ihres Röntgenbildes so schwer atmete.

„Tja, da hat es Sie aber ordentlich erwischt. Wie ist Ihnen denn das passiert?“

„Ich bin an einem Sesselbein hängengeblieben. Leider war ich sehr rasch unterwegs, daher hat es mir das Bein verdreht und dann bin ich auch noch voll auf den Bauch gekracht.“

„Haben Sie sich denn nicht abgestützt?“, fragte er, weil das wohl jeder so gemacht hätte. Wahrscheinlich überlegte er, warum sie sich nicht verhalten hatte wie jeder ‘normale’ Mensch.

Hirnaussetzer? Schlaganfall? Marie konnte seine Gedanken förmlich fühlen.

„Ich hatte eine Kaffeekanne in der Hand. Daher konnte ich mich nicht abstützen.“

„Dann ist vieles klar. Das erklärt auch den Bluterguss auf Ihrem Kinn. Sie sehen aus, als wären Sie verprügelt worden. Bitte öffnen Sie den Mund, damit ich prüfen kann, ob mit Ihrem Kiefer alles in Ordnung ist!“ Er tastete ihr Kinn ab und sie musste den Mund dabei öffnen und schließen. Danach befühlte er ihre Nase, drückte das Riechorgan in beide Richtungen und fragte, ob sie dabei Schmerzen hätte.

„Wenn Sie so heftig herumdrücken, tut es schon weh. Zuvor habe ich eigentlich nichts gespürt.“

„Das ist wahrscheinlich der Schock und auch die Tatsache, dass Ihr Bein noch viel mehr abgekriegt hat. Da tritt der kleinere Schmerz galant in den Hintergrund, um dem größeren seine volle Wirksamkeit zu ermöglichen. Aber im Gesicht haben Sie keine ernsthaften Verletzungen. Die blauen Flecken durch die Prellung des Aufschlages vergehen wieder.“ Dass ein Schmerz galant sein konnte, war für Marie neu. Doch sie fand die Vorstellung erheiternd und musste plötzlich lachen.

„Entschuldigung“, war ihr diese unangebrachte Heiterkeit sogleich peinlich und sie fühlte sich bemüßigt, ihren Ausrutscher zu erklären. „Ich habe mir den galanten Schmerz nur soeben bildlich vorgestellt.“

„Ist schon in Ordnung. Humor ist doch bekanntlich die beste Medizin“, wies der Arzt ihre Entschuldigung zurück. Angenehm, wenn man für Fröhlichkeit keinen Rüffel bekommt, dachte sie erleichtert. Sie war es gar nicht mehr gewohnt, ungestraft scherzen zu dürfen. Die vergangenen Monate bei diesem spröden und absolut humorbefreiten Porter hatten sie vergessen lassen, dass es auf dieser Erde noch Menschen gab, die gerne lachten.

Als der Doktor mit der Untersuchung des Gesichtes fertig war, begab er sich zu ihrem Bein. Der Knöchel hatte trotz Eispackungen eine bemerkenswerte Expansion hingelegt. Porter hätte sich wohl genau diese Aktienzuwächse für die Unito-Versicherung gewünscht: Innerhalb von zwei Stunden ein Wachstum um das Doppelte. Leider war aber Maries, in den schönsten Farben schillernder Fuß kein Aktienkurs, sondern ihr Gehwerkzeug. Soeben sogar ein unnützes. Weshalb es wenig bis gar keinen Grund zur Freude gab. Obwohl der Arzt nur sacht ihren Fuß bewegen wollte, spürte sie einen Schmerz, als hätte er ihn aus seiner Verankerung gerissen. Sie konnte also nicht nur nicht mehr auftreten, der Fuß durfte nicht einmal ein klein wenig bewegt werden. Nun verstand sie den nachdenklichen Seufzer, als der Arzt ihren Röntgenbefund zuvor in seinen Händen gehalten hatte. Ihr wurde angst und bange.

„Sie haben einen Bänderriss im Sprunggelenk. Leider sind auch knöcherne Anteile betroffen, weshalb eine Operation nötig ist“, zertrampelte der Medikus ihre Hoffnung auf baldige Heimkehr in ihr gewohntes Zuhause.

„Ist das eine schwere Operation?“

„Nein, das ist ein kleiner Eingriff, bei dem die Bänder wieder zusammengenäht werden. Falls es nötig ist, werden sie durch körpereigene Beinhautlappen verstärkt. So soll das Gelenk wieder stabilisiert werden.“

„Und wann werde ich wieder arbeiten gehen können?“

„Vier bis sechs Wochen müssen Sie nach der Operation eine Schiene tragen. Um das Gelenk wieder beweglich zu machen, werden Sie zusätzlich eine physikalische Therapie, eventuell in einem Rehabilitationszentrum, machen müssen. Also mindestens zwei Monate fallen Sie sicherlich aus. Doch so genau können wir das jetzt noch gar nicht sagen. Das kommt auf viele Faktoren an.“ Marie wollte die Faktoren gar nicht so genau wissen.

„Wann werde ich operiert?“

„Sie haben Glück. Ich habe vorhin mit der zuständigen Abteilung gesprochen. Uns stehen ein Operationsteam und ein OP-Raum zur Verfügung und wir können Sie noch heute operieren. In der Nacht werden Sie viel schlafen und die Schmerzen werden sich in Grenzen halten. Wir verabreichen Ihnen Voltaren-Infusionen, die gemeinsam mit einem Magensäure-Hemmer in der Regel gut vertragen werden. Sie werden sehen, schon ab morgen geht es wieder bergauf.“ Ohne es aufhalten zu können, liefen Marie Tränen über die Wangen.

„Sie brauchen sich wirklich nicht zu fürchten“, beruhigte sie der Arzt.

„Es ist nicht allein wegen der Operation. Das auch, aber ich hatte gehofft, dass ich ein schmerzstillendes Medikament und einen Verband bekomme und morgen oder spätestens übermorgen wieder arbeiten gehen kann. Wissen Sie: Ich kann mir einen Ausfall am Arbeitsplatz wirklich nicht leisten.“

„Das kann sich doch niemand!“, lächelte der Doktor. „Für jeden kommt ein Unfall unerwartet und daher auch immer zu einem unpassenden Moment. Oder hatten Sie in Ihrem Leben schon einmal einen Augenblick, von dem Sie dachten: ‘Jetzt hätte ich Zeit für einen Unfall, also hopp‘?“

„Nein, natürlich nicht. Und so habe ich es auch nicht gemeint. Es ist nur so, dass ich vor wenigen Monaten einen neuen Chef bekommen habe und er ist extrem …“ Marie suchte nach dem passenden Wort: „… fordernd“, beendete sie den Satz. „Ich habe extreme Angst, was passiert, wenn ich lange ausfalle. Er braucht ...“

„Was ihr Vorgesetzter braucht, ist nun wirklich zweitrangig!“, unterbrach sie der Arzt. „Sie brauchen eine Operation und funktionierende Beine, weil Sie ohne gar nicht seine Forderungen erfüllen können.“ In Marie drehte sich plötzlich alles und sie wusste gleichzeitig, dass der Doktor ihre Situation gar nicht verstehen konnte. Sie wurde so plötzlich von einer vernichtenden Ausweglosigkeit erfasst, dass sie die Beherrschung verlor und wie ein kleines Kind in Tränen ausbrach.

Der Arzt öffnete seinen Medikamentenschrank, entnahm ihm eine Spritze und ein Fläschchen. Dann stach er mit der Nadel durch den Gummipfropf und zog die Flüssigkeit auf.

„Jetzt legen Sie sich bitte nach hinten und lassen Sie ganz locker!“ Von seinem ruhigen Tonfall geleitet, ließ sich Marie auf das Kissen sinken und beobachtete, wie der Arzt in den Arm stach und den Inhalt der Spritze in ihren Körper injizierte.

„Ich habe Ihnen eine Beruhigungsspritze gegeben“, erklärte er, als er abschließend ein Pflaster auf die Einstichstelle klebte.

„Gleich wird es Ihnen besser gehen!“, beruhigte er sie. „Hatten Sie in letzter Zeit viel Stress?“, suchte er die Ursache ihres angeschlagenen Nervenzustandes. Wahrscheinlich führt sich nicht jeder Patient wegen einer Beinverletzung derart kindisch auf, schämte sie sich ob ihrer hochdramatischen Entgleisung. Wie peinlich. Ich beginne zu flennen, nur weil ich einige Wochen am Arbeitsplatz ausfalle. Sie nickte aber zustimmend mit dem Kopf.

„Das dachte ich mir.“ Beruhigend legte der Arzt seine Hand auf ihren Unterarm. „Schauen Sie, oft muss erst etwas passieren, damit etwas passiert! Sie haben jetzt keine Möglichkeit, an Ihrem derzeitigen Zustand etwas zu ändern. Sie benötigen einige Wochen, um wieder belastbar zu werden. Nicht nur körperlich, wie ich vermute. Oft geschehen Dinge, die einen zur Ruhe zwingen sogar zum richtigen Zeitpunkt. Man merkt es nur nicht genau in dem Moment, wo es passiert. Sie glauben zwar jetzt, es ginge die Welt für sie unter. Aber vielleicht ist dieser Unfall ein Schicksalsschlag, der Sie zur Ruhe zwingt, weil Sie diese Ruhe womöglich dringender benötigen, als Ihnen bewusst ist.“ Bei diesen Worten sah er auf Maries zitternde Hände und sie realisierte, dass sie wie ein Nervenbündel auf dem Bett saß. Seine Worte fuhren in ihr Innerstes.

Ähnliches hatte ihr vor wenigen Stunden auch Gottlieb auf den Weg gegeben: Wenn sich irgendwo ein Fenster schließt, öffnet sich woanders eine Tür. Marie hatte die Bedeutung seiner Worte ursprünglich gar nicht so wirklich verstanden. Sie dachte, er wollte ihr halt irgendetwas Tröstendes, wie ‘das wird schon wieder’ oder ‘was einen nicht umbringt, macht einen härter’ auf den Weg geben. Doch der Arzt hatte soeben Ähnliches zu ihr gesagt. Die Worte fraßen sich förmlich in jede Windung ihres Gehirns und sie spürte, wie sich eine angenehme Ruhe in ihr breitmachte. Aber vielleicht war das auch nur die Wirkung der Spritze.

„Danke!“, hauchte sie.

Nach dieser Erstversorgung wurde sie wieder auf ihrem fahrbaren Bett über endlose Gänge in ein Krankenzimmer geschoben. Elisabeth, die auf sie gewartet hatte, war sofort an ihrer Seite.

„Was hat der Arzt gesagt?“, bohrte sie ungeduldig, als sie Maries Handtasche im Nachtkästchen verstaute.

„Ich habe einen Bänderriss im Sprunggelenk und werde heute noch operiert. Wahrscheinlich falle ich für einige Wochen aus.“

„Das hat sich aber so richtig ausgezahlt“, murmelte Elisabeth. „Doch danach wirst du wieder gesund sein, oder?“

„Ja, das denke ich schon. Der Arzt hat die Operation als Routineeingriff beschrieben.“

„Das klingt beruhigend. Und letztlich ist doch nur wichtig, dass alles wieder gut wird. Ruhe dich einmal aus! Du hast mir in den letzten Wochen sowieso überhaupt nicht mehr gefallen. Dieser Porter hat dich so auf Trab gehalten, dass du jeden Tag fahriger geworden bist und deine Augenringe schon fast so tief wie Schützengräben geworden sind. Ich gebe in der Firma Bescheid und freue mich jetzt schon auf das Gesicht von Porter, wenn er erfährt, dass er nun einige Wochen niemanden zum Schikanieren hat.“

„Ich mache mir aber Sorgen. Er war ziemlich sauer auf mich!“

„Weil du gestürzt bist? Du konntest doch nichts dafür!“

„Das stimmt. Trotzdem!“

„Also, ganz ehrlich, da würde ich mir keine Gedanken machen. Wenn dein Chef auf dich sauer ist, weil du dich am Arbeitsplatz verletzt hast, dann ist mit ihm irgendetwas nicht in Ordnung. Eigentlich hätte er ganz anders reagieren müssen, so wie du dich in den vergangenen Wochen für ihn aufgeopfert hast. Der Kerl ist doch kalt wie eine Hundeschnauze.“

„Ja, schon, aber ...“

„Nichts aber“, bremste Elisabeth Marie ein, um sogleich das Thema zu wechseln. „Schuld daran ist nur diese Kessler. Die hat dich richtiggehend abgeschossen. Ich verstehe noch immer nicht, warum sie das getan hat.“

„Sie hat das doch nicht absichtlich getan.“

„Träume weiter, Marie! Glaube mir, das war Absicht. Ich wüsste nur zu gerne, warum.“

„Siehst du, das ist der Grund, warum ich sicher bin, dass du dich täuschst: Sie hätte doch gar kein Motiv! Sie hatte sogar ein schlechtes Gewissen und deshalb von sich aus angeboten, an meiner Stelle mit Porter nach Rust zu reisen.“ Elisabeth schien kurz nachzudenken, schüttelte aber dann den Kopf.

„Also, ich weiß wirklich nicht, was in diesem blonden Köpfchen vor sich geht. Doch eines ist für mich so klar wie Hühnerbrühe: In Mutter Teresas Fußstapfen will diese Kessler sicherlich nicht treten. Aber Moment mal: Jetzt kommt mir gerade eine Idee: Vielleicht wollte sie an deiner Stelle mit Porter auf diese Dienstreise und musste dich irgendwie ausschalten.“ Marie schüttelte energisch den Kopf, denn sie kannte Lena seit ihrem ersten Arbeitstag.

Irgendetwas an dieser jungen Frau berührte sie von Anfang an. Sie hatte ihr leidgetan, denn Lena hatte über Magenschmerzen geklagt, als sie Marie seinerzeit vorgestellt worden war. Den bereitgestellten Pfefferminztee nahm Lena damals so dankbar an. Womöglich war es daher Maries Beschützerinstinkt, den Lena in ihr wachrief und den die junge Frau auch sehr gut gebrauchen konnte, denn sie hatte tatsächlich kein gutes Händchen, wenn es darum ging, sich Freunde oder auch nur Wohlgesinnte zu schaffen.

Gerade bei Frauen gelang es ihr ohne große Anstrengung, innerhalb kurzer Zeit mehr Feinde zu sammeln als eine Biene an einem warmen Sommertag Honig herbeischaffen konnte. Einfach durch ihre Jugend und ihr hinreißendes Aussehen. Frauen haben es untereinander auch nicht immer ganz leicht, dachte Marie.

Jedenfalls war Marie eine der wenigen Frauen im Unternehmen, wenn nicht die Einzige, die nicht regelmäßig über Lena herfiel oder zumindest die Nase über sie rümpfte. Und, ja, bei all ihren Versuchen, die junge Frau in Schutz zu nehmen, musste Marie schon einräumen: So ganz unschuldig war Lena an den meisten Konflikten durchaus nicht. Sie tat tatsächlich, was sie tun konnte, um Aggressionen zu schüren. Diplomatie, Feingefühl oder Takt schienen ihr nicht in die Wiege gelegt worden zu sein. Vielleicht tat sie Marie deshalb einfach nur leid, weil sie einen guten Kern in ihr spürte, Lena es aber nicht schaffte, diesen guten Kern sichtbar werden zu lassen.

Bevor Lena von Elisabeth vorsätzliche Körperverletzung angedichtet wurde, musste sich Marie unbedingt für die junge Frau stark machen.

„Miss Marple“, scherzte sie. „Jetzt geht deine Fantasie aber mit dir durch! Eines wissen wir doch beide: Niemand will freiwillig mit Porter auf Dienstreise fahren. Ich meine: als persönliche Assistentin. Der braucht doch nur einen Lakaien. Frau Kessler ist aber, soviel ich weiß, ziemlich ehrgeizig und aufgrund dessen für niedere Dienste nicht zu begeistern. Sie macht das also sicherlich nur, weil ihr leidtut, was mit mir geschehen ist. Als Wiedergutmachung sozusagen. Da sind wir uns aber schon einig, oder?“

„Ja, schon, da hast du recht, trotzdem ...“

„Nichts trotzdem! Bitte versuche es einfach so zu sehen: Das war eine nette Geste von ihr.“

„Ich weiß wirklich nicht, warum du sie immer in Schutz nimmst. Noch dazu, wo du es ihr verdankst, dass du heute hier bist, Schmerzen hast und nicht gehen kannst. Da habe ich definitiv mehr Menschenkenntnis als du. Glaube mir: Irgendetwas führt die Kessler im Schilde. Das sagt mir mein linker, kleiner Zeh! Aber egal, ich will mich nicht aufregen und wegen diesem lackierten Hutschpferd womöglich sogar noch einen Herzinfarkt bekommen. Zwei Opfer an einem Tag ist diese Ersatz-Marylin definitiv nicht wert.“

Obwohl Marie herablassende Worte verabscheute, brachte sie Elisabeth zum Lachen, als sie ihre Augen verdrehte, mit den Wimpern klimperte und dazu einen kessen Monroe-Hüftschwung imitierte.

Elisabeth sah auf die Uhr. „Du willst sicherlich deinen Raffael anrufen und ihm Bescheid geben. Immerhin weißt du nicht, wann sie dich für die Operation abholen. Oder soll ich das für dich erledigen? Wenn du zu erschöpft bist, bräuchtest du mir nur seine Nummer nennen.“

„Nein danke, ich mache das schon. Und, Elisabeth: Danke für alles.“ Marie verabschiedete sich mit einer herzlichen Umarmung und winkte Elisabeth nach, als sie durch die Tür verschwand. So eine gute Seele. Sehr direkt. Aber auch sehr treu.

Nachdem Elisabeth gegangen war, wurde für Marie die Ruhe des Zimmers fühlbar, denn sie lag allein in diesem hellen Krankenzimmer. Das zweite Bett neben ihr war leer und darüber war sie erleichtert. So vieles war an jenem Tag auf sie eingestürmt, dass sie noch gar nicht dazu gekommen war, ihre Gedanken zu ordnen.

Doch zuerst wollte sie Raffael anrufen. Sie langte nach dem Handy, das Elisabeth in Griffweite gelegt hatte und wählte seine Nummer. Er hob sofort ab.

„Hallo Raffi, mein Liebster! Bist du am Telefon gesessen?“, scherzte sie.

„Marie, schön, dass ich endlich deine Stimme höre. Ich bin so in Sorge. Geht es dir besser? Bist du schon daheim? Wie war es im Spital? Hast du einen Verband oder dergleichen bekommen? Soll ich dich von irgendwo abholen? Erzähle bitte!“

„Also: Ja, nein, ging so, ja, eine Beruhigungsspritze, nein, heute noch nicht.“

„Marie, bitte, lasse doch jetzt deine Scherze!“

„Entschuldige, aber ich wollte testen, ob ich deine Fragen in einem Satz beantworten kann. Gut, der Reihe nach und etwas konkreter. Ich hoffe, du sitzt gut. Ich habe einen Bänderriss im Sprunggelenk und werde heute noch operiert.“

Schweigen.

„Raffi? Bist du noch in der Leitung?“

„Ja. Ich bin nur ... das ist ja ...“, stotterte er herum. „Marie, was soll ich sagen? Ich hatte gehofft, dass du dir lediglich etwas gezerrt hast, einen Verband bekommst und das war es.“

„Das hatte ich auch gehofft. Nachdem ich aber überhaupt nicht auftreten kann, habe ich schon geahnt, dass es vielleicht etwas Schlimmeres ist. Dass ich aber gleich operiert werden muss, damit habe ich letztlich überhaupt nicht gerechnet. Dabei kann ich von Glück reden, dass sie mich sofort operieren können.“

„Hast du große Schmerzen?“

„Es geht, solange niemand meinen Fuß angreift. Bei der Untersuchung aber hätte ich den Arzt fast gelyncht, als er an den Knöchel nur angekommen ist.“

„Wie ist denn das überhaupt passiert?“, fragte Raffael, denn im Krankenwagen hatte Marie vor Schock kaum ein gerades Wort herausgebracht und ihn lediglich davon informiert, dass sie umgekippt war, auf dem Weg ins Krankenhaus sei und sie beide am Abend nicht gemeinsam essen gehen könnten.

Marie schilderte daher den Unfall. Abschließend bat sie Raffael, dass er ihr einige persönliche Dinge ins Krankenhaus bringen sollte. Er schrieb sich alles auf und wirkte bedrückt. Daher versuchte Marie ihren Mann etwas zu beruhigen.

„Raffi, soll ich dir was sagen? Fast bin ich froh, dass das so gekommen ist. Der Tag heute war so schrecklich. Porter hatte mich zu einer zweitägigen Dienstreise vergattert. Morgen schon sollte ich ihn nach Rust begleiten. Vor versammelter Mannschaft hat er mir das heute Vormittag gesagt, sodass ich nicht einmal widersprechen konnte. Die Arbeit, die auf meinem Tisch lag, hätte ich wohl in der Nacht erledigen müssen und selbst wenn ich durchgearbeitet hätte, wäre ich nicht fertig geworden. Ich wusste heute echt nicht mehr, wo mir der Kopf stand. Und nun liege ich da mit einem schillernden, geschwollenen Knöchel und fühle mich trotzdem erleichtert. So seltsam sich das vielleicht für dich anhört. Doch mir ist wirklich soeben klargeworden: Ich bin total erleichtert.“

„So seltsam sich das nun für dich anhört: Ich verstehe dich sehr gut“, kam die überraschende Antwort von Raffael.

„Ehrlich?“

„Ehrlich! Und am meisten freut mich, dass du es auch so siehst, denn in der letzten Zeit habe ich mir schon große Sorgen um dich gemacht. Ich habe gewusst, du brauchst eine Auszeit, doch gleichzeitig war mir klar, dass du sie dir niemals nehmen würdest.“

Nach diesem Telefonat schloss Marie die Augen und ließ die vergangenen Stunden Revue passieren. Mit ihrem Monolog, samt Behauptung, erleichtert zu sein, hatte Marie Raffael lediglich beruhigen wollen. Ihre Befindlichkeiten herabzuspielen, war bereits zu einer gewohnten Strategie geworden. Niemand der ihr nahestand, sollte leiden. Und Raffael hatte soeben wegen ihr gelitten. Das hatte sie so intensiv gespürt, dass es ihr ins Herz schnitt. Daher hatte sie versucht, ihm seine Bedrücktheit zu nehmen.

Doch als Marie das Gespräch beendet hatte, spürte sie plötzlich, dass sie diese beruhigenden Worte vielleicht nicht nur zu Raffael gesagt hatte. Diese Worte hatten sie selbst auch beruhigt. Sehr sogar! Henne oder Ei? Was war zuerst da? Waren die beruhigenden Worte aus ihrem Inneren gekommen und erst durch das Aussprechen für sie deutlich geworden?

Oder ließ das Aussprechen dieser ursprünglich nicht ernstgemeinten Worte die Beruhigung in ihr Innerstes fließen? Quasi eine von außen nach innen geführte Heil-Meditation.

Doch: War das nicht egal? Ob die Erleichterung nun von außen nach innen oder von innen nach außen geströmt war, tat eigentlich nichts zur Sache. Fakt war - und das war sonderbar, wenn nicht sogar besorgniserregend: Marie war erleichtert! Tatsächlich: Sie war erleichtert. Und wie! Wie weit hatte sie es gebracht, dass ihr ein verdrehter Fuß, der bei der kleinsten Bewegung schmerzte wie ein Höllenritt, Erleichterung bescherte?

Niemand wird gerne operiert, hat Schmerzen, ist im Spital! Wieso bin ich dann darüber erleichtert? Weil die Zeit zuvor noch schlimmer war? Noch schlimmer als das hier? Ja, wurde ihr klar, es war tatsächlich noch schlimmer als das hier! Und egal, ob sie sich mit diesem Selbstgespräch den Krankenhausaufenthalt lediglich schönreden wollte, sie kuschelte sich mit einem wohligen Seufzer in das angenehm warme Kissen und genoss die ungewohnte Ruhe. Damit sie nicht zu sehr genießen konnte, schickte ihr Fuß regelmäßige, hämmernde Klopfzeichen in ihr Bewusstsein. Vorsichtig schob sie die Bettdecke zur Seite und legte ihren verletzten Fuß frei, denn die federleichte Bettdecke fühlte sich auf dem ramponierten Bein wie eine Betonpresse an. Als die ‘Last’ des Federbettes ihr Bein nicht mehr peinigte, wurde der Schmerz etwas erträglicher. Dafür musste sie den Fuß nun sehen. Was auch kein schöner Anblick war. Also schloss sie die Augen, um ihr Bein nicht mehr sehen zu müssen.

Sie vernahm die Geräusche trappelnder Schritte am Gang. Ab und zu kam eine Krankenschwester und eine junge Ärztin legte ihr eine Venenkanüle. Marie wurde immer ruhiger und gefasster. Die willkommene Ruhe in diesem Zimmer, die freundliche Aufmerksamkeit des Personals und natürlich die Beruhigungsspritze verdeutlichten ihr, dass diese Situation, abgesehen von den Schmerzen, gar nicht so schlecht war.

Plötzlich waren ihr die Telefonlisten auf ihrem Schreibtisch egal. Porter hat gesunde Finger, dachte sie rebellisch, damit kann er seine Gesprächspartner ganz locker selbst anrufen. Einen Einführungskurs hat er von mir sowieso bereits erhalten. Und seine Briefe. Die sind auch egal. Niemand kann mein Stenogramm lesen, weil keiner in diesen Zeiten noch stenografieren lernt. Also kann auch keine Menschenseele die morgendlich diktierten Briefe tippen. Es waren sowieso wieder nur schwülstige Schleimproduktionen mit viel nichtssagender Prosa, die die Empfänger mit Sicherheit nach einem kurzen Blick ungelesen entsorgt hätten.

Marie wurde von einer heftigen Abscheu erfasst, wenn sie an den Arbeitsplatz dachte, den sie so viele Jahre geliebt hatte. Die schönen Zeiten waren definitiv vorbei. Dieser Arbeitsplatz war für sie inzwischen nur mehr endlose Qual.

Wäre ich nicht hier, müsste ich Koffer packen und zuvor noch eine Nachtschicht am PC hinlegen. Da liege ich lieber im Krankenhaus, umgeben von freundlichen Menschen und lasse mir einen verdrehten Fuß operieren. Wahrscheinlich hätte ich mir sogar den zweiten Fuß verdrehen lassen, lächelte sie, als sie realisierte, dass ihr telefonischer Monolog, der Raffael beruhigen sollte, die nackte Wahrheit gewesen war! Sie war tatsächlich grenzenlos erleichtert, aus der Tretmühle entkommen zu sein!

Als der Abend dämmerte, öffneten sich die Türen und das OP-Team holte Marie ab. Zwei junge Männer in grünen Schürzen führten sie in ihrem Bett zum Operationssaal. Während sie über lange Gänge und in Aufzüge geschoben wurde, plauderten die beiden Pfleger unentwegt so fröhlich mit Marie, als wäre sie in einem Wellness-Tempel und würde soeben in die Sauna geführt werden. Als ihr der Anästhesist die schlafbringende Spritze verabreichte, wurde sie schlagartig schläfrig.

Bevor sie jedoch das Bewusstsein verlor, wanderten ihre Gedanken in eine Zeit, die so weit zurücklag, dass sie gar nicht mehr wusste, ob es sie überhaupt gegeben hatte oder nur mehr in ihren Träumen existierte.

Schmetterlingsfarm Juni 1989

Marie kam aus dem Büro ihres Onkels. Ein Protokoll musste überarbeitet werden und sie setzte sich vor die mechanische Schreibmaschine und begann zu tippen. Seit einem Jahr arbeitete sie bereits bei ihrem Onkel.

Anton Berg führte eine Künstleragentur in der Wiener Innenstadt und besaß einen klingenden Namen in der Branche. Seinen hervorragenden Verbindungen zu Filmgesellschaften, aber auch zu Wiens Theater- und Musikwelt, sowie seinem Verhandlungsgeschick war es zu verdanken, dass er für die Sänger und Schauspieler, die er managte, stets passende Arrangements fand und ausgezeichnete Verträge ausverhandelte.

Anton war der 37-jährige, jüngere Bruder von Maries Vater, Junggeselle, leicht übergewichtig, kahlköpfig und kinderlos. Onkel Toni war für Marie wie die fröhlichere und liebevollere Ausgabe ihres strengen Vaters. Bei ihrem Onkel hatte sie als Kind so richtig Kind sein können und er liebte sie vielleicht auch deshalb so innig, weil ihm eigene Kinder verwehrt geblieben waren. Zuviel Arbeit. Zuwenig Freizeit. Anton war mit seiner Agentur verheiratet.

Marie hatte sich im Büro ihres Onkels bereits als Kind häufig herumgetrieben. Auf dem Schulweg hatte sie oft und gerne einen kleinen Umweg genommen, nur um ihren Patenonkel besuchen zu können. Sie war dann mit Vorliebe auf seinem Chefsessel gesessen und hatte sich mit Begeisterung auf dem ledernen Drehstuhl so lange gedreht, bis Anton schon vom Zusehen übel geworden war.

Wenn Maries Onkel eine Besprechung gehabt hatte und nicht gestört werden konnte, hatte sie das geschäftige Treiben vom Sekretariat aus beobachtet und die lebhafte Stimmung in dieser Agentur wie einen Schwamm aufgesogen. Die Sekretärin ihres Onkels, aber auch die Klienten hatten ihr regelmäßig Süßigkeiten zugesteckt und sie gehörte schon immer hierher. Es war daher nicht weiter verwunderlich, dass sie auch als Studentin im Büro ihres Onkels als Ferialpraktikantin jobbte und es war genauso vorbestimmt, dass sie nach ihrem Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft in der Agentur Berg als Arbeitskraft einstieg.

Das Leben war schön.

Bis zu jenem Tag, an dem Maries Eltern aus einem Skiurlaub nicht mehr zurückkehrten. Voll Sorge beobachtete sie als 20-Jährige damals die Nachrichten über ein schreckliches Lawinenunglück in den Tiroler Bergen. Ihre Eltern waren in der Gegend auf Skiurlaub, doch Marie war sich sicher, dass ihr Vater, der als Extremsportler stets das Risiko gesucht hatte, niemals auch ihre Mutter einer tödlichen Gefahr aussetzen würde. Bei Lawinenwarnstufe vier mit Tourenski eine Alpin-Tour außerhalb der präparierten Pisten zu planen, da ist, trotz Vaters Unvernunft, meine vorsichtige Mutter sicherlich nicht mitgegangen, versuchte Marie ihre aufsteigende Sorge zu ignorieren.

Doch bald schon wurde zur schrecklichen Gewissheit, dass Maries Unruhe im Bauch früher wusste, was ihr Geist nicht glauben wollte. Ihre Eltern waren die Tourengeher, die das tödliche Schneebrett losgetreten hatten. Sie waren von einer Lawine in den Tod gerissen worden.

Maries kleine, heile Welt ebenfalls. Sie fiel in eine Schockstarre. Mutters Zärtlichkeit, Vaters Lachen. Alles vorbei. Die Gespräche vermisste sie am meisten. Selbst die generationenbezogenen Sticheleien, über die sie sich manchmal gewurmt hatte, wünschte sie sich sehnlichst herbei, als sie sich nicht mehr darüber ärgern konnte. Doch es blieb ruhig in der Wohnung. Unerträglich war diese Stille, die ihr schmerzlicher Begleiter wurde. Von einem Tag zum anderen war sie ganz allein.

Maries Verhältnis zu ihrem Onkel wurde in jener Zeit noch enger. Die gemeinsame Trauer verband sie und Anton wurde ihr Fels in der Brandung. Als die Zeit begann, die Wunden zu heilen, war sie froh, dass Onkel Toni der unsportlichste Mensch war, den sie kannte.

Damals begann sie in der Agentur ihres Onkels zu arbeiten. Vorerst war es als Abwechslung gedacht und sie stürzte sich mit Feuereifer in die Tätigkeit, weil sie sie daran hinderte, nachzudenken. Bald aber spürte sie, wie sehr sie diese Arbeit erfüllte. Sie besaß viele Eigenschaften ihres Onkels. Das Kommunikationstalent, sowie ein massiver Hang zum Workaholismus lagen anscheinend in der Familie.

„Seit du in der Agentur arbeitest, gibt es einen merkbaren Aufwärtstrend“, schwärmte Anton und sie konnten sich bald vor Aufträgen kaum retten.

Marie blieb nach dem Tod ihrer Eltern in der elterlichen Zweizimmer-Wohnung und verschenkte erst nach Monaten die Kleider ihrer Eltern. Obwohl sie nun viel Stauraum besaß, konnte sie sich nicht dazu aufraffen, neue Kleider zu kaufen.

Als Schönheit sah sie sich sowieso nie, daher legte sie auch keinen Wert auf Make-up. Ihre dunkelblonden langen Haare trug sie im Büro zu einem strengen Zopf geflochten und ihre blauen Augen verschwanden hinter einer Brille. Ihren, aus ihrer Sicht, viel zu großen Busen versuchte sie unter weiten Blusen zu verbergen. Sie wollte nicht gefallen. Und sie wollte schon gar nicht auffallen. Sie wollte einfach nur diesen Schmerz in ihrem Inneren irgendwann nicht mehr spüren. Der Schock über den so plötzlichen Tod ihrer Eltern saß lange Zeit in ihren Knochen fest, klammerte sich an jede Faser ihres Körpers und ihrer Seele.

Hätte sie ihren Onkel nicht gehabt, sie wäre wohl total abgesackt. Doch seine Liebe und die Ablenkung in der Firma waren für Marie die Einbahnstraße zurück ins Leben. Mehr Ablenkung als die tägliche Arbeit brauchte und suchte sie nicht.

Marie konnte sich nicht aufraffen, tanzen zu gehen, Burschen zu treffen, Freude zu empfinden. Während sich gleichaltrige Mädchen die Nächte um die Ohren schlugen, blieb sie wie betäubt in den eigenen vier Wänden und spielte die CDs mit der Lieblingsmusik ihrer Eltern, um ihnen in ihrer Erinnerung möglichst nahe zu sein. Oder sie schaute sich Videos von gemeinsamen Urlauben an, um noch einmal Mutters sanftes Lächeln zu sehen und Vaters dröhnendes Gelächter zu hören.

Die Arbeit in der Agentur wurde ihr Lebensinhalt. All ihre Energie floss in diese Tätigkeit und Onkel Toni schätzte das, was man in diesem Metier am meisten brauchte: Maries gutes Händchen für Menschen. Sie hofierte den eitlen Gockel genauso wie die überdrehte Ballerina, wenn sie fühlte, wie sehr diese Spezies nach Anerkennung gierte. Es fiel ihr nicht schwer, jedem zu geben, was er brauchte. Im Gegenzug dafür wurde sie hochgeschätzt.

Geschätzt! Aber nicht geliebt.

Geliebt wurde sie lediglich von ihrem Onkel und das reichte ihr. Maries Leben verlief in ruhigen Bahnen und sie war eine tüchtige Arbeitsbiene. In der niemand mehr sah. Frauen sahen sie nicht als Konkurrenz und Männer nicht als Jagdmotiv.

„Du kannst so gut auf Menschen zugehen und gibst jedem das Gefühl, dass er der wichtigste Mensch auf der Welt ist. Das ist eine seltene Gabe. Wenn ich denke, wie jung du bist und wie kreativ du bei der Suche nach den besten und passendsten Arrangements bist, bin ich wirklich stolz auf dich. Fantastisch, wie schnell du es schaffst, dass sich Türen für dich öffnen. Du hast ein gutes Händchen für diese Branche.“ Antons Lob motivierte sie, ihr Organisationstalent bewusst einzusetzen. Bald war sie in den größten Theatern Wiens so bekannt wie ihr Onkel und auf dem besten Wege, Anton in jeder Beziehung nachzueifern.

Auch Maries Privatleben blieb, wie das ihres Onkels, auf der Strecke. Sie blieb bis spät abends im Büro und war am Abend nicht nur zu lustlos, sondern einfach auch zu müde, um auszugehen. Nachdem sie als Jugendliche aufgrund ihrer Rundungen gehänselt wurde, ging ihr der Kontakt zu Gleichaltrigen auch gar nicht ab. Sie hatte kein Bedürfnis, sich in Diskotheken herumschieben zu lassen. Viel lieber saß sie daheim, hörte Musik und bildete sich weiter.

„Kind, du musst unter Leute gehen! Du willst doch sicherlich keine alte Jungfer werden!“, sorgte sich Anton des Öfteren.

„Aber Onkel Toni, ich werde schon irgendwann den Richtigen finden“, beendete sie diese peinlichen Gespräche stets so rasch wie möglich.

„Ja, aber Mister Right wird sicherlich nicht an deine Tür läuten“, hakte er stets nach, weil er verhindern wollte, dass sie wie er endete. Erfolgreich, anerkannt, aber einsam und ohne Familie.

Das Läuten der Gegensprechanlage riss Marie an jenem heißen Junitag aus ihrer Schreibarbeit. Sie lief zur Gegensprechanlage.

„Paul Schönherr hier. Ich habe ein Vorstellungsgespräch bei Doktor Berg“, meldete sich ein angenehmer Bariton über die Gegensprechanlage. Wäre schön, wenn wir endlich Hilfe bekämen, dachte sie.

„Ich öffne das Haustor. Fahren Sie in das oberste Stockwerk. Die Tür zur Agentur ist geöffnet!“, wies sie den Gast ein. Als Paul Schönherr durch die Tür kam, erstarrte Marie fast zur Salzsäule. Vor ihr stand Rock Hudson. Okay, das war nicht möglich. Aber ihr fiel sofort dieser schöne Mann aus den alten Filmen ein, als sie diesen braungebrannten schönen Mann auf ihren Schreibtisch zusteuern sah. Er wusste um seine Wirkung, denn er lächelte wie ein Filmstar und entblößte seine strahlend weißen Zähne.

„Paul Schönherr“, stellte er sich vor und bot Marie die Hand zur Begrüßung.

„Marie Berg“, ergriff sie sie und hoffte, dass er ihr Zittern nicht bemerkte.

„Mein Onkel erwartet sie bereits“, behielt sie mühsam ihre Fassung und geleitete den Gast in Antons Büro. Als Paul Schönherr eine Stunde später das Büro verließ, hatte die Agentur Berg einen neuen Mitarbeiter und Marie eine ganze Schmetterlingsfarm im Bauch.

Unangenehmes Erwachen Juli 2015

Wie unangenehm war das denn? Lena erwachte mit einem Kopf, der sich anfühlte, als wäre er über Nacht mit Helium befüllt worden. Dieser Riesen-Ballon auf ihrem Hals schmerzte zudem höllisch. Als wäre das nicht schon genug, drangen durch das geöffnete Fenster panische Schreie an ihre Ohren. Den pulsierenden Schmerzen in ihrem Kopf war dieser Lärm wenig dienlich.

Wurde hier jemand umgebracht? Erschrocken öffnete sie die Augen und entspannte sich, als sie Möwen vorbeifliegen sah. Die weißen Segler schrien sich die Seele aus dem Leib. Wieso aber bitte ausgerechnet vor ihrem Fenster? Ruhe fand sie allerdings auch im Inneren des Zimmers nicht. Neben ihr wurde so durchdringend geschnarcht, dass sie um die Holzbeine des Bettes fürchtete.

Ist Peter erkältet? Er schnarcht doch nur, wenn er einen Schnupfen hat, wunderte sie sich über die ungewohnte und nervende Lärmkulisse. Diese neue, störende Angewohnheit muss ich ihm austreiben. Das ist doch nicht zum Aushalten, dachte sie gereizt.

Entnervt wollte sie die dröhnende Kettensäge neben sich abstellen und beschloss, ihrem Liebsten die Nase zuzuhalten, wollte sie doch noch ein Weilchen weiterschlafen. Schmerzgepeinigt drehte sie ihren Kopf zur Seite, um über die Schulter des Schlafenden zu dessen Nase greifen zu können.

Sie stockte. Wie viele Tage hat sich Peter eigentlich nicht rasiert? Schockiert und angewidert verzog sie ihr Gesicht, als sie eine dunkle Matratze erblickte. Und wieso hatte er plötzlich Haare am Rücken wie ein Gorilla? Sie wischte sich über ihre vom Schlafen verklebten Augen.

Doch auch als sie besser sah, sah sie nicht wirklich besser. Nun ja, besser schon, aber nicht klarer. Wie viele Malibu Orange hatte sie am Vortag wohl gekippt? Diese Angewohnheit sollte sie irgendwann einmal wirklich gründlich überdenken. In letzter Zeit erwachte sie ziemlich häufig mit einem Kater und den begleitenden Erinnerungslücken. Als sie sich bewegte, brummte ihr Kopf so empört, als beherberge er ein zorniges Bienenvolk, dem soeben die Waben zerstört wurden.

Tapfer den Schmerz ignorierend, richtete sie sich trotzdem auf, denn irgendwie beschlich sie der leise Verdacht, dass dieser Peter vielleicht gar nicht ihr Peter war. Womöglich gar kein Peter. Und dieses Bett!

Wo war sie eigentlich? Und neben wem? Und warum? Wenn das Denken mit einem Mordskater nur nicht so schwierig wäre! Angestrengt versuchte sie ihre Gehirnzellen in Schwung zu bringen. Ganz schön schwierig nach einem klassischen Filmriss. Irgendwie schienen alle Kabel gelockert zu sein.

Doch schön langsam dämmerte es ein wenig. Ja, genau! Langsam fanden wieder zwei Synapsen zusammen: Sie war am Vortag auf Dienstreise gefahren. Deshalb lag sie in einem fremden Bett, in irgendeinem Hotel wahrscheinlich, offenbar in der Nähe eines Gewässers, daher die Möwen vor dem Fenster.

Erste Frage beantwortet. Und sogar schon beachtliche Schlüsse gezogen! Na bitte, die grauen Zellen funktionierten doch noch ein wenig. Scheinbar hatte sie noch nicht ihr gesamtes Magazin an Gehirnzellen weggesoffen. Angeblich sollen bei jedem Rausch einige Millionen Gehirnzellen unwiderruflich absterben. Oder waren es nur einige Tausende? War diese Horror-Geschichte eigentlich ein Mythos oder entsprach sie der Wahrheit? Das musste sie mal recherchieren. Denn wenn dem tatsächlich so war, würde es bald ziemlich eng werden.

Aber sie hatte sowieso nicht vor, ihren gesamten Vorrat an Gehirnzellen mit Hochprozentigem wegzuspülen. Sie wollte wirklich mit dem Saufen aufhören. Oder zumindest den Konsum drastisch reduzieren. Diesen Vorsatz hatte sie soeben geboren. Allein schon wegen diesem unerträglichen Hämmern innerhalb des Schädelknochens.

Unter heftigen Kopfschmerzen quälte sich bereits die nächste Erinnerung in ihr Bewusstsein: Sie hatte Porter als Schriftführerin auf diese Dienstreise begleitet, um dem Vorstandsvorsitzenden ihre fachlichen Fähigkeiten präsentieren zu können.

Karl Porter. Erfolg- und einflussreich, ein dunkelhaariger, bärtiger Brillenträger, blöderweise auch verheirateter Mann. Nun ja. Niemand war perfekt.

Endlich lichtete sich der Nebel immer mehr und die Erinnerung an den Vortag kam zurück. Nach einem elendslangen, sterbenslangweiligen Geschäfts-Meeting mit Managern jeder Altersgruppe, allerdings beginnend ab 50, wollte Porter mit ihr noch das Protokoll durchgehen.

Noch langweiliger. Und auch nicht leicht möglich, da es ein Protokoll nicht wirklich gab. Sie hatte lediglich ein paar Schlagworte auf ihren Zettel geschmiert und ansonsten Strichmännchen gezeichnet. Und das auch nur, um nicht einzuschlafen. Zwar hatte sie zur Sicherheit das Meeting auf ihrem Smartphone mitgeschnitten. Die moderne Variante des altmodischen Stenografierens. Sie wunderte sich noch immer über Porters idiotische Frage, ob sie stenografieren konnte. Wozu das denn bitte? Wer schreibt denn, wenn er hören kann? Der Typ ist offenbar in der Steinzeit hängen geblieben.

Jedenfalls hatte sie die Sprachmemo-App aktiviert, nachdem die endlose Begrüßungsrunde mit den Beweihräucherungen beendet war. Für den Fall, dass danach doch noch die eine oder andere Frage kam, konnte sie sich das Gesülze dann noch einmal anhören.

Doch wirklich gerechnet hatte sie nicht damit. Wer konnte zu diesem Meeting Fragen haben? Handschuhe für Fingerlose? Am liebsten hätte Lena gerufen: ‘Fäustlinge, ihr alten Knacker! Problem gelöst und ich gehe jetzt auf einen Drink.’

Doch nein, über diese Angelegenheit schwafelten fünf alte, abgewrackte Herren einige Stunden, als wäre es das zweitwichtigste Thema der Welt, nach dem Weltfrieden. Welcher Fingerlose braucht denn einen maßgeschneiderten Handschuh? Ein armer Tischler, der sich irrtümlich den einen oder anderen Finger mit der Kreissäge absäbelte? Und dafür sollte es ein Protokoll geben? Und das wollte Porter auch noch mit ihr besprechen und ‘redigieren’, wie er so altbacken formuliert hatte.

„Echt jetzt?“, hätte sie zu dem Zeitpunkt am liebsten gefragt. Hatte es aber gottlob nicht getan, denn Porters Miene verriet, dass er ihre Niederschrift tatsächlich sehen und überarbeiten wollte. Kreativität war nun gefragt gewesen.

„Was halten Sie davon, wenn wir dieses Protokoll in der Hotelbar ausarbeiten, sozusagen als Kamingespräch?“, hatte sie vorgeschlagen, weil Porter den Eindruck vermittelt hatte, als wolle er weiterhin in diesem nüchternen Sitzungsraum ausharren, wo die Luft noch nach den Ausdünstungen der staubigen Greise gemuffelt hatte.

Bei Wasser und genauso staubigen Keksen! Wie aufregend und stimulierend! Nur mit hochprozentiger Unterlage hatte dieses öde Protokoll ein wenig spannend werden können. Wenn man ihr Gekritzel überhaupt als Protokoll bezeichnen konnte. Obwohl: Die Strichmännchen hatte sie wenigstens mit Händen gezeichnet. Einige sogar mit etwas weniger als fünf Fingern an einer Hand. Das hätte immerhin Spielraum für Interpretation gegeben.

Wo steht denn geschrieben, dass man Informationen nur mit Buchstaben dokumentieren kann? Felszeichnungen! Wie aussagekräftig! Und sogar unabhängig davon, welche Sprache der Steinzeit-Picasso gesprochen hatte.

Dass Porter dem Vorschlag mit dem Kamingespräch an der Bar nicht ablehnend gegenübergestanden hatte, fiel ihr plötzlich auch wieder ein. Er war mit seinen Augen in ihrem Ausschnitt hängengeblieben und hatte lediglich zustimmend genickt.

Schön langsam begannen die Leitungen in ihrem Hirn wieder ihre volle Arbeit aufzunehmen. Als sie jedoch Einzelheiten abrufen wollte, wurde ihre Erinnerung wieder etwas unscharf. Sie konnte sich nur mehr verschwommen entsinnen, dass der hübsche Latino-Barkeeper einen Drink nach dem anderen vor ihnen beiden abgestellt und Herr Porter immer lahmer in ihren Zetteln und seinen Unterlagen herumgeblättert hatte. So richtig konzentriert hatte er nach einigen Drinks jedenfalls nicht mehr gewirkt.

Das konnte dann doch eigentlich nur bedeuten, dass dieser schnarchende Gorilla Porter war, wenn sie nicht blöderweise mit dem Barkeeper im Bett gelandet war. Der ist nämlich auch recht süß gewesen.

Lena war schon seit ewigen Zeiten hinter Porter her. Vielleicht war sie gestern in ihren Bemühungen erfolgreich gewesen? Lange genug hatte sie ohnehin warten müssen, bis er endlich von ihr Notiz genommen hatte.

Warum das so lange gedauert hatte, war für sie sowieso unbegreiflich. Lena wusste um ihre Ausstrahlung und trat selbstbewusst und ehrgeizig auf. Durch ihre laute und helle Stimme verschaffte sie sich Gehör und umgab sich stets mit leitenden Angestellten, denn nur zu deren elitären Kreisen wollte sie gehören.

Die Mittelschicht war nicht ihre Welt. Sie gehörte nach oben. Dort war ihr Platz.

Als Tochter des Apothekers Robert und seiner als Diplomkrankenschwester tätigen Gattin Rosa Kessler war sie durch das Gymnasium gepeitscht worden und konnte daher einen beachtlichen Schulerfolg vorweisen. Gut, beachtlich vielleicht gerade nicht, denn zu einem Studium ließ sich Lena von ihren Eltern nicht mehr überreden. Und, wenn sie ganz ehrlich war, hatte sie die Matura auch erst auf den zweiten Anlauf erlangt. Doch daran war ihre Englisch-Professorin schuld gewesen. Sie hatte Lena nicht leiden können und sie deshalb durchrasseln lassen.

„Du solltest etwas mehr Zeit mit dem Studium deiner Lehrbücher aufwenden, anstatt sie mit Modejournalen und Schminkpinseln zu verbringen!“, war ihr ‘gutgemeinter’ Rat gewesen, als sie Lenas Matura-Arbeit analysiert hatte. Diese Analyse hätte sie sich sparen können, diese eifersüchtige Kuh! Lena hatte schon immer Probleme mit Frauen gehabt. Gottlob hatte sie ansonsten nur männliche Professoren, mit denen es erfreulicherweise keine Probleme gab.

War es da ein Wunder, dass Lena lieber mit Männern zusammenarbeitete? Mit den Herren der Schöpfung gab es tatsächlich nie auch nur das kleinste Problem. Sie schienen ihr gewogen zu sein, erkannten offenbar ihre Vorzüge.

Alle, außer Porter! Dabei hatte sie wirklich alle Register gezogen. Sie präsentierte ihre Beine durch aufklaffende Rockschlitze und ließ öfter mal absichtlich unabsichtlich das letzte Knöpfchen der Bluse aufspringen. Doch Porter schien sogar eine Busen-Blitzer-Immunität zu besitzen. Hatte er Tomaten auf den Augen?

Lena war eine Schönheit mit ihren blauen Augen und den zwar falschen, dafür aber extrem langen Wimpern, ihrem blonden, langen Haar und einer Figur, bei der sie jeder Modeschöpfer sofort unter Vertrag genommen hätte, wenn sie gewollt hätte. Und tatsächlich drehte sich auch jeder Mann nach Lena um.

Jeder. Außer Porter. Und das hatte sie lange Zeit geärgert. Massiv sogar! War er blind, nur weil er verheiratet war? Mit dieser nichtssagenden, grauen Maus?

Was konnte ihm diese Frau schon bieten?

Olivia Porter: Blonder Pagenkopf, schüchtern im Auftreten und stets Ton in Ton gekleidet. Doris Day ließ grüßen! Wie langweilig! Lady Gaga war en vogue!

Porter war ein großer, athletisch gebauter und attraktiver Mann. Gut, um ganz ehrlich zu sein: Am attraktivsten machte ihn sein Status in der Firma.

Aber: Erfolgreiche Männer brauchen doch gar nicht wirklich besonders gutaussehend sein. Wäre der Glöckner von Notre Dame Vorstandsdirektor gewesen, hätte er es wahrscheinlich locker in die Liste der most sexiest man alive geschafft. Doch Porter hatte sowieso weder einen Buckel, noch hinkte er. Sein einziger Makel war dieser filzige Fidel Castro-Bart. Und auch diese grässliche, dicke Hornbrille. Die wirkte fast abschreckend.

Sowas von Null Modebewusstsein. Doch das war zu reparieren! Also, rein vom ästhetischen Standpunkt aus betrachtet, konnte man Porter mit einer ordentlichen Rasur und einer schicken modischen Brille ohne weiteres zu einem Vorzeige-Mann machen. Sie traute sich das zu! Das war hinzubekommen.

Doch zuerst musste sie den Vorstandsdirektor erst einmal pflücken. Aber auch das traute sie sich zu. Es wäre doch gelacht, wenn er nicht irgendwann Lenas Vorzüge erkennen würde. Die Scheidung würde rasch erledigt sein und danach konnte sie aus ihm einen wirklich attraktiven Mann machen.

Sie passte jedenfalls viel besser zu ihm als seine brave Sauberfrau.

Gut, sie war eigentlich gar nicht wirklich auf Partnersuche. Da gab es Peter, fünf Jahre älter als sie, Leiter der Schadenabteilung und eine wirklich gute Seele. Sie lächelte unmerklich beim Gedanken an ihn.

Peter mit seinem blonden Wuschelkopf, den grünen Augen und seiner positiven Lebenseinstellung. Es gab nichts, was ihn aus der Ruhe bringen konnte. Außer manchmal sie. Doch er sagte, dass er das an ihr mochte.

Doch wenn er nur etwas mehr aus seinem Leben machen würde! Er arbeitete bereits seit vielen Jahren in der Unito-Versicherung und hatte es bislang nur zum Leiter des Schadendienstes gebracht. Dabei wirkte er sogar noch hochzufrieden. Ihm genügte sein gutes, aber eben nicht außergewöhnliches Gehalt. Er freute sich über das gute Betriebsklima in seiner Abteilung und war stolz auf sein motiviertes Team. Als wäre das das Wichtigste!

Sah er denn nicht, dass das Leben nur Sinn machte, wenn man ehrgeizig an die Spitze strebte? Es machte sie wahnsinnig, dass er nicht einmal daran dachte, einen Vorstandsposten anzusteuern. War das zu glauben?

Lena wollte auf jeden Fall rauf. Sie musste auf jeden Fall rauf. Und zwar ganz nach oben. Dafür war sie bereit, alles zu tun. Als Marie am Vortag so unglücklich an ihrem Stuhlbein hängen geblieben war, war klar geworden: Das ist ihre Chance!

Skrupel wegen Peter?

Nun ja. Schon ein wenig.

Eigentlich war Peter nämlich wirklich nett. Doch was sollte sie mit einem Mann, der ihr weder gesellschaftlichen Glanz noch einen Platz in der High Society beschaffen konnte oder wollte?

Nachdem Marie am Vortag mit der Rettung abtransportiert worden war, hatte sich die Sitzung schnell aufgelöst und Lena war gleich danach heimgegangen. Sie hatte ein Köfferchen gepackt und sogar noch einen Termin im Kosmetik-Studio sowie beim Friseur bekommen. Neben einer intensiven Gesichtsbehandlung hatte sie sich die Beine wachsen und beim Coiffeur die Haare frisch blondieren lassen. So eine Gelegenheit kommt vielleicht nie wieder! Da musste wirklich alles passen.

Nun lag sie total benebelt mit klopfenden Kopfschmerzen neben einem schnarchenden Mann und wusste noch nicht einmal, mit wem sie im Bett gelandet war. Es wäre schon ärgerlich, wenn sie all den kosmetischen Aufwand für einen zwar hübschen, aber finanziell total uninteressanten Barkeeper betrieben hätte.

Auf Zehenspitzen kletterte sie vorsichtig aus dem Bett und beschloss, sich mal im Badezimmer einige Aspirin-Tabletten zu genehmigen und ein bis zwei Liter Wasser zu trinken, denn ihre Kehle war wie ausgetrocknet.

Und sie musste unbedingt ihr Make-up auffrischen.

Doch zuvor riskierte sie, während sie am Bett vorbei huschte, einen vorsichtigen Blick. Hatte sich ihr Aufwand überhaupt gelohnt?

Die Traumfrau Juli 2015

Peter fuhr aus diesem Traum hoch: Ein Mädchen mit langem, brünettem Haar und den traurigsten Augen der Welt blickte ihm mitten ins Herz. Sie bat mit großen, blauen Augen flehentlich um Hilfe, lächelte unmerklich, doch ihr Lächeln erreichte die Augen nicht. Ihr Blick spiegelte Verzweiflung wider. Er spürte, wie sehr sie litt, doch er konnte ihr nicht helfen. Sie ließ es einfach nicht zu. Dann verschwand dieses Mädchen mit einem gellenden Schrei in einem tiefen, schwarzen Loch. Während sie im Dunkel verschwand, wollte er nach ihr greifen, doch sie fiel, noch bevor er ihre Finger fassen konnte.

Schweißgebadet wachte er auf. Er fühlte eine tiefe Besorgnis, denn er kannte dieses Mädchen, befürchtete, seine Träume wären ein Hilfeschrei von ihr.

Kennengelernt hatte er sie vor neun Jahren, als er in Ladendorf bei seiner Tante den Sommer verbracht hatte. Die Schwester seines Vaters führte im beschaulichen Weinviertel einen Bauernhof und Peter hatte sich auf die Sommerfrische bei Tante Martha gefreut. Damals war er 21 Jahre alt gewesen, das Mädchen 16.

Wie ein scheues Reh stand sie in der Bäckerei hinter dem Ladentisch und half im Verkauf. Sie schlichtete frisches Gebäck in die Vitrine, als er eintrat.

Beim ersten Blick in ihre mandelförmigen Augen verliebte er sich sofort in sie. Dabei waren es nicht nur ihre blauen Augen, ihr voller Mund und ihre süße Stupsnase, die ihn so faszinierten. Es war die zerbrechliche Anmut und die warmherzige Aura, die dieses zarte Geschöpf umgab. Ihr Wesen strahlte förmlich.

„Was kann ich für Sie tun?“

„Ich hätte g...g...gerne b...b...bitte ein halbes Kilo Bauernbrot“, stotterte er. Dieses Mädchen brachte ihn total aus der Fassung. Sie schnitt einen Brotlaib in die Hälfte, sackte das Brot ein und reichte ihm die Tüte über den Tresen.

„Bitte sehr!“, lächelte sie. Als bei der Übergabe ihre Finger die seinen streiften, schlug sie verlegen ihre langen Wimpern nieder und errötete. Bei dieser zarten Berührung fühlte er sich wie vom Blitz getroffen.

Als sie wieder ihren Kopf hob, schenkte sie ihm einen seelenvollen Blick, der Peter durch und durch ging. Die Welt schien stillzustehen. Dieser Augenblick war magisch. Sie erkannten aus der Tiefe ihres Bewusstseins, dass sie ihren Seelenmenschen gefunden hatten. Diesem Mädchen und Peter war das stille Verstehen in jenem Moment bewusst. Ohne Worte.

Plötzlich eine kleine Bewegung. Eine Tür wurde geöffnet, ein kühler Luftzug strömte in den Verkaufsraum. Das Mädchen zuckte zusammen und senkte schuldbewusst die Augen. Sie wirkte verängstigt. Peter konnte nicht erkennen, woher ihre Furcht kam. Noch nicht.

Der Bäcker stürmte aus dem Hinterzimmer in den Geschäftsraum und Peter nahm seine begleitende Alkoholfahne wahr, die bis über den Ladentisch schwebte.

„Na, Maggie, schläfst du schon wieder bei der Arbeit?“, fragte der übergewichtige Mann mit dem aufgedunsenen Gesicht und klopfte ihr derb auf das Hinterteil.

„Nein, Papa“, rechtfertigte sie sich und Peter konnte ihre Angst fast körperlich wahrnehmen. Nun verstand er ihre Reaktion. Der Bäcker hatte eine brutale Ausstrahlung und war ziemlich schwer betrunken.

Unschlüssig blieb Peter stehen, weil er dem Mädchen helfen wollte. Sie mit diesem Mann, der ihr offenbar Furcht einflößte, allein zu lassen, schien ihm nicht richtig. Auch nicht, wenn es sich um ihren Vater handelte. Es war einfach nicht richtig.

„Na, dann ist der Herr ja jetzt fertig“, polterte der Bäcker jedoch und forderte Peter mit einem feindseligen Blick auf, das Geschäft zu verlassen. Maggie gab Peter mit einem Kopfnicken und einem ‘Es ist schon in Ordnung’-Lächeln zu verstehen, dass es besser wäre, wenn er tatsächlich ginge. Daher bezahlte Peter rasch, um ihr keine Unannehmlichkeiten zu machen und verließ mit einem Kloß im Magen die Bäckerei.

In den kommenden Tagen kaufte er täglich frisches Gebäck, nur um die junge Frau, die der Bäcker ‘Maggie’ genannt hatte, wiederzusehen. Doch stets stand ihr Vater im Laden oder aber der Lehrling half im Verkauf aus.

„Was ist denn eigentlich mit dem Bäcker und seiner Tochter los?“, fragte er nach einer Woche seine Tante, die alle Dorfbewohner des kleinen Ortes kannte.

„Er wirkt so mürrisch und seine Tochter total eingeschüchtert.“

„Ach, das ist eine bemitleidenswerte Familie“, seufzte Tante Martha. „Die Frau des Bäckers ist vor zwei Jahren bei einem Autounfall gestorben und seither ertränkt Kurt Lichter seine Trauer im Alkohol. Seine Tochter holt ihn regelmäßig vom Gasthaus ab, wenn er nicht mehr selbst nach Hause gehen kann. Sie war einst so ein fröhliches Kind, doch seit ihre Mutter tot ist, wird sie immer ruhiger und zieht sich mehr und mehr zurück. Mir tut die Kleine wirklich leid.“

Eines Tages fuhr Peter mit dem Fahrrad auf einem engen Forstweg durch die ockerfarbenen Weizenfelder. An einer Waldlichtung erblickte er am Ufer des Baches ein Damenfahrrad. Dahinter, auf der grünen Uferböschung saß Maggie auf einer Decke und war in ein Buch vertieft. Sein Herz machte einen Sprung und er beschleunigte die Fahrt. Als sie aus ihrem Buch hochblickte und ihn näherkommen sah, lächelte sie ihm zu und es war, als schien die Sonne plötzlich noch viel heller als sie es sowieso schon den ganzen Tag tat.

„Darf ich mich zu dir setzen?“, fragte er, als er sein Fahrrad neben ihrem abgestellt hatte.

„Ja, gerne!“

„Störe ich dich beim Lesen?“, fragte er unsicher.

„Nein, ich freue mich über Gesellschaft. Lesen kann ich auch später noch.“ Sie klappte das Buch zu und legte es zur Seite.

„Was liest du da?“

„Die Dornenvögel“, antwortete sie und wirkte beschämt. „Ich weiß, das ist kitschig, aber mir gefällt diese Geschichte. Ich habe das Buch schon dreimal gelesen.“

„Die Dornenvögel? Kommt mir irgendwie bekannt vor.“ Peter überlegte, woher er diesen Titel kannte. Dann tippte er sich an die Stirn.

„Jetzt weiß ich es: Das war in den 80er-Jahren ein vierteiliger Fernsehfilm. Davon hat meine Mutter so sehr geschwärmt, dass ich mir aus Neugierde eines Tages diese DVD geschnappt und mir den Vierteiler angeschaut habe“, freute er sich, dass er eine Gemeinsamkeit gefunden hatte.

„Traurig, diese unerfüllte Liebe.“

„Ja, sehr traurig“, bestätigte sie. Sie hing ihren Gedanken nach und schien das Thema nicht weiter vertiefen zu wollen.

„Du heißt Maggie?“, fragte er, um das Gespräch am Laufen zu halten. Dabei ließ er sich auf der Decke nieder.

„Magda. Magda Lichter, aber alle nennen mich Maggie.“

„Hieß die Hauptdarstellerin aus Dornenvögel nicht auch Maggie?“

„Ja, stimmt! Da hast du aber wirklich gut aufgepasst. Sie hieß allerdings Meghann und war, wie ich, über ihren Taufnamen ebenfalls nicht überglücklich.“

„Dass einem Meghann nicht besonders gefällt, kann ich nachvollziehen. Doch ‘Magda’ finde ich sehr schön.“

„Echt jetzt?“, wunderte sie sich.

„Ja, tatsächlich. Ich habe eine liebevolle, wirklich wunderbare Großtante Magda. Wahrscheinlich besetze ich deshalb diesen Namen nur positiv.“

„Lass mich raten. Deine Tante Magda ist schon etwas älter?“

„Ja, 75 wurde sie im letzten Jahr.“

„Ich bin 16.“

„Okay, okay. Ich weiß, worauf du anspielst. Vielleicht ist der Name tatsächlich etwas altmodisch.“

„Etwas?“

„Okay, du hast recht. Er ist ziemlich altmodisch. Doch schön ist er“, beharrte er und sah sie intensiver an. „Maggie! Dieser Name passt allerdings wirklich viel besser zu dir!“, gab er dann zu.

„Wie heißt du? Ich habe dich hier noch nie gesehen, außer vorige Woche, als ich im Laden ausgeholfen habe. Bist du neu im Ort oder nur zu Besuch?“

„Zweiteres. Ich heiße Peter. Peter Gutmann und bin zu Besuch bei meiner Tante. Sie heißt Martha Gutmann und wohnt am Ende der Hauptstraße. Sie bewirtschaftet einen Bauernhof. Kennst du sie vielleicht?“

„Ist das die alleinstehende Frau mit der Bio-Hühnerfarm?“

„Ja, das ist sie. Tante Martha lebt allein, wenn man die vielen freilebenden Hühner nicht mitzählt. Sie hat entweder nie Mister Right gefunden oder aber sie wollte ihre Unabhängigkeit nicht verlieren. So genau weiß das niemand in der Familie und sie selbst redet nicht gern darüber“, lächelte Peter.

„Sie wird sicher ihre Gründe haben“, resümierte Maggie für ihre Jugend viel zu reif und abgeklärt.

„Stimmt“, gab ihr Peter recht, „nur sie wird halt auch nicht jünger und die Arbeit nicht weniger. Sie hatte heuer eine Operation am Knie. Nachdem ich Ferien habe, greife ich ihr für die Zeit nach dem Krankenhausaufenthalt ein wenig unter die Arme.“

„Das ist aber lieb von dir“, nickte Maggie anerkennend.

„Ach, nur teilweise. Ein wenig mache ich das auch für mich, denn ich liebe das Landleben und die Arbeit am Bauernhof macht mir wirklich Spaß. Als Städter sehne ich mich nach der Natur, Ruhe und der Einfachheit des Lebens. Das Landleben ist für mich eine willkommene und sehr angenehme Ablenkung zum lebhaften und lauten Stadtleben. Hier kann ich meine Tanks wieder befüllen“, erklärte er ihr seine Liebe zum Landleben.

„Wie lange bleibst du hier?“

„Juli und August, also den ganzen Sommer. Im September muss ich wieder nach Wien. Im Herbst beginnt der Universitäts-Alltag.“

„Du studierst?“

„Ja, Betriebswirtschaftslehre an der Wirtschafsuni.“

„Es ist sicherlich schön in Wien“, schwärmte Maggie. Ihre Augen bekamen einen sehnsüchtigen Glanz.

„Ja, Wien ist tatsächlich eine tolle Stadt. Aber hier ist es viel schöner. Ich liebe diese Ruhe und Stille. Die grünen Wiesen, die friedlichen Hügel.“

„Ich hasse diesen Ort und friedlich ist hier gar nichts“, brach es aus ihr heraus. „Wenn ich könnte, würde ich lieber heute als morgen von hier verschwinden.“

„Warum?“, fragte er, irritiert über ihren plötzlichen Stimmungswandel.

„Das hat so viele Gründe, dass ich gar nicht anfangen will, darüber zu reden.“

„Aber ich habe Zeit und es interessiert mich. Erzähle es mir!“

„Nein, ich kann nicht“, verschloss sie sich wie eine Auster und senkte die Augen.

„Natürlich kannst du. Vielleicht kann ich dir behilflich sein“, drängte er sie zum Weiterreden. Doch sie schüttelte nur unmerklich den Kopf.

„Ich würde dir wirklich gerne helfen, doch dafür müsstest du mir erzählen, was dich bedrückt.“ Er nahm ihre Hand und zwang sie, ihn anzusehen.

„Warum willst du weg von hier? Bitte, erzähle es mir! Es interessiert mich wirklich“, dann wurde seine Stimmer leiser, „du interessierst mich ... sehr sogar ... aber das weißt du sicherlich schon längst.“ Er sah ihr tief in die wunderschönen Augen.

Doch diese füllten sich plötzlich mit Tränen. Hastig schüttelte sie den Kopf und sprang auf ihre Beine. Er erhob sich ebenfalls.

„Habe ich etwas Falsches gesagt?“, fragte er irritiert, während sie wie gehetzt die Decke zusammenfaltete und diese gemeinsam mit dem Buch auf dem Gepäckträger ihres Fahrrades verstaute.

„Nein, du hast nichts Falsches gesagt. Aber ich muss wieder nach Hause“, erklärte sie und wollte auf ihr Rad steigen. Da ergriff er ihre Hand, die bereits auf dem Lenker lag.

„Können wir uns wiedersehen? Oder kann ich dich ins Kino einladen? Ich habe ein Auto und wenn du willst, könnten wir auch einen Ausflug nach Wien machen. Würde es dir nicht gefallen, wenn ich dir Wien zeige?“ Er merkte, wie sie zusammenzuckte, als er ihre Hand zum zweiten Mal berührte.

„Nein, das geht leider alles nicht!“, waren ihre letzten Worte, bevor sie wie ein Dieb, der auf frischer Tat ertappt wurde, flüchtete.

Danach sah er sie fast ein Monat lang nicht. Weder in der Bäckerei noch am Flussufer.

Mitte August fuhr Peter, wie jeden Tag, mit dem Fahrrad zum Ufer des Baches. Er wollte bereits enttäuscht wenden, als er ein undefinierbares Geräusch vernahm. Vorsichtig stieg er die steile Uferböschung hinunter und sah Maggie im tiefen Gras sitzen. Sie hielt ihren Kopf gesenkt, schützte mit den Händen ihre Augen und weinte hemmungslos. Peter ging auf sie zu und das Rauschen der Halme und Äste, die er beim Näherkommen niedertrat, ließ Maggie aufhorchen. Als sie Peter sah, sprang sie auf ihre Beine und wollte weglaufen. Doch er hielt sie fest.

„Warum weinst du?“, fragte er voll Sorge. Sie hielt ihren Kopf abgewandt, doch er nahm sie an den Schultern und drehte sie sanft, aber bestimmt, zu sich. Als sein Blick auf ihr Gesicht fiel, sah er die Schwellung unter ihrem linken Auge. Es war augenscheinlich, dass ihr jemand einen Faustschlag versetzt hatte.

„Wer hat dir das angetan?“, fragte er wütend, von einem plötzlich aufwallenden Beschützerinstinkt übermannt.

„Niemand! Ich bin gestürzt“, log sie wenig glaubhaft.

„Das stimmt nicht!“, beharrte er darauf, die Wahrheit zu erfahren.

„Nein, wirklich, ich bin tollpatschig auf einen Baumstamm gekracht!“

Peter hob seine rechte Hand und strich sanft über die Schwellung unter ihrem Auge, als sie ihre Wange in seine Hand schmiegte. Dabei sah sie ihm voll Sehnsucht in die Augen und in diesem Augenblick wusste und spürte er, dass sie das Gleiche fühlte wie er.

Ihre Wange fühlte sich in seiner Hand so weich und warm an. Sein Herz hämmerte wie verrückt. Sie schloss ihre Augen und genoss mit einem hingebungsvollen Lächeln die Wärme und Zärtlichkeit, die von seiner Hand ausging. Beschützend zog er sie näher und sie ließ es geschehen, schmiegte sich seufzend an seine Brust. Sekundenlang verharrten sie in dieser innigen Umarmung.

Als Maggie den Kopf wieder anhob und ihm in die Augen blickte, versank die Welt um die beiden. Ihre Blicke vertieften sich und die unausgesprochenen Gefühle füreinander bedurften keiner Worte. Peters Blick senkte sich zu ihrem Mund und sie schloss abermals ihre Augen. Voll Zärtlichkeit suchten seine Lippen die ihren und in dem Moment, in dem sich ihre Lippen, nur so zart wie der Flügelschlag eines Schmetterlings berührten, riss Maggie sich los und lief davon.

Er lief ihr nach, rief ihren Namen. Doch sie schwang sich auf ihr Rad und fuhr wie gehetzt davon.

Er sah sie nie wieder.

Im Herbst ging er wieder zur Universität und in den folgenden Jahren nahm ihn sein Studium sowie danach sein Arbeitsantritt so sehr in Beschlag, dass er nicht mehr zu Tante Martha und demnach auch nicht mehr in die Nähe von Maggie kam. Doch seither verfolgte sie ihn in seinen Träumen.

Vor über einem Jahr besuchte er mit David Kern, seinem Freund aus Studentenzeiten, nach einem langen Arbeitstag ein Tanzcafé in der Wiener Innenstadt. Als er an der Bar eine Cola für sich und seinen Freund bestellen wollte, drängte sich ein blondes Mädchen vor.

„Entschuldige, aber ich bin total durstig“, war ihre freche Entschuldigung, als würde ihr Handeln dadurch akzeptabel werden. Er wollte sie soeben zurechtweisen, als er ihre blauen Augen wahrnahm.

„Magda!“, rief er überrascht und sein Herz machte einen Sprung. Spielte ihm seine Sehnsucht einen Streich? Kaum, dass er den Namen ausgesprochen hatte, war er sich nämlich gar nicht mehr so sicher, dass es sich bei diesem Mädchen tatsächlich um Magda handelte. Sie hatte zwar ähnlich blaue Augen, doch die junge Frau war blond und wesentlich kecker als die scheue Magda.

„Ich bin nicht Magda!“, bestätigte die auffallende Blondine schmissig und ihr dunkelrot geschminkter Mund bekräftigte, dass sie die Wahrheit sprach. Magda wäre in dieser Aufmachung niemals außer Haus gegangen. Oder doch? Seine Gedanken überschlugen sich. Hoffnungsvoll räumte er ein, dass er Magda eigentlich kaum kannte und nach so vielen Jahren konnten sich Menschen schon verändern. Unter der dicken Make-up-Schicht und den schwarz umrandeten Augen glaubte er daher trotzdem Maggies Gesichtszüge zu erkennen.

Vielleicht war sie inzwischen nach Wien gezogen. Sie hatte doch von dieser Stadt geschwärmt. Ein neues Umfeld konnte einen Menschen verändern und womöglich konnte sie sich einfach nicht mehr an ihn erinnern. Zudem fiel ihm ein, dass Magda ihren Namen nicht sonderlich mochte und lieber Maggie gerufen werden wollte.

„Maggie“, rief er daher voll Hoffnung. „Ich bin es, Peter“, versuchte er ihrer Erinnerung nachzuhelfen.

„Oh, Peter heißt du“, lachte die Blondine, nachdem sie sich endlich erfolgreich an ihm vorbei bis zum Barkeeper gedrängt hatte, während Peter noch immer um Fassung rang. „Ich heiße aber weder Magda noch Maggie und Schwester habe ich auch keine, falls das nun deine nächste Frage wird!“

Alles klar. Seine Erinnerung hatte ihm einen Streich gespielt. Nicht jedes blauäugige Mädchen war Maggie. Und schon gar nicht dieses vorlaute Gör. Er stierte in ihren Ausschnitt, der durch den verrutschten Spaghettiträger fast ihre Nippel freigab und wunderte sich immer mehr, wie er diesen Gedanken überhaupt denken hatte können.

Maggie würde nie so offenherzig herumlaufen. Niemals! Bevor er seinen Irrtum deklarieren und sich unauffällig zurückziehen konnte, interpretierte die junge Dame jedoch seinen, im Dekolletee steckengebliebenen, Blick völlig falsch.

„Okay, ich merke schon!“, zog sie das ‘O’ vom ‘Okay’ ziemlich lasziv in die Länge. Sie befeuchtete, begleitet von einem frivolen Augenaufschlag, ihre Lippen und strich mit einem manikürten Nagel über sein Kinn.

„Du hast einfach keine bessere Anmache auf Lager. Stimmt´s? Also gut: Bevor du das gesamte Vornamenlexikon aufsagst: Mein Name ist Lena und wenn du möchtest, kannst du mir einen Malibu-Orange spendieren, denn scheinbar bist du wirklich der Meinung, dass diese Art, ein Mädchen anzubaggern, die einzig gewinnbringende ist. Und soll ich dir was sagen? Du hast gewonnen. Irgendwie finde ich dich nämlich total süß.“

„Eine Cola und eine Malibu-Orange“, hörte Peter seine eigene Stimme, völlig überrumpelt, bestellen.

„Zwei Cola!“, rief David über Peters Schulter hinweg.

David rollte bereits die ganze Zeit hinter Peters Rücken die Augen und fühlte sich inzwischen so richtig vernachlässigt. Doch der Unterhaltungswert des Gesprächs der beiden war so enorm, dass er es gar nicht erwarten konnte, wie es nun bei den beiden weiterging. Verdursten wollte er dabei aber auch nicht, daher brachte er sich in Erinnerung. Peter wiederholte die Bestellung und zog einen Geldschein aus seiner Brieftasche.

David kannte Peter seit ihrer gemeinsam verbrachten Kindheit. Er wusste, wie anspruchsvoll sein bester Freund war. Ihm war einfach keine Frau gut genug. Nicht umsonst war er mit 30 noch immer Single. Wie lange würde Peter brauchen, um dieses aufdringliche Mädchen anzubringen?

„Zwei Minuten!“, entfuhr David eine erste Schätzung.

„Wie bitte?“, fragte Peter seinen Freund, der geduldig wartete, bis der Barkeeper den Cocktail für Lena gemischt hatte.

„Oh, ich habe nur laut gedacht, vergiss es wieder!“, lachte David und zwinkerte zweideutig. Er würde Peter danach sagen, ob er die mit sich selbst abgeschlossene Wette gewonnen hatte und blickte schmunzelnd auf seine Armbanduhr.

„Entschuldige, David, dass ich deine Cola fast vergessen hätte. Aber ich war abgelenkt!“

„Das habe ich bemerkt“, lachte David großzügig und übernahm seine Cola vom Barkeeper, blieb aber neben Peter stehen. Peter reichte Lena den Malibu-Orange und sie umschloss den Strohhalm sofort mit ihren Lippen.

„Hmhm. Der ist aber sehr gut. Danke für die Einladung“, schmunzelte sie. Sie schob Peter mit sanftem Druck durch die Menge, stellte sich vor ihn und wandte gleichzeitig David provokativ den Rücken zu. Als wäre er gar nicht hier. Jetzt begann sich David leicht zu ärgern, immerhin war er mit seinem Freund in den Club gekommen. Was dachte sie sich überhaupt? Offenbar nicht sehr viel. Sie sog nämlich an ihrem Strohhalm und prostete Peter zu, als wäre sie mit ihm alleine hier.

„Auf dein Wohl, Peter!“

„Auf dein Wohl, Magda!“, entschlüpfte es Peter.

„Scheinbar hast du nicht nur etwas auf den Ohren, sondern auch höher ein ausgedehntes Leck. Merke dir endlich: Ich heiße Lena! Lena Kessler ist mein Name. Dein Magda-Trick hat gewirkt. Ich unterhalte mich mit dir. Also kannst du diese Magda-Platte ruhig wieder abstellen. Nicht mehr nötig! Wenn du mich nämlich weiterhin mit diesem Namen ansprichst, muss ich mich fragen, ob du komplett unterbelichtet bist“, fuhr ihn Lena eingeschnappt an.

„Entschuldige!“, erkannte Peter seine Unhöflichkeit. „Ich wollte dich nicht verärgern, aber du siehst Magda wirklich etwas ähnlich!“

„Oh, toll, da habe ich wohl eine Doppelgängerin. Man sagt ja, jeder Mensch hat einen Doppelgänger. Was verbindet dich denn mit meinem Duplikat?“, wurde Lena neugierig. Als Peter nichts erwiderte, begann sie zu bohren.

„Warst du verliebt in sie? Oder sie in dich? Erzähle doch!“

„Weder noch“, log er, weil er fand, das ging sie nichts an. „Magda war ein Mädchen, das ich vor vielen Jahren bei einem Urlaub kennengelernt habe“, versuchte er auszuweichen.

„Also eine Urlaubsliebe!“, konfrontierte sie ihn scharfsinnig und ohne Umschweife mit dem Resultat ihrer Gedankengänge und schlürfte weiterhin an ihrem Strohhalm.

„Nein, keine Urlaubsliebe!“, versuchte sich Peter nicht zu viel entlocken zu lassen. Seine Sehnsucht nach Maggie hatte er tief in seinem Innersten eingeschlossen und war nicht bereit, diese Gefühle mit irgendjemandem zu teilen. Schon gar nicht mit einem Mädchen, das er nur auf den ersten Blick mit ihr verwechseln konnte.

Trotzdem: Diese Augen rührten etwas in ihm. Lena drehte ihren Strohhalm zwischen Daumen und Zeigefinger. Mit krausgezogener Stirn stellte sie ihr Glas ab, hob den Kopf und forschte in Peters Gesicht. Als ihr Blick den seinen traf, entlud sich in seinem Innersten eine Spannung, als würden hundert Blitze gleichzeitig einschlagen. Ein heftiger Schauder durchströmte seinen Körper, als er in diese wunderschönen, großen blauen Augen sah. Seine Knie wurden weich und die Umwelt wurde für ihn zu einem lautlosen, schemenhaften Hintergrund, der immer mehr verschwand, bis er nur mehr Lenas Augen wahrnahm.

„Ja, ich hatte mich unsterblich in sie verliebt“, gestand er daher dieser Fremden und wusste nicht einmal, warum er das offenbarte. Die Erinnerung an Maggie war plötzlich so wach und so intensiv wie dieses Gefühl, das Lena soeben in ihm entfacht hatte.

David, der noch immer wie ein Leibwächter hinter Lenas Rücken klebte, verstand aufgrund des hohen Lärmpegels nicht jedes Wort. Eigentlich verstand er fast gar nichts. Nicht nur phonetisch, auch freundtechnisch.

Bekam Peter soeben eine Gehirnwäsche verpasst? Peter guckte diese Frau an, als wäre sie eine Prinzessin! Hatte ihn trotz seiner Jugend blitzartig der graue, grüne oder irgendein anderer, kunterbunter Star das Augenlicht genommen? Gut, schön war das Mädchen in der Tat. Das erkannte David trotz einiger Schlieren auf seiner Brille.

Doch sie war absolut nicht Peters Kragenweite. Sogar meilenweit entfernt von seinem Ideal. Eigentlich sogar meilenweit entfernt von seiner ‘Ist-recht-nett-aber-nicht-gut-genug-für-mich’-Haltung. Peter suchte eine Madonna. Nicht die Pop-Prinzessin. Ein Lookalike schmiss sich sowieso gerade an seinen Hals. Nein, Peter legte unglaublich viel Wert auf Ehrlichkeit, Anstand und Anmut. Eine heilige Madonna eben. Also genau den Typ Frau, den es gar nicht mehr gab. Da war es kein Wunder, dass noch keine Frau die Schwelle seiner Wohnung überschritten hatte.

David war Peters bester Freund und kannte ihn nun mal wie seine Westentasche. Er selbst war ein unscheinbarer Brillenträger, der manchmal mit Woddy Allen verglichen wurde. Doch selbst er hatte immer wieder Frauen und Beziehungen, wenn auch manchmal durch den ‚Umweg‘ Peter. Die Frauen, die bei Peter nicht weiterkamen, landeten nämlich allzu oft in seinem Bett. David konnte allerdings schon auf zwei langjährige Beziehungen zurückblicken.

Im Gegensatz zu Peter.

„Sag bloß, du merkst nicht, wie die Mädchen auf dich abfahren. Was glaubst du, warum es für mich so angenehm ist, wenn ich mit dir ausgehe? Natürlich, in erster Linie aus alter Freundschaft und weil es Spaß macht, mit dir abzuhängen“, hatte David gelacht. „Aber in zweiter Linie ziehst du die Mädels an wie die Motten das Licht. Sie umschwirren dich und du lässt sie mit deinem Desinteresse bei lebendigem Leib verhungern. Wenn ich mich um diese unglücklich schmachtenden Geschöpfe nicht kümmern würde, lägen neben deiner Laterne lauter tote Motten herum!“

„Also bist du der reinste Wohltäter?“

„Ja, genau!“

„David, David, was soll ich nur mit dir machen?“, hatte Peter scherzhaft gefragt.

„Nichts, freue dich für mich und lerne vielleicht etwas dazu! Und bis es so weit ist, übernehme ich deine Motten“, hatte David herzhaft geantwortet, war dann aber ernst geworden.

„Fakt ist, ich komme mit Mädchen doch gar nicht ins Gespräch, wenn ich allein unterwegs bin. Die sehen durch mich hindurch oder einfach über mich hinweg.“ Damit hatte er auf seine Körpergröße angespielt.

„Du bist doch nur um fünf Zentimeter kleiner als ich und die Mädchen lachen immer herzhaft, wenn du dich mit ihnen unterhältst.“

„Da hast du recht. Wenn sie mit mir reden, kann ich punkten. Das ist dann meine Stunde, die ich nutze. Nutzen muss! Verstehst du, was ich damit sagen will?“

„Du denkst, dass du allein übersehen wirst?“

„Das denke ich nicht, das weiß ich! Indem sich die schönen Mädchen an dich heranmachen, unterhalten sie sich auch mit dem nichtssagenden Freund, der danebensteht. Anfangs notwendigerweise, doch wenn du dann deine Ignoranz-Nummer abziehst, weil dir keine heilig genug ist ...“

„... dann spielst du deine Humor-Karte aus und schon vergessen sie deine Hornbrille“, hatte Peter vervollständigt.

„Richtig erfasst: Du ziehst sie an ... ich zieh sie aus.“

„Aber erkennst du nicht, dass du bei Mädchen, die leicht zu haben sind, keine wahre Liebe finden kannst?“

„Aber erkennst du nicht, dass du bei deinem Leben als Mönch noch viel weniger die wahre Liebe finden kannst? Im Gegensatz zu mir, findest du aber nicht einmal Sex. Also: Wer von uns beiden ist nun besser dran?“

Touché!

„Warte nur weiterhin auf deine heilige Jungfrau und ich genieße inzwischen die Mädchen, die mir dein Magnetismus in die Arme treibt. Wenn du sie nicht willst, ich schon! Aber lasse dir eines sagen: Sittsame Frauen, wie du sie dir wünscht, sind schon vor Jahrhunderten ausgestorben. Mache Abstriche, sonst wirst du noch als einsamer, alter Jungmann in deiner Wohnung verdorren!“

„Also zu Dörrobst werde ich sicher nicht, nur weil ich meine Prinzipien nicht aufgebe. Ich weiß, irgendwann kommt die Richtige.“

Genau dieses Gespräch fiel David also ein, als er Peter, über Lenas Kopf hinweg, beobachtete. So entrückt hatte er seinen Freund noch nie gesehen. Peter starrte wie hypnotisiert in Lenas Augen und wirkte wie von einem anderen Stern, schien nichts um sich herum wahrzunehmen.

War sie das? Peters Richtige? Wie war das mit dem ‘Wasser predigen und Wein trinken’? Im Vergleich zu Lena waren seine Verflossenen brave Schulmädchen gewesen. An Lena wirkte irgendwie überhaupt nichts echt. Das konnte ein Blinder mit Schleife sehen, wenn sogar er, David, das erkannte.

Jedenfalls war der gemeinsame Männerabend dahin und es gab wahrlich interessantere Momente, als gut abgedeckt hinter einer Blondine zu warten, bis ihn der beste Freund wieder bemerkte. Was so schnell wohl nicht passieren würde, nachdem Peter entweder an Amnesie oder einem Blackout litt.

Vielleicht aber reagierte sein Freund endlich einmal nur wie ein ganz normaler junger Mann mit einem simplen, sexuellen Notstand. Womöglich würde Peter bald verstehen, was David mit ‘Spaß haben’ meinte. Zum Heiraten war diese Lena jedenfalls nicht die Richtige. Das war klar. Doch mit ihr würde Peter sicher viel Spaß haben. Was ihm David von Herzen gönnte.

Nachdem zehn Minuten hinter einer Blondine wie ein heimlicher Spanner zu kauern, definitiv nicht zu Davids Lieblingsbeschäftigungen zählte, machte er auf dem Absatz kehrt und verließ grußlos das Lokal. Wen hätte er auch grüßen sollen? Peter würde erst am nächsten Tag mitbekommen, dass David nicht mehr hinter seiner Angebeteten stand und die junge Dame selbst wartete sowieso wohl nur darauf, dass er endlich abschwirrte.

„Komm, lass uns tanzen!“, entschied Lena, nachdem sie aus den Augenwinkeln bemerkt hatte, dass Peters klebriger Freund offensichtlich verduftet war. Endlich! Lange genug hatte es gedauert, bis der Kerl mitbekommen hatte, dass er störte. Lena hatte aber auch genug von Peters Geschichte über unsterblich Verliebte. Wie langweilig! Und viel zu viel Schmalz für Samstagabend.

Ihr gefiel dieser blonde Bursche mit den widerspenstigen Locken, die ihm ständig ins Gesicht fielen, aber sie wollte nicht seine Psycho-Tante werden. Daher schnappte sie seine Hand und zog ihn zur Tanzfläche.

Als Sam Smith´s „Stay with me“, erklang, legte sie ihre Arme um Peters Hals und bewegte ihren schmalen Körper im Takt zu dieser gefühlvollen Ballade. Peters Hände auf Lenas Hüften, die berauschende Nähe dieses Mädchens, das Maggies Körpergröße besaß und die aufreizende Art, mit der sie sich an ihn schmiegte, beförderten Gefühle zu Tage, die er seit so vielen Jahren nicht mehr empfunden hatte. Er schloss die Augen und ließ sich von diesem Mädchen und der Musik verzaubern.

Als Lena „Stay with me“, in sein Ohr sang und sich an ihn drückte, reagierte sein Körper überraschend heftig und auch ziemlich eindeutig. Seine Hände strichen über Lenas Rücken und er drückte sie kräftig an sich. Ihre beiden Körper verschmolzen auf der Tanzfläche förmlich zu einem einzigen, sich rhythmisch wiegenden.

In Gedanken war er Maggie so nahe wie in den vergangenen Jahren lediglich in seinen Träumen. Seine Fantasie führte ihn ins Paradies, während Lena sein Sehnen schürte und spürte.

„Na, Peter, bist du deiner Urlaubsliebe auch so nahegekommen?“ Bevor er antworten konnte, legte sie ihren Finger an seine Lippen.

„Sag nichts! Es ist doch eigentlich völlig egal!“ Wie von selbst begannen seine Lippen, ihre Finger zu küssen und er sah Lena lange in die Augen. Inzwischen bewegten sie sich nicht mehr, standen Körper an Körper und fühlten lediglich die prickelnde, erotische Nähe des Anderen.

Peters Blick senkte sich auf Lenas Lippen die erwartungsvoll auf seine warteten. Als sich ihre Lippen zu einem leidenschaftlichen Kuss fanden, blieb die Welt für Peter stehen und ab jenem Moment war Lena in seinen Armen, Gedanken und in seinem Herzen.

Als Peter an den Beginn seiner Beziehung dachte, musste er unwillkürlich lächeln. Lena. Sie war in sein Leben gestürmt wie John Wayne durch eine Saloon-Tür. Bereits eine Woche nach ihrem Kennenlernen war sie mit einigen Koffern in Peters Wohnung aufgetaucht und hatte sich häuslich niedergelassen. Sein Badezimmer glich seither einem Drogeriemarkt und das Vorzimmer einem Schuhgroßhandel. Lenas High-Heels lagen verstreut vor dem Schuhregal, weil das gute alte Möbel aus allen Nähten platzte.

„Schön, dass du so viel Platz hast“, hatte sie geschwärmt, als sie seinen Kleiderschrank mit ihrer Garderobe vollgestopft und seine Kleidung zusammengeschoben hatte wie eine Ziehharmonika, die man zum Verstauen zusammenklappte.

„In meiner kleinen Garconniere habe ich schon nicht mehr gewusst, wohin ich alles stapeln soll. Jetzt kann ich mich endlich ausbreiten“, hatte sie sich wie ein kleines Kind gefreut, als sie Peters Wohnung übernommen hatte.

Die neue Lebenssituation wurde für Peter zu einer Herausforderung, denn seine Bleibe war schneller zu Lenas Heim geworden als John Wayne einen doppelten Whiskey in seine ausgedörrte Kehle kippen konnte. Seine bislang behagliche Ordnung war einem kunterbuntem Chaos gewichen. Anarchie und Hektik hatte die Ruhe abgelöst, die ihn bislang in seinen vier Wänden umhüllt hatte.

Doch er fühlte sich zum ersten Mal in seinem Leben lebendig. Es war ein neues und schönes Gefühl, diese quirlige Person um sich zu haben. Jeden Tag und jede Nacht. Wenn sich Lena nach einem stürmischen Abend seufzend in seinen Armen wie ein kleines Kätzchen zusammenrollte, dachte er nicht mehr an die verlorene Ruhe, sondern nur mehr an die gewonnene Zärtlichkeit. Lena war wie ein Wirbelwind in sein Leben geweht und hatte sein Herz im Sturm erobert. Er genoss ihre Nähe genauso wie ihre Unruhe.

Zumindest bemühte er sich sehr, sie zu mögen.

Lediglich Lenas überspanntes Wesen, sowie ihr großspuriges Auftreten störten ihn manchmal. Bescheidenheit zählte eindeutig nicht zu Lenas Stärken. Durch ihre aufdringliche und fordernde Mentalität fühlte er sich an manchen Tagen zudem leicht überfordert. Und überreizt. Aber man kann nicht alles haben, lächelte er nachsichtig, wenn er über Lenas Schuhe Tempelhüpfen musste, um das Vorzimmer durchqueren zu können.

David sah die Situation objektiver. Als die beiden Männer eines Tages gemeinsam auf ein Bier gingen, hielt er mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg.

„Die junge Lady hat sich bei dir eingenistet und lässt sich von dir aushalten. Wenn ich wüsste, dass sie dein Typ ist, würde ich das verstehen. Doch über Mädchen wie Lena hattest du früher doch eine vorgefasste Meinung!“

„Das stimmt, doch manchmal sind Vorurteile keine guten Ratgeber. Ich weiß, du kannst das nicht verstehen, doch irgendetwas rührt mich an Lena. Etwas, das ich dir nicht erklären kann, weil ich es selbst nicht verstehe.“

„Oh, ich verstehe schon, was sie in dir für Saiten zum Klingen bringt“, grinste David zweideutig.

„Nein, das meine ich nicht“, boxte Peter seinen Freund auf den Oberarm.

„Ich war früher ein einsamer Wolf und nun bin ich ...“, er suchte nach den passenden Worten.

„Ein springfreudiger, dressierter Pudel, der auf Kommando durch Lenas hochgehaltene Reifen hüpft“, titulierte David die Veränderung seines Freundes.

„Ein Mann, der zum ersten Mal glückliche Stunden erlebt“, korrigierte Peter.

„Aber nur, wenn du machst, was sie will!“, schüttelte David den Kopf.

„Ich mache sie gerne glücklich“, stellte Peter lächelnd fest.

„Und dafür musst du springen. Peter: Spring auf und koche das Abendessen! Peter: Spring zu deinem Chef und besorge Lena einen Job in leitender Position!“

„David, bitte freue dich doch einfach mit mir! Ich erlebe eine schöne Zeit und das verdanke ich Lena. Ich möchte mich nicht durch Unkenrufe von außen verunsichern und meine Gefühle für sie beeinflussen lassen.“

„Heißt das, du willst die Wahrheit nicht mehr hören?“

„Doch, schon, aber ...“ Peter stockte.

„Aber nicht über Lena. Ich verstehe.“

„Das habe ich nicht gemeint.“

„Doch, das hast du gemeint, aber du willst es nicht aussprechen. Ich bin dein Freund und befürchte, dass dir Lena wehtun wird. Du bist derzeit so manipulierbar und so kenne ich dich gar nicht. Gerade du warst doch immer so kopflastig.“

„Vielleicht war das aber gar nicht gut. Womöglich sollte ich wirklich mehr auf mein Herz hören und Lena hat diesen Wandel in die Wege geleitet. Vielleicht hat mein Herz entschieden, Lena in mein Leben zu lassen.“

„Na dann genieße diese Zeit mit Lena. Wenn dein Herz und dein Hirn wieder miteinander sprechen, wird sich herausstellen, ob ich mich geirrt habe, oder du einen guten Freund brauchst.“ Bei den letzten Worten nahm David eine salutierende Stellung ein. „Kamerad David steht jedenfalls Gewehr bei Fuß.“ Er tippte mit den gestreckten Fingern seiner rechten Hand an seine Stirn und vollzog einen formvollendeten militärischen Gruß, der die Ernsthaftigkeit dieses Gespräches beendete und Peter zum Lachen brachte.

„Danke, David. Weißt du, ich verstehe selbst nicht, was mit mir los ist. Aber ich fühle mich zum ersten Mal in meinem Leben so lebendig.“

„Dann denke nicht weiter nach, sondern genieße diese Zeit mit Lena einfach in vollen Zügen!“

Peter vermied es in weiterer Folge mit David über Lena zu diskutieren. Er wusste, dass sein Freund in vielen Dingen rechthatte. Doch dieses Eingeständnis wollte er keinesfalls laut aussprechen.

Als er Lena kennengelernt hatte, hatte lediglich sein Körper reagiert. Unerwartet heftig und nicht ganz verständlich. Diese Augen! Maggies Augen! Diese kleine Ähnlichkeit und die Erinnerung an seine verlorene Liebe hatten Peters Handlungsfähigkeit und seinen freien Willen vollkommen außer Kraft gesetzt.

Das wusste er sehr wohl! Und auch, dass seine Passivität Lena freie Hand gegeben hatte und sie seither geschickt alle Fäden zog, um sich ein angenehmes Leben zu basteln. An dessen Enden hing Peter wie eine Marionette. Doch er fühlte sich nicht schlecht dabei!

Vielleicht war das, was mit ihm geschah, doch eigentlich gar nicht so übel! Immerhin: Was war denn die Alternative? Allein zu bleiben? Weiter auf seine Traumfrau zu warten? Auf Maggie?

Seit Jahren geisterte sie durch seine Gedanken und unwillkürlich schien er ständig zu vergleichen. Je mehr Zeit verging, desto unerreichbarer wurde das Podest, auf dem sich Maggie immer höher und höher erhob. Doch es wurde Zeit, dass er dieses erfolglose Sehnen als das erkannte, was es war: Verlorene Liebesmüh.

Er war seit jenem Sommer nicht mehr nach Ladendorf gekommen. Nach so vielen Jahren war Maggie vielleicht bereits verheiratet und Mutter einiger Kinder. Es wurde Zeit, das Podest abzubauen. Maggie war Vergangenheit. Lena hingegen Gegenwart und vielleicht auch Zukunft.

In ruhigen Momenten, wenn er am Arbeitsplatz in der Kaffeeküche einen Espresso trank, ließ er sein Leben Revue passieren: Er hatte sein Studium erfolgreich beendet, war danach in der Unito-Versicherung als Referent aufgenommen und vor zwei Jahren zum Leiter der Schadensabteilung befördert worden. Beruflich lief sein Leben in geordneten Bahnen und sein Job machte ihm Spaß. Er war am Arbeitsplatz beliebt und hatte ein engagiertes Team um sich.

Zudem besaß er eine gemütlich eingerichtete Zweizimmer-Wohnung, ging einmal in der Woche Tennisspielen und hatte einen zufriedenstellenden Notgroschen ansparen können. Er fühlte sich im Großen und Ganzen wohl in seiner Haut.

Doch das war auch schon alles. Und eigentlich war das nicht viel. Weil es nur materielle Werte waren, die er sich bisher geschaffen hatte. Was zählten jedoch geschäftlicher Erfolg und ein schönes Zuhause, wenn es niemanden gab, mit dem er sein Leben teilen konnte? Nicht viel!

Er war inzwischen 30 und wusste: Wer lange allein lebte, gewöhnte sich an die Einsamkeit und blieb solo, weil man sich irgendwann gar nicht mehr an einen anderen Menschen anpassen konnte oder wollte.

Vielleicht war es daher das Beste für ihn, dass Lena dieses Thema so eigendynamisch gelöst hatte. Sie war wie frischer Pulverschnee durch ein geöffnetes Fenster in seine Einsamkeit geschneit und er hatte sich an sie gewöhnen müssen. Ob er wollte oder nicht.

Sie gab ihm keine Möglichkeit ‘nein’ zu sagen oder zu wählen, ließ ihm keine Zeit zum Zaudern, Nachdenken oder gar Vorurteile wälzen. Je mehr er darüber nachdachte, desto sicherer war er, dass Lena gut für ihn war.

Wenn du nicht bekommst, was du liebst, musst du lieben, was du bekommst. Und er hatte Lena bekommen. Ein nachträgliches Abwägen aller Für und Wider hatte daher gar keinen Sinn. Sägemehl kann man auch nicht mehr mahlen. Es bleibt zersägtes Sägemehl. Wie Lena nun mal Lena blieb. Die Frau an seiner Seite.

Bedauerlich war lediglich, dass ihn sein Umfeld des Öfteren zum Mahlen regelrecht aufforderte. Manche nicht aktiv. Seine Eltern beispielsweise verhielten sich ruhig. Zu ruhig.

„Wie gefällt dir Lena?“, hatte Peter seine Mutter gefragt. Er war ihr nach dem gemeinsamen Kennenlernen-Essen sogar in die Küche gefolgt, um unter vier Augen ihre Meinung zu hören.

„Dir muss sie gefallen!“, war sie jedoch ausgewichen und rasch wieder in das Wohnzimmer geflüchtet. Ihre verschwommene Antwort auf seine direkte Frage, hatte jedoch mehr Aussagekraft als eine seitenlange Theaterkritik.

Die Blicke und Zweideutigkeiten seiner ehemaligen Schulfreunde hingegen waren eindeutig zweideutig.

„Aus welchem Etablissement ist denn deine Lena entlaufen?“, war die gröbste Frechheit, die Peter seinerzeit veranlasst hatte, einen Freund aufzugeben. Auch wenn diese Beleidigung seinem Tennispartner nach einigen Bierchen aus dem Gesicht gefallen war, konnte Peter diese Respektlosigkeit einfach nicht akzeptieren. So redete niemand über seine Freundin! Peter war damals wortlos aufgestanden und hatte seine Freundesrunde verlassen.

Er versuchte, alle Unkenrufe von außen zu ignorieren. Er lebte mit Lena und nicht mit seinen Freunden.

Früher hatte er oft nachgedacht, was er aus seinem Leben machen sollte. Diese Gedanken waren vorüber. Wer erst darüber nachdenkt, ob er glücklich ist, ist es schon nicht mehr.

Außerdem: Lena entschied sowieso ab ihrem Eintritt in Peters Leben, was er aus seinem Leben machen sollte. Und auch gleich, was er aus ihrem Leben machen sollte. Nachdem sie ihren Job als Bürohilfskraft verloren hatte, brachte sie Peter dazu, ihr einen guten Arbeitsplatz in der Unito-Versicherung zu organisieren.

Aber es war keinesfalls so gewesen, wie David es so zynisch formuliert hatte: „Peter: Spring!“ Nein, so war es wirklich nicht gewesen.

Lena war damals todunglücklich gewesen. Nachdem sie sich leidenschaftlich geliebt hatten, lag sie mit ihrem Kopf auf Peters Schulter und seufzte schwer.

„Ich wurde an meinem letzten Arbeitsplatz überhaupt nicht anerkannt. Meine Kolleginnen haben mich regelrecht gemobbt.“

„Das ist widerwärtig. Hat dich denn niemand beschützt? Wie verhielten sich deine Vorgesetzten?“, empörte sich Peter.

„Ach, meine Chefin hat sogar mich als Störenfried bezeichnet. Kannst du dir das vorstellen?“ Aus Lenas wunderschönen Augen quollen dicke Tränen und Peters Herz wurde schwer.

„Weine doch nicht, mein Liebes!“ Während er ihr die Tränen von den Wangen küsste, fragte er behutsam: „Vielleicht kann ich dir helfen. Was würdest du denn gerne tun? Wo liegen deine Stärken?“

„Ich dachte an eine leitende Stelle im mittleren Management, damit es noch Luft nach oben gibt“, wirkte Lena gleich wesentlich besser gelaunt. Sie umging Peters Frage nach ihren Stärken, brachte stattdessen ziemlich detailliert ihre klaren Vorstellungen zum Ausdruck.

„Du bist doch in eurem Unternehmen sehr gut angeschrieben und hast einen guten Draht zu eurem Geschäftsführer. Kannst du mir nicht eine adäquate Stelle besorgen?“ Peter dachte kurz nach und als er in ihre hoffnungsvollen Augen sah, nickte er.

„Ich werde mit Gabriel Seeliger ein Gespräch führen.“ Dieser Satz trocknete Lenas Tränen zur Gänze und ein glückseliges Lächeln erhellte ihre makellosen Gesichtszüge.

„Du bist so ein Schatz!“, jubilierte sie und fuhr mit der Hand unter die Bettdecke. Diese Nacht im Mai wurde atemberaubend. Vollgepumpt mit Adrenalin und einem glücklichen Grinsen verließ Peter am nächsten Tag das Haus und ließ sich umgehend einen Termin bei Seeliger geben.

Die Büroleiterin Mai 2015

Peters väterlicher Freund Seeliger nahm sich noch am Vormittag Zeit für ihn. In kurzen Worten brachte Peter sein Anliegen vor. Die beiden hatten ein enges, nahezu freundschaftliches Verhältnis zueinander. Für Seeliger war Gutmann wie der Sohn, den er nie gehabt hatte.

Seeliger wusste, Personalempfehlungen des Schadendienstleiters musste er nicht hinterfragen. Auf Gutmann konnte er sich verlassen. Aus diesem Grund verzichtete er auf die üblichen Aufnahmetests und ein psychologisches Gutachten, sondern gab nach kurzer Nachdenkpause sofort seine Zusage.

„Wenn Sie möchten, kann die junge Dame, für die Sie sich verbürgen, am kommenden Montag zu arbeiten beginnen. Wenn ich in meinem Ressort, dem Personalbüro, eine zusätzliche Hierarchiestufe einführe, kann Ihre Freundin als Büroleiterin für die sieben Mitarbeiterinnen der Gehaltsverrechnung die organisatorische Leitung übernehmen. Unterstützung kann ich selbst ebenfalls gut gebrauchen. Mir wächst in letzter Zeit schon vieles über den Kopf“, seufzte er tief und plante weiter. „Wenn ich von meinem Arbeitsbereich einige Tätigkeiten abgeben kann, wäre mir das eine große Hilfe und Ihre Freundin kann sich beweisen.“ Beim letzten Satz merkte Peter, wie müde und glanzlos Seeligers Augen wirkten.

„Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte er besorgt.

„Ich bin nicht krank, wenn Sie das wissen wollen. Zumindest glaube ich das, weil ich Arztbesuche meide wie der Teufel das Weihwasser“, scherzte er und rollte liebenswürdig mit den Augen. Wie immer, wenn er sich über eine seiner Schwächen lustig machte. Seeliger wusste, dass seine Weigerung, sich ärztlich untersuchen zu lassen, nicht nur bei seiner Frau auf schärfste Kritik stieß.

„Aber Scherz beiseite“, resümierte er weiter, „die Gelenke spielen nicht mehr so mit und nach einem langen Arbeitstag merke ich einfach, dass ich auch nicht jünger werde.“ Er tippte sich auf sein rundes Bäuchlein, das die weißen Knöpfe seines Hemdes mächtig unter Druck setzte. Peter lachte und versuchte nicht auf die rosige Haut, die zwischen den Hemdknöpfen durchquoll, zu gucken. Seeliger merkte es trotzdem.

„Ich weiß, ich schleppe einige Kilos zu viel mit mir herum und dass ich aufgrund dessen etwas kurzatmiger unterwegs bin und rascher ermüde, leuchtet mir selbst ein. Wozu sollte ich mir daher von einem Arzt mein Haltbarkeitsdatum erklären lassen? Ich weiß selbst, dass ich abnehmen sollte. Und dass es zwickt und zwackt, ist der natürliche Verlauf des Alterungsprozesses. Wie sagt man so schön? Altwerden ist nichts für Feiglinge.“

„Sie sind aber doch gar nicht alt und wirklich übergewichtig sind Sie auch nicht. Sie haben lediglich ein kleines Wohlstandsbäuchlein“, und ein zu enges Hemd, dachte Peter, ohne es auszusprechen. „Wenn Sie unter Kurzatmigkeit leiden, sollten Sie das daher abklären lassen.“

Seeliger wollte unterbrechen, doch Peter hob seine Hand und sprach weiter: „Es könnten immerhin auch andere gesundheitliche Probleme hinter Ihren Beschwerden stecken. Warum wollen Sie sich das nicht abklären lassen?“, fragte er besorgt.

„Ich habe einfach keine Lust in Arztwartezimmern Wurzeln zu schlagen“, grummelte Seeliger.

„Schlechtes Argument“, konterte Peter.

„Und ich hasse Arztbesuche. Ist das ein besseres?“

„Nicht wirklich“, schüttelte Peter den Kopf.

Da wechselte Seeliger elegant das Thema: „Es wird einfach Zeit, dass ich Platz für die Jugend frei mache. Deshalb kommt Ihre Vorsprache zum besten Zeitpunkt: Ich bin schon sehr gespannt auf ihre Freundin.“

„Sie wissen aber schon, dass es besser wäre, sich von einem Arzt untersuchen zu lassen. Für viele Beschwerden gibt es Medikamente, aber wenn Sie nie zu einem Arzt gehen, werden womöglich ernsthafte Krankheiten übersehen. Sie sind für die Firma und auch ihre Familie ...“, wollte Peter, der Seeligers vorherigen Themenwechsel als Flucht vor einem ungeliebten Thema erkannt hatte, seinem väterlichen Freund weiter ins Gewissen reden. Doch wie wichtig Seeliger für seine Firma und Familie war, konnte Peter gar nicht mehr vorbringen.

„Jetzt hören Sie sich aber schon verdächtig stark wie meine Gattin an“, unterbrach ihn Seeliger mit einem herzlichen Lachen.

„Dann sollten Sie vielleicht wirklich auf Ihre Frau hören!“, blieb Gutmann dabei, erkannte aber aufgrund Seeligers Fröhlichkeit, dass für ernsthafte Sorge wohl kein Grund bestand.

„Glauben Sie mir, wenn ich das Gefühl habe, dass etwas mit mir nicht in Ordnung ist, werde ich zu einem Arzt gehen“, versprach Seeliger und hob seine Finger zum heiligen Schwur.

„Dann bin ich beruhigt“, nickte Peter.

„Vielleicht war dieses Gespräch ein Wink des Schicksals und Lenas Eintritt in Ihre Abteilung wird für alle Beteiligten ein Gewinn. Sie könnten künftig kürzertreten und Lena wird sich bewähren können. Sie ist sehr engagiert und ehrgeizig.“

„Dann machen wir es so! Schicken Sie die junge Dame am Montag um acht Uhr zu mir. Sie soll für den Personalakt Schulzeugnisse, Empfehlungsschreiben und Dienstzeugnisse mitbringen.“

Nachdem Peter das Büro verlassen hatte, veranlasste Seeliger, dass für Lena das verwaiste Sekretariat neben seinem Büro adaptiert wurde. Normalerweise stellte er ohne Aufnahmetest keine Mitarbeiter ein. Doch er hätte Peter Gutmann vor den Kopf gestoßen, hätte er den langwierigen Dienstweg vorgeschlagen. Stattdessen zeigte er dem Schadendienstleiter, wie sehr er seiner Menschenkenntnis vertraute und versuchte gleichzeitig das Risiko einer ‘Blind-Anstellung’ auf seine eigene Kappe zu nehmen. Sollte sich diese Personalentscheidung im Nachhinein als Fehler herausstellen, müsste er die Konsequenzen selbst tragen und nicht jemand anderer, der gar nichts dafür konnte.

Aber das würde es nicht. Da war er sich sicher. Trotzdem. Seeliger wusste: Nicht jede Person passte in jedes Team. Sollte sich demnach die von Gutmann empfohlene Dame in seine Mannschaft, die eher eine Frauschaft war, nicht gut integrieren können, würde er, und nur er, eine Lösung finden müssen.

Die Dame, die er soeben aufgenommen hatte, schien kein Fachwissen in der Personalverrechnung zu besitzen. Das sah er jedoch nicht als Hindernis, denn die Mitarbeiterinnen der Personalabteilung arbeiteten selbständig. Sie brauchten niemanden, der ihnen bei der Arbeit über die Schulter sah.

Nachdem Gutmann gegangen war, begann Seeliger ein Konzept zu erstellen, wie der Arbeitsbereich von Lena aussehen konnte. Fürs Erste würde er ihr nicht wirklich anspruchsvolle Tätigkeiten übergeben, die ihm lästig waren, ihn aber an wesentlichen Arbeiten hinderten. Die Überarbeitung der Geldwäschebestimmungen beispielsweise. Wie lange schob er diesen Stapel schon von links nach rechts und dann zur Abwechslung von rechts nach links? Nicht mehr lange, freute er sich. Ab Montag würde sich Kessler damit auseinandersetzen. Damit war sie einige Zeit mit Lesen beschäftigt. Erleichtert suchte Seeliger den Ordner mit den losen Zetteln über Gesetzestexte, Vorlagen und bisherige Betriebsvereinbarungen aus seinem höchsten Stapel zu seiner Linken.

Ich werde Frau Kessler zur Geldwäsche-Beauftragten erklären, dann wird das Studium dieser Materie durch die aufwertende Bezeichnung etwas interessanter. Seeliger wusste, wie man Menschen motivierte: Mit kreativ gewählten Titeln! Jedes noch so unterentwickelte Selbstbewusstsein beginnt zu schillern, heftet man dekorierende Titel an dessen Träger!

Fürs Erste aber ersparte er sich durch diese rasche Personalaufnahme die Nachbesetzung seiner Sekretärin. Die gute Seele war seit einem Monat mit schwerem Rheuma im Krankenstand und würde sich nach ihrem Kuraufenthalt in den Ruhestand verabschieden. Während ihrer Abwesenheit hatten seine tüchtigen Personal-Verrechnerinnen die Arbeiten der kranken Assistentin übernommen. Es wurde daher wirklich Zeit, dass er diese Arbeitsbienen allmählich entlastete.

Damit die Tätigkeiten nicht der Dienstbeschreibung einer Assistentin, sondern einer Büroleiterin entsprechen, werde ich Frau Kessler zusätzlich die organisatorische Leitung der Personalagenten abtreten. Die sieben Damen der Personalabteilung sollen mit Frau Kessler, als deren Büroleiterin, geplante Urlaube und Fehlzeiten absprechen, anstatt wie bisher direkt mit mir, freute sich Seeliger.

Diese Tätigkeit mochte er nämlich nicht. Es tat ihm immer in der Seele weh, wenn er einer Mitarbeiterin nur dann Urlaub genehmigen konnte, wenn er ihn gleichzeitig einer anderen streichen musste. Das kam zwar selten vor, denn die Kolleginnen sprachen sich in der Regel untereinander ab. Doch in der Ferienzeit gab es bei Müttern oft Engpässe und da musste oft er eine Entscheidung herbeiführen. Seine Mitarbeiterinnen zu frustrieren, lag Seeliger aber überhaupt nicht.

Daher war es ein angenehmer Nebeneffekt, dass er diesen Bereich seiner Tätigkeit auslagern konnte. Dafür brauchte die junge Dame nur etwas organisatorisches Talent, Durchsetzungsvermögen und viel Empathie, wenn es mal zu Unstimmigkeiten zwischen den Mitarbeitern kommen sollte.

Einer Frau liegen Feingefühl und Einfühlungsgabe sowieso im Blut, war Seeliger stolz auf seinen genialen Schachzug. Eine klare Win-win-Strategie. Dachte er.

Bis er die junge Dame kennenlernte.

In einem Punkt hatte er sich tatsächlich nicht geirrt: Durchsetzungsvermögen hatte sie. Doch bei der Vergabe der Talente, die Seeliger eher Frauen zusprach, hatte sich Lena offenbar geschickt versteckt, als das Feingefühl verteilt worden war. Sie stöckelte auf High-Heels und Mini-Röckchen durch die Personalabteilung und belehrte in der ersten Arbeitswoche eine junge Mitarbeiterin, wie man sich im Büro zu kleiden hatte. Coram publico. Was für ein Einstand!

„Fräulein Jung, Sie wissen schon, dass eine Jeans-Hose für die Freizeit gedacht ist“, fuchtelte Lena mit ihrem manikürten Zeigefingernagel vor den Augen der Kollegin herum.

„Als Ihre Vorgesetzte sehe ich es daher als meine Aufgabe, Sie anzuhalten, am Arbeitsplatz in entsprechender Kleidung zu erscheinen. Sollten Sie weiterhin mit einer Blue-Jeans im Büro aufkreuzen, muss ich ihr Fehlverhalten leider bei Herrn Diplomkaufmann Seeliger aufzeigen.“

„Aber Herr Seeliger hat nichts gegen meine Kleidung“, empörte sich Sonja Jung.

„Für Sie: Herr Diplomkaufmann Seeliger!“, wies Lena die Kollegin zurecht und betonte den sperrigen Titel, indem sie ihn langsam, aber dafür laut, wiedergab.

„Aber Herr Seeliger hat uns gesagt, dass er auf den Titel keinen Wert legt und wir ihn nicht mit ‘Diplomkaufmann’ anreden sollen“, nahm Sonja die Kritik nicht an und betonte das Wort genauso wie Lena, zeichnete mit den Fingern sogar noch ein Gänsefüßchen dazu.

„Außerdem ist eine Jeans heutzutage ein gesellschaftsfähiges Kleidungsstück“, war sie noch nicht fertig, „und nachdem ich sie mit Bluse und Blazer kombiniere, bin ich keinesfalls unpassend oder gar schlecht angezogen. Im Gegenteil: Ich bin anständig gekleidet!“

Das Wörtchen ‘anständig‘ hob sie besonders laut und deutlich hervor und hob abermals ihre Hände, ließ dann aber die Gänsefüßchen doch lieber weg. Stattdessen sah sie angriffslustig in den Ausschnitt ihres Gegenübers, weil Lenas Busen beinahe aus der Bluse sprang. Ihren verächtlichen Blick ließ Sonja bis zu dem schmalen Stoffstreifen, der wohl als Rock für eine Achtjährige gedacht war, gleiten und schüttelte dabei leicht, aber weithin sichtbar den Kopf. Lena stemmte die Arme in ihre Taille und legte los.

„Aber ich habe nun einmal etwas gegen Jeans!“, hieb sie mit ihrer kleinen Faust, die sie aufgrund ihrer langen Fingernägel gar nicht wirklich schließen konnte, auf den Bürotisch, „und als Ihre Büroleiterin lege ich nun einmal auf gebührendes Outfit viel Wert. Auch verbitte ich mir diesen respektlosen Ton! Sollten Sie meine Autorität untergraben wollen, können wir auch gleich jetzt gemeinsam zu Herrn Diplomkaufmann Seeliger gehen.“ Dabei schaute sie herausfordernd der jungen Frau in die Augen, der es kurzfristig die Rede verschlug.

Woraufhin Lena noch eine Drohung nachschickte: „Wenn Ihnen Ihr Job etwas bedeutet, sollten Sie meine Anordnungen demnach besser befolgen!“ Sonja Jung lief tiefrot an.

„Schauen Sie!“, wurde Lenas Stimme etwas sanfter, weil sie Sonjas Schweigen als Nachgiebigkeit auslegte. „Ich verlange doch nichts Unmögliches. Nur angepasste Kleidung!“

„So wie Sie?“, presste Sonja zwischen den Lippen hervor. Ihre Gedanken behielt sie für sich, durfte sie als Mutter von zwei Kindern doch ihren Job nicht gefährden.

„So in der Art“, nickte Lena und schien nicht bemerkt zu haben, dass Sonjas Frage zynisch gemeint war. Stattdessen schob Lena ihren schmalen Hintern auf den Schreibtisch, schlug die Beine übereinander und rezitierte, dass alle umstehenden Kolleginnen die Augen aufrissen. „Ich selbst bevorzuge Kleider von Chanel. Dass meine Untergebenen ebenfalls hochwertige Designerkleidung tragen, verlange ich natürlich nicht. Derart ausgewählte Garderobe muss man sich leisten können und ich bin ja kein Unmensch. Ich verbiete lediglich Blue-Jeans.“

Als sie während ihrer Rede die Beine überkreuzte, bot sie jedem, der sich nicht rechtzeitig wegdrehen konnte, einen Blick auf ihre Unterhose, die durch die Netzstrumpfhose schimmerte. Gottlob trägt sie überhaupt einen Slip, schüttelte Sonja den Kopf. Und diese Frau hält mir einen Vortrag über entsprechende Kleidung?

Sonja schnaubte. Aber wortlos. Nach innen. Äußerlich blieb sie still und wartete darauf, dass Kessler das Büro verließ. Danach lief sie schnurstracks zu Ihrem Chef. Kaum stand Sonja in Seeligers Büro, wusste er, dass seine Rechnung nicht aufgegangen war. Er hatte gehofft, von zwischenmenschlichen Spannungen verschont zu werden, hatte dafür diese neue Mitarbeiterin aufgenommen. Nun stellte sich ausgerechnet die erwartete Unterstützung als Auslöser für einen Zickenkrieg heraus. So empört hatte er Jung, die zuverlässige Gehalts-Verrechnerin noch nie erlebt.

Jung sollte nicht die Einzige bleiben, die ab nun regelmäßig bei Seeliger Hof hielt. Anstatt sich, wie früher, nur ab und zu mit den Damen bezüglich einer Terminkollision auseinandersetzen zu müssen, musste er seit Kesslers hilfreichem Aufkreuzen fast täglich weibliches Gezänk und bürgerkriegsähnliche Zustände ausbügeln.

Die Aussagen seiner treuen Mitarbeiterinnen konnte er teilweise verstehen. Deren hasserfülltes Auftreten weniger. Vor allem die emotionalen Ausbrüche, wenn die Kolleginnen über Kesslers Äußeres herzogen, fand er befremdlich. Er empfand Kesslers Outfit nicht wirklich als Problem. Ihre Kleidung war enganliegend, doch warum hätte er sich darüber aufregen sollen?

Diese Sichtweise konnten seine Mitarbeiterinnen jedoch nicht teilen. Stutenbissigkeit? Bisher hatte es dieses Phänomen in seiner Abteilung definitiv nicht gegeben. Warum jetzt?

Lena hatte eine Erklärung parat: „Die Damen sind doch nur neidisch. Wissen Sie, mit frustrierten Damen habe ich Zeit meines Lebens Probleme gehabt. Ich lege halt Wert auf gutes Aussehen. Was ist daran schon falsch?“

„Nichts“, bestätigte Seeliger und seine Augen blieben unbeabsichtigt in Lenas Ausschnitt hängen.

„Das sehe ich auch so. Doch für Damen mit äußerlichen Nachteilen ist die Anwesenheit einer anderen, schöneren Frau scheinbar nur schwer auszuhalten. Was glauben Sie, wie oft ich in meinem bisherigen Leben von solch bösartigen Weibern bereits gemobbt wurde?“ Sie zückte ein Taschentuch und tupfte sich eine einzelne Träne aus ihren schönen Augen, bevor die Wimperntusche eine schwarze Spur auf ihren Wangen hinterlassen konnte. Das konnte Seeliger nicht sehen.

„Bitte weinen Sie nicht!“, zappelte er unruhig auf seinem Sessel hin und her. Weibliche Tränen machten ihn hilflos. Um Zeit zu gewinnen, zupfte er ein Kleenex aus der Box auf seinem Schreibtisch und reichte es Lena, weil ihr eigenes Taschentuch bereits völlig geschwärzt und durchgeweicht war.

Dann fand er seine Sprache wieder: „Ich weiß, dass aller Anfang schwer ist und Sie erst Ihren Platz in der Gruppe finden müssen. Die Damen in meiner Abteilung sind nicht bösartig. Ich kenne jede einzelne bereits viele Jahre.“

„Ja, zu Ihnen sind sie es auch nicht“, schniefte Lena in ihr Kleenex. „Bissig sind sie nur zu mir!“

„Versuchen Sie mit offenem Herzen auf die Damen zuzugehen.“

„Das tu ich doch!“, beharrte Lena „Ich bin offenherzig! Sehr sogar!“

„Dann wird sich auch alles zum Guten wenden“, versuchte Seeliger einen Abschluss zu finden. Er hatte, bekräftigt durch Lenas Wortwahl, das unbestimmte Gefühl, dass die derzeitige, so plötzlich aufgewallte, weibliche Aufregung irgendwie doch mehr mit Kessler selbst zu tun hatte, als sie sich selbst zugestehen wollte.

Oft klafft Fremdwahrnehmung und Eigenwahrnehmung weit auseinander.

„Sie werden sehen: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es zurück. Bedenken Sie das und geben Sie sich und den Kolleginnen noch etwas Zeit, um sich aneinander zu gewöhnen.“

Nur nicht einmischen. Nur nicht auf eine Seite schlagen. Hoffen, dass sich die Wogen von allein glätten.

Was nicht geschah. Die Lawine war losgetreten, rauschte immer rascher Richtung Tal und direkt in Seeligers Büro. Diese Frau wird noch mein Sargnagel, seufzte er des Öfteren, denn Lena lebte ihre Rolle als Büroleiterin weiterhin mit überheblicher Autorität aus. Wurde Seeliger in eines der schon beinahe täglichen, destruktiven Streitgespräche hineingezogen, spürte er des Öfteren ein wohlbekanntes, schmerzhaft brennendes Druckgefühl in seinem Brustkorb.

Ich sollte mich wirklich mal wieder einem Gesundheits-Check unterziehen, dachte er immer öfter. Doch bevor er sich um seine Gesundheit kümmerte, wollte er sein Lebenswerk geordnet übergeben. Zwei tüchtige, junge Mitarbeiter waren in seine engere Wahl gekommen. Sowohl Peter Gutmann als auch Thomas Kaufmann schienen als Nachfolger geeignet zu sein. Die beiden jungen Akademiker waren tatkräftig, scharfsinnig und darüber hinaus äußerst menschlich. Er hielt auf die beiden große Stücke, denn gerade Humanität war in Führungsetagen eine seltene Tugend geworden. Leider auch in der Unito-Versicherung.

Als Seeliger an Porter dachte, spürte er einen heftigen Stich hinter seinem Rippenbogen. Er hatte nicht verhindern können, dass dieser Emporkömmling in den Vorstand gewählt worden war, weil er damals krank gewesen war. Da soll sich noch jemand darüber wundern, warum ich nicht gerne zu Ärzten gehe.

Damals hatte er auf seine Frau gehört und sich in medizinische Behandlung begeben. Gut, ihre Sorge war nicht unbegründet gewesen. Er hatte seinerzeit tatsächlich einen Herzinfarkt erlitten. Aber es war nur ein kleiner gewesen. Trotzdem bekam er im Krankenhaus einen Stent, der die verengte Arterie wieder dehnen sollte.

Die Wochen, die er danach in der Rehabilitatsionsklinik verbracht hatte, waren von Porter intensiv genutzt worden. Er hatte die Vorstandsmitglieder Benesch und Braun von der Unfähigkeit Lugners überzeugt, der durch dessen Alkoholproblem tatsächlich immer leistungsschwächer geworden war.

Voll Tücke hatte Porter die Urlaubszeit abgewartet. Als der Aufsichtsrats-Präsident Michael Trost, Seeligers bester Freund und Mitbegründer der Unito-Versicherung, aus einem vierwöchigem Segelturn aus Kroatien zurückgekehrt war, war Karl Porter bereits Vorstandsmitglied. Alle zu dem Zeitpunkt anwesenden Mitglieder in der Vorstandsetage der Unito-Versicherung hatten diese Entscheidung mitgetragen.

Durch sein raffiniertes Manöver hatte Porter eine Mehrheit im Vorstand erhalten und war sogar zum Vorstandsvorsitzenden gewählt worden. Als Seeliger nach drei Monaten wieder im Amt gewesen war, hatte er die Entscheidung des Vorstandes nicht mehr rückgängig machen können und seitdem saß Porter fest im Sattel.

Seeliger war nach seinem Infarkt nicht mehr so leistungsfähig wie zuvor, kaschierte seine Schwäche allerdings so gut es ging. Niemand am Arbeitsplatz wusste, warum er drei Monate ausgefallen war. Offiziell nannte Seeliger eine schwere Sommergrippe und einen anschließenden Erholungsurlaub als Grund für sein langes Fernbleiben. Niemand sollte wissen, dass Seeliger ein Herzproblem gehabt hatte.

Wüsste Gutmann von Seeligers repariertem Blutgefäß, würde er ihn bei jedem Huster in die Notaufnahme des nächsten Krankenhauses schleifen. Eigenhändig. Nein, dieses Geheimnis würde ein gut gehütetes bleiben. Immerhin hatte er noch viel vor.

Gehabt zumindest.

Inzwischen war sich Seeliger nicht mehr sicher, ob er Gutmann und Kaufmann noch in der Intensität fördern konnte, wie er das geplant hatte. Sein Wunsch war gewesen, dass die beiden irgendwann in den Vorstand wechselten. Beide. Dadurch wäre gewährleistet gewesen, dass der Geist der Gründerväter in diesem Unternehmen weiterleben könnte. So wie Seeliger es einst geplant und umgesetzt hatte.

Kaufmann wollte er als Ersatz für Lugner aufbauen. Obwohl Fräulein Winter schützend ihre Hände über ihn legte, war klar, dass Lugner bald durch seine Alkoholkrankheit ausfallen würde. Gutmann hingegen wünschte er sich als seinen eigenen Nachfolger, wenn er in einigen Jahren in Rente gehen würde.

Das war einst sein Plan gewesen. Doch plötzlich sah alles anders aus. Es gab Porter, der es sich in der Vorstandsetage bequem gemacht hatte. Und es gab Kessler, die ihm das Leben schwer machte. Ihm und seinen Mitarbeiterinnen, die plötzlich zu wilden Hummeln mutierten.

Er begann sich nach dem Ruhestand zu sehnen. Man muss erkennen, wenn man seine Pläne nicht mehr umsetzen kann. Und Seeliger spürte, wie seine Kräfte schwanden. Bald nach Lenas Eintritt in die Unito-Versicherung gab Seeliger das Datum seines baldigen Rentenantritts bekannt.

Seit Kessler in seinem Vorzimmer werkte, machte sich Seeliger allerdings ernsthafte Sorgen um Gutmann. Auf seine Menschenkenntnis war bisher doch stets Verlass gewesen! Der junge Mann hatte seinem Vorgesetzten auch sicherlich kein faules Ei unterjubeln wollen. Nein, er war tatsächlich von den Qualitäten seiner Freundin überzeugt.

Einige Zeit nach Lenas Einstand wollte Gutmann von Seeliger wissen: „Wie macht sich Lena in Ihrer Abteilung? Habe ich Ihnen zu viel versprochen? Sie sind sicherlich sehr zufrieden mit ihr.“ Gutmann erwartete scheinbar tatsächlich posaunenbegleitete Lobeshymnen. Seeliger zögerte. Sollte er ihm die Wahrheit sagen? Er brachte es einfach nicht übers Herz.

„Derzeit kann ich noch nichts Aussagekräftiges berichten“, entschied er sich daher für einen ausweichenden, diplomatischen Salto rückwärts. „Frau Kessler hat aber noch genug Zeit, in ihre Rolle reinzuwachsen“, minderte er Gutmanns Erwartungen jedoch etwas. Dass er seit Lenas Firmeneintritt wieder Säureblocker gegen Sodbrennen schluckte und sich einen Termin beim Internisten vereinbart hatte, behielt er für sich. Aus Freundschaft.

‘Halleluja, bin ich froh, dass Ihre Lena in meiner Abteilung so richtig aufräumt’, konnte er jedoch noch weniger ausrufen. Aus Ehrlichkeit. Verliebte sehen halt nur, was sie sehen wollen, seufzte er innerlich. Seeliger wusste: Wenn sich der erste Sturm der Hormone gelegt hatte, würde Gutmann wieder klarsehen.

Sollte dieser Zeitpunkt noch vor Seeligers Rentenantritt sein, konnte er sich, ohne Peter Gutmann zu enttäuschen und wahrscheinlich sogar mit dessen Zustimmung, von dieser Unruhestifterin trennen. Wäre das fein, wenn in seine Abteilung wieder Frieden einkehren könnte!

Offiziell stellte sich Seeliger jedoch loyal hinter seine Büroleiterin. Es durfte nicht einmal bekannt werden, dass Kessler durch die leidenschaftliche Fürsprache Gutmanns in der Firma war. Die Damen seiner Abteilung würden Gutmann bei lebendigem Leib verspeisen, wüssten sie davon. Und das, obwohl Gutmann allseits beliebt war.

Nein. Es war besser, niemand wusste zu viel. Die Zeit arbeitete sowieso für die Guten. Es kommt doch alles im Leben zurück. So oft hatte Seeliger miterleben können, wie wahr dieser Spruch wurde.

Von all diesen Gedanken und Sorgen Seeligers ahnte Peter nichts. Er wusste auch nichts von den Bürgerkriegszuständen, die im Personalbüro herrschten, seit Lena die teilweise wesentlich älteren und qualifizierten Mitarbeiterinnen auf ihre einzigartige Weise motivierte.

Jeder im Büro wusste aber inzwischen, dass Lena Peters Lebensgefährtin war. Die Kollegen dachten, dass sich die beiden in der Firma kennen und lieben gelernt hätten. Mit kritischen Äußerungen über Lena hielt sich daher jeder rücksichtsvoll zurück, wenn Peter in der Nähe war.

Dass sich die Stimmung im Betrieb geändert hatte, spürte Peter trotzdem bald an vielen Kleinigkeiten. Stimmen verstummten, wenn er sich einer Gruppe von tuschelnden Frauen näherte. Im Personalbüro war die fröhliche Stimmung einer Eiszeit gewichen. Lena schien offenbar bei der Belegschaft nicht gut anzukommen. Das sagte ihm zwar niemand, doch er spürte es immer deutlicher.

Lena hingegen schien sich ausgesprochen wohlzufühlen. Sie hatte für die bedrückte Stimmung um sich herum keine Antennen.

„Das ist ein toller Job“, schwärmte sie, als Peter sie kurz nach ihrem Eintritt in das Unternehmen in ihrem Büro besuchte. „Ich kann tun und lassen, was ich will, Seeliger frisst mir aus der Hand und die Mitarbeiterinnen, die biege ich mir auch noch zurecht. Ich sage dir, in spätestens einem Jahr bin ich im Vorstand“, schwärmte sie, während sie einen ihrer blutroten Fingernägel kritisch beäugte.

„Wie meinst du das, du biegst dir die Mitarbeiterinnen zurecht?“

„Tja, die haben keinen Respekt vor mir! Das Übliche halt. Diese vertrockneten alten Schachteln, die es im Leben zu nichts gebracht haben, lassen ihren Frust an Erfolgreichen aus. Ach, diese Neidgesellschaft! Ich glaube, dass sie hinter mir die Augen verdrehen. Daher muss ich diese neidischen, alten Kühe zurechtbiegen.“ Lena öffnete eine Lade, fischte mit spitzen Fingern eine Nagelfeile heraus und reparierte den Fingernagel, der ihr scheinbar mehr Kopfzerbrechen bereitete als der finster werdende Blick ihres Lebensgefährten.

Peter glaubte seinen Augen und Ohren nicht zu trauen. Plötzlich fügten sich einige Puzzlesteine zu einem Bild zusammen. Die schlagartig endenden Tuscheleien der Mitarbeiterinnen, wenn er sich ihnen näherte. Seeligers vorsichtiges Ausweichen auf die direkte Frage, wie sich Lena am Arbeitsplatz machte. Die eisige Atmosphäre im Personalbüro.

„Lena, sprich bitte nicht so über diese Frauen!“, empörte sich Peter. Er war alarmiert, regelrecht geschockt. So hatte er Lena noch nie reden gehört. So oberflächlich, beleidigend und herablassend.

Vielleicht aber hatte er sich nur verhört. Womöglich hatte sich Lena lediglich etwas unvorteilhaft ausgedrückt. Wie schnell entschlüpfen einem unbedachte Worte, deren fatale Wirkung man erst im Nachhinein erkennt. Meist ist das Gesagte nicht so böse gemeint, wie es beim Empfänger ankommt.

„Wie meintest du das mit dem Respekt beibringen?“, fragte er daher vorsichtig.

„Mir ist aufgefallen, dass der Kleidungsstil der Kolleginnen unter jeder Kritik ist. Manche kleiden sich schlechter als jeder Fensterputzer. Gut, zwei der Weiber sind im Wechselalter. Die können sich nur mehr ein Zirkuszelt umhängen. Und das ist auch besser so. Doch die Jüngere, diese Jung, hatte doch tatsächlich eine Bluejeans an. Im Büro! Kannst du dir das vorstellen? Da musste ich sie natürlich zurechtweisen.“

„Wegen einer Jeans?“ rief Peter ungläubig.

„Ja, wegen einer Jeans! Wir sind hier in einem Büro, da gibt es Kleidungsvorschriften. Das muss ich dir doch nicht erklären! Ich bin doch auch anständig gekleidet und das Gleiche erwarte ich von meinen Untergebenen. Aber mit dieser Jung bin ich Schlitten gefahren. Sie wollte aufbegehren, daher habe ich ihr gleich vorgeschlagen, dass wir gerne bei Diplomkaufmann Seeliger über ihren weiteren Verbleib in der Firma weitersprechen können. Solche Mitarbeiter brauche ich nicht. Wenn sie sich noch einmal so aufspielt, werde ich sie kündigen.“

Peter war blass geworden. Ihm war, als sähe er seine Freundin zum ersten Mal. Sonja Jung hatte Mathematik studiert und das Gehaltsverrechnungsprogramm gemeinsam mit den EDV-Programmierern reformiert. Sie war eine wertvolle Stütze in der Abteilung, weil sie Hintergrundwissen mit alltäglichen Anforderungen kombinieren konnte und stets lösungsorientiert an jede Aufgabe heranging. Wie muss sich diese weitblickende und qualifizierte Mitarbeiterin gefühlt haben? Wie kann Lena es wagen! In ihm schrillten sämtliche Alarmglocken und er ballte unbewusst seine Hände zu Fäusten.

Sonja war gut und damenhaft gekleidet und, im Gegensatz zu Lena, äußerst seriös in ihrer gesamten Ausstrahlung. Lena hingegen ließ sich sogar alle Röcke kürzer nähen, nachdem es die von ihr bevorzugte Rockkürze gar nicht zu kaufen gab. Schon gar nicht bei Chanel, wohin sie aufgrund ihres ausgeprägten Markenwahns bevorzugt pilgerte. Dass die Noblesse dieses Modehauses durch Lenas Rockkürzungen an Eleganz verlor, schien Lena entweder nicht zu merken oder zu ignorieren.

Peter hatte insgeheim gehofft, dass sich Lenas Outfit ändern würde, nachdem sie nicht mehr auf Partnersuche war. Niemand hat das Recht, den Geschmack und die bevorzugte Kleidung eines anderen Menschen zu kritisieren, dachte er jedoch tolerant, als sie ihren Stil beibehielt. Doch dass ausgerechnet Lena eine Mitarbeiterin bezüglich Kleidung kritisierte, war für ihn einfach unfassbar. Wie stehe ich nun da? Deshalb hatte Seeliger um den heißen Brei herumgeredet, als Peter wissen wollte, wie Lena in der Firma ankam.

„Wie kommst du dazu ...?“, hob er drohend seine Stimme, als die Tür geöffnet wurde und ein Bürobote ein Kuvert auf Lenas Schreibtisch legte. Nachdem sie wieder allein waren, sah Lena kurz auf das Kuvert, schüttelte den Kopf und vertiefte sich wieder in ihre Maniküre.

„Was gibt es denn heute Abend zu essen?“, fragte sie völlig unbeeindruckt.

„Ich weiß es noch nicht“, murmelte Peter verärgert und verließ ihr Büro, während sie weiter an ihren Fingernägeln feilte.

„Bis am Abend dann, mein Liebling“, schickte sie ihm eine Kusshand zu.

An jenem Abend ging Peter nicht gleich nach der Firma heim, sondern besuchte eine Bar, um seine Gedanken ordnen zu können.

Elisabeth Leuberg, seine mütterliche Freundin, war seinerzeit die Einzige in der Firma gewesen, die offen ihr Entsetzen gezeigt hatte, nachdem sie Peters Freundin kennengelernt hatte. „Peter, diese Frau passt doch gar nicht zu dir!“, war sie regelrecht entsetzt gewesen. Hatte sie recht? Bei einem trockenen Martini versank er in dumpfes Brüten. David, seine Eltern, Seeliger, Elisabeth. Seine engsten Vertrauten waren eigentlich alle erschüttert über seine Partnerwahl gewesen.

Nun verstand er! Zum ersten Mal hatte er selbst Lenas Bissigkeit und ihren ungerechtfertigten Standesdünkel erkannt. Er war nicht nur total erschüttert, dass sie sich aufspielte, als wäre die leitende Arbeitsstelle ihr Verdienst gewesen. Er war noch viel mehr irritiert und richtiggehend angewidert, wie überheblich Lena mit tüchtigen Mitarbeitern umgesprungen war.

Was habe ich Seeliger und diesen netten Arbeitskolleginnen nur angetan? Als er bezahlen wollte, zückte er seine Geldbörse. Lenas Foto blitzte ihm aus seinem Portemonnaie entgegen. Er sah ihre großen blauen Augen und ihm wurde warm ums Herz. Sein Körper sehnte sich sehnsüchtig nach ihr. Trotz seiner Wut.

Als er an ihren anschmiegsamen Körper dachte, kam er zu dem Schluss, dass er zu keinem Schluss kommen konnte. Er strich mit dem Daumen über das Foto und sein Herz krampfte sich zusammen. Wieso habe ich diese Frau so gerne? schrie seine Seele gequält. Er konnte sich nicht erklären, warum er trotz des Erkennens ihres Charakters solche Sehnsucht nach ihr hatte.

War sie wirklich ein Biest? Oder kompensierte sie lediglich Verletzungen? Sie war noch so jung. Möglicherweise wirkte sie deshalb herzlos, weil sie selbst wenig Erfahrung mit Herzlichkeit gemacht hatte.

Lena sprach nicht gerne über ihre Kindheit. Doch das Verhältnis zu ihren Eltern schien nicht das Beste zu sein. Vor allem in der Beziehung zu ihrem Vater dürfte es starke Spannungen gegeben haben.

Peter hatte zufällig einmal die letzten Worte eines Telefonats, das Lena im Nebenzimmer geführt hatte, mitgehört: „Ich weiß, dass ich dir nie etwas recht machen kann!“, hatte sie geschrien und das Telefongespräch weinend beendet. Als Peter sie anschließend trösten hatte wollen, hatte sie total abgeblockt und sich geweigert, über ihre Eltern zu reden.

Daher kann sie kein Einfühlungsvermögen verströmen, wurde Peter klar, als er Lenas Foto betrachtete. Woher auch? Die Überheblichkeit gegenüber ihren Mitmenschen basierte mit Sicherheit in ihren Minderwertigkeitskomplexen und selbst gemachter Erfahrung. Die Erfahrung des Radfahrers: Nach oben buckeln, nach unten treten.

Daher hatte sie wohl in eine leitende Stellung gestrebt: Um wie ihr Vater auch mal anständig nach unten treten zu können. So wie sie selbst getreten wurde. Diesen Kreislauf galt es zu durchbrechen.

Peter fühlte eine immense Verantwortung. Er wollte, nein, er musste Lena die emotionale Sicherheit schenken, die ihr offenbar fehlte. Ob er fehlendes Urvertrauen durch Liebe ausgleichen konnte, wusste er nicht. Er war kein Psychologe. Doch wenn er Lena zeigen würde, wie sehr er sie liebte, dann war das sicherlich ein guter Ansatz. Und ein erster Schritt in die richtige Richtung. Lena musste gute Erfahrungen sammeln, um Gutes denken, reden und tun zu können. Nachdem er diese Erkenntnis getroffen hatte, wollte er nur mehr heim zu ihr.

Als er die Tür aufschloss, fand er sie in seinem Wohnzimmer am Teppich sitzend vor. Sie hatte sich vom Pizza-Service eine Pizza Hawaii liefern lassen und räkelte sich in einem rosa Baby Doll wie eine kleine Lolita vor dem Couchtisch, auf dem sie ihr Festmahl aus dem Karton vertilgte.

Als sie Peter heimkommen sah, warf sie sofort das Stück Pizza, von dem sie soeben einen Bissen in den Mund gesteckt hatte, in den Karton zurück und leckte sich genüsslich das Olivenöl von ihren fettverschmierten Fingern. Dann sprang sie auf, lief ihm entgegen, hüpfte um seinen Hals und schlang dabei ihre Beine um Peters Hüften. Er hielt sie mit beiden Armen wie ein kleines Kind an sich gedrückt, während sie ihn hingebungsvoll küsste. Als sich ihre Lippen voneinander trennten, deutete sie zum Couchtisch.

„Ich hatte so großen Hunger, daher habe ich nicht auf dich warten können. Aber ich habe dir ein Stück Pizza übriggelassen“, flötete sie und zog ihn mit sich zum Tisch, wo tatsächlich noch ein kleines Stück Pizza für ihn übrig war.

In diesem Moment, an diesem Abend, in dieser Nacht wusste Peter, dass er sich richtig entschieden hatte. Er würde aus diesem unglücklichen Mädchen eine glückliche Frau machen. Mit seiner Liebe würde er sie zu einem wertvollen Mitglied der Gesellschaft machen.

Starke Auftritte Juli 2015

Nach Lenas aufsehenerregendem Auftritt bei der Vorstandssitzung war sich Peter nicht mehr sicher, ob sein Projekt ‘Mache aus Lena ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft’ nicht doch eine Nummer zu groß für ihn war. Da wartet noch ein hartes Stück Arbeit auf mich, wurde ihm bewusst.

Sie hatte sich bei dieser Besprechung wahrlich von ihrer brillantesten Seite gezeigt, war in Höchstform gewesen. Zum Fremdschämen. Zuerst hatte sie ihre großspurige Rede gehalten, wobei sie diesem Porter vor dem Wirtschaftsprüfer einfach nur nach dem Mund geredet hatte. Nach oben buckeln.

Dann hatte sie Marie Haller durch eine ungeschickte Handlung so schwer verletzt, dass sie ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Nach unten treten. In diesem Fall: Nach hinten schieben. Gut, das mit dem geschobenen Sessel konnte ein Unfall gewesen sein. Nicht konnte, sondern war! In Gedanken korrigierte er sich sofort, weil er Lena keinesfalls Vorsätzlichkeit vorwerfen wollte. Doch zu guter Letzt hatte sich Lena Porter auch noch als Dienstreisen-Sekretärin an den Hals geworfen!

„Warum tust du das?“, zischte er ihr zu.

„Ich tu es für Marie Haller!“, flüsterte Lena. „Sie soll sich keine Sorgen machen müssen, wenn sie ins Spital kommt. Die Protokolle, die Porter offenbar braucht, kann ich genauso tippen und gleichzeitig kann ich mit Porter auch gleich über die Nachbesetzung von Seeliger sprechen.“

Von daher wehte also der Wind! Peter wurde bleich und Lena schlüpfte zu Porter, um mit ihm die Einzelheiten der Dienstreise zu besprechen. Gottlieb trat nach Maries Abtransport an Peters Seite und reichte ihm ein Glas Wasser.

„Trinken Sie, Herr Gutmann! Sie sehen blass aus. Ist Ihnen nicht gut?“ Peter nahm das Glas entgegen und als er Gottliebs Blick auffing, ging ein warmer, angenehmer Schauder durch Peters Körper. Gottlieb verströmte eine seltsame Aura. Eine angenehme und beruhigende, die Peters Wut milderte.

„Ja, danke. Es geht schon. Es ist nur ...“

„Ich denke, ich weiß, was Ihnen durch den Kopf geht“, nickte Gottlieb.

„Wirklich?“, wunderte sich Peter.

„Sie sorgen sich um Ihre Freundin.“

„Woher wissen Sie das?“

„Ich sehe es Ihnen an. Sie lieben sie sehr und würden sie gerne daran hindern, auf diese Dienstreise zu fahren.“ Peter nickte unmerklich und wunderte sich, woher der Wirtschaftsprüfer das wusste. Und vor allem: Warum es ihn interessierte! Er kennt mich doch gar nicht! Gottlieb ist doch nicht als Seelenklempner engagiert, sondern soll die Firma auf Vordermann bringen.

„Ich bin hier, um Menschen, im Speziellen momentan jene, die in diesem Unternehmen arbeiten, auf Vordermann zu bringen!“, lächelte Gottlieb den verdutzten Gutmann an, als hätte er seine Gedanken gelesen.

„Aber ich denke, Sie sind Wirtschaftsprüfer?“, wunderte sich Peter.

„Stimmt! Widerspricht sich das etwa?“

„Nun, die Erfahrungen mit Ihren Vorgängern ...“

„Was ist denn Wirtschaft?“, unterbrach ihn Gottlieb, der scheinbar nicht über die anderen Wirtschaftsprüfer reden wollte. Als er Peters ausdruckslosen Blick auffing, antwortete er selbst: „Wirtschaft ist die Gesamtheit aller Einrichtungen und Handlungen, die der planvollen Befriedigung der Bedürfnisse dienen.“ Diesen Satz hat er als Student aber gut auswendig gelernt, amüsierte sich Peter.

„Nun frage ich Sie: Wessen Bedürfnisse sind da wohl gemeint?“

„Ich denke, die, der Menschen!“

„Genauso sehe ich das auch!“, nickte Gottlieb, der mit Peters Antwort hochzufrieden wirkte.

„Ist Ihnen schon aufgefallen, dass in dem Wort Wirtschaft das Wort ‘Wirt‘ steckt?“ Gottlieb sah Gutmann lächelnd in die Augen. „Was ist denn nun ein Wirt?“

„Ein Gastgeber? Ein Mundschenk?“ Peter suchte weiter nach Antworten und wunderte sich immer mehr, was Gottlieb mit diesen Fragen wohl bezweckte. Doch Gottlieb nickte bereits.

„Sie haben völlig recht! Also liegt auf der Hand, dass ‘Wirtschaft’ von ‘Wirt’ im Sinne von Gastgeber, wohingegen ‘bewirten’ von einschenken, also ‘schenken’ abgeleitet wird.“

Beeindruckend, wie Gottlieb von Wirtschaft über Bewirten zum Schenken kommt. Peter geriet immer mehr ins Staunen. Ob das der Wirtschafts- und Finanzminister auch so sieht?, feixte er in Gedanken. Sicher nicht! Doch was wollte Gottlieb damit sonst ausdrücken? Immerhin sollte er die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens überprüfen. Oft war in der Vergangenheit das einzige ‘Geschenk’, das die Mitarbeiter des Unternehmens nach einer Wirtschaftsprüfung bekommen hatten, blaue Briefe gewesen.

„Nicht zwangsläufig verhält sich das Schenken zur Wirtschaftlichkeit diametral“, widersprach Gottlieb Peters Grübeleien. Las Gottlieb seine Gedanken? Oder waren ihm seine Bedenken so offen ins Gesicht geschrieben?

„Herr Gutmann, Ihre Gedanken waren wie ein offenes Buch ablesbar“, verblüffte Gottlieb Peter nun restlos, fuhr aber unbeeindruckt fort: „Was ich sagen will: Die Wirtschaft ist für die Menschen da und nicht umgekehrt. So wie der Wirt seinen Gästen Wein einschenkt, sollte die Wirtschaft den Menschen ...“

„Ebenfalls reinen Wein einschenken?“

„Ja! So in etwa! Die Wirtschaft sollte die Menschen tatsächlich beschenken. Nämlich mit dem, was sie brauchen. Wirtschaft ist nun einmal die Gesamtheit aller Einrichtungen und Handlungen, die der planvollen Befriedigung der Bedürfnisse dienen“, wiederholte er den sperrigen Satz von vorhin, „und daher überprüfe ich, ob die Handlungen in diesem Unternehmen tatsächlich den Bedürfnissen der Menschen dienen. Auch, oder im Besonderen, denen der eigenen Mitarbeiter. Immerhin sind sie die Grundpfeiler des Erfolges.“

„Ihr Wort in Gottes Ohr!“, entfuhr es Peter, der noch nie gehört hatte, dass ein Wirtschaftsprüfer Wert auf Mitarbeiterzufriedenheit legte und dementsprechend misstrauisch seine Stirn in Falten legte. Es erschien alles irgendwie logisch und vor allem total menschlich, was Gottlieb von sich gab. Daher gefiel Peter das Gehörte auch. Trotzdem aber war Gottliebs Definition bezüglich des Zwecks einer Wirtschaftsprüfung eine völlig andere als die der vorherigen Prüfer.

Und sicher auch des Vorstands, der in der Regel viel Geld für eine Wirtschaftsprüfung investierte, die sich erst durch die anschließende Kosteneinsparung, meistens durch Personalabbau, wieder amortisierte. Die Mitarbeiter beschenken könnte der Vorstand auch ohne Prüfung, orakelte Peter, ... und sich dabei sogar die Honorare der Wirtschaftsprüfer ersparen.

„Herr Gottlieb, dass Wirtschaft der Gesamtheit aller Einrichtungen zur planvollen Befriedigung der Bedürfnisse dient, klingt gut. Doch wie wir alle wissen, werden in der realen Welt der Wirtschaft bevorzugt die Bedürfnisse der Aktionäre und Vorstandsmitglieder befriedigt. Das war schon immer so und ...“

„Und gehört geändert, wollten Sie sagen, oder?“

„Ja, schon, aber ...!“

„Mein Wort in Gottes Ohr haben Sie vorhin ebenfalls gesagt“, fuhr Gottlieb fort. „Mein Vater hat mich genau deshalb hierhergeschickt. Und nachdem, was ich bisher gehört und gesehen habe, denke ich, ich kam keinen Tag zu früh.“

„Wer ist denn Ihr Vater?“, wurde Peter neugierig, doch in diesem Augenblick kam Lena an seine Seite und zupfte ihn am Ärmel.

„Peter, kannst du mir bitte deinen Koffer leihen? Ich denke, ich komme nicht mehr dazu, meinen aus meiner Wohnung zu holen. Das wird mir zu stressig.“

Sie meinte es also wirklich ernst.

„Schatz, willst du das wirklich? Herr Porter kann doch eine Sekretärin aus der Schreibstube mitnehmen. Warum willst du dich als Assistentin ...?“

„Komm, Peter!“, schnitt sie ihm das Wort ab. „Das ist doch bereits beschlossene Sache. Borgst du mir nun deinen Koffer?“ Er nickte abwesend und sein Blick begann Ähnlichkeit mit dem eines Dackels zu bekommen, dem man die Wurst aus dem Maul zerrte.

„Lassen Sie sie fahren“, klopfte ihm Gottlieb freundschaftlich auf die Schulter, als Lena wieder davon stolzierte, um Porter weiter zu belagern. „Sie könnten sie sowieso nicht davon abhalten. Bedenken Sie: Was geschehen soll, geschieht.“

„Wie meinen Sie das?

„Ganz einfach: Wer in Unschuld lebt, der lebt sicher; wer aber verkehrte Wege geht, wird ertappt werden.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich Gottlieb von Gutmann und ging zu Porter, um sich auch von ihm zu verabschieden.

Als der Vorstandsvorsitzende den Wirtschaftsprüfer auf sich zukommen sah, drückte er Lena zur Seite, als wäre sie eine lästige Fliege. „Frau Kessler, holen Sie mir Kaffee mit viel Milch und wenig Zucker!“

Was bildet der sich ein? Bin ich seine Kaffeeköchin? Lenas Gedanken waren leichter lesbar als die Brailleschrift für Sehende. Doch dann riss sie sich zusammen, schluckte heftig und ließ ihre soeben gedachten Wörter nicht aus ihrem Mund fallen.

Tapfer. Sehr tapfer konnte sie sein, wenn sie wusste, wofür sie erniedrigt wurde. Mit hoch erhobenem Haupt stöckelte sie mit einem gehauchten „Gerne“ aus dem Sitzungssaal, um Kaffee zu holen. Währenddessen sah ihr Porter zufrieden nach, streckte seinen Rücken durch und setzte sein gewinnendstes Lächeln auf.

„Na, Herr Gottlieb, konnten Sie sich einen ersten Eindruck machen?“ Er hob seine Stimme, als müsste er eine Rede an die Nation halten.

Vor wenigen Minuten war seine Sekretärin auf der Tragbahre hinausgetragen worden, aber er tat, als wäre nichts Wesentliches passiert. Gottlieb forschte im Gesicht des starken Mannes. Allzu nahe ging ihm offenbar selten etwas.

Eine verletzte Sekretärin, selbst wenn es seine treue Assistentin war, gehörte offenbar nicht zu den Ereignissen, die ihm unter die Haut gingen. Im Gegenteil: Er spielte weiterhin den großen Zampano, tat, als wäre nichts passiert. Nicht einmal ein wenig blass war er geworden, als Marie am Boden gelegen und sich vor Schmerzen gekrümmt hatte. Gottlieb forschte weiter in Porters Gesicht.

Jeder Mensch besitzt Güte. Es ist eine gottgegebene Tatsache, dass Gut und Böse in jedem Menschen vereint ist und der Mensch die Wahl hat, welche Seite er dominieren lässt. Welche Wahl Porter getroffen hatte, präsentierte er bei jeder Gelegenheit. Doch Gottlieb suchte in seinem Visasvis die andere, die barmherzige Seite. Er untersuchte Porter ziemlich lange und scheinbar verunsicherte der durchdringende Blick des jungen Mannes den Vorstandsvorsitzenden.

Nervös zerrte Porter an seinem Hemdkragen, als wäre seine Krawatte augenblicklich zu eng geworden. Ein feiner Haarriss schien sich durch seinen eisigen Panzer einen Weg zu seinem geschützten Inneren zu bahnen. Eine ungewohnte Wärme und seltsame Gefühle durchströmten ihn. Derartige Empfindungen waren ihm fremd und daher auch sofort unangenehm.

Obwohl: So fremd war dieses Gefühl auch wieder nicht. Nur schon sehr lange her und deshalb kaum noch in seiner Wahrnehmung. Früher hatte Porter diese Empfindung nicht nur gekannt, sondern als angenehm erlebt. Seinerzeit als Zehnjähriger, als seine Mutter noch gelebt hatte. Immer wenn sie ihn in die Arme genommen hatte, war dieses sanfte Gefühl spürbar gewesen und doch schlagartig aus seinem Leben verschwunden, als sie eines Tages nicht mehr nach Hause gekommen war. Herzenswärme. Nach Mutters Tod hatte es für ihn diese menschliche Wärme nicht mehr gegeben.

Sein Vater hatte vergessen, dass nicht nur er seine Frau, sondern auch sein Sohn die Mutter verloren hatte. Porter Senior lebte seitdem ausschließlich für seine Trauer und hatte seine gesamte Aufmerksamkeit auf seine berufliche Karriere gelenkt.

Noch viel mehr als schon in den Jahren zuvor. Sein Sohn hatte viel von ihm gelernt und bald eine Menge vergessen. Alles eigentlich. Liebe. Lachen. Gefühle. Vor allem Gefühle. Das Leben hatte hervorragend und völlig problemlos ohne diese unnötigen, zerstörerischen Empfindungen funktioniert.

Bis der Blick und die Ausstrahlung dieses Wirtschaftsprüfers ähnliche Erinnerungen in ihm wachriefen. Erinnerungen an diese Gefühle, die er nicht mehr zulassen wollte. Nicht mehr zulassen konnte! Die Wärme, die plötzlich durch seinen Körper strömte, empfand er mit einer Heftigkeit, dass er dachte, zu verbrennen. Mit weichen Knien eilte er zum Fenster und öffnete beide Fensterflügel. Die einströmende, kühle Luft schien die Hitze äußerlich abzukühlen, doch in Porters Innerem schien es noch immer zu brennen.

Contenance, rief er sich zu. Contenance! Er atmete tief ein und mahnte sich selbst zur Ruhe. Gewohnt, jede Situation im Griff zu haben, würde er auch hier und jetzt keinesfalls die Haltung verlieren. Er war der Vorstandsvorsitzende und hatte dieses Unternehmen zu leiten. Keine Schwächen, Karl Porter, ermahnte er sich daher eisern.

„Ist alles in Ordnung, Herr Porter?“, fragte Gottlieb, nachdem Porter das Fenster wieder geschlossen hatte.

„Ja, alles bestens, es war nur etwas stickig im Sitzungssaal. Ein wenig frische Luft tut meist gut im Besprechungszimmer“, versuchte er seine Fassung wiederzufinden. Diszipliniert suggerierte er sich sein kurzfristiges Unbehagen gleich wieder weg. Mit autogener Strenge verschloss er den Haarriss in seiner Rüstung durch Selbstzucht. Es geht eben nichts über Zucht und Ordnung!

Klar, als Kind hatte er das natürlich nicht so empfunden. Wenn er von seinem Vater windelweich geprügelt worden war, vor Schmerz und Angst in die Hosen gemacht hatte und als Strafe stundenlang in seinen nassen Kleidern auf Holzscheiten knien hatte müssen, hatte er diesen Erziehungsstil selbstverständlich nicht als berauschende Vorbereitung auf ein erfolgreiches Leben erkannt.

Doch so war es! Heute, wo ihn dieser Drill in die höchsten Höhen der Macht gebracht hatte, verstand er seinen Vater. Danke, Papa für diese wertvolle Lektion! Porter hatte gelernt, dass die Macht immer vom Stärkeren ausging. Er hatte als junger Mann lediglich konsequent danach streben müssen, selbst an die Macht zu kommen. Wer ganz oben sitzt, hat die Peitsche in der Hand. So einfach ist dieses Gesetz!

Und nun war er am Gipfel des Erfolgs angekommen. Und nie würde er diese Macht freiwillig wieder hergeben. Genauso wenig wie seine Peitsche. Gelernt ist gelernt. Schade nur, dass das so viele nicht verstanden.

Schade für die anderen. Ihm taten diese zahmen und saftlosen Menschen leid, wenn sie von antiautoritärer Erziehung sowie menschlicher Entfaltung quasselten und sich gegen Bevormundung aussprachen. Diese sogenannten Gutmenschen taten, als wäre mit Liebe die ganze Welt zu retten. Träumt weiter! Er war heilfroh, dass ihn sein Vater nicht zu solch einem Waschlappen erzogen hatte.

Wie dieser Gutmann beispielsweise. So ein Schlappschwanz! Warum verbietet er seiner Freundin nicht auf diese Dienstreise zu fahren, wenn es ihm so gegen den Strich geht? Dass Gutmann schockiert war, nachdem sich die Kessler ihm förmlich aufgedrängt hat, war deutlich zu sehen gewesen. Doch anstatt auf den Tisch zu hauen, schaut er lediglich wie ein Spaniel, dem man auf die hängenden Augen gestiegen ist. Wenn sich meine Frau so gebärden würde ... Nein, soweit musste er gar nicht denken. Porter war der Herr im Hause und seine Frau wusste und respektierte dieses in Stein gemeißelte Gesetz.

Diese rotzfreche Kessler war zwar überhaupt nicht sein Fall, doch er ersparte sich durch ihre Aufdringlichkeit die Suche nach einer Sekretärin. Einen Tag würde er mit ihr schon irgendwie aushalten.

Dass Gutmann so belämmert dreinschaute, kostete ihm einen Lacher! Das hatte er nun von seiner lethargischen Gutmütigkeit. Selbst schuld, wenn er sich morgen einen rubbeln muss, triumphierte er böse. Weiber gehören nun einmal erzogen. Wie Kinder. Zur Not mit der Peitsche! Aber gut! Sollen die Andersdenkenden nur machen! Diese Warmduscher! Marie Haller, Peter Gutmann und dieser Gottlieb. Letzterer scheint überhaupt der weichste Weichling seit der Erfindung des Weichspülers zu sein!

„Haben Sie nun einen ersten Eindruck?“, wiederholte Porter daher seine Frage an Gottlieb und mied zur Sicherheit den Blickkontakt. Dieser Wirtschaftsprüfer soll mich nicht anstarren, sondern lieber seine Arbeit tun. Doch der Kerl tanzte weiter auf seiner gutherzigen Welle herum, als gäbe es nichts Wichtigeres als Mitgefühl.

„Tut Ihnen Frau Haller nicht leid? Sie hatte große Schmerzen.“ Schon wieder so eine idiotische Frage.

„Ach, das wird schon wieder. Sie ist sicherlich morgen oder übermorgen wieder auf ihrem Arbeitsplatz. Zu lange Ausfälle sind bei uns nicht machbar“, kam er zurück zur notwendigen Sachlichkeit.

„Und wenn sie ernsthaft verletzt ist?“

„Was soll dann sein?“

„Das wollte ich von Ihnen wissen!“

„Sie stellen Fragen!“, schüttelte Porter den Kopf. „Fakt ist: Ich brauche eine Sekretärin, und zwar rund um die Uhr.“ Er blickte Gottlieb kalt in die Augen, spürte, wie er seine Selbstsicherheit wiedergewann. Wenn ich nicht auf den Tisch haue, stimmt dieser weiche Bruder womöglich noch einen Gospel an.

„Sekretärinnen sind austauschbar, wenn Sie das hören wollten.“

„Das wollte ich eigentlich nicht hören. Ich dachte eher, dass Sie Mitgefühl mit Frau Haller haben. Immerhin ist eine Perle wie sie unersetzlich und hat es nicht verdient ...“

„Niemand ist unersetzlich!“, unterbrach er Gottlieb brüsk. Dann wurde sein Ton etwas leiser, durchzogen von feinem Sarkasmus. „Schauen Sie, Herr Gottlieb, machen Sie Ihre Arbeit und prüfen Sie, wo wir am besten sparen können. Und lassen Sie mich meine Arbeit tun, wie ich es gewohnt bin.“ Jetzt hatte Porter endgültig zu seiner alten Form gefunden und aus seinem Gesicht war jede Verbindlichkeit verschwunden.

„Sie schätzen den autoritären Führungsstil?“, blieb Gottlieb dennoch freundlich.

„Ja, natürlich! Das ist doch der einzig zielführende!“

„Für wen?“

„Für alle!“

„Motiviert er die Mitarbeiter?“

„Was heißt ‘motiviert‘?“

„Arbeiten Ihre Mitarbeiter gerne?“

„Sie arbeiten. Das genügt!“

„Wer arbeitet besser? Der motivierte oder der unterdrückte Mitarbeiter?“

„Was soll diese Frage? Zwang ist als Motivation völlig ausreichend und zudem zweckdienlicher als jeder andere Führungsstil. Verhätschelte Mitarbeiter fressen einem lediglich die Haare vom Kopf. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede, denn ich spreche aus Erfahrung. Ich wurde bereits als Kind durch Zwang motiviert. Und schauen Sie, wohin es mich gebracht hat!“

„Ja, das sehe ich! Und genau das meinte ich auch!“

Mit diesen Worten reichte Gottlieb Porter die Hand zum Gruß, während Lena mit zwei Kaffeetassen aus der Teeküche zurückkam. „Bei einer Tasse Kaffee redet es sich leichter. Daher habe ich auch gleich einen für mich mitgebracht. Also, wann soll ich morgen in Rust sein?“, plapperte sie drauf los und okkupierte Porter, der Gottlieb anstarrte, als wollte er ihn am liebsten in der Luft zerreißen.

„Dann werde ich Sie beide nicht länger stören“, beendete Gottlieb das Gespräch und wandte sich an Lena: „Nach Ihrer Rückkehr aus Rust komme ich auf Sie zu, um ein Gespräch zu führen.“

„Ich freue mich schon darauf“, piepste sie wie ein Vögelchen. Dabei schob sie eine Locke aus ihrem Gesicht und legte ihren Hals frei. „Aber jetzt bedanke ich mich, dass Sie mich mit Herrn Porter allein lassen. Wir müssen immerhin noch einige Einzelheiten besprechen. Tschüss, Herr Gottlieb!“

Gottlieb ließ die beiden allein und machte eine Runde durch den Saal, um sich auch von den anderen Sitzungsteilnehmern zu verabschieden. Die Mitarbeiter hatten sich bereits in Kleingruppen geteilt und waren in anregende Gespräche vertieft.

Er näherte sich Diplomkaufmann Lugner, der noch immer saß. Seine Hände zitterten merkbar und seine geschwollenen Augen starrten teilnahmslos auf den Tisch. Erika Winter, seine Assistentin, stand hinter ihm. Sie hatte sich soeben mit Doktor Braun, dem Leiter der Personenversicherungsabteilung unterhalten, bewegte sich aber nicht von ihrem Chef weg. Als sie sah, dass Gottlieb auf sie zukam, lächelte sie ihm entgegen und reichte ihm freundlich die Hand.

„Sie verlassen uns schon?“

„Ja, ich habe die Mitarbeiter kennengelernt. Der bedauerliche Unfall von Frau Haller steckt uns allen aber ziemlich tief in den Knochen“, erklärte er seinen verfrühten Aufbruch.

„Nicht jedem“, konterte Winter. „Dieser Porter steckt die Sache locker weg. Ihm scheint es egal zu sein, wie es seiner Sekretärin geht. Dabei hat sich Marie für ihn fast kaputtgerackert.“

„Übertreiben Sie mal nicht“, unterbrach sie Braun, „Marie hat doch bloß ihre Arbeit getan.“ Bei diesen Worten klopfte er Lugner auf die Schulter, um ihn aus seiner Lethargie zu reißen: „Na, Simon, was meinst du dazu?“

„Ja, sie hat ihre Arbeit getan. Frau Winter macht ihre Arbeit sehr gut.“

„Nicht von Frau Winter reden wir“, Braun verdrehte die Augen. „Frau Haller hatte einen Unfall. Hast du das schon wieder nicht mitbekommen? Dein Flachmann ist wohl völlig ausgetrocknet!“, machte er seinen Kollegen vor Gottlieb auf.

„Herr Doktor Braun! Sprechen Sie bitte nicht in diesem Ton mit unserem Vorstandsdirektor!“, echauffierte sich Winter. Mut hatte die grauhaarige Demoiselle.

„Schon gut, schon gut!“ Braun salutierte vor Gottlieb und reichte ihm zackig seine riesige Hand.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752101867
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juli)
Schlagworte
Drama Tragödie Thriller Nächstenliebe Liebe Komödie Romanze Missbrauch Sozialkritik Krimi Spannung

Autoren

  • Brigitte Kaindl (Autor:in)

  • Brenda Leb (Autor:in)

Brigitte Kaindl wurde 1960 in Wien geboren. Die Autorin und Musikerin ist verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen Kindern. Ihre Autobiografie "Mein Weg aus dem Fegefeuer" schrieb sie unter dem Pseudonym ‘Brenda Leb’. Danach veröffentlichte sie humorvolle Unterhaltungsliteratur sowie fesselnde Romane mit sozialkritischem Hintergrund. Die Autorin schreibt für Leser die Unterhaltung, Humor, Spannung und Gefühle suchen
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Titel: Das Echo des Herzens