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Das Echo von Gottlieb

Die Vergewaltigung

von Brigitte Kaindl (Autor:in) Brenda Leb (Autor:in)
440 Seiten

Zusammenfassung

1992. Ein kleiner Junge wird Zeuge eines schrecklichen Verbrechens. 2018 begleitet die 28-jährige Lena ihren Jugendfreund zu einer Preisverleihung. Dort lernt sie den skrupellosen Filmproduzenten Konrad Felsinger kennen und trifft eine fatale Entscheidung. Zu spät erkennt sie die Gefahr, in die sie nicht nur sich selbst begibt. Die 50-jährige Marie hat indes ihren Frieden gefunden, denn sie trauert nicht mehr um Christian Gottlieb. Dieser außergewöhnliche Mann, dessen plötzliches Verschwinden sie einst völlig aus der Bahn geworfen hat: Während einer Israel-Reise erkennt sie, warum Christian ihr Leben noch immer zu lenken scheint. Fassungslos macht sie jedoch, als sie ihren Freund Georg während eines geselligen Treffens erstmalig unerwartet aufbrausend erlebt. Sie kann nicht ahnen, was sich hinter seiner, bis dahin so freundlichen Maske für ein tiefes Geheimnis verbirgt ... Doch als sie glaubt, wieder vertrauen zu können, wird sie völlig unerwartet mit einer schockierenden Tatsache konfrontiert, die ihr Leben vollkommen durcheinanderbringt. Ein Buch über ungesühnte Verbrechen, verborgene Geheimnisse und die göttliche Kraft der Liebe sowie die Frage, warum der Herrgott im Himmel ein kühles Corona braucht, nachdem er sieht, was auf Erden so alles abgeht.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Buch

Seit dem kometenhaften Erfolg des 30-jährigen Schauspielers Mark findet die 28-jährige Lena ihr eigenes Leben nur mehr unerträglich. Als sie ihren Jugendfreund zu einer Preisverleihung begleitet, lernt sie den skrupellosen Filmproduzenten Konrad Felsinger kennen und trifft eine fatale Entscheidung. Zu spät erkennt sie die Gefahr, in die sie nicht nur sich selbst begibt.

Dieser Roman ist Teil 3 der Echo-Trilogie, eines romantischen Dramas, das in die Tiefen der menschlichen Seele blickt. Im Mittelpunkt steht Christian Gottlieb, ein geheimnisvoller, junger Mann, der durch seine rätselhafte Aura sein gesamtes Umfeld verändert, bevor er plötzlich und unerwartet verschwindet. Jeder Roman kann ohne Vorkenntnisse für sich allein gelesen werden, obwohl die Geschichte fortlaufend erzählt wird.

Teil 1: „Das Echo des Herzens“: Christian Gottlieb erscheint im Leben der 47-jährigen Marie und der 25-jährigen Lena. Als tief verborgene Geheimnisse und ein Verbrechen sichtbar werden, verändert sich wie durch ein Wunder nicht nur Maries Leben völlig.

Teil 2: „Das Echo des Rosenmordes“: Christian Gottlieb ist nicht mehr da und ein schrecklicher Mord bringt der 48-jährigen Marie, aber auch der 27-jährigen Lena unermessliches Leid.

Teil 3: „Das Echo von Gottlieb“: Das Mysterium um Christian Gottlieb lüftet sich, während die 28-jährige Lena in tödliche Gefahr gerät. Am Ende offenbart sich ein Geheimnis, das nicht nur die 50-jährige Marie heftig erschüttert.

Unter dem Titel „Christians Geheimnis“ gibt es die drei Romane der Echo-Trilogie als Sammelband.

Autorin

Brigitte Kaindl wurde 1960 in Wien geboren. Die Autorin und Musikerin ist verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen Kindern.

 

Impressum

© urheberrechtlich geschütztes Material

Text von Brigitte Kaindl © Copyright by Brigitte Kaindl

www.brigittekaindl.at

Alle Rechte vorbehalten

Der Hoffnungsstreif

„Mein Vater, was birgst du so bang dein Gesicht?“

„Siehst du denn, mein Sohn, meine Kümmernis nicht? Das Unheil naht, die Zeit wird reif!“

„Mein Vater, es gibt einen Hoffnungsstreif!“

Christian Gottlieb stand in seines Vaters Angesicht und sie begannen ihr Gespräch, wie zumeist, mit einem kleinen, jedoch liebevollen Geplänkel.

„Mein Sohn, hat dein Einsatz vor drei Jahren nun denn Früchte getragen und wurde die Welt sehend?“ In Erwartung einer Antwort blickte er zu seinem Sohn, der merkbar zögerte.

„Hat dich die Menschheit erkannt, als der, der du bist?“, wurde der Vater demnach nachdrücklicher.

„Einige schon!“

„Und wie schaut es bei meinem Volk aus?“

„Ach, Vater, nie sollst du mich befragen“, versuchte Christian auszuweichen.

„Tu ich aber!“, beharrte der alte Herr. „Du warst doch unter ihnen. Was hattest du für einen Eindruck?“

„Einen guten!“

„Und, mein Sohn?“

„Ich glaube, die Menschheit ist auf einem guten Weg! Einige begnadete Seelen haben ein außerordentlich fruchtbringendes Verhalten und eine beeindruckende Gelehrigkeit gezeigt.“

„Also ist die Menschheit auf dem rechten Weg?“

Nachdem sein Vater allwissend war, redete Christian nicht weiterhin um den heißen Brei herum.

„Natürlich nicht die gesamte! Doch, Vater, hab Geduld! Ich bin voll Zuversicht, der Weg ist der richtige!“

„Dein Wort in Gottes Ohr!“, lächelte der Vater verschmitzt.

Prolog

Mai 2018

„Lena, spring!“

„Ich kann nicht!“

„Um Gottes Willen, spring doch!“

„Ich trau mich nicht!“

Paul rannte auf sie zu, gab ihr einen Stoß und sie fiel in das Sprungtuch, das die Feuerwehr ausgebreitet hatte.

Lena rappelte sich hoch und blickte entsetzt nach oben. Paul stand an der Brüstung und klappte plötzlich zusammen.

Die Nominierung

April 2018

Wer kennt Mark?

In Riesenlettern standen die drei Worte auf dem Plakat.

Sie schwebten förmlich über dem Foto, das den jungen, attraktiven Mark Kellermann präsentierte. Ein verwegenes Lächeln umwehte seine vollen Lippen. Er trug enge Jeans und präsentierte seinen makellosen, nackten Oberkörper. Seine Finger hatte er lässig in den Hosentaschen und seine unwiderstehliche Ausstrahlung zog jedermann und ganz besonders jede Frau in den Bann.

Das wusste Marie.

Er sieht tatsächlich wie der junge Richard Gere aus, dachte sie jedes Mal, wenn sie das Foto betrachtete. Marie Haller, die 49-jährige Eigentümerin der Künstleragentur ‘Berg’ blickte auf das gerahmte Bild, das über ihrem Schreibtisch hing.

Vor einem Jahr war dieses Foto entstanden und seither kannte jeder in der Theater- und Filmbranche ihren talentierten Klienten, Mark Kellermann. Die Kampagne hatte eingeschlagen.

Und wie!

Mark konnte sich im vergangenen Jahr kaum vor Aufträgen retten. Filme. Serien. Theaterproduktionen.

Mark war sogar für die diesjährige Romy in der Kategorie ‘Bester Nachwuchs männlich’ vorgeschlagen worden. Für diesen Film- und Fernsehpreis auch nur nominiert zu sein, war nicht schlecht für einen jungen Schauspieler, den vor einem Jahr noch überhaupt niemand gekannt hatte.

Marie griff nach dem Kuvert auf ihrem Schreibtisch, das sie in der heutigen Post vorgefunden hatte. ‘Mark Kellermann’ las sie den Absender und griff lächelnd zum Brieföffner, entnahm dem Umschlag zwei Eintrittskarten und einen handschriftlichen Begleitzettel.

„Liebe Marie, ich danke Ihnen für Ihre Unterstützung, Ihren Einsatz und unerschütterlichen Glauben an mich. Ohne Sie wäre ich nie so weit gekommen. Anbei schicke ich Ihnen zwei Eintrittskarten zu, damit Sie der Romy-Gala mit Begleitung beiwohnen können. In unendlicher Dankbarkeit und lieben Grüßen, Ihr Mark!“

Marie lächelte, als sie die Zeilen las. Sie mochte Mark und freute sich, dass dieser begnadete Künstler endlich die Wertschätzung erfuhr, die er verdiente. Jahrelang hatte er, wenn überhaupt, in kleinen, kaum bekannten Kellertheatern gespielt. Trotzdem hatte er nie seinen Traum aufgegeben.

Marie konnte mit Marks künstlerischer Entwicklung durchaus zufrieden sein. Und das war sie. Mehr als das! Sie war richtig stolz auf ihn.

Aber auch auf sich selbst, denn diese Kampagne war ihre Idee gewesen.

Und das nicht zum ersten Mal.

Bereits vor fast drei Jahrzehnten hatte sie mit einer ähnlichen, nein, eigentlich mit der gleichen Kampagne, Erfolg gehabt.

Damals war aus Paul Schönherr, einem dunkelhaarigen, jungen Niemand der berühmte Hollywood-Schauspieler Roy Polaris geworden.

Maries Blick ging zu dem Foto, das gleich neben dem von Mark hing. Es zeigte Paul, bevor er international Karriere gemacht hatte. Damals, im vorigen Jahrhundert. Ihr Blick wurde weich und ein Lächeln legte sich über ihr Gesicht.

Obwohl Jahrzehnte zwischen den Fotos lagen, besaßen die Bilder den gleichen Ausdruck. Die Poster zeigten zwar unterschiedliche Männer, doch in gleicher Pose, mit ähnlich faszinierender Ausstrahlung. Atemberaubend und männlich.

Beide.

Während Mark mit seinem gewellten, blonden Haar lasziver und gleichzeitig ein wenig scheu wirkte, war Pauls Wirkung rassiger. Sein dunkles Haar fiel ihm ein wenig unordentlich in die Stirn und der unwiderstehliche Blick aus seinen blauen Augen erzeugte eine fast magische Wirkung, der sich kaum jemand entziehen konnte.

Zumindest Marie spürte noch immer einen schmerzhaften Knoten im Magen, wenn sie dieses Bild betrachtete. Auch, weil Pauls Bild erst wieder seit einem Monat in ihrem Büro hing.

Zuvor hatte es im Keller ein unrühmliches Dasein gefristet. Weggesperrt und aussortiert war es zwischen altem und unnötig gewordenem Gerümpel gelagert gewesen, an welches Marie genauso wenig erinnert werden wollte, wie an die Zeit mit Paul und die Entstehung dieses Fotos.

Doch nun hingen beide Bilder nebeneinander und um Maries Lippen legte sich ein zufriedenes Lächeln, wenn sie das von Mark betrachtete, ein glückliches, wenn sie das von Paul besah. Beide Männer waren zweifellos gutaussehend, ausgesprochen talentiert und hatten ihre beachtliche Karriere Maries Geschick zu verdanken.

Das war ein Grund, um sich selbst auf die Schulter zu klopfen. Und das tat die zierliche Blondine mit dem geschulten Blick für Talente. Sie besaß hervorragende Beziehungen zur Theater- und Filmwelt, war eine fantasievolle Strategin und gewiefte Managerin. Marie liebte ihren Job.

Und sie liebte Paul.

Wieder.

Vor einem Monat hatte sie ihn wieder in ihr Herz gelassen und wenn sie das Foto ansah, das ihn vor beinahe dreißig Jahren zeigte, kamen wieder Erinnerungen zurück.

An ihr Kennenlernen.

An ihr Liebenlernen.

An seinen Betrug.

Kaum erfolgreich, war er mit einer Hollywood-Diva durchgebrannt und hatte sie schwanger sitzengelassen. Dass sie schwanger gewesen war, hatte er nicht gewusst.

Dass sie auf ihn gewartet hatte, hingegen schon!

Und doch hatte sie ihm verziehen. Und nicht nur das.

Allein durch den Gedanken an ihn, spürte sie noch immer seine fordernden Lippen und zärtlichen Hände, die sie, seit sie in seine Arme zurückgekehrt war, keine Nacht mehr losgelassen hatten.

Keine Nacht! Seit einem Monat!

Eigentlich war das ein Grund zum endlosen Kopfschütteln. Rein logisch betrachtet. Und normalerweise war Marie vernünftig und schaltete stets ihr Oberstübchen ein.

Üblicherweise.

Wenn sie ihre Erfahrungen mit Paul objektiv betrachtete, war das, was sie derzeit mit ihm erlebte, einfach nur dumm, unvernünftig, blauäugig und extrem naiv. Das wusste sie, wenn sie sich die reinen Fakten in Erinnerung brachte: Paul war ein Frauenheld und Säufer gewesen und daher vor zwei Jahren so richtig auf die Schnauze gefallen. Das waren die reinen Fakten, an denen es nichts zu rütteln gab.

Bis ...

Ja, bis Maries Herz die Kontrolle über ihre Gedanken und Taten übernommen hatte.

Derart beeinflusst, hatte sie irgendwann begonnen, Paul glauben zu wollen, dass er sich geändert hatte. Bald war aus dem Glauben-Wollen ein Wissen geworden. Ihr Herz hatte ihrem Geist eines Tages klar und deutlich aufgezeigt, dass sich Paul tatsächlich gewandelt hatte!

Und dann war es passiert!

Irgendetwas oder irgendjemand hatte diese Gefühle in ihr wieder aktiviert. Schicksal oder Gottes Wille? Egal, wie sie es nannte: Seit Marie ihr Herz für Paul wieder geöffnet hatte, hatte sie gespürt, dass ihre Entscheidung richtig gewesen war.

Punkt.

Aus.

Das Gehirn wurde bloß noch im Büro eingeschaltet. Wenn sie jedoch in Pauls Armen lag, ließ sie nur mehr ihr Herz sprechen. So wie sie es von Christian Gottlieb einst gelernt hatte.

Christian.

Der junge Mann mit dem gepflegten Bart und den kinnlangen Haaren war vor drei Jahren in ihr Leben getreten und hatte ab diesem Moment ihr Dasein, sowie das ihrer Liebsten verändert und ins Positive gewandelt. Er hatte Liebe gepredigt und vorgelebt.

Und er hatte Paul den Spiegel vorgehalten und die Augen geöffnet. Man konnte diesen abgedroschenen Spruch durchaus verwenden, dass Christian aus Saulus einen Paulus gemacht hatte. Paul war nämlich unter Christians Einfluss tatsächlich ein völlig anderer Mensch geworden.

Und nicht nur er.

Wer Christian geglaubt hatte, war glücklich geworden.

Wie sie. Und Paul. Aber auch Lena und Maggie, ihre beiden Zwillingstöchter. Dabei war Christian kein Guru oder Psychologe gewesen und wie er das zustande gebracht hatte, wusste auch niemand so genau. Er hatte einfach nur die Menschen geliebt. Und das hatte funktioniert! Und wie!

Christian Gottlieb war nur wenige Monate in ihrem Leben gewesen. Er hatte einen Auftrag zu erledigen gehabt und war nach erfolgreicher Mission zurück zu seinem Vater gekehrt. Er war damals einfach verschwunden. Doch Christians Worte und seine Liebe waren in Marie geblieben. So wie er es ihr prophezeit hatte.

„Wer, wie du, Liebe verströmt, ist nie allein. Du hast eine begnadete Seele und ich werde immer bei dir sein. Du musst mir nur glauben“, waren einst seine Abschiedsworte gewesen.

Er hatte rechtbehalten.

Indem Christian sie gelehrt hatte, auf ihr Herz zu hören, hatte sie sich auch dieser unverständlichen, so heftig wieder aufkeimenden Liebe zu Paul irgendwann nicht mehr verschlossen. Es war Gottes Wille, hatte sie derart intensiv gespürt, nachdem sie ihr Herz wieder geöffnet hatte.

Wie ein Blitz hatten diese Gefühle wieder bei ihr eingeschlagen und, einem vernichtenden Flächenbrand gleich, hatte ihre Leidenschaft alle Bedenken niedergebrannt. Sie war sich einfach sicher gewesen, dass Paul sie nicht mehr enttäuschen würde. Sie vertraute ihm.

Auch wenn das bei ihrer gemeinsamen Vergangenheit unglaublich schien. Sie vertraute ihm trotzdem und es war schön, dieses Gefühl, sich wieder geborgen zu fühlen.

Und geliebt.

Die vergangenen Nächte waren so unglaublich gewesen, dass sie sich ernsthaft fragte, ab welchem Alter man eigentlich eine gediegene Frau zu sein hatte. Marie war zwar inzwischen Großmutter und noch vor einem Monat sah sie sich auch ausschließlich als liebevolle Omi.

Doch nun!

Puh, ihr wurde schon heiß, wenn sie nur daran dachte, wie intensiv sie in Pauls Armen Nacht für Nacht den Himmel auf Erden erlebte.

Ja, sie war glücklich. Unbeschreiblich glücklich. Und sie erlebte mit knapp 50 eine derart stürmische Zeit, dass sie rote Ohren bekam, wenn sie nur daran dachte.

Als hätte Paul ihre Gedanken gespürt, schrillte die Gegensprechanlage.

„Ich öffne!“, rief Marie in das Büro ihrer Tochter und lief zur Eingangstür.

„Danke, Marie!“, rief Lena, die hinter ihrem PC versunken war.

Marie öffnete die Tür und hörte Paul den Gang entlangkommen. Im Hintergrund bemerkte sie Lenas Schritte. Sie war nun doch aus ihrem Büro gekommen, um ihren Vater ebenfalls zu begrüßen.

Paul kam mit einem strahlenden Lächeln auf Marie zu und ihr Herz klopfte wie ein Trommelwirbel, als er näherkam. Dieser Mann sah noch immer so fantastisch aus. Schlank, inzwischen mit graumelierten, etwas schütterer gewordenen Haaren, sportlich und seinem Alter entsprechend, gut gekleidet. Seine ebenmäßigen Züge, seine blauen Augen und sein Grübchen am Kinn machten ihn unverwechselbar.

Ja, er war älter geworden, doch Marie liebte jede Falte in seinem Gesicht, denn es waren die Züge ihrer großen Liebe. Nachdem sie ihn einige Stunden nicht gesehen hatte, wurde ihr bewusst, wie sehr sie ihn vermisst hatte. Nach nur so kurzer Zeit!

„Wir sehen uns um 15 Uhr. Bitte sei pünktlich“, hatte sie Paul nach dem gemeinsamen Frühstück gebeten, während er sie zärtlich geküsst hatte. „Ich werde überpünktlich sein, denn du fehlst mir schon, wenn du aus der Tür gehst“, wollte er sie nicht gehen lassen und hatte sie in seine Arme zurückgezogen, nachdem sie bereits die Tür geöffnet hatte.

Tatsächlich war er nun sogar eine Stunde vor dem vereinbarten Zeitpunkt gekommen und Marie musste sich beherrschen, um ihm nicht um den Hals zu fallen und da weiterzumachen, wo sie in der Früh aufgehört hatte. Ihn bei der Begrüßung lediglich mit einem Wangenkuss zu begrüßen, fiel ihr schwer.

Doch Lena hätte sicher wieder die Augen verdreht, wenn sie Paul zu stürmisch begrüßt hätte. Ihre Tochter lief auf Paul zu, gab ihm einen kurzen Wangenkuss und verschwand eilig wieder in ihrem Büro, um sich für ihren Feierabend fertigzumachen.

Lena arbeitete gemeinsam mit Marie in der Agentur und musste an diesem Tag früher gehen, weil sie mit ihrem einjährigen Sohn einen Termin beim Kinderarzt hatte. Aus diesem Grund hatte sich Paul bereit erklärt, in der Agentur auszuhelfen.

Er kannte den Job. Hier hatte er Marie vor fast dreißig Jahren kennengelernt und während Lenas Mutterschaftskarenz hatte er ebenfalls mit seiner Arbeitskraft ausgeholfen.

Marie zog Paul an der Hand in ihr Büro und schloss die Tür. Sie wollte zu ihrem Schreibtisch gehen und ihm die Einladung von Mark zeigen. Da nahm er ihre Hand, zog sie zu sich und küsste sie so leidenschaftlich auf den Mund, dass ihre Knie weich wie Pudding wurden.

Augenblicklich wollte sie überhaupt nichts anderes mehr. Sie spürte nur mehr seine zärtlichen Lippen und schmiegte sich hingebungsvoll in seine Arme.

„Hallo, mein Liebes“, flüsterte er, als er sie wieder freigab. „Du hast doch hoffentlich nicht gedacht, dass ich mich mit einem Wangenkuss als Begrüßung abfertigen lasse?“

„Ach, Paul, vor Lena können wir doch nicht ...“

„Lena ist erwachsen und weiß, wie das geht!“, grinste er und schob Marie eine blonde Strähne aus dem Gesicht, strich sie hinter ihr Ohr. Mit einer zärtlichen Geste zog er ihren Kopf an seine Brust und umschlang sie danach mit seinen Armen.

Sie genoss seine Nähe und schmiegte sich tiefer in seine Umarmung, während sie weiter argumentierte.

„Schon, aber ich weiß, dass Kinder es nicht gerne sehen, wenn ihre Eltern ...“, murmelte sie, während ihr Ohr seinen Herzschlag vernahm.

„Das tun, was sie selbst machen?“

„Ach, Paul“, tadelte sie ihn und stieß sich nun doch sachte von ihm weg, denn sie spürte, wie sie in seiner Nähe bereits wieder kribbelig wurde. Vor allem, weil sie auch sein Begehren sehr intensiv wahrgenommen hatte.

„Du stößt mich weg?“

„Ich glaube, es ist besser so.“

„Wie kann das besser sein?“, empörte er sich. „Ich empfinde seit einem Monat wieder, wie schön es ist, ein Mann zu sein und dann darf ich es nicht?“, beschwerte er sich und zog ein beleidigtes Gesicht.

„Darfst du doch“, schmunzelte Marie. „Aber nicht jetzt, und nicht hier.“

„Warum nicht hier? Erinnerst du dich? Damals?“

Er sah sie mit hungrigen Augen an.

„Als wäre es gestern gewesen“, bekam sie einen Blick, der bewies, wie genau sie sich daran erinnern konnte. Hier in diesem Büro war ihre Liebe seinerzeit entbrannt. Seine Pupillen vergrößerten sich, als er daran dachte.

„Ich wollte das damals eigentlich gar nicht. Du warst für mich eine nette Kollegin. Doch dann hast du dich gebückt und in dem Moment, wo ich diesen herrlichen Busen erspäht habe, war es um mich geschehen.“

Er blickte auch jetzt wieder auf ihre Brust und das nicht nur mit den Augen. Seine Hände hatten sich ganz automatisch auf ihre weichen Rundungen gelegt, als wären Augen und Finger mit einer feinen Schnur verbunden.

„Ja, ich weiß, Brüste waren schon immer dein Untergang.“

„Marie, ich habe soeben von dir geredet. Du hast mich in deinen Bann gezogen. Und ich habe niemanden jemals so begehrt wie dich.“ Als er ihren skeptischen Blick ausnahm, legte er nach: „Auch wenn es nicht immer so ausgesehen hat.“

„Nun, es hat ja nicht nur nicht so ausgesehen, es war auch tatsächlich nicht so gewesen“, zog sie die Stirn in Falten und sah ihn mit wissenden Augen an.

Er legte den Kopf schief und versuchte, diesen Satz mit den vielen ‘Nicht’ zu verstehen, dann nickte er.

Paul wusste, dass ihm seine Jugendsünden wohl ewig nachlaufen würden. Marie gab sich Mühe und versuchte, ihm zu vertrauen. Das spürte er. Doch es fiel ihr nicht immer leicht und das musste er ihr zugestehen.

Auch wenn es Paul belastete, immer wieder mit der Nase in seine Verfehlungen gedrückt zu werden, wie ein undicht gewordener Dackel, er versuchte Verständnis zu zeigen.

Er musste Verständnis zeigen.

Wahrscheinlich würde er sich bis an sein Lebensende rechtfertigen müssen. Doch er würde es tun, denn Marie war es wert.

Ihre Liebe war es wert.

Und letztlich: Was geschehen war, war doch tatsächlich geschehen.

„Ich weiß, was du meinst. Und, auch wenn du recht hast, vergiss bitte nicht: Für mich hat es immer nur dich gegeben!“ Er sah ihr tief in die Augen und nahm sie sanft bei den Schultern. „Auch wenn du dir das nicht vorstellen kannst.“

„Fällt mir tatsächlich noch immer ein wenig schwer“, gestand Marie. „Immerhin!“, sie zeigte auf das Poster, das ihn als 24-Jährigen zeigte. „Zwischen diesem Foto und heute gab es in deinem Leben vier Ehefrauen und unzählige, wirklich unzählige ...“ Marie wusste gar nicht, wie sie seine Seitensprünge und massenhaften Bettgeschichten benennen sollte. Doch Paul wollte sowieso nicht darauf warten, dass ihr das passende Wort einfiel. Er legte ihr augenblicklich den Finger auf die Lippen.

„Ich habe aber immer nur dich geliebt. Immer!“, wiederholte er und in seiner Stimme war aufsteigende Panik zu erkennen. Es war so schwer gewesen, Marie davon zu überzeugen, dass sie ihm vertrauen konnte.

Also, dass sie ihm jetzt vertrauen konnte.

Maries ersten Vertrauensvorschuss vor fast dreißig Jahren hatte Paul tatsächlich schneller verspielt, als ein Pokerspieler ein Royal-Flash präsentieren konnte.

Doch jetzt war er ein anderer Mensch. Gleich geblieben war lediglich seine Liebe zu Marie. Doch dieses tiefe Gefühl hatte er lange Zeit für sich behalten.

All die Jahre hatte er es bei sich getragen, wohlwissend, dass ihm Marie seinen Betrug und sein unverständliches Abtauchen vor 28 Jahren nie verzeihen würde. Nach dieser unseligen Geschichte war ihm klar gewesen, dass sich Marie ganz sicher nie mehr auf ihn einlassen würde.

Daher hatte er seine Sehnsucht verborgen und gar nicht erst versucht, Marie als Mann wieder näherzukommen.

Ihre Freundschaft war ihm zu wertvoll geworden, als dass er sie durch sein Sehnen nach dieser unvergesslichen Liebe, die er doch selbst verraten hatte, in Gefahr gebracht hätte.

Wenn aber sein Blick gedankenverloren an ihren vollen Lippen hängengeblieben, oder er ihr so nahegekommen war, dass er bereits den Duft ihres Haares vernommen hatte, hatte er es als gerechte Strafe empfunden, dass er ihr wohl nie wieder über die blonden, seidigen Locken streichen, oder in ihrem Mund versinken würde.

Ja, er hatte Sehnsucht nach Maries zarten, aber doch so weiblichen Körper gespürt. Trotzdem hatte er diesem Begehren keinen Platz mehr in seinem Leben eingeräumt und es daher unter Verschluss gehalten.

Bis zu jener Nacht. Die Nacht, in der seine Gefühle einen Weg zu ihr gefunden hatten und völlig überraschend von Marie erwidert worden waren. Was war das für eine unglaubliche Liebesnacht gewesen!

Doch am Morgen danach hatte Marie gezögert.

Das war für Paul nicht nur unverständlich gewesen, hatte er doch ihre Leidenschaft in den vorangegangenen Stunden so deutlich spüren können. Nein, das hatte er als unfassbar schmerzhaft empfunden, denn diese Nacht war so einzigartig, so unvergesslich schön gewesen, dass er sich ab jenem Moment ein Leben ohne Marie nicht mehr vorstellen hatte können.

Nicht nach dieser Nacht!

Damals, vor einem Monat, als von einer Sekunde auf die nächste ihre Empfindungen füreinander ausgebrochen waren, wie bei einem Vulkanausbruch. An jenem Morgen, wonach seine Sehnsucht sichtbar und spürbar geworden war und er sich wie im Himmel gefühlt hatte, war Marie tatsächlich wieder nachdenklich geworden.

Selbst nach dieser Nacht, wo ihre Körper und Seelen eins geworden waren, hatte Marie nach dem Erwachen gefragt, ob sie nicht einen Fehler gemacht hätten!

Ja, diese Frage war ein Schock für ihn gewesen, hatte er sich doch am Ziel seiner jahrelangen Träume gewähnt. Offenbar war Maries Vertrauen aber doch nachhaltig beschädigt gewesen.

Wenn nicht einmal diese Nacht etwas daran ändern hatte können?

Paul war damals klargeworden, dass er sie nicht unter Druck setzen durfte. Doch dann hatte er ihr den Ring an den Finger gesteckt. Diesen Ring, den er seinerzeit für sie gekauft und seither sein Leben lang bei sich getragen hatte, in der Hoffnung, ihn ihr doch noch eines Tages anstecken zu können. Einen Verlobungsring mit einem blauen Saphir-Solitär, der die gleiche Farbe wie ihre Augen hatte.

“Du hast gefragt, ob wir einen Fehler gemacht haben“, hatte er damals stockend geflüstert und ihr den Ring überreicht.

Ich weiß, dass ich keinen Fehler gemacht habe. Nicht in dieser Nacht“, versuchte er seine zuvor gemachten Fehltritte dabei nicht unerwähnt zu lassen. Er hatte ihr den Ring auf den Finger geschoben und tief in die Augen gesehen.

„Das wollte ich schon mein Leben lang tun und ich wäre überglücklich, wenn du den Hallodri vergessen könntest, der ich früher gewesen bin. Seit ich Christian kennengelernt habe, ist alles anders. Er hat mich für die Liebe sehend gemacht. Ich habe erkannt, dass du meine einzige Liebe bist. Bitte glaube mir, ich bin heute ein anderer Mensch“, hatte er sich wiederholt.

Danach hatte Marie ihm geglaubt. Und seither waren sie ein Paar. Ein glückliches, das soeben vor Pauls Jugendbildnis stand, während Paul mit viel Geduld versuchte, Maries wieder einmal auftauchende, berechtigte Zweifel auszuräumen. Ein falsches Wort und Maries Skepsis konnte aufflammen. Wie soeben, als sie gemeinsam das Foto des treulosen Herzensbrechers betrachtet hatten.

Das wird wohl ab sofort meine Lebensaufgabe bleiben, dachte er. Doch es gab Schlimmeres. Sie nicht zu haben zum Beispiel. Er schloss Marie daher in seine Arme und flüsterte ihr ins Ohr.

„Ich habe mir so sehr gewünscht, dass ich bei dir noch eine Chance bekomme. Doch nach dem Tod deines Mannes vor fast zwei Jahren habe ich befürchtet, nein, mir war fast klar, dass du mich nie wieder in deine Nähe lassen wirst. Ich habe gespürt, dass ich es mit deinem verstorbenen Mann nicht aufnehmen kann.“

„Und doch habe ich dich wieder in mein Leben gelassen“, schüttelte sie zweifelnd den Kopf.

„Glaube mir, damit habe ich überhaupt nicht mehr gerechnet. Dich als Freundin zu haben, hätte mir schon genügt.“

Er nahm sie an den Schultern, um ihr intensiv in die Augen sehen zu können. „Marie, das sage ich nicht nur so. Das ist die Wahrheit. Ich habe mit Frauen bereits abgeschlossen gehabt. Und zwar absolut.“

„Mit gerade mal 50?“ Marie lächelte und schüttelte ungläubig den Kopf.

„Du musst mir glauben. Vor dieser unvergesslichen Nacht mit dir habe ich wirklich bereits alles hinter mir gelassen. Frauen genauso wie Alkohol. Christian hat etwas in mir verändert. Das, was zwischen uns in jener Nacht passiert ist, hat mich selbst am meisten verwundert, denn ich habe von mir gedacht, keinen ...“, er zögerte, sprach dann stockend weiter, „also ... ich habe gedacht ... keinen Appetit mehr zu haben.“

„Auf Frauen oder auf Alkohol?“

„Auf beides!“, antwortete er und senkte den Kopf, als wäre ihm dieses Gespräch peinlich.

„Und Elli?“, wunderte sich Marie.

„Elli?“ kam genauso fragend retour.

„Ja, Eleonore Krammer, die seit einigen Monaten mit Georg verheiratet ist. Elli, die zuvor deine Freundin war“, versuchte sie seiner scheinbar nachlassenden Erinnerung etwas auf die Sprünge zu helfen.

„Genauso, wie Georg dein Freund gewesen ist.“

„Ja, aber meine Freundschaft zu Georg war rein platonisch.“

„Meine zu Elli ja eigentlich auch!“, versuchte Paul das Thema zu beenden.

„Was heißt: Eigentlich?“, hörte Marie diese verräterische Ausgrenzung.

„Ach, Marie! Was willst du denn jetzt hören?“

„Nun, die Wahrheit wäre toll!“, schlug sie vor.

„Elli hat es dir doch wahrscheinlich sowieso erzählt. Willst du es wirklich auch noch von mir hören?“, bekam seine Laune augenblicklich eine leichte Trübung. „Freundinnen reden untereinander doch über solche Dinge.“

„Solche Dinge? Welche Dinge? Was hätte mir Elli erzählen sollen?“, verstand Marie kein Wort.

„Nichts!“, quetschte Paul zwischen seinen Lippen raus. „Können wir jetzt bitte das Thema wechseln?“

Konnten sie nicht.

Denn nun war Marie neugierig geworden. Es machte sie unruhig, dass Paul darüber nicht reden wollte. Immerhin war Elli seit Monaten glücklich mit Georg verheiratet. Ob zwischen ihr und Paul früher etwas gewesen war, war doch eigentlich inzwischen irrelevant. Außer aber, wenn Paul darüber nicht reden wollte.

Und danach sah es nun einmal aus.

Sofort war Maries Argwohn wieder erwacht und sie sah Paul irritiert an. Warum will er nicht darüber reden? Gibt es etwas, das ich nicht wissen darf?, flatterten misstrauische Gedanken durch ihren Kopf.

„Du bist gut. Jetzt soll ich nicht mehr weiterfragen? Verstehst du denn nicht, wie nervös mich das macht, wenn du nicht darüber reden willst? Immerhin ist es Vergangenheit und was vor unserer Zeit war, würde mich doch nicht stören. Außer natürlich, wenn es doch nicht vorüber ist!“

„Marie, was soll denn dieses Misstrauen? Spürst du denn nicht, dass es dazu überhaupt keinen Grund gibt?“ Er küsste sie auf den Mund und Marie hatte irgendwie das Gefühl, dass er lediglich ihren Mund schließen wollte.

Als er sie wieder freigab, sah er ihr zweifelndes Gesicht und kannte ihre Gedanken.

„Ich habe dich nicht geküsst, um dich zum Schweigen zu bringen“, erklärte er.

„Aber du willst auch nicht, dass ich weiterfrage“, stellte sie klar, dass dieser Anschein nicht zu Unrecht entstanden war.

„Das stimmt. Weil es mir peinlich ist.“

„Soll ich vielleicht Elli fragen?“, zog Marie ein Ass aus dem Ärmel. Paul spürte, dass es besser wäre, es Marie selbst zu erklären, bevor sie falsche Schlüsse zog.

„Nein, mein Schatz. Das musst du nicht“, seufzte er. „Ich sage es dir.“ Er schüttelte den Kopf und schien sich zu ärgern. „Elli ist scheinbar wirklich kein Plaudertäschchen und ich hätte mir das alles jetzt echt ersparen können. Es ärgert mich, dass ich tatsächlich gedacht habe, sie hätte es dir erzählt.“

„Was erzählt?“

„Dass ich ...“

„Was?“

„Also, es war so ...“

„Wie war es? Paul, komm schon. Du wirst doch hoffentlich vor mir keine Geheimnisse haben?“

„Nein, mein Schatz. Es ist mir nur, wie schon erwähnt, so verdammt peinlich, dass ich ...“

Da endlich ahnte Marie, warum er so herumstotterte. Und auch, warum es ihm unangenehm war, darüber zu reden.

„Du meinst?“ Sie hob ihren Zeigefinger in die Höhe und ließ den ursprünglich aufgestellten, strammstehenden Finger zusammenrollen.

Ohne es aussprechen zu müssen, erkannte sie in seinen Augen, dass sie den Grund für sein Gestotter erraten hatte.

Er nickte leicht und blickte peinlich berührt zu Boden. „Für mich war damals klar, dass ich so etwas nie mehr erleben will. Damals habe ich beschlossen, dass das Thema Frauen für mich erledigt ist.“

„Oh, mein armer Liebling“, nahm sie ihn mitfühlend in die Arme, auch, um ihr Grinsen verstecken zu können.

Sie jubelte innerlich vor Erleichterung, hatte doch noch kurz zuvor eine eifersüchtige Verunsicherung an ihr genagt. Nachdem er ein mit Elli geteiltes Erlebnis verschweigen hatte wollen, hatte sie automatisch viel zu viel in die Sache hineininterpretiert.

Dass er nur nicht gekonnt hatte, war für sie dermaßen erfreulich, dass sie sich bemühen musste, ihre Freude nicht zu deutlich zu zeigen. Noch dazu, wo er doch bei einer anderen Frau diesen Fehlschlag erlitten hatte und sie nicht einmal andeutungsweise ein ähnlich gelagertes Problem erkennen hatte können. Im Gegenteil. Er war bei ihr dermaßen zügellos, dass es absolut keinen Grund gab, an seiner Potenz zu zweifeln. Keinen!

„Ja, bitte, mache dich jetzt auch noch über mich lustig“, schien er ihre Heiterkeit trotzdem zu spüren. Offenbar grinste sie so weit, dass sich ihre Mundwinkel in seine Brustmuskeln drückten.

„Tu ich nicht!“, rief sie und versuchte ernst zu blicken, sah ihm voll Liebe in die Augen. „Ehrlich, mein Schatz.“ Sie strich ihm über die Wange und wiederholte zärtlicher. „Tu ich nicht! Ich bin bloß so unheimlich glücklich, dass es ‘nur’ das war.“

„‘Nur’, ist gut“, verstand er nicht so recht.

„Für mich ist es ‘nur’, denn es legt nahe, dass dein Körper mittlerweile scheinbar ausschließlich Liebe zulässt.“

Er schien über ihre Worte nachzudenken und begann leicht zu nicken.

„Warst du denn in Elli verliebt?“, fragte daraufhin Marie.

„Nein. Tatsächlich nicht. Aber sie auch nicht in mich“, schränkte er sofort ein, um nicht herzlos zu wirken. „Wir waren Freunde und beide einsam. Es wäre eine rein körperliche Geschichte gewesen, wie tausend andere zuvor“, redete er hurtig darauf los.

Dann strich er über ihre Wange und spürte plötzlich, dass Marie möglicherweise der Wahrheit sehr nahegekommen war. „Das mit dir ist und war tatsächlich immer ganz anders und mit nichts vergleichbar. Das mit uns war und ist Liebe“, sagte er und senkte seinen Mund auf ihre Lippen, küsste sie und schob seinen Arm um ihre Taille. Marie schmiegte sich mit einem seligen Seufzen in seine Arme und drückte sich ihm hemmungslos entgegen.

Seine eindeutige Reaktion offenbarte, wie recht Marie tatsächlich hatte.

„Also, wenn ich ehrlich bin, ich wäre in den vergangenen Wochen nicht auf die Idee gekommen, dass bei dir auch nur irgendetwas nicht in Ordnung wäre“, schnurrte sie, als er sie kurz freigab.

„Ich auch nicht, mein Schatz. Ich auch nicht. Nicht bei dir! Du machst mich völlig verrückt!“, keuchte er, während er abermals gierig über ihre Lippen herfiel.

Die Taube

1992

Der 4-jährige Junge spielte in seinem Zimmer Klavier. Er hörte die Türklingel, beendete das Spiel und horchte auf die Schritte seiner Mutter, die zur Tür eilten.

Kurze Zeit war es still und er wollte soeben wieder in die Tasten greifen, da vernahm er einen Schrei und öffnete vorsichtig die Tür, blickte mit schreckgeweiteten Augen in das Wohnzimmer.

Seine Mutter lag auf dem Boden und ein Mann war über sie gebeugt. Der Junge konnte den Besucher nicht erkennen und hatte auch keine Ahnung, was er mit seiner Mutter tat, doch er sah die Angst in den Augen seiner Mama.

Sie blickte plötzlich in seine Richtung und deutete mit der Hand, dass der Junge in sein Zimmer gehen sollte.

Doch das wollte er nicht. Er musste doch seiner Mama helfen. Sie hatte so erschrockene Augen und sah aus, als hätte sie Schmerzen.

Er lief daher auf den Mann zu, der seine Hose bis zu den Knien runtergezogen hatte. Eine tätowierte Taube sprang in das Blickfeld des Kindes. Eine blaue Taube auf einem riesigen, weißen Hintern. Der Junge schnappte nach einem Bein dieses fürchterlichen Mannes und wollte ihn von seiner Mutter wegzerren.

Da hob der Taubenhintern voll Zorn seine Hand und schlug dem Jungen mit voller Kraft mitten ins Gesicht. Der zarte, kleine Junge segelte quer durch das Zimmer und blieb benommen am Boden liegen.

In diesem Moment kam der liebe Onkel zur Tür herein und der Junge sah Fäuste fliegen und schreiende Gesichter. Hören konnte er fast nichts, denn der Schlag auf sein Ohr war derartig stark gewesen, dass er nur mehr ein dumpfes Brummen ausnehmen konnte.

Aber auch sehen konnte er nicht so gut wie noch zuvor. Irgendwie war plötzlich alles anders.

Die Unvollkommenen

April 2018

„Mein Schatz, bitte, hör auf, sonst sperre ich die Tür ab“, raunte Paul in Maries Ohr. Seinen eigenen Worten zuwiderhandelnd krallte er seine Finger in ihr Haar und zerrte mit der anderen Hand ihre Bluse aus der Hose. Voll Verlangen strich er über die weiche Haut ihres Rückens und drückte sie sehnsüchtig an sich. Maries Anschmiegsamkeit ließ ihn beinahe die Kontrolle verlieren.

Aber nur beinahe.

Zur Besinnung kommend gab er sie frei und schob Marie sacht von sich. Er wusste, dass Lena im angrenzenden Büro soeben ihren Arbeitstag beendete und jeden Augenblick in den Raum kommen könnte.

Marie stopfte die Bluse wieder in ihre Hose und schob ihr Haar aus dem Gesicht. Sie schwiegen einige Sekunden und versuchten sich wieder in zivilisierte Menschen zu verwandeln. Auch Paul zupfte an seiner Kleidung, insbesondere mit schmerzvoll verzerrtem Gesicht an seiner Hose, was Marie ein verschmitztes Lächeln entlockte.

Als sie wieder einigermaßen gesellschaftsfähig wirkten, hob Marie ihre Hand und strich ihm sacht eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Schweigend betrachtete sie ihn und wirkte nachdenklich. Er griff nach ihrer Hand und küsste ihre Fingerspitzen. Dann wollte er wissen, was in ihrem hübschen Kopf soeben vor sich ging.

„Woran denkst du?“

„Ach, ich habe gerade einen seltsamen Gedanken gehabt.“

„Schieß los!“

„Kann es sein, dass Christian nicht nur dein Denken und Fühlen, sondern alles in dir verändert hat?“

„Du denkst in diesem Augenblick an einen anderen Mann?“, schürzte Paul seine Lippen, als wäre er tödlich beleidigt.

„Hey, ich habe von Christian geredet!“, klopfte sie ihm liebevoll auf den Oberarm, „und er ist unser gemeinsamer Freund!“, verwies sie ihn scherzhaft darauf, dass Eifersucht nicht angebracht war.

„Ich nehme ja alles zurück, nur schlage mich bitte nicht mehr!“, grinste er und rieb sich den Arm, als hätte Marie ihm einige Knochen gebrochen. Dann wurde er ernst.

„Ich wundere mich nur, warum du soeben an ihn gedacht hast.“

„Nun, ich muss gestehen, mir ging unser Gespräch von vorhin nicht aus dem Kopf.“

„Welches Gespräch meinst du?“, fragte er und legte seine Stirn in Falten. „Wenn ich dich küsse, weiß ich gar nicht mehr, was vorher gewesen ist. Du musst mir schon auf die Sprünge helfen“, langte er abermals nach ihr, um sie zu umarmen. Sie ließ sich zwar in seine Arme ziehen, legte aber ihre Ellenbogen auf seiner Brust ab, um ihm weiterhin in die Augen sehen zu können.

„Na, das Gespräch, wonach du bei Elli ...“, zögerte sie und suchte nach den passenden Worten. Blitzartig wurde Paul klar, wovon sie redete und er legte ihr seinen Zeigefinger auf die Lippen.

„Bitte, nicht wieder aufwärmen!“, bat er sie, nicht weiterzusprechen.

„Nein, nein! Meine Gedanken gehen in eine ganz andere Richtung. Bitte sei doch nicht so empfindlich!“, schüttelte sie den Kopf, weil sie zwar wusste, wie unangenehm dieses Thema älteren Herrn war, es aber nicht wirklich verstand, vor allem, wenn es einmalig gewesen war.

„Bitte höre dir an, was ich soeben gedacht habe. Ich hatte nämlich gerade eine Eingebung: Vielleicht kannst du wirklich nur mehr lieben, wenn du wirklich liebst? Also, ich meine, möglicherweise hat Christian etwas damit zu tun, dass du Liebe empfinden musst, um ...“, sie zögerte, „... ein Mann zu sein“, vervollständigte sie den Satz.

Paul blickte Marie lange an. Dann erfasste er, was sie ausdrücken wollte, doch Marie sprach weiter.

„Wir wissen beide, wie viel Macht er besitzt. Wenn er der ist, den ich in ihm sehe, war das vielleicht sein Geschenk an dich!“, präzisierte Marie ihre Gedanken.

„Gut möglich“, nickte er. „Das wäre in der Tat das schönste Geschenk, das er mir machen konnte.“

„Und es würde zu den zahlreichen Wundern passen, die in unseren Leben in jüngster Vergangenheit geschehen sind. Er hat uns beide wieder vereint und meine Zwillingsmädchen in mein Leben zurückgeführt. Paul, ich glaube, wir beide sind begnadet, indem er uns so reichlich beschenkt hat. Kann es sein, dass er vielleicht etwas von uns erwartet?“

„Was denn?“

„Keine Ahnung!“, zuckte sie mit den Schultern.

„Wieso glaubst du dann, dass er etwas von uns wollen könnte?“

„Weil diese Geschenke doch nicht einfach nur Geschenke gewesen sein können!“

„Warum nicht?“, fragte Paul. „Gottesgeschenke sind nun einmal göttliche Gaben.“

„Derer man sich aber auch würdig erweisen muss. Ich glaube, dass Christian etwas von uns erwartet.“

„Noch mehr, als uns zu lieben?“, zog er sie wieder in seine Arme.

„Paul, bitte!“

„Sorry, dass ich schon wieder über dich herfalle“, entschuldigte er sich und klopfte sich scherzend selbst auf die Finger. Sie schmunzelte und Paul wurde ernst.

„Warum glaubst du denn nun wirklich, dass er etwas von uns erwartet?“

„Ach, ich weiß es ja selbst nicht. Es ist nur so ein Gefühl, das ich nicht einmal beschreiben kann. Und es hat wohl auch tatsächlich überhaupt keinen Sinn, darüber nachzugrübeln. Wenn ich rechthabe, wird er uns schon zu gegebener Zeit Zeichen schicken. So, wie er es immer getan hat“, nickte sie und sah Paul in die Augen.

„Und bis wir es wissen, lieben wir uns!“, raunte Paul und holte sich wieder ihre Lippen, küsste sie allerdings bloß kurz und kehrte zum Thema zurück.

„Ich teile deine Gedanken übrigens!“, erklärte er mit überraschend ernster Stimme. „Auch ich glaube, dass es göttliche Fügung war, die uns zusammengebracht hat, denn normalerweise hättest du mich doch nie wieder auch nur in deine Nähe gelassen.“

„Stimmt!“, bestätigte Marie. „Ohne Christians Einfluss hätte ich dich wohl ...“, ihr fiel gar nicht ein, wozu sie sich fähig wähnte.

„Zu Gulasch verarbeitet?“, fragte er lachend.

„So in der Art!“, lachte sie plötzlich auf. „Aber Christian hat mir den Zorn aus meinem Herzen gerissen.“

Marie schälte sich aus Pauls Umarmung und setzte sich nachdenklich auf die Kante ihres Schreibtisches.

Sie überlegte, ob sie mit Paul ihre tiefsten Gedanken, die sie bisher noch niemandem anvertraut hatte, teilen konnte. Ihr eigenes Geistesgut, Christian betreffend. Ihr tiefes Wissen, das sie in sich begrub, weil sie sich bisher gescheut hatte, es jemandem zu offenbaren, um nicht für verrückt gehalten zu werden. Doch nach Pauls Worten von vorhin, wusste sie, dass er es verstehen würde. Also begann sie sich vorsichtig zu öffnen und wählte ihre Worte mit Bedacht.

„Christian ist in unser Leben gekommen und hat uns Liebe gebracht. Er war ...“, sie stockte. „Er ist die personifizierte Liebe.“

„Willst du deshalb unsere Hochzeitsreise in seine ursprüngliche Heimat machen?“ Marie blickte Paul mit großen Augen an. Seine Frage offenbarte, dass er ihre geheimen Gedanken, Christian betreffend, kannte.

Sie blickte Paul gleichermaßen überrascht wie erfreut an und konnte lediglich nicken.

„Wahrscheinlich“, antwortete sie und schien in diesem Moment zu realisieren, warum sie dieses Reiseziel gewählt hatte. Vor einer Woche hatte Paul sie gefragt, wohin sie reisen wollte. Und ihre Antwort war ohne nachzudenken aus ihrem Innersten gekommen.

„Ja, du hast recht. Ich will ins Heilige Land, weil ich für alles, das er mir geschenkt hat, so dankbar bin. Vielleicht will ich mich inspirieren lassen – wozu auch immer, oder einfach nur seinen Geist noch einmal spüren, indem ich mich auf seinen Spuren bewege.“

„Tust du das nicht sowieso?“

„Stimmt. Ich spüre ihn tatsächlich in mir“, bestätigte Marie und klopfte auf ihr Herz. „Er ist immer bei mir! Genau, wie er es mir verheißen hat.“

Marie stand auf und ging zum Fenster, blickte in den Himmel. Dann drehte sie sich um und merkte, dass Paul darauf wartete, dass sie weitersprach. Also kam sie zum Punkt.

„Ich habe Christian von Anfang an als ganz besonders empfunden. Ist es dir eigentlich auch so gegangen?“ fragte sie vorsichtig. „Hast du nicht auch dieses Gefühl gehabt, dass er ganz außergewöhnlich ist? Also, kein gewöhnlicher Mensch?“ Paul blickte sie mit großen Augen an und schien darauf zu warten, dass sie präziser wurde.

„Also, es ist schon klar, dass er ein Mensch war. Aber irgendwie hatte ich von Anfang an das Gefühl, dass er mehr gewesen ist. Viel mehr ... Ich weiß, ich kann es nicht mit Worten beschreiben, aber hast du nicht auch so ein unbeschreibliches Gefühl in seiner Gegenwart gehabt?“, beendete sie ihr Gestotter und brachte ihre wahren Gedanken einfach nicht in einem Guss über die Lippen.

„Eigentlich ja!“, nickte Paul. „Ich habe nur nie darüber reden wollen, weil mir meine Gedanken ein wenig seltsam vorgekommen sind. Aber Marie, erzähl: Was genau hast du eigentlich gespürt, als du ihn kennengelernt hast?“, fragte er, bevor er Details von seiner Empfindung erzählen wollte.

„Nun, ich war an dem Tag, als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, völlig down. Wirklich total am Ende. Körperlich, geistig und nervlich sowieso. Und ich weiß noch, mir war aufgrund meines emotionalen Ausnahmezustandes irrsinnig kalt und ich habe schrecklich gezittert. Dann ist er gekommen. Er gab mir die Hand und in dem Moment, als meine Hand in seiner lag, ist mir auf einmal angenehm warm geworden. Durch meinen Körper ging ein angenehmer Schauder und mein Zittern hat sofort aufgehört.“ Sie blickte ihn mit großen Augen an. „War es bei dir ähnlich?“

„Ja!“, nickte er. „Jetzt, wo du es erwähnst, fällt mir ein, dass es auch bei mir eine Berührung gewesen ist, die meine trostlose Grundstimmung völlig verändert hat. Ich habe bisher eigentlich angenommen, dass es seine Worte gewesen sind, die mir so sehr unter die Haut gegangen sind. Das natürlich auch! Doch meine Gefühle haben sich genau in dem Moment verändert, als er mich einmal kurz berührt hat. Er hat sich damals nur auf meiner Schulter abgestützt, um sich neben mich setzen zu können, doch plötzlich war meine Verzweiflung wie weggefegt. Ich fühlte mich plötzlich ganz anders. Es war ...“, Paul schien keine passenden Worte zu finden.

„Als hätte er deine Seele geheilt?“

„Ja, genauso hat es sich angefühlt“, nickte Paul.

„Wie bei mir“, nickte nun auch Marie. „Ich habe es genauso empfunden. So, als hätte er mich durch bloßes Handauflegen geheilt.“

Paul sah sie fragend an.

„Und du hast sofort gewusst, wer er ist?“

„Nein, natürlich nicht! Ich habe damals gedacht, dass er vielleicht eine Art Wunderheiler ist. Du weißt schon, es gibt ja Menschen, die durch bloßes Handauflegen heilen können. An so einen Guru habe ich anfänglich gedacht“, lächelte Marie und sprach weiter. „Er stellte sich als Christian Gottlieb vor und war der angekündigte Wirtschaftsprüfer, der bereits im Besprechungsraum erwartet worden ist. Ich sollte ihn lediglich in den Sitzungssaal führen. Damals war ich die Assistentin des Vorstandsvorsitzenden“, erklärte sie nebenbei, weil Paul sie fragend anblickte.

„Aber das tut jetzt nichts zur Sache“, kehrte sie wieder zum Wesentlichen zurück. „Fakt war, dass ich Christian in den Besprechungsraum gebracht habe und jeder der Anwesenden von seiner Erscheinung genauso beeindruckt gewesen war, wie ich. Alle, wirklich alle waren aufgesprungen und haben ihn gleichermaßen fasziniert wie überrascht angestarrt. Es ist plötzlich mucksmäuschenstill im Raum gewesen. Kaum, dass er eingetreten war, ist es wärmer und heller geworden. Mit einem Mal hat eine andere, positivere Stimmung im Besprechungszimmer geherrscht. Damals habe ich gewusst, dass es nicht nur mir so gegangen ist. Alle im Raum haben seine rätselhafte Aura genauso gespürt, wie ich. Jeder hat gefühlt, dass dieser Mann nicht nur irgendein Mann war, sondern ... mehr ...“ Marie blickte Paul mit großen Augen an.

„Und da hast du gewusst, wer er gewesen ist?“

„Nein, für derartige Erkenntnisse war ich viel zu verwirrt. Dafür ist an diesem Tag auch viel zu viel passiert, über das ich jetzt gar nicht reden will. Obwohl ...“ Marie stutzte. „Ich kann mich noch erinnern, als ich neben ihm gegangen bin, um ihn in den Sitzungssaal zu bringen, … da hat er mich an jemanden erinnert. Doch mir ist einfach nicht eingefallen, an wen. Damals noch nicht. Mein Gefühl hatte es mir wohl schon eingeflüstert, doch ich war noch nicht so weit.“

„Und wann hast du es dann gewusst?“, wollte Paul nun wissen.

„Bei Maggies Hochzeit!“, antwortete Marie und bekam einen sehr weichen Blick, als sie an den Moment der Erkenntnis dachte.

„Es war, als das Ave-Maria gesungen worden ist. Ich blickte hoch und sah das Bild des barmherzigen Jesus und habe es auf einmal in meinem Herzen gespürt. Ich weiß noch, ich habe es gar nicht fassen können, dass er tatsächlich mich auserkoren hat.“

Sie sah Paul mit strahlenden Augen an und nahm seine Hand. „In diesem Moment wusste ich, wer Christian Gottlieb tatsächlich gewesen ist!“

„Christus, der Sohn Gottes, der auf die Erde gesandt worden ist, um Gottes Liebe zu verkünden“, antwortete Paul und schien keinesfalls überrascht zu sein.

„Du hast es auch gewusst?“

„Ja!“, nickte er. „Ich habe es am Morgen nach unserer so wunderbaren, gemeinsamen Liebesnacht gewusst. Zuvor habe ich es nur geahnt. Doch das hätte ich nie jemandem gesagt. Nie!“ Er lächelte schief und Marie verstand nur zu gut.

„Doch als ich an jenem Morgen in deinen Armen erwacht bin, habe ich sein Bild vor meinem geistigen Auge gesehen. Er hat mir zugelächelt und ich hörte wieder seine Worte: ’Wenn du dich für die Liebe entscheidest, kommt sie zu dir zurück’. Dann habe ich die Augen geöffnet und auf deinem Nachtkästchen das Bild des barmherzigen Jesus gesehen. Da habe ich es gewusst“, flüsterte Paul und zog Marie in seine Arme.

Sie legte ihren Kopf an seine Brust, spürte sein Herz klopfen und wusste mit einem Mal, dass alles tatsächlich Bestimmung gewesen ist. Alles. Sie und Paul. Dieses Gespräch. Diese Erkenntnis.

Sie erschauderte.

„Wieso hat er gerade uns gewählt?“, überlegte sie ehrfurchtsvoll und hob den Kopf. „Also, ich hätte ja nie gedacht, dass Christus überhaupt noch einmal auf die Erde kommt. Aber gut, ich gestehe, dass ich mit der Religion eigentlich nichts am Hut habe und daher auch nicht weiß, ob so etwas jemals geplant gewesen ist oder nicht.“

„Andererseits: Wenn er tatsächlich der Sohn Gottes ist ...?“

„Du willst damit wohl sagen, dass er doch tun und lassen kann, was er will!“

„Ja! Er oder sein Vater. Aber so in der Art waren tatsächlich meine Gedanken. Also, ich gestehe, dass ich nie religiös gewesen bin. Als Kind war meine Vorstellung von Gott die, dass er allmächtig und allwissend ist. Nachdem er alles nach seinen Plänen geschaffen hat, warum sollte er dann seinen Sohn nicht auch öfter mal auf die Erde schicken? Wenn er möglicherweise damit etwas bewirken will? Wer weiß, vielleicht war Christus schon öfter mal auf der Erde und hat sich unter das Volk gemischt. Wir wissen es doch nur von seinem ersten Wirken vor 2000 Jahren.“

„Und von seinem unvergesslichen Besuch bei uns!“ berichtigte ihn Marie. Paul lächelte schief.

„Aber genau über diesen Besuch wundern wir beide uns doch so sehr, dass wir es gar nicht wirklich glauben können!“ Er blickte sie an. „Das stimmt doch – oder? So richtig glauben wir es doch noch immer nicht. Sag, wenn ich mich irre!“

„Du hast natürlich recht. Aber es ist doch auch tatsächlich unglaublich!“

„Genau das meine ich. Das, was wir beide soeben besprechen, werden wir daher auch nie irgendeinem Außenstehenden erzählen. Oder?“

„Nein. Nie!“, pflichtete sie ihm bei.

„Immerhin: In der geschlossenen Anstalt ist man rasch!“, bestätigte er, warum er sich ebenfalls bedeckt halten würde. „Und daher bin ich mir auch sicher, sollten andere Menschen jemals das Gleiche erlebt haben, wie wir ...“

„... und die gleichen Schlüsse ziehen ...“

„... würden sie genauso darüber schweigen ...“

„... wie wir“, bestätigte Marie und wiederholte Pauls vorherige Worte: „In der geschlossenen Anstalt ist man ja wirklich rasch!“

Sie schwiegen eine Weile und jeder hing seinen Gedanken nach. Dann begann Marie zu sprechen.

„Ich fasse es aber noch immer nicht, warum er tatsächlich uns gewählt hat.“

„Ich habe auch keine Ahnung. Und wenn ich ehrlich bin, ich hätte nie gedacht, dass ich es überhaupt verdiene“, lächelte er gequält.

„Vielleicht früher nicht“, antwortete Marie. „Doch jetzt schon!“

„Danke, Marie, es ist lieb von dir, dass du das sagst. Aber was ich heute bin, ist nicht mein Verdienst, sondern sein Werk.“

„Nicht nur! Denn wenn du dich von ihm nicht hättest leiten lassen, dann ...“ Marie stockte.

„ ... wäre ich noch immer der arrogante Säufer, nur, dass ich inzwischen unter der Brücke schlafend, meine großen Sprüche klopfen könnte!“, vervollständigte Paul Maries begonnenen Satz.

„So deutlich hätte ich es nicht ausgedrückt“, lächelte Marie über Pauls treffend, scharfen Zynismus. „Aber vielleicht solltest du genau das erkennen. Nämlich, dass es dir gut ergehen wird, wenn du ihm folgst.“

„Gut möglich!“, bestätigte Paul. „Das kann tatsächlich sein!“

„Ist dir überhaupt klar, wie gesegnet wir sind, dass er uns auserwählt hat?“, sinnierte Marie und schüttelte ungläubig den Kopf.

„Wenn ich ehrlich bin: Nein! Ich kann es eigentlich gar nicht fassen.“

„Ich auch nicht. Aber eines ist schon klar: Das ist fast eine Bürde!“, blickte Marie nun beinahe verunsichert.

„Eine Bürde?“

„Nun, nicht gerade eine Bürde. Das Wort habe ich tatsächlich nicht richtig gewählt.“ Sie dachte nach, suchte einen besseren Ausdruck. „Eine Verantwortung wollte ich sagen. Dieses Wort passt besser!“, nickte sie heftig. „Ich will damit sagen, dass wir uns dieser Berufung würdig erweisen müssen.“

„Und das werden wir auch“, nickte Paul, griff nach Maries Händen und fühlte in diesem Moment eine so tiefe Verbundenheit, die weit über ihre unsterbliche Liebe hinausging. Das, was sie beide nun zusätzlich verband, war durch dieses Gespräch eine Dimension reicher geworden.

Was sie beide einte, war göttlich.

So jedenfalls empfand er.

„Wenn Christian etwas von uns erwartet, hoffe ich, dass wir ihn nicht enttäuschen“, zweifelte Marie offenbar mit einem Mal an ihrer Fähigkeit, Christians Erwartungen erfüllen zu können. Diese Befangenheit entsprang einer sich automatisch einstellenden Ehrerbietung, seit sie wusste, wer er war.

Ich kann doch über Christus nicht genauso denken, wie über Christian, meinen lieben Freund! Doch im gleichen Augenblick schob sich eine kecke Frage in ihre Gedanken: Aber warum eigentlich nicht?

Solange Christian Christian war, war er einfach nur Christian. Doch nun, wo sie wusste, dass er Christus war, schien sie vor Ehrfurcht fast zu erstarren.

Dabei war Christus doch Christian! Er war es vorher und ist es noch! Auch wenn sie inzwischen sein wahres Sein erkannt hatte, so hatte sich in Wahrheit doch absolut nichts geändert! Er war vorher ihr Freund gewesen und war es noch! Ihre respekteinflößende, fast schon an Furcht grenzende Hochachtung empfand sie demnach auf einmal flüssiger als flüssig – nämlich: überflüssig!

Und ihr wurde gleichzeitig klar, dass diese, sich wohl automatisch einstellende Bestürzung, auch der Grund gewesen sein muss, warum Christian für sein Erscheinen den zwar aussagekräftigen, aber doch nicht so ganz eindeutigen Namen ‘Christian Gottlieb’ gewählt hatte. Er hatte wohl gewusst, wie jeder Mensch reagiert hätte, wenn er sich völlig unverblümt vorgestellt hätte: ‘Grüß Gott, mein Name ist Jesus Christus, ich bin der Sohn Gottes und hierhergekommen, um ...’ Wäre er so direkt mit der Tür ins Haus gefallen, hätte doch jeder sofort herumgestottert, warum er seit der Erstkommunion nicht mehr in der heiligen Messe gewesen war, oder er hätte sich für den Jahre zurückliegenden Kirchenaustritt gerechtfertigt.

Nein, abgesehen davon, dass Christian an derlei Dingen gar nicht interessiert gewesen war, wurde Marie klar, dass er die Menschen keinesfalls in Panik hatte versetzen wollen. Und daher sollte auch sie diese unnötigen Zweifel an ihrer Befähigung aus ihren Gedanken streichen. Christian war ihr Freund! Egal, ob sie ihn Christian oder Christus nannte. Diese Erkenntnis dezimierte ihre Bedenken auf ein erträgliches Minimum.

„Ach, was rede ich da!“, sagte Marie. „Soviel ich mich erinnern kann, hat Christus gerade die Unvollkommenen besonders geliebt.“

„Na dann wäre ja klar, warum er mich gewählt hat!“, lächelte Paul schief und Marie sah ihm an, wie minder er sich soeben fühlte. Sie strich ihm daher liebevoll über seine Wange und zerstreute seine Bedenken.

Jetzt bist du vollkommen. Für mich auf jeden Fall!“, bekräftigte sie. „Und scheinbar auch für Christian, sonst wäre seine Wahl nicht auf dich gefallen.“

„Vielleicht hat er sich ja geirrt?“, murmelte Paul und Marie sah ihn mit einem argwöhnischen Blick an, tätschelte seinen Arm.

„Ach, jetzt komm aber! Er ist unfehlbar.“

„Nun, wenn Christian in meinem Fall nicht tatsächlich sein erster elementarer Fehler unterlaufen ist, sollten auch wir uns keine unnötigen Gedanken machen“, grinste Paul nun und schien wieder etwas mehr in seine Mitte gefunden zu haben. „Beende daher aber auch du dein Grübeln! Er hat uns zusammengeführt, zu dieser Erkenntnis geleitet und er wird uns auch weiterhin führen. Wir dürfen nur eines nie aus den Augen verlieren!“

„Seinen Namen!“, wusste Marie und nahm ihm die Antwort ab.

„Ja, Marie! Gottes Liebe dürfen wir nicht aus den Augen verlieren“, bestätigte er, dass er genau das Gleiche gedacht hatte. Marie legte Daumen und Zeigefinger an ihr Kinn und blickte nachdenklich.

„Weißt du, was seltsam ist“, schüttelte sie den Kopf. „Er kam in unser Leben, stellte sich als Christian Gottlieb vor und in diesem Namen steckte doch bereits die ganze Wahrheit. Warum habe ich aber dann so lange gebraucht, um es überhaupt zu erkennen?“

Paul konnte darauf keine Antwort geben, stellte stattdessen die nächste Frage.

„Was mich wundert: Waren, oder sind wir die Einzigen, die ihn erkannt haben? Du sagst, dass damals, als er aufgetaucht ist, alle im Besprechungsraum von seiner Ausstrahlung wie hypnotisiert gewesen sind.“ Paul hob die Hände. „Vielleicht haben ihn mehr Leute erkannt, als wir glauben.“

„Schon möglich!“, nickte sie vage und lächelte. „Immerhin, wer diese Gedanken hat, präsentiert sein Wissen ja nicht jedem, wie wir vorhin erörtert haben.“

„Ja, ja. Diese Anstalt, in der es von Leuten wimmelt, die Ähnliches behaupten“, grinste er.

„Aus diesem Grund habe ich es dir doch auch erst heute erzählen können“, erklärte Marie.

„Und was ist mit unseren Töchtern?“, fragte Paul. „Du hast erwähnt, dass Christian Lena sehr unterstützt hat. Aber auch Maggie hat ihn kennengelernt und schwärmt von ihm“, fiel Paul ein.

„Maggie hat ihn möglicherweise schon erkannt!“, nickte Marie nun heftig. „Sie hat ihn an dem Tag kennengelernt, als er zum letzten Mal persönlich in unserer Mitte gewesen war. Das Gespräch, das Christian mit Maggie bei seinem Abschied geführt hat, war zwar kurz, aber sehr intensiv. Und ich habe ihr angesehen, dass sie in ihm etwas Besonderes erkannt hat.“

„Und Lena?“, Paul sah sie fragend an.

„An Lena hat Christian wirklich wahre Wunder vollbracht“, schmunzelte Marie. „Ähnlich wie bei dir. Sehr ähnlich!“ Paul nickte lediglich, äußerte sich aber nicht. Also sprach Marie weiter.

„Lena war von Christian demnach natürlich völlig beeindruckt. Doch sie hat angenommen, Christians Vater sei der Besitzer einer großen Wirtschaftsprüferkanzlei.“

„Ehrlich?“, Paul riss die Augen auf. „Warum hat sie das gedacht?“

„Weil Christian als Wirtschaftsprüfer in unsere Firma gekommen ist. Beim Abschied hat er erwähnt, dass sein Auftrag erledigt sei und er zu seinem Vater zurückkehren muss.“

„Dann war es aber doch eigentlich logisch, dass Lena angenommen hat, Christians Vater wäre ebenfalls Wirtschaftsprüfer!“

„Ja, ihre Gedankengänge waren sogar total logisch und im Nachhinein betrachtet, auch ein wenig bizarr.“

„Bizarr?“

„Ja! Lena wollte Christian nämlich keinesfalls gehen lassen. Sie ging in ihrem Bestreben, ihn festzuhalten, sogar so weit, ihm Aufträge vermitteln zu wollen, nur damit Christian in ihrer Nähe blieb. Sie wollte unbedingt Kontakt zu Christians Vater aufnehmen und ihm ihre logistische Hilfe über Internet anbieten.“

Paul lachte lauthals auf.

„Unsere Lena wollte tatsächlich Kontakt zu Gott aufnehmen und über Internet Aufträge für Christus vermitteln?“, fasste er belustigt zusammen.

„Hört sich durch dein Resümee tatsächlich lustig an“, grinste nun auch Marie bei dieser Vorstellung. „Lena hat demnach ganz offensichtlich nicht gewusst, dass Gott ihr Verhandlungspartner gewesen wäre.“

Marie musste ebenfalls lachen, weil sie sich diese Situation soeben bildlich vorstellte.

„Das heißt, sie wollte Christian auf keinen Fall verlieren?“, fasste Paul fragend zusammen.

„Stimmt! Sie hat ihn so sehr gebraucht und war völlig niedergeschlagen, nachdem er aus ihrem Leben verschwunden ist. Sie glaubt, er kann ihr nur helfen, wenn sie mit ihm reden kann!“ Marie lächelte sanft. „Dabei hätte sie über ein Gebet jederzeit mit ihm in Kontakt treten können.“

„Das könnte sie doch auch jetzt!“, sagte Paul.

„Ja, aber nur, wenn sie daran glaubt. Christian hat uns zwar bei seinem Abschied beschworen, dass wir seinen Worten Glauben schenken sollen und erwähnt, dass er immer bei uns sein wird. Doch Lena hat das nicht so verstanden, wie wir beide es auffassen.“

„Und wenn du es ihr erklärst?“ Marie dachte kurz nach, schüttelte aber dann den Kopf, während sie antwortete.

„Nein, das würde nicht funktionieren. Wer glaubt und wer nicht glaubt, beziehungsweise an was oder wen jemand glaubt, das muss jeder für sich selbst entscheiden“, lächelte sie milde. „Niemand kann dir etwas einreden, wenn du es nicht selbst in deinem Herzen fühlst.“

„Da hast du nicht unrecht. Doch vielleicht kannst du Lenas Gedanken sanft in eine Richtung führen, wodurch sie selbst erkennt, wie begnadet sie eigentlich ist. Zu wissen, dass Christus sie auf Erden besucht hat, wäre für sie so ein tröstlicher Gedanke. Scheinbar fühlt sie sich von Christian verlassen. Es täte ihr sicher gut, würde sie erkennen, dass er nach wie vor immer für sie da ist.“

„Das könnte ich. Doch sie scheint momentan andere Probleme zu haben und ich denke, dass Christian in seiner unendlichen Weisheit schon dafür sorgen wird, dass sie ihn erkennt, wenn die Zeit reif dafür ist.“

„Du nennst ihn nach wie vor: ‘Christian’“, schmunzelte Paul.

„Nachdem ich ihn als Christian kennengelernt habe ...“, hob sie fast entschuldigend ihre Schultern und ließ das Ende des Satzes offen.

„Bleibst du einfach bei diesem Namen!“, vervollständigte Paul und zeigte dadurch, dass er sie verstand. „Und wenn ich mich richtig erinnere, gibt es in der Bedeutung zwischen Christian und Christus sowieso keinen elementaren Unterschied. Beide Begriffe bezeichnen den Messias und erklären, wer Jesus war.“

„Eben!“, nickte Marie. „Aber eines ist demzufolge völlig klar. Gott hat seinen Sohn gewiss nicht ohne Grund auf die Erde entsendet. Er will mit Sicherheit etwas bewegen und wir sind demnach Teil seines Plans!“, ergänzte sie und wiederholte mit einem ehrfürchtigen Blick ihre zuvor geäußerte Vermutung.

Paul sah sie lange an und hob dann seine Arme, zog sie an seine Brust.

„Unglaublich und doch nachvollziehbar!“, flüsterte er, während er ihr Haar küsste. Er konnte ihren Worten nichts hinzufügen. Sie hatte es auf den Punkt gebracht und er war einfach nur überwältigt. Marie ließ sich von Pauls Zärtlichkeit umhüllen und fühlte sich unglaublich geborgen.

„Daher ist deine Auswahl des Reisezieles genau der richtige Ort“, murmelte Paul, während er Marie über das Haar strich. Sie lächelte, als sie seine Worte hörte.

„Ich bin dir so dankbar, dass du dieser doch recht außergewöhnlichen Hochzeitsreise zugestimmt hast.“

„Außergewöhnlich?“ schob er sie mit fragendem Blick von sich, um ihr in die Augen sehen zu können. „Für uns ist das doch eigentlich der richtigste Ort der Welt. Auch wenn es unglaublich klingt: Christus hat uns nicht nur Gottes Liebe geschenkt, sondern auch den rechten Weg gezeigt.“

„Stimmt“, nickte Marie.

„Dann wird das die optimale Hochzeitsreise. Wir beschreiten den Weg der Liebe gemeinsam, indem die wundervollste Frau der Welt endlich meine Ehefrau sein wird.“

„Nummer fünf?“, blitzte Marie ihn keck an, wohlwissend, dass er das nicht gern hörte.

„Nummer eins!“, widersprach er sofort. „Du bist die erste Frau in meinem Leben, der ich einen Heiratsantrag gemacht habe. Und du bist die erste und letzte Frau, die ich geliebt habe und liebe.“

„Ich weiß, Paul!“, lächelte sie.

„Wirklich?“, blinzelte er, während Maries letzte Worte noch in seinem Ohr nachklangen.

„Ja, wirklich! Ich wollte dich bloß ein wenig aufziehen, indem ich vorhin meine Vorgängerinnen erwähnt habe.“

„Das waren nicht deine Vorgängerinnen. Also, im rechtlichen Sinne schon, aber eigentlich waren das eher Hindernisse auf meinem Weg zurück zu dir!“, nickte er heftig und schien mit dieser Formulierung zufrieden zu sein.

„Ach, Paul, wie sehr ich deine Beteuerungen liebe“, grinste sie. „Fast so sehr wie dich selbst.“ Seine Gesichtszüge entspannten sich und er küsste sie auf die Nasenspitze.

„Hauptsache, du glaubst mir!“

„Natürlich glaube ich dir!“, bestätigte sie gutgelaunt und ging zu ihrem Schreibtisch. „Wirklich!“, nickte sie heftig.

Die Eintrittskarte

April 2018

„Guck, was ich heute bekommen habe“, sagte Marie und griff geschäftig nach einem Kuvert. Sie reichte Marks Einladung an Paul weiter. Er besah sich die Eintrittskarten und las Marks Dankesworte.

Anerkennend schnalzte er mit der Zunge und sah gleich danach auf Marks Foto über Maries Schreibtisch.

„Diese Werbekampagne ist dir wirklich gelungen. Mark hat es weit gebracht. Und das Bild ist tatsächlich einmalig“, bescheinigte Paul.

„Er hat aber auch das gewisse Etwas“, bestätigte Marie.

Dann sah sie Paul mit einem zärtlichen Blick an.

„Wie du seinerzeit. Mich wundert nicht, dass die Filmstudios sofort angebissen haben. Bei dir, aber jetzt auch bei Mark.“ Marie entnahm dem Kuvert ein weiteres Schriftstück und las vor: „Nominiert in der Kategorie ‘Bester männlicher Nachwuchs’ für ‘Straße der Sehnsucht’.

Sie blickte hoch und besah voll Stolz das gerahmte Foto ihres Klienten, den sie mit einer ausgeklügelten Werbemaßnahme zu solch wirksamer medialer Aufmerksamkeit verholfen hatte. In den größten Boulevardzeitungen hatte sie Inserate in A4-Seitengröße geschaltet. Lediglich das hervorragende Foto und die drei Wörter ‘Wer kennt Mark?’ hatten die gesamte Seite befüllt.

Sonst nichts.

Keine Information.

Nur das Foto und die Frage.

Diese Frage, die Marie beantworten konnte. Dann, wenn sich der erste Studioboss bei ihr melden würde. Sie wusste, dass sie nur warten musste. Nachdem ihre Künstleragentur in der Wiener Innenstadt einen klingenden Namen in der Branche besaß, hatte es auch tatsächlich nicht lange gedauert, bis sich der erste Filmproduzent bei ihr gemeldet hatte.

„Frau Haller, kennen Sie eigentlich diesen Mark?“ Das war der Startschuss gewesen, auf den sie gewartet hatte. Und ab jenem Moment hatte die Karriere des jungen Schauspielers zu laufen begonnen. Plötzlich rissen sich die Filmstudios um ihn. Nun konnte er sich die Angebote aussuchen.

„Das war wirklich gute Arbeit!“, zollte Paul Marie Respekt.

„Ich hätte mir nicht gedacht, dass es über zwanzig Jahre später noch einmal funktioniert.“ Sie dachte dabei an die Zeitungsinserate, die sie vor vielen, sehr vielen Jahren für Paul geschaltet hatte. Das gleiche Konzept. Die gleiche Idee. Ebenfalls rascher Erfolg.

„Wenn ich bedenke, dich hat diese Kampagne sogar bis nach Hollywood gebracht. Glaubst du, dass das auch Marks Weg werden wird?“

„Schon möglich! Das Talent besitzt er. Die Ausstrahlung auch.“

„Für mich hast du damals sogar eine noch berauschendere Ausdruckskraft gehabt. Draufgängerischer irgendwie und durch dein dunkles Haar noch verwegener.“ Ihre Augen begannen zu glänzen, als sie sich an diese Zeit erinnerte. Sie strich ihm dabei zärtlich über sein inzwischen ergrautes Haar.

„Ja! Das war vielleicht einmal!“, seufzte Paul.

„Du bist heute zwar nicht mehr so jugendlich, doch deine Ausstrahlung ist noch immer unwiderstehlich“, flüsterte sie und schmiegte sich wieder in seine Arme.

„Marie! Du und ich, wir wissen doch ganz genau, dass ich nicht mehr unwiderstehlich bin.“

„Für mich schon!“, widersprach sie. „Für mich schon“, wiederholte Marie. „Und du bist mir heute viel lieber, als damals und deshalb weine ich diesem jungen, schönen Mann auch keine Träne nach.“ Sie drehte sich um und zeigte auf das Bild des jungen Paul.

Er legte von hinten beide Arme um ihre schmale Taille und küsste sie auf den Hals. Sie schnurrte wie ein Kätzchen und wandte sich um. Augenblicklich fiel er wieder über ihre Lippen und küsste sie.

Plötzlich flog die Tür auf. Ihre gemeinsame Tochter stürzte in den Raum. Lenas brünetter Zopf peitschte in ihr Gesicht, nachdem sie schlagartig stehengeblieben war und ihre Eltern anstarrte. Marie und Paul stoben auseinander wie Pubertierende, die beim heimlichen Rauchen erwischt wurden.

„Ups!“, war Lenas Kommentar, um gleich danach loszuwettern. „Kann man euch nicht eine Minute allein lassen?“, verdrehte die 28-Jährige ihre großen, blauen Augen und wirkte tatsächlich etwas verärgert.

„Ihr seid ja wie die Karnickel!“, schimpfte sie und es war nicht klar erkennbar, ob sie wirklich zornig war oder lediglich die Echauffierte spielte.

Normalerweise muss man bei 50-jährigen Eltern nicht mehr anklopfen, dachte Lena, doch bei Marie und Paul war alles anders. Die zwei konnten ihre Finger nicht voneinander lassen. Ständig klebten sie zusammen und schnäbelten. Das war für Lena manchmal nur schwer auszuhalten.

Überhaupt, seit sich zwischen ihr und David nichts mehr abspielte. Oder fast nichts mehr. Nein, eigentlich gar nichts mehr.

„Danke, dass du so pünktlich gekommen bist“, sagte sie zu Paul. „David bringt Raffael in zehn Minuten. Er will heute noch früher in die Tanzschule!“

Sie verdrehte die Augen, als sie vom Vater ihres Sohnes sprach.

„Aber Lena, das ist doch sein Job!“, versuchte Marie die zynische, verbale Speerspitze ihrer Tochter zu entschärfen.

„Ja, ich weiß!“, machte diese eine wegwerfende Handbewegung. „Der Herr Tanzlehrer ist fast jeden Abend weg.“

„Aber das hast du doch gewusst und es hat dich früher auch nicht gestört“, wunderte sich Marie.

Paul legte seinen Arm um die Schulter seiner Tochter und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Er strich ihr eine Haarsträhne, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte, aus dem Gesicht und lächelte sie an.

„Ich bin gerne gekommen, du Ebenbild deiner schönen Mutter. Komm, zieh deine Stirn nicht in Falten, sondern schenke mir dein betörendes Lächeln“, entgegnete er und nahm Lenas giftigen Kommentar nicht weiter ernst. „Du weißt, ich helfe gerne aus“, antwortete er.

„Ja, das habe ich gesehen. Kaum im Büro, gehst du schon wieder der Chefin an die Wäsche.“

„Hey, wir sind verlobt!“, hielt Marie ihren Finger mit dem blauen Saphirring in die Höhe.

„Dass ich das noch erlebe? Meine Eltern heiraten. 29 Jahre nach der Zeugung bekommen die Zwillingstöchter Maggie und Lena endlich rechtmäßig verheiratete Eltern. Wer hätte das gedacht?“

Auch jetzt klang Lenas Stimme wieder sarkastisch.

„Lena, ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte Marie und griff nach dem Unterarm ihrer Tochter, erzwang einen Blickkontakt, um in Lenas Augen lesen zu können, was los war.

„Ja, alles bestens!“, war Lena bemüht, ihren Frust nicht zu zeigen und senkte ihre Lider.

Gar nichts war in Ordnung. Sie hatte alles satt. Ihr einjähriger Sohn tanzte ihr auf den Nerven herum und David war am Abend nie daheim. Gut, das war tatsächlich nichts Neues, doch neu war, dass sie nicht bei ihm sein konnte.

Bevor Raffael auf die Welt gekommen war, war Lena ab und zu, und das liebend gern, Davids Tanzpartnerin gewesen. Nach dem Tanzunterricht sind sie immer gemeinsam essen gegangen und hatten wesentlich mehr voneinander gehabt als jetzt, wo sie in einem Haushalt wohnten.

Seit fast einem Jahr lebte Lena mit David zusammen und eine Partnerschaft gab es nur mehr sporadisch.

Ein Liebesleben fand überhaupt nicht mehr statt.

Wie auch?

Sie schlief bereits, wenn David spät in der Nacht heimkam. Am Morgen ging Lena in die Agentur arbeiten, während sich David um Raffael kümmerte. Kam Lena am frühen Abend müde heim, verließ David das Haus. Eigentlich glich ihr Leben derzeit eher einem Staffellauf als einer Beziehung.

In den hektischen Momenten, wo die Staffelübergabe stattfand, also, der gemeinsame Sohn übergeben wurde, gab es oft nicht einmal mehr ein Küsschen. Das Leben war zu einer endlosen, lieblosen Hetzerei zwischen Arbeiten gehen, Kind hüten und Haushalt führen geworden.

Das war doch kein Leben.

Irgendwie stank ihr alles.

„Lena, ich sehe doch, dass etwas mit dir nicht stimmt“, ging Marie auf ihre Tochter zu und zog sie auf den Stuhl neben sich. „David kommt in zehn Minuten, hast du gesagt. Nutze die Zeit und sprich mit mir. Was ist los?“

„Ich stelle Kaffee auf und nehme David in Empfang, wenn er kommt“, bot Paul seine Abwesenheit an und verließ das Zimmer, damit Mutter und Tochter miteinander reden konnten. Unter vier Augen würde sich Lena vielleicht ihrer Mutter öffnen. Marie blickte ihm dankbar nach und wartete, bis die Tür geschlossen war.

„Was ist los?“, fragte Marie, als sie mit Lena allein war.

„Nichts!“

„Lena, komm, sage mir bitte, was dich bedrückt! Ich spüre es doch!“, versuchte Marie in ihre Tochter zu dringen.

„Es ist nichts“, blockte sie jedoch ab. Daher begann Marie zu kitzeln.

„Ist es wegen Raffael? Er ist ein so temperamentvolles Kerlchen. Ist er dir zu wild? Wird dir manchmal alles zu viel?“

„Manchmal?“, explodierte Lena förmlich, denn Marie hatte direkt ins Wespennest gestochen.

„Er ist die reinste Ausgeburt! Seit er laufen kann, muss ich ständig hinter ihm her sein. Er schmeißt alles um, ist überall oben und drinnen, macht alles kaputt. Der kleine Kerl kommt mir wie ein Bulldozer vor, der nur auf ‘Zerstörung’ programmiert ist.“

„Aber Lena, er ist zwar ein lebhafter, aber doch so lieber Junge.“

„Lebhaft?“, kreischte Lena.

Sie schüttelte den Kopf, weil dieses Wort offenbar nicht die Formulierung war, die sie für ihren Sohn gewählt hätte.

„Weißt du, was ich nicht verstehe? Maggies Tochter ist so ein ruhiges und stilles Kind. Meine Schwester kann neben ihrer Tochter sogar lesen. Sarah sitzt in ihrem Bettchen und spielt stundenlang mit ihren Spielsachen. Ich kann neben Raffael oft nicht einmal das Abendessen zubereiten, weil er ständig irgendwelchen Unfug treibt.“

„Mädchen sind meist etwas ruhiger und Sarah dürfte wirklich viel von Peter haben. Er ist doch auch so ruhig.“

„Aber so ein Temperamentbolzen ist David auch wieder nicht!“, erklärte Lena und ihr Ausdruck wurde bitter. „Seit einigen Monaten ist er sogar das reinste Schlafpulver!“, entwich Lena und ärgerte sich, dass ihr diese Intimität im Beisein ihrer Mutter entschlüpft war.

Marie bekam einen ersten Eindruck von den Problemen ihrer Tochter und fragte nicht nach, wie Lena die letzte Bemerkung gemeint hatte.

„Nun, du darfst nicht vergessen, dass sich David den Tag über um Raffael kümmert und am Abend in die Tanzschule geht. Das ermüdet.“

„Aber früher war er doch auch nicht ständig erschöpft!“

„Kann es sein, dass auch er mit Raffael etwas überfordert ist?“

„Wie soll ich das wissen? Wir reden ja kaum noch miteinander.“

„So schlimm ist es schon zwischen euch?“

„Schlimmer! Ich halte es bald nicht mehr aus. Das ist doch kein Leben. Wenn ich daran denke, was ich früher für Vorstellungen von meinem Leben gehabt habe! Ich wollte Schauspielerin werden. Ich wollte etwas aus meinem Leben machen. Nun bin ich schon 28 Jahre alt und arbeite in einer Künstleragentur, wo ich anderen Künstlern zu Arrangements verhelfe, die ich selbst gerne hätte. Statt meinen Traum leben zu können, zieht mir am Abend mein hyperaktiver Wirbelwind den letzten Nerv. Wenn ich dann völlig fertig einschlafe, bekomme ich nicht einmal mehr mit, wenn David mitten in der Nacht heimkommt, und an den Wochenenden streiten wir nur mehr, weil der Kleine uns beide nervt oder wir uns gegenseitig auf den Nerven herumtanzen.“

„Stört David Raffaels Temperament auch so sehr?“, wiederholte Marie ihre Frage, die Lena zuvor nicht beantwortet hatte.

„Nein! Ihn stört sein Tatendrang scheinbar überhaupt nicht. Er versteht auch nicht, warum ich mich so aufrege, wenn Raffael alles kurz und klein schlägt. Bei David ist Raffael aber auch nicht so ausgeflippt. Mir scheint fast, als würde der Kleine nur mir alles zu Fleiß machen.“

„Kann es sein, dass Raffael deine Unzufriedenheit spürt und sich deshalb bei dir aggressiver verhält?“

„Was weiß ich, was sich dieses kleine Monster denkt?“

Monster? Ihr süßer, kleiner Enkelsohn?

Marie war erschüttert, dieses Wort, diese so harte Umschreibung, aus dem Mund ihrer Tochter zu hören. Lena war eine liebevolle Mutter.

Immer gewesen.

Von Anfang an.

Doch anscheinend war irgendetwas mit Lena passiert. Sie wirkte total verändert. Die Worte, mit denen sie ihren Sohn bedachte, waren nicht nur grob, sondern schlicht und ergreifend falsch!

Raffael war ein lebhafter, aber süßer Junge. Keinesfalls war er ein Monster. Offenbar projizierte Lena ihre eigene Verdrossenheit auf Raffael. Der kleine Junge spürte in weiterer Folge die Unzulänglichkeit seiner Mutter und reagierte deshalb verhaltensauffällig. Bei Lena. Bei David dürfte er der liebe Junge sein, den auch Marie kannte, wenn sie ihn zu Besuch hatte.

„Lena, du weißt genau, dass Raffael kein Monster ist“, versuchte sie daher das liebende Herz ihrer Tochter zu erreichen. „Du liebst ihn doch!“

„Ich weiß es nicht, Marie, ich weiß es nicht!“, brach Lena daraufhin in Tränen aus. Marie nahm sie in die Arme und strich ihr über den Rücken.

„Soll ich Raffael am Wochenende zu mir nehmen? Möchtest du mit David etwas unternehmen? Nur ihr beide? Vielleicht fehlt euch einfach nur Zeit miteinander!“

Sie lächelte ihre Tochter an, doch Lena schüttelte den Kopf.

„Ich kann David derzeit gar nicht sehen, wenn ich ehrlich bin. Er geht so liebevoll mit Raffi um und ich habe das Gefühl, damit will er mir nur meine Unfähigkeit als Mutter unter die Nase reiben.“

„Aber Lena, David liebt dich doch und er kommt deshalb mit Raffael gut aus, weil er seinen Sohn ebenfalls abgöttisch liebt!“, versuchte Marie Lenas verschobene Wahrnehmung zurechtzurücken.

„Aber ich ertrage das alles derzeit einfach nicht“, schluchzte Lena auf. „Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist, aber ich habe das Gefühl, mein ganzes Leben flutscht mir durch die Finger. Ich sehe bei unseren Klienten, was sie für tolle Karrieren machen und ich helfe sogar mit. Aber wo bleibe ich dabei?“, schrie sie nun ihren Frust in den Raum.

„Ich war in der Schule einmal eine gute Schauspielerin und Paul hätte mir vor zwei Jahren das Max Reinhardt-Seminar bezahlen wollen. Ich habe abgelehnt, zur Aufnahmeprüfung zu gehen, nur weil ich schwanger gewesen bin und eine gute Mutter sein wollte. Doch heute bereue ich es! Es ist mein Traum gewesen. Immer schon. Seit ich denken kann, wollte ich Schauspielerin werden. Und jetzt sitze ich daheim und sehe nur, wie andere den Weg gehen, den ich gehen habe wollen.“

„Möchtest du tatsächlich noch immer Schauspielerin werden?“ fragte Marie. „Hast du das Gefühl, dass du das in deinem Leben verpasst hast?“

„Ich glaube, ja!“, nickte sie. „Aber ich weiß es nicht. Vielleicht ist es auch nur, weil ich bisher überhaupt noch nichts Tolles in meinem Leben erlebt habe. Wenn ich bedenke, wie weit es Mark gebracht hat.“

Lena blickte auf das Plakat, das Lenas ehemaligen Schulkollegen zeigte. „Ich kann mich erinnern, dass ich Mark einst ein Arrangement vermittelt habe. Das war eines der ersten Kundengespräche, die ich in deiner Agentur geführt habe. Erinnerst du dich?“, fragte Lena ihre Mutter.

„Als wäre es gestern gewesen. Damals ist Christian zu Besuch gekommen.“

„Stimmt. Und du wolltest mit Christian ein Vieraugengespräch führen. Nachdem ich Mark aus der Schulzeit gekannt habe, hast du mir die Möglichkeit gegeben, ihm die Einzelheiten dieses ausverhandelten Arrangements näherbringen zu können. Er hat sich damals über diese kleine Rolle so sehr gefreut. Und heute? Diese Woche ist er bei der Romy-Verleihung. Als Hauptdarsteller! Er hat es wirklich geschafft. Und ich?“

„Willst du vielleicht zu der Verleihung gehen?“, fragte Marie und war sich sicher, dass Paul dafür Verständnis hätte, wenn Marie die Karten an Lena und David weitergab.

„Du hast Karten?“

Marie hob das Kuvert in die Höhe und reichte Lena die beiden Eintrittskarten.

„Ja, Mark hat der Agentur zwei Karten zugesandt. Wenn du möchtest, kannst du mit David hingehen, während Paul und ich auf Raffael aufpassen.“

Lena schien nachzudenken.

„Vielleicht täte dir gut, wieder unter Leute zu kommen“, hielt ihr Marie die Karten hin.

Plötzlich klopfte es an der Tür und Paul kam mit Raffael am Arm in das Büro. Der kleine Junge streckte sofort seine Ärmchen zu seiner Großmutter, als er Marie sah. Paul übergab daraufhin den Kleinen seiner Omi.

„Mma, Mma!“ rief Raffael, weil er das Wort ‘Oma’ noch nicht wirklich verständlich aussprechen konnte und schlang seine Arme um Maries Hals.

Lena blickte hoch und entdeckte Davids dunklen Haarschopf hinter Paul. Sie erhob sich und schien zu überlegen, ob sie den Vater ihres Kindes begrüßen sollte. Doch sie setzte sich wieder.

David kam daher auf sie zu, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und überreichte ihr eine Tasche.

„Hier sind seine Spielsachen drinnen“, sagte er und begrüßte Marie mit einem liebevollen Winken: „Hi, Marie!“

Marie küsste hingegen das kleine Kerlchen, das seine Arme um ihren Hals gelegt hatte und seiner Oma einen feuchten Schmatz auf die Wange gab. Marie grüßte in einer kurzen Kusspause mit erhobener Hand zu David zurück. Auch Raffael winkte mit leuchtenden Augen seinem Vater zu. Seine Mutter schien er noch gar nicht wahrgenommen zu haben.

„David, ich habe zwei Karten für die Romy-Verleihung in der Wiener Hofburg“, sagte Marie und strich Raffael liebevoll über seinen Scheitel. „Ich habe Lena soeben angeboten, dass ihr gemeinsam zur Romy-Verleihung gehen könnt. Vielleicht tut es euch gut, wenn ihr mal rauskommt.“

David blickte zu Lena, doch sie sah zu Boden.

„Danke, Marie, aber ich glaube, das ist nichts für mich. Vielleicht will Lena ja allein gehen. Sie steht doch auf diesen Hokuspokus.“

Er ging auf Marie zu, drückte Raffael einen liebevollen Kuss auf die Wange und boxte ihn liebevoll auf seinen kleinen Oberarm.

„Tschüss, mein Großer!“, verabschiedete er sich von seinem Sohn, küsste Marie kurz auf die Wange und reichte Paul die Hand.

„Ich muss jetzt aber!“, rief er und verließ die Agentur, ohne Lena weiter zu beachten.

„Habt ihr gestritten?“, fragte Paul. So kannte er David gar nicht.

„Ja, es hat heute früh tatsächlich etwas Zoff gegeben“, gestand Lena und ihr stiegen Tränen hoch.

Marie versuchte das Thema zu ändern, damit Raffael seine Mutter nicht weinen sehen musste.

„Paul, ist es für dich in Ordnung gewesen, dass ich Lena und David die Karten angeboten habe?“, fragte Marie und blickte Paul dabei mit schlechtem Gewissen an. Falls er sich auf die Gala gefreut hätte, könnte er zurecht sauer sein.

War er aber nicht.

„Aber natürlich, mein Schatz!“, war alles, was Paul erwiderte und nahm Marie den Jungen ab, der bereits die ganze Zeit sehnsüchtig wieder zu seinem Opa geblickt hatte. Sofort schmiegte er sich an Pauls Hals.

„Iegen, iegen“, forderte der Junge und Paul wusste, dass Raffi fliegen wollte. Er verließ Maries Büro und spielte am Gang ‘Flugzeug’ mit Raffael, indem er ihn durch die Gegend wirbelte, sodass die gesamte Agentur vom Lachen des Kleinen erfüllt wurde.

Anstatt sich von ihr anstecken zu lassen, verstärkte die überschäumende Fröhlichkeit ihres Sohnes Lenas triste Stimmung. Sie hielt sich die Ohren zu und schien das Lachen ihres Sohnes als Qual zu empfinden. In ihren Augen standen Tränen und sie griff nach der Reisetasche, um das Gespräch sowie das Büro zu verlassen.

Marie legte ihre Hand auf die ihrer Tochter.

„Lena, Streit gibt es in jeder Beziehung. Du wirst sehen, das gibt sich wieder!“, versuchte sie auf ihre Tochter einzureden, während vom Gang die Lachsalven Raffaels durch die Bürotür in den Raum stoben.

„Hier, nimm die Karten und besprich das heute in Ruhe mit David. Macht euch gemeinsam einen schönen Abend.“

„Ich will mit David zurzeit nicht weggehen“, trotzte Lena. „Darf ich auch allein gehen?“, fragte sie Marie.

„Was ist das für eine Frage?“, wunderte sich Marie. „Dass ich dir die Karten überlasse, ist doch an keine Bedingung geknüpft. Aber wäre es zu zweit nicht schöner?“

„Nicht mit David“, sagte Lena und ihre Augen bekamen einen harten Glanz. Sie stand auf, ging zu Paul und hob Raffael aus seinen Armen.

„So, Raffael, ab geht´s!“, peitschten ihre Worte schroff zu ihrem Sohn. „Der Onkel Doktor wartet schon!“ Augenblicklich begann der Junge zu weinen.

„Opa bei´m, Opa bei´m.“

„Nein, du kannst jetzt nicht bei Opa bleiben, wir müssen zum Onkel Doktor“, herrschte Lena ihren Sohn an und schlüpfte in ihre Schuhe. Sie hielt dabei mit beiden Armen ihren aufbegehrenden Sohn fest, damit er ihr nicht runterfiel. Der kleine Rebell hielt nämlich von der Unterbrechung des lustigen Spiels überhaupt nichts und zeigte das, indem er sich durchbog und zu schreien begann.

Lena dachte voll Widerwillen an die kommenden Stunden. Raffael würde in der Arztpraxis wieder mit den Bauklötzen herumwerfen und versuchen die Bilderbücher zu zerfetzen. Schon allein beim Gedanken an die kommenden Stunden spürte sie eine unbändige Wut und Verzweiflung, aber auch eine gnadenlose Hilflosigkeit in sich aufsteigen.

In ihren Augen schimmerten zornige Tränen und sie verabschiedete sich mit einem kurzen Winken von ihren Eltern, ehe sie ihren Arbeitsplatz verließ, um dem nächsten schrecklichen Abend entgegenzusehen.

Als Lena die Agentur verlassen hatte, nahm Paul Marie, die ihrer Tochter mit schreckgeweiteten Augen nachsah, tröstend in den Arm.

„Das wird schon wieder!“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Das wird schon wieder. Die beiden sind jung. Sie lieben sich und sie werden sich schon wieder zusammenraufen.“

„Aber sie haben heute gewirkt, als würden sie sich hassen.“

„Ich habe kurz mit David gesprochen. Dabei habe ich nicht den Eindruck gehabt, dass er Lena hasst. Im Gegenteil. Er liebt sie und den Kleinen ebenfalls. Aber er hat ziemlich niedergeschlagen gewirkt.“

„Hat er dir etwas erzählt?“

„Nur, dass Lena derzeit so unzufrieden wirkt. Details hat er aber nicht erwähnt.“

Der Thunfischsalat

April 2018

„Nein, nein, was soll denn das? Diese Weiber sind doch alle nur für das Eine zu gebrauchen!“, schlug der übergewichtige Produzent wütend auf den Tisch. Die gefüllte Kaffeetasse hüpfte durch die heftige Erschütterung ein wenig, blieb allerdings auf der Untertasse stehen.

Lediglich einige Tropfen waren auf den Mahagonischreibtisch gespritzt und so etwas konnte er normalerweise überhaupt nicht leiden. Konrad Felsinger war allerdings derartig in Rage, dass er das überhaupt nicht mitbekam.

„Dieses junge Ding ist doch auch keine Eliza! Paolo, was schleppst du mir denn da schon wieder herbei?“, schrie er seinen Assistenten an und seine Schläfenadern quollen hervor. „Das schlägt doch echt dem Fass den Boden ein!“, bellte er wütend.

„Aus!“, rutschte Paolo im Affekt diese Berichtigung raus.

„Was ist aus?“, blickte der Produzent irritiert.

„Nichts!“, entschied Paolo, seinen Chef nicht weiter zu korrigieren. Er würde es sowieso nicht verstehen und gleich wieder jede Redewendung verdrehen. Felsingers Kreativität war diesbezüglich legendär und für Paolo eigentlich das einzig Witzige an der Zusammenarbeit mit diesem Despoten.

„Dann unterbrich mich nicht!“, donnerte Konrad, um sofort weiterzugrölen. „Hast du schon einmal Pygmalion gelesen? Weißt du überhaupt, was wir für einen Frauentyp suchen?“ Paolo verdrehte die Augen und überlegte zum wiederholten Male, seinen Job als Produktionsassistent einfach hinzuschmeißen. Er hatte ein abgeschlossenes Studium in Theater-, Film- und Medienwissenschaften vorzuweisen und es bei Gott nicht nötig, sich von diesem selbstgefälligen Tyrannen ständig niedermachen zu lassen.

Ja, er hatte Pygmalion gelesen und das, diesem Stoff zugrundeliegende, wesentlich bekanntere Musical kannte er ebenfalls in- und auswendig. Aber nicht nur er! Jeder Theaterbesucher kannte ‘My fair Lady’! Was war das demnach für eine Schnapsidee, Pygmalion als zeitgenössischen Film drehen zu wollen? Dieses Stück entsprach doch nicht mehr dem Zeitgeist! Wenn der zahlende Gast es sehen wollte, dann als Musical mit den allseits beliebten und bekannten Musiknummern!

Aber gut, Felsingers irre Ideen hinterfragte niemand mehr. Geld regierte bekanntlich die Welt und Felsinger mit seinen Millionen die heimische Filmwelt. Die Idee, aus Pygmalion einen Film drehen zu wollen, war genauso von gestern wie der 65-jährige Sturkopf selbst, der offenbar Schwierigkeiten hatte, sich an die neue Zeit anpassen zu können. Nicht nur, was seine machohafte Einstellung, seine frauenfeindliche Gesinnung und den patriarchalischen Führungsstil anlangte!

Den Zug ins 21. Jahrhundert hatte er eindeutig verfehlt, doch niemand wagte ihm zu widersprechen. Wenn Konrad Felsinger sich etwas in den Kopf setzte, dann hatte es so zu sein. Paolo beobachtete, wie der Produzent sich ungeniert seine Eier kratzte.

So ein unappetitlicher Geilspecht, dachte er angewidert, als er den lüsternen Blick des Produzenten auffing, mit dem er der 20-jährigen Jungschauspielerin in den Ausschnitt gierte.

Das junge Mädchen lief rot an. Sie hatte soeben vorgesprochen und war wirklich gut gewesen. Bis Felsinger seinen legendären Tobsuchtsanfall bekommen, das Mädchen jäh unterbrochen und Paolo angeschrien hatte.

„Na, hat es dir die Stimme verschlagen?“, forderte Felsinger eine Antwort seines Assistenten, während er sich mit seiner wulstigen Zunge über seine Lippen strich und weiter die Brüste der jungen Frau anstarrte. Paolo blickte seinen Boss wutentbrannt an.

„Ja, ich kenne Pygmalion und jede junge Schauspielerin, die in der vergangenen Woche vorgesprochen hat, war hervorragend gewesen. Doch Sie perverses Schwein nutzen diese Vorsprechen doch nur für Ihre widerlichen Grenzüberschreitungen, die bisher nur deshalb noch kein Mädchen zur Anzeige gebracht hat, weil sie sich verzweifelt die Rolle der Eliza wünschte oder sich danach schämte für das, was geschehen ist.“

Das jedenfalls wollte er sagen. So gerne wollte er ihm das mal wirklich sagen!

Was er tatsächlich antwortete, hörte sich gemäßigter an, denn er brauchte seinen Job.

„Natürlich kenne ich Pygmalion und ich persönlich fand Carina Polt sogar ausgezeichnet“, entschied sich Paolo daher, lediglich den ersten Teil seiner Meinung ehrlich auszudrücken. Er lächelte die junge Blondine an, die soeben die Welt nicht verstand und zwischen den beiden Männern mit großen Augen hin und her blickte.

Felsinger hatte die junge Frau, abgesehen von seinen lüsternen Blicken, bisher total ignoriert und noch kein einziges Wort mit ihr gesprochen. Er brüllte in ihrer Anwesenheit lediglich seinen eigenen Assistenten nieder.

Was für ein unprofessionelles Verhalten, dachte sie und fand den alten Fettsack einfach nur abstoßend.

„Na gut, wenn mein Assistent der Meinung ist, dass die süße Carina so gut ist, dann gebe ich ihr noch eine zweite Chance. Ich werde sie auf Herz und Leber testen“, zwinkerte Konrad der jungen Frau zu.

Paolo verdrehte die Augen und verzichtete darauf, Felsingers Zitat zu berichtigen. Stattdessen blickte er mitleidig zu Carina, deren Augen riesengroß wurden. Ob Angst oder Zorn aus ihren Augen stach, konnte er nicht einschätzen. Er blieb daher im Raum stehen und schien zu überlegen, wie er der jungen Frau helfen konnte.

Was will er testen?, begann sich hingegen Carina leicht zu ärgern. Ja, sie war auf Jobsuche.

Ja, sie würde gern diese Filmrolle bekommen.

Aber nein, sie wollte sich von diesem schmierigen Typen nicht wie den letzten Dreck behandeln lassen. Ganz sicher nicht!

„Nun schließe endlich die Tür von außen, Paolo. Ich brauche dich in der nächsten halben Stunde nicht“, herrschte Felsinger seinen Assistenten an und deutete mit der Hand, dass er verschwinden sollte.

Schwerfällig stemmte Felsinger seine gewaltigen Fettmassen aus seinem Lederstuhl und deutete der Blondine, dass sie zu ihm kommen sollte. Während sie zaghaft auf ihn zuging, nestelte er an seinem Gürtelbund.

Paolo verschwand aus dem Raum und nahm noch wahr, wie die junge Frau ihm mit einem flehentlichen Blick nachsah. Er wusste, er konnte ihr nicht helfen. Er konnte nicht.

Auch er brauchte seinen Job und selbst wenn Paolo kündigte, der nächste Assistent würde genauso schweigen müssen. Trotzdem fühlte er sich elend, als er die Tür schloss.

Felsinger strich mit seinen wulstigen Fingern über die Bluse der jungen Frau und quetschte ihren Busen.

„Das ist ja mal nicht schlecht“, schnalzte er mit der Zunge und seine rotunterlaufenen Augen bekamen einen gierigen Blick.

Er schob mit Gewalt ihren Kopf nach unten und öffnete den Reißverschluss seiner Hose.

„Hier, zeig mir, was du kannst!“, befahl er, während er den kleinen Konrad aus der Hose holte und ihn vor Carinas Nase hängen ließ.

Carina spürte, wie der Thunfischsalat, den sie eine Stunde zuvor zu sich genommen hatte, in ihrem Magen zu rumoren begann, als sie den leicht geschwollenen Kugelpenis des Produzenten vor ihrem Gesicht baumeln sah und ihr ein fauliger, käsiger Gestank in die Nase stob.

Im selben Moment kam auch schon das gesamte, noch kaum verdaute Mittagsmahl wieder zurück und Carina erbrach sich mit einem mächtigen Würgen über das beste Stück des Produzenten. Der säuerliche Gestank ihres Mageninhalts übertünchte augenblicklich alle anderen Unwohl-Gerüche.

Konrad hatte zwar noch zurückweichen wollen, doch der Erguss des Mädchens war so rasch gekommen, dass sein eigener in weite Ferne rückte. Auf der Stelle war ihm durch diese drastische Unmutserklärung seine Vorfreude auf einen Blowjob abhandengekommen.

Angewidert blickte er auf den bröckeligen Mageninhalt, der sich soeben ab seiner Körpermitte nach unten bewegte und musste sich beherrschen, nicht gleich mitzukotzen.

„Du Scheiß Weib, du idiotisches! Was fällt dir ein? Hast du noch alle Vasen im Schrank?“, schrie er hysterisch. Mit aufgerissenen Augen blickte er auf die Schweinerei und wirkte völlig überfordert, denn seine Kleenex-Box lag zwar in Greifweite, doch für derartige Mengen an Körpersäften waren die dünnen Taschentücher nicht geeignet.

Völlig hilflos blickte er an sich runter und hatte keine Ahnung, wie er mit dieser ungewohnten Situation umgehen sollte. Er spreizte angeekelt seine Finger und seine Augen traten aus den Höhlen.

Völlig hysterisch begann er zu schreien.

„Schau dir nur an, was du gemacht hast! Du hast sogar meine Hose versaut! Die ist aus echter Schurwolle! Wie bekomme ich diese Sauerei je wieder sauber? Du reinigst das jetzt alles sofort auf der Stelle und dann verschwindest du aus meinem Büro“, brüllte er und sein Kopf war so rot geworden wie ein Stoppschild.

Selbst völlig überfordert mit ihrer Übelkeit musste Carina jedoch abermals würgen und Konrad musste hilflos mitansehen, wie sie nun auch noch seinen edlen Mahagonischreibtisch vollkotzte.

„Paolo“, schrie Konrad.

Doch noch bevor sich sein Assistent von seinem Schreibtisch erheben und in das Büro seines Chefs kommen konnte, hatte die junge Frau ihre Tasche geschnappt und war, so schnell sie ihre Beine trugen, aus dem Büro gelaufen.

Verschenkte Jugend

April 2018

Maggie saß beim Abendtisch und fütterte ihre Tochter. Peter Gutmann schenkte seiner Frau Rotwein in ein Glas und betrachtete die beiden. Sein Blick bekam einen verträumten Glanz, denn Sarah bekam immer mehr Ähnlichkeit mit ihrer schönen Mutter. Beide sahen aus wie Engel und für Peter waren sie das auch.

Seine Engel!

„Sarah wird dir immer ähnlicher!“, stellte er fest, während er Maggie mit einem verliebten Blick beobachtete, wie sie geduldig und liebevoll Löffel für Löffel zu Sarahs Mund führte. Maggie öffnete dabei selbst jedes Mal ihren Mund. Er fand diese Szene süß und den beiden zuzusehen machte ihm bewusst, wie sehr er seine Frau und seine Tochter liebte.

„Ach, das bildest du dir ein. Sie hat doch eindeutig dein Kinn und deinen Mund.“

„Aber deine wunderschönen, blauen Augen“, schwärmte er, als er Sarahs Augen mit den langen Wimpern bewunderte, die in ihrem verschmierten Gesicht nun noch größer wirkten.

„Und wenn sie mich damit ansieht, kann ich ihr einfach nichts abschlagen. Ich fürchte, wenn sie irgendwann einmal etwas anstellt, wirst du ihr Grenzen setzen müssen, denn ich bin diesem Blick hilflos ausgeliefert“, hob er bedauernd die Schultern.

„Da haben wir aber dann ein Problem, denn mich hat die kleine Maus genauso in der Tasche wie ihren lieben Vati!“

Sie blickte Peter voll Liebe an und strich ihm über seine rotblonden Locken.

„Ich sehe nämlich nur dich in ihr und könnte jeden Tag vor Glück zerspringen, wenn ich mich, so wie jetzt, von so viel Liebe umgeben fühle.“

Sie gab Peter einen kleinen Kuss auf die Wange, um ihre Worte zu unterstreichen. Peter zog jedoch ihren Kopf zu sich und küsste sie zärtlich auf ihre Lippen. Er hatte keine Scheu, seine Liebe zu Maggie vor den Augen der eigenen Tochter zu zeigen.

Die kleine Sarah schmatzte prompt mit den Lippen, wie sie es immer tat, wenn ihre Eltern sich küssten.

„Sie parodiert uns schon wieder!“, musste Maggie plötzlich lachen und auch Peter brach in schallendes Gelächter aus.

Sarah strahlte die beiden an und schürzte ihre Lippen, um auch geküsst zu werden.

„Aber natürlich, mein kleiner Schatz, auch du bekommst ein Küsschen!“, lächelte Peter und küsste seine Tochter, die, wie zuvor Maggie, ebenfalls ihre kleinen Ärmchen um Peters Hals legte.

Maggie beobachtete die beiden mit so viel Dankbarkeit. Sie hatte es in ihrem Leben nicht immer leichtgehabt. Bei Gott nicht. Doch nun schien sie für alles bisher Gewesene entschädigt zu werden. Dass sie jemals so viel Glück, so viel Liebe und dermaßen viel Geborgenheit erleben würde, hätte sie nie für möglich gehalten.

Ihre Jugend war die Hölle gewesen. Maggies Adoptivmutter war früh gestorben und ihr Adoptivvater ein brutaler Alkoholiker. Was er ihr alles angetan hatte, daran wollte Maggie gar nicht mehr denken.

Und das musste sie auch nicht, denn er konnte ihr nichts mehr antun. Nachdem er sich das Leben genommen hatte, war es Maggie erspart geblieben, jemals wieder über die schlimmste Zeit ihres Lebens reden oder auch nur denken zu müssen. Daher tat sie es auch nicht mehr.

Jetzt war das Leben schön.

Nun, nachdem sie keine Angst mehr haben musste.

Nun, mit einem liebevollen Ehemann und ihrer süßen Tochter, die das Glück komplett machte.

Maggie war sich bewusst, wie begnadet sie war, nachdem sie in ihrem derzeitigen Leben nur mehr von Liebe umgeben war. Sie spürte jeden Tag, jede Stunde und jede Minute dieses unbeschreibliche Glück mit so einer Intensität, wie es nur Menschen taten, die ganz weit unten gewesen waren.

Sie wusste: Für sie würde dieses Glück nie selbstverständlich sein.

Den Unterschied spürend, dachte sie daher überhaupt nicht mehr an ihr altes Leben.

Auch, weil sie ihre leiblichen Eltern gefunden hatte. Liebevolle, fürsorgliche Eltern waren nun in ihrem Leben. Was für ein ungewohntes Glück. Was für ein Wunder!

Wie viele adoptierte Kinder lernen als Erwachsene schon ihre leiblichen Eltern kennen und haben ein derart inniges Verhältnis zu ihnen? Sie kannte keinen einzigen Menschen, dem solch ein Glück zuteilgeworden wäre.

Für Maggie war es ein Geschenk Gottes, dass Marie und Paul auf derart wundersame Weise in ihrem Leben aufgetaucht waren.

Dass die beiden nun auch ein Paar waren, freute Maggie, denn Marie hatte nach dem Tod ihres Mannes unsäglich gelitten und Paul schien sie wieder glücklich zu machen. Die beiden passten so gut zusammen.

So hätte es eigentlich immer sein sollen, dachte sie und mir wäre viel erspart geblieben, wenn es auch immer so gewesen wäre.

Doch das war Schnee von gestern.

Was zählte, war das Heute und das war schön. Ihre Eltern waren inzwischen wieder ein glückliches Paar, während Peter und Sarah die Sonne in Maggies Leben waren.

Und Lena, ihre Zwillingsschwester. Lena und Magda, wie Maggie laut Geburtsurkunde hieß, waren eine Einheit.

Richtiger, im Hinblick auf den Eintritt ins Licht des Lebens: Magda und Lena. Die gottgewollte Spaltung einer befruchteten Eizelle machte aus Magdalena Magda und Lena. Und diese gleiche Erbsubstanz spürte Magda, die von allen immer Maggie gerufen wurde, jeden Tag ihres Lebens.

Seit sie Lena halt kennengelernt hatte.

Also seit zwei Jahren.

Vorher hatte sie sich als Einzelkind gewähnt.

Leider nicht gemeinsam aufgewachsen, war sie aber inzwischen überglücklich über diesen Zustand, eine Schwester zu haben, der sie ihre Gedanken und Wünsche nicht erst erklären musste. Lena war ihr so ähnlich und nicht nur, weil sie absolut gleich aussah. Mit ihrer Schwester verstand sie sich blind, weil die beiden auch im Denken und Fühlen nahezu ident waren. Auch Lena war bei Adoptiveltern herangewachsen. Sie lebten jedoch seit einiger Zeit in Italien, weil es ihre Mutter in ihre Heimat zurückgezogen hatte. Auf familiäre Nestwärme musste Lena allerdings nicht verzichten, nachdem es Marie und Paul gab.

Und ihre Schwester.

Indem sich die beiden Schwestern kennengelernt hatten, hatte jede ihre Seelenverwandte gefunden.

Ja, die beiden waren fast ident.

Mit einem Unterschied: Lena hatte gottlob nicht so eine schreckliche Kindheit wie Maggie gehabt. Was Maggie ihr aber auch von Herzen gönnte, denn ihre eigene Jugend wünschte sie niemandem.

Sie beobachtete, wie Peter sich den Mund abwischte, nachdem ihn seine Tochter mit Tomatensoße vollgeschmiert hatte. Danach nahm er die Serviette und tupfte auch Sarahs Mund sauber, denn sie hatte ebenfalls Pasta Bolognese im gesamten Gesicht verteilt. Sarah sah ihn dabei mit ihren großen Augen an und Maggie hätte sie am liebsten gefressen, so süß sah sie aus.

Das Klingen der Türglocke überraschte sie und Maggie blickte Peter verblüfft an.

„Erwartest du heute noch Besuch?“

„Eigentlich nicht. Zumindest hat sich niemand angekündigt“, zuckte Peter mit den Achseln, stand allerdings auf und ging zur Gegensprechanlage.

„Lena? Aber natürlich! Komm rauf!“, nahm Maggie die Worte ihres Mannes wahr und hörte, wie er den Türöffner betätigte.

„Tante Lena kommt!“, erzählte Maggie ihrer Tochter und Sarahs Augen begannen zu strahlen.

„Ena, Affi!“, rief die Kleine und riss voll Freude ihre Händchen in die Höhe.

„Ja, Lena und Raffi kommen“, bestätigte nun auch Peter, der die Tür öffnete, um seine Schwägerin in Empfang nehmen zu können.

Sarah war nun nicht mehr auf ihrem Hochstuhl zu halten. Sie hob ihre Arme und deutete ihrer Mutter, dass auch sie Teil des Empfangskomitees sein wollte.

„Na gut, du hast genug gegessen und vielleicht hat Raffi auch noch ein wenig Hunger“, lächelte Maggie verständnisvoll und hob ihre Tochter aus dem Stuhl, damit sie ihrem Neffen und ihrer Tante entgegenlaufen konnte.

Im gleichen Augenblick sah sie auch schon Lena in ihr Vorzimmer kommen. Raffael stürmte wie ein Wirbelwind auf Sarah zu und drückte ihr eines seiner zwei Spielzeugautos in die Hand. Sarah bekam große Augen, begann zu kichern und sank auf die Knie, um das Auto auf den Boden zu stellen. Raffi platzierte sein kleines Rennauto neben Sarahs Spielzeug und mit einem lauten und herzhaften „Tütü“ düsten die zwei auf den Knien durch das Wohnzimmer in Sarahs Kinderzimmer.

Maggie blickte den beiden amüsiert zu und freute sich über die Freude und den Spaß, den die zwei Kleinen miteinander teilten. Als sie in das Gesicht ihrer Schwester sah, konnte sie von dieser Freude nichts wahrnehmen.

Lena verdrehte die Augen und blickte völlig entnervt ihrem Sohn nach.

„So geht das schon die ganze Zeit“, beklagte sie sich und in ihren Augen blitzten Tränen der Überforderung.

„Ach Lena, er ist so ein süßer, aufgeweckter Junge!“, sagte Peter, während er ihr aus der Jacke half.

„Ja, aber ich halte diesen ständigen Lärm und diese ewige Unruhe nicht mehr aus!“ Lena brach nun tatsächlich in Tränen aus und Maggie schloss ihre Schwester in die Arme.

„Lena, was ist denn los mit dir?“, drückte sie ihre Schwester fest an sich.

„Oh, Maggie! Ich hoffe, du bist mir nicht böse, dass ich euch so überfalle.“ Sie blickte in das Esszimmer und sah die Teller stehen, die noch gar nicht vollständig geleert waren. „Und beim Essen hab ich euch auch gestört! Das tut mir jetzt so leid“, wirkte sie total am Boden zerstört.

„Wir waren eigentlich schon fertig. Möchtest du auch etwas? Hat Raffael schon gegessen?“, fragte Maggie.

„Ich habe ihm unterwegs eine Wurstsemmel gekauft und ich habe keinen Hunger. Außerdem bin ich so froh, wenn ich einmal einfach nur eine Sekunde durchatmen kann.“

Peter wusste Bescheid.

„Ich räume den Abendtisch ab und schau auf die Kleinen. Geht ins Schlafzimmer, da seid ihr ungestört“, schlug er vor und Lena blickte ihn dankbar an.

„Danke, Peter!“ sagte sie und ließ sich von Maggie in den einzigen Raum ziehen, wo die Kinder wohl nicht einfach reinstürmen würden.

„Schieß los, mein Schwesterherz!“, sagte Maggie, als sie sich auf das Bett setzten.

„Ach, Maggie, ich weiß überhaupt nicht, wo ich anfangen soll.“

„Beginne beim Beginn!“, versuchte Maggie mit einem kleinen Scherz ihre Schwester zum Sprechen aufzufordern. Lena blickte Maggie mit einem verhärmten Blick an und seufzte schwer.

„Du wirst jetzt wahrscheinlich denken, ich bin eine dumme, undankbare Kuh, doch ich habe das Gefühl, dass ich das alles nicht mehr will.“

„Was alles?“

„Alles!“

„Raffael? Oder David?“

„Ja, auch!“

„Aber Lena, du liebst Raffael doch. Und David genauso!“

„Ja, schon! Aber momentan gehen mir die beiden so dermaßen auf die Nerven, dass ich am liebsten türmen würde. So habe ich mir mein Leben nicht vorgestellt. Weißt du eigentlich, dass ich immer schon das Max Reinhardt-Seminar besuchen habe wollen?“

„Was ich so gehört habe, sind die Aufnahmeprüfungen aber dort so wahnsinnig streng, dass nur ein vernichtend kleiner Prozentsatz an Bewerbern tatsächlich in diese elitäre Schauspielschule aufgenommen wird. Viele namhafte, im späteren Leben tatsächlich wirklich gute Schauspieler sind dort abgewiesen worden“, erklärte Maggie. Durch diese sachliche Feststellung hoffte sie, Lenas unwirklich wirkenden Wunsch entkräften zu können.

Doch für sachliche Argumente war Lena nicht zugänglich.

„Aber darum geht es doch gar nicht!“, entrüstete sie sich. „Ja, vielleicht wäre ich tatsächlich nicht genommen worden. Okay, wahrscheinlich sogar! Aber ich hätte es wenigstens probiert! Und ich hätte versucht, meine Träume zu verwirklichen! Stattdessen vermittle ich nun anderen Schauspielern Rollen und sehe zu, wie sie Karriere machen.“

„Aber ich habe gedacht, du hättest diesen Traum aufgegeben, nachdem du schwanger geworden bist. Hat dir Paul nicht angeboten, dir die Ausbildung zu bezahlen? Du hast, soviel ich mich erinnern kann, abgelehnt, weil du dich so sehr darauf gefreut hast, Mutter zu werden. Du wolltest bei deinem Kind sein, hast du damals erklärt.“

„Damals hab ich aber noch nicht gewusst, wie das Leben mit einem Kind wirklich ist. Noch dazu ganz allein. Ich hätte nie gedacht, dass einem die Decke so sehr auf den Kopf fallen kann, wenn man nur mehr von Babygeschrei umgeben ist.“

„Aber du bist doch nicht den ganzen Tag mit Raffael allein. Du arbeitest tagsüber und hast dort Ansprache mit Marie und deinen Klienten.“

„Ja, das stimmt. Aber dabei sehe ich auch, wie die Schauspieler und Schauspielerinnen das Leben führen, das ich mir gewünscht habe. Danach komm ich müde heim und bin mit Raffael allein. David ist am Abend fast immer in der Tanzschule und ich sehe ihn kaum mehr. Und wenn ich ihn sehe, streiten wir bloß noch, weil er findet, dass ich zu ungeduldig mit Raffael bin. Ich habe einfach keine Nerven mehr und weiß, dass ich an Raffaels störrischem Verhalten wohl selbst Schuld habe“, erkannte sie selbstreflektiert, dass das Verhalten ihres Sohnes einfach nur der Spiegel ihrer eigenen Unzufriedenheit war.

„Aber ich kann nicht mehr so weitermachen. Ich kann nicht mehr“, schrie sie plötzlich ihre Unzufriedenheit in den Raum und ihr schossen Tränen der Hilflosigkeit in die Augen.

„Aber, was genau, ist denn nun dein Wunsch?“, fragte Maggie.

„Ich weiß es nicht!“, rief Lena. „Ich liebe Raffael, aber es fällt mir immer schwerer, ihm das auch zu zeigen. Sein ständiges Herumschreien und seine unbändige Energie rauben mir wirklich den letzten Nerv“, wiederholte sich Lena, „und, dass David nie daheim ist, setzt mir auch zu. Noch vor einem Jahr habe ich mir das Leben mit David und Raffael so sehr gewünscht, doch jetzt weiß ich gar nicht mehr, warum. Es ist so anders, als ich es mir erhofft habe. So anders. Und ich kann wirklich einfach nicht mehr.“

„Kann ich dir irgendwie helfen?“, fragte Maggie, die spürte, dass ihre Schwester nicht bloß ein wenig gestresst, sondern vollkommen ausgepowert war.

Maggie kannte dieses Gefühl. Nach einer schlaflosen Nacht war auch sie des Öfteren nicht mehr so ausgeglichen, wie sie es gerne wäre. Dabei hatte sie Glück, denn Sarah schlief nur dann nicht durch, wenn sie krank war oder als sie ihre Zähne bekommen hatte.

Diese vernichtende Erschöpfung und das Gefühl, versagt zu haben, gepaart mit einer scheinbaren Abneigung dem eigenen Kind gegenüber, erkannte Maggie bei vielen gestressten Müttern. Auch Lenas Schilderungen ließen dieses Gefühl entstehen, obwohl Lena ihren Sohn liebte. Doch sie konnte ihre Liebe nicht mehr so zeigen. Sie wirkte tatsächlich in letzter Zeit fast lieblos. In Wirklichkeit aber war sie einfach nur heillos überfordert.

Eine werdende Mutter weiß tatsächlich nicht, was auf sie zukommt, seufzte Maggie. Die 24-stündige Verantwortung an 365 Tagen im Jahr und das ständige Da-sein-müssen, ist wesentlich kräfteraubender und erschöpfender, als sich das jede Schwangere vorstellt, dachte Maggie, als sie der grenzenlosen Verzweiflung ihrer Schwester gewahr wurde.

Ja, Maggie wusste, wovon Lena sprach. Auch wenn sie nicht ganz so erschöpft wie Lena war. Außerdem war Maggie, im Gegensatz zu Lena, mit ihrem Leben und in ihrer Partnerschaft rundum glücklich und zufrieden. Peter war fast jeden Abend daheim und beschäftigte sich mit Sarah, wenn es seiner Frau mal zu viel wurde.

Lena hingegen war tatsächlich fast jeden Abend allein und dass es in der Beziehung zu David kriselte, war inzwischen weithin sichtbar.

In Lena schien aber eine Unzufriedenheit zu wüten, die nicht nur von der Überforderung und ihren Partnerproblemen herrührte. Sie wirkte mit ihrem Leben offenbar grundsätzlich unzufrieden.

„Du hast das Gefühl, etwas im Leben verpasst zu haben“, spürte Maggie woher ihre Verdrossenheit kam. Lena blickte Maggie mit traurigen Augen an und schien zu überlegen. Dann nickte sie unmerklich mit dem Kopf.

„Ja!“, stimmte sie zu. „Ich glaube, das bringt es wirklich auf den Punkt. Wenn ich glücklich wäre, also, wenn ich mit David glücklich wäre“, verbesserte sie sich, „und er mit mir am Abend bei Raffael wäre, wäre es vielleicht anders.“ Ihre Augen füllten sich neuerlich mit Tränen.

„Ich weiß, er ist Tanzlehrer und arbeitet nun einmal am Abend. Und ich weiß, er kümmert sich den ganzen Tag um Raffael und dafür sollte ich auch dankbar sein. Doch ich habe das Gefühl, dass mein Leben auf einmal vorbei ist. Ich gehe nur mehr arbeiten und danach Raffael hüten.“ Sie stand auf und ging zum Fenster, während sie murmelte.

„Das habe ich mir ganz anders vorgestellt.“ Dann drehte sie sich um und begann mit Händen und Füßen zu reden.

„Weißt du, Maggie: Ich habe das Gefühl, meine gesamte Jugend zu verschenken. Heute hat mir Marie angeboten, auf die Romy-Gala zu gehen. Mark Kellermann ist für die Romy nominiert in der Kategorie ‘Bester Nachwuchs männlich’. Ich bin mit Mark in die gleiche Schule gegangen. Wir haben gemeinsam Theater gespielt. Er ist jetzt ein Star. Er hat es zu was gebracht und vielleicht bekommt er demnächst einen Publikumspreis, während ich heute stundenlang beim Kinderarzt unter lauter lärmenden Kindern versucht habe, nicht wahnsinnig zu werden.“

„Glaubst du denn, dass Marks Leben um so vieles glücklicher ist als deines? Kann es nicht sein, dass Mark sich vielleicht genau das wünscht, was du hast? Eine Familie!“

„Aber ich habe doch gar keine Familie! Ich bin immer nur allein daheim!“, brach es da aus Lena heraus.

„Dann komm doch öfter mit Raffael zu uns!“, versuchte Maggie eine Lösung zu finden.

„Um zuzusehen, wie zwei Kinder gemeinsam spielen?“, brauste Lena auf. „Ich will meine Träume ausleben, solange ich noch jung bin. Ich will Schauspielerin werden und mich selbst verwirklichen, möchte meine Fähigkeiten ausleben und mir und anderen beweisen, worin ich wirklich gut bin. Und ich habe Talent, das weiß ich. Außerdem will ich mich auch einmal wieder hübsch anziehen und unter Leuten sein, die nicht Spinatflecken und Tomatensoße am T-Shirt kleben haben. Ich will mich endlich wieder einmal als junge Frau fühlen!“

Maggie bemerkte den frisch erworbenen Bolognese-Einschlag auf ihrer Bluse und begann automatisch daran herumzuwischen.

„Entschuldige Maggie! So habe ich das nicht gemeint“, wollte Lena keinesfalls ihre Schwester beleidigen. „Dich habe ich damit überhaupt nicht gemeint. Bitte hör auf zu wischen! Die Flecken gehen nie mehr raus, das weiß ich aus Erfahrung, weil ich daheim genauso herumlaufe. Aber das meine ich. Ich bin noch jung und laufe nur mehr in fleckigen Sachen wie eine Vogelscheuche herum, dabei könnte ich noch etwas aus meinem Leben machen.“

Maggie nahm ihre Schwester in den Arm und wollte sie trösten, obwohl sie Lenas Wünsche eigentlich nicht nachvollziehen konnte. Sie wusste zwar, was sie meinte, doch dieses Gedankengut war ihr fremd.

Das unterschied sie beide.

Bei aller Gleichheit.

Ihre unterschiedliche Vergangenheit! Maggie hatte schon so Schlimmes erlebt, dass sie ihr derzeitiges, ruhiges Glück einfach nur genießen konnte, während es Lena immer relativ gut gegangen war und sie demnach offenbar gar nicht wusste, wie gut es ihr ging. So jedenfalls empfand es Maggie. Doch das sagte sie ihrer Schwester nicht, denn dadurch würde sich Lena nicht ernstgenommen fühlen.

Immerhin fühlte sich Lenas Verzweiflung in ihrer Wahrnehmung nun einmal schrecklich an. Und dieses Gefühl galt es zu respektieren! Lena würde es doch nicht besser gehen, wenn ihr ein Außenstehender sagte: Dir geht es doch gut!

Sie sah es nun einmal nicht!

Und daher war es für sie auch nicht so! Ihr ging es nicht gut!

Das war Fakt!

Maggie seufzte, weil sie keinesfalls wollte, dass Lena in ein Unglück schlitterte, dessen Auswirkungen nicht vorhersehbar waren. Sie wollte nicht, dass sie Leid erlebte, nur um ihr Glück sehen zu können. Doch offenbar schien Lena genau darauf hinzusteuern.

Wenn es dem Esel zu wohl ist, geht er aufs Eis tanzen, fiel ihr ein Zitat ein und sie wünschte sich so sehr, dass Lena niemals ins tödliche Eis einbrechen würde. Offenbar aber muss tatsächlich jeder seine eigenen Fehler, seine eigenen Erlebnisse, seine eigenen Tiefen erleben, um Glück erkennen zu können. Auch, wenn es danach vielleicht zu spät ist, dachte sie im Hinblick auf Lenas Beziehung zu David.

Er liebte Lena zwar, doch er stand Lenas derzeitiger Verhaltensänderung hilflos und verständnislos gegenüber. Bisher hatte Lena lediglich davon geredet, Schauspielerin werden zu wollen. Was, wenn ihren Worten bald Taten folgten?

Wie würde David reagieren, wenn sie aus ihrem derzeitigen Leben tatsächlich ausbrach, um etwas zu tun, wofür ihm jedes Verständnis fehlte?

Auch Peter schüttelte über Lenas Verhalten öfter mal den Kopf und hoffte inständig, dass sie noch rechtzeitig zur Vernunft käme.

„Lena ist jetzt Mutter. Raffael braucht sie. Ich verstehe David mehr als Lena und kann seinen Kummer sehr gut nachvollziehen“, hatte er unlängst erwähnt, als Maggie ihm von Lenas zahlreichen, verzweifelten Telefonaten erzählt hatte, in denen es ausschließlich um Lenas zerstörte Träume gegangen war. So wie auch jetzt wieder. Wie eine Schallplatte, die hängengeblieben war.

„Ich würde dir wirklich gerne helfen“, überlegte Maggie und machte einen Vorschlag. „Wenn du willst, bringe Raffael zu uns und gehe mit David zu der Gala. Du könntest dich wieder hübsch machen und wärst unter anderen Leuten. Würde dich das glücklich machen?“

„Gilt dein Angebot auch ohne David?“, fragte Lena.

„Du willst ohne David zu der Gala gehen?“, fragte Maggie überrascht, aber noch viel mehr entsetzt.

„Ja! Er hält das alles für einen unnötigen Hokuspokus und ich habe schon so genug von unseren ewigen Streitereien, dass ich mich einmal ohne ihn amüsieren will.“

„Aber, aber ...“, begann Maggie irritiert zu stottern, wusste jedoch, dass es sinnlos war, ihre Gedanken auszusprechen. „Gut, wenn du das willst!“, meinte sie stattdessen und blickte sorgenvoll. Dass es so schlecht um die Beziehung der beiden stand, erschütterte sie.

„Danke, Maggie! Du bist ein echter Schatz!“, lächelte Lena und Maggie war froh, ihrer Schwester nun doch ein wenig Freude geschenkt zu haben. Obwohl sie sich dabei überhaupt nicht wohl fühlte.

Der rechte Weg

„Mein Sohn, was ist das nun mit dieser, deiner Maria Magdalena?“

„Wovon, mein Vater, sprichst du?“

„Ich muss mich doch sehr wundern, wiewohl ich durch Jahrtausende lange Erfahrungen nur noch schwer zu überraschen bin.“

Christian erfasste nicht sofort, was seinen Vater erneut derart verdrießlich stimmte und blickte fragend in dessen Antlitz.

„Sieh doch selbst auf die begnadeten Seelen, die du durch deinen Besuch sehend gemacht hast. Ja, ich sehe Erfreuliches! Marie, aber auch Magda entzücken mein Herz. Das wohl! Doch hast du nicht erwähnt, dass auch Lena, die einst auf unsittlichen Pfaden wandelte, in deinen Worten ebenso Gehör gefunden hat?“

„Das hat sie, mein Vater!“, nickte Christian. „Lena war im besonderen Maße gelehrig und hat den lasterhaften Weg der Sünde hinter sich verlassen. Sie besitzt ein großes Herz und hat, wie ihr Vater Paul, eine unglaubliche Wandlungsfähigkeit bewiesen. Ich bin sehr stolz auf dieses Kind Gottes.“

„Du siehst doch wirklich nur das Gute und das ist auch durchaus in meinem Sinne“, dröhnte der Vater, gleichwohl mit einem nachsichtigen Lächeln. „Doch kann es sein, dass dein Glaube an Lenas Sittlichkeit durch dein verklärtes Auge etwas getrübt ist?“

„Vater, du sprichst in Rätseln“, wollte Christian die Worte seines Vaters nicht gleich erfassen.

„Nun, wie es scheint, dürfte Lena meine Geschenke inzwischen minder schätzen und abermals den verheißungsvoll wirkenden Verlockungen des falschen Pfades erliegen“, zürnte der Vater, dem Undank so vertraut war, er sich an dessen bitteren Geschmack jedoch nicht gewöhnen konnte.

„Lena zeigt keine Geringschätzung an den Geschenken Gottes!“, ereiferte sich sogleich Christian und seine Fürsprache ließ tatsächlich eine starke, persönliche Hingabe erahnen. „Lena ist nach wie vor auf dem richtigen Pfad!“

„Ganz offensichtlich hast du an diesem Kind Gottes so viel Wohlgefallen gefunden, dass deine Objektivität leicht getrübt sein dürfte“, schüttelte der Vater sein weises Haupt und Christian wurde sich abermals gewahr, dass er nun einmal allwissend war.

Daher änderte er seine Verteidigungsstrategie.

„Mein Vater, was zürnst du jungen, schwachen Seelen, wo der Teufel der Verführung so viele Gesichter zeigt?“

Der Vater zog lediglich die Augenbrauen hoch.

„Ich vertraue Lena!“, beharrte Christian demnach mit seiner, ihm eigenen Zuversicht. „Lena wird auf dem rechten Weg bleiben!“, verbürgte er sich für sie.

„Dein Wort in Gottes Ohr“, beendete der Vater mit einem verschmitzten Lächeln das Gespräch.

Ersatz

Jänner 2018

Paolo Krammer blickte auf das Bild in seiner Hand. Tränen liefen ihm über die Wangen. Seine Mutter war so plötzlich gestorben. An einem Aneurysma hatten die Ärzte gesagt.

Sein Vater hatte inzwischen wieder geheiratet und Eleonore war eine tolle Frau. Er freute sich für die beiden. Doch ihm fehlte seine Mutter jeden Tag.

Georg Krammer kam in Paolos Zimmer und blickte besorgt auf seinen 30-jährigen Sohn. Der hübsche junge Mann nahm die dicke Brille ab und wischte sich mit dem Ärmel die Augen trocken.

„Hallo, Papa!“, rief er und ließ das Foto sinken.

„Freust du dich nicht, dass du zu uns nach Hause kommst?“

„Doch, Papa. Ich freue mich sehr. Aber ich habe soeben das Bild von Mama angesehen und ...“

„Ich weiß, mein Junge. Wir werden sie wohl ewig vermissen“, sagte Georg.

„Nun, du hast ja wenigstens schon Ersatz!“, entfuhr Paolo und es hörte sich giftiger an, als er das beabsichtigt hatte.

„Magst du Elli nicht?“ fuhr Georg zusammen.

„Doch, sehr! Ich habe sie wirklich sehr gern!“, bestätigte Paolo mit einem heftigen Nicken.

Georg Krammer war noch nicht lange Pensionist. Nach einem heftigen Herzinfarkt vor über einem Jahr war er in den verfrühten Ruhestand geschickt worden. Das Schicksal hatte es nach dem Tod seiner Frau mit ihm noch einmal gut gemeint und seit wenigen Monaten war er mit Elli verheiratet. Sie war eine Seele von einem Menschen und hatte es geschafft, sich mit seinem Sohn anzufreunden.

Zumindest hatte Georg das gedacht.

Paolo befand sich nach einer posttraumatischen Belastungsstörung in psychiatrischer Behandlung. Er litt an einer bipolaren Störung und seine Stimmung kippte unaufhörlich von himmelhochjauchzend in eine mörderische Niedergeschlagenheit.

Kein Wunder, wusste Georg. Er war Polizist gewesen und hatte Paolo trotzdem nicht schützen können. Wenn er an diesen Tag vor vielen, sehr vielen Jahren zurückdachte, bekam er noch immer einen derartigen Zorn, dass er selbst als friedliebender Mensch zum Mörder hätte werden können.

Glück vor Augen

April 2018

„David kommt gleich vorbei!“, erwähnte Peter fast nebenbei, nachdem Maggie Sarah zu Bett gebracht hatte.

Lena war erst eine halbe Stunde zuvor mit Raffael nach Hause gegangen und Maggie schüttelte überrascht den Kopf.

„Echt jetzt?“ Sie wunderte sich über den ungewohnten Besucherstrom, der an jenem Abend in ihrer Wohnung stattfand.

„Ja, er hat vorhin angerufen. Scheinbar geht es auch ihm nicht gut. Ich habe ihm daher angeboten, dass er vorbeikommen kann.“

„Aber natürlich!“, nickte Maggie. „Vielleicht können wir den beiden ein wenig auf die Sprünge helfen. Möglicherweise müssen wir lediglich jedem die Sicht des anderen aufzeigen.“

„Ach, Maggie, mein Friedensengel!“, lächelte Peter und zog seine Frau in seine Arme. „Ich schätze dein ehrliches Bemühen, aber David hat vorhin tatsächlich ziemlich sauer gewirkt“, schien er wenig Hoffnung zu besitzen.

„Dann müssen wir uns eben mehr anstrengen!“, entgegnete Maggie.

***

David öffnete die Eingangstür seiner Wohnung, zog die Schuhe aus und ging auf Zehenspitzen durch das Wohnzimmer, um Raffael im angrenzenden Kinderzimmer nicht zu wecken.

Unter dem Türspalt sah er Licht aus dem Schlafzimmer schimmern und trat vorsichtig ein.

Lena saß im Bett. Sie hatte ein Buch auf ihrem Schoß liegen, schien jedoch nicht darin zu lesen. In ihren Augen schimmerten Tränen und als sich die Tür öffnete, blickte sie überrascht hoch.

„Schon zuhause?“, fragte sie zynisch, doch er ging auf ihre spöttische Bösartigkeit nicht ein.

„Ach, mein Liebes, was habe ich dir nur angetan?“, fragte er, als er zu ihr ging und sich auf die Bettkante setzte. Er hob die Hand und automatisch zuckte sie zurück. David strich ihr trotzdem über ihre Wange.

„Was du mir antust?“, wiederholte sie gehässig seine Frage und schob seine Hand weg. „Das, was du mir schon die ganze Zeit antust. Du kümmerst dich einen Dreck darum, wie es mir geht.“

„Lena! Ich habe ja keine Ahnung gehabt, wie schlecht es dir wirklich geht.“

„Wirklich nicht?“, fragte sie sarkastisch. „Gut, wie auch, du bist ja fast nie daheim!“

„Nein, ich habe es wirklich nicht gewusst!“, nickte er und wischte mit dem Daumen eine Träne aus ihrem Gesicht.

„Und wieso weißt du es jetzt auf einmal?“

„Ich war am Heimweg bei Maggie und Peter und sie haben mir erzählt, was mit dir los ist.“

„Echt? Die Zeit hast du dir genommen?“

„Ja, Lena, ich war so durcheinander und musste mit jemandem reden. Unsere ständigen Streitereien gehen auch mir an die Nieren und ich habe einen Rat von Außenstehenden gebraucht. Ich will, dass wir uns wieder besser verstehen. Immerhin waren wir doch einmal so glücklich.“

„Das formulierst du richtig: Wir waren es!“

„Ich wäre es gerne wieder. An meinen Gefühlen zu dir hat sich nichts geändert.“

„Und auf das bist du draufgekommen, nachdem du mit Peter und Maggie geredet hast?“

„Nein, das hab ich schon vorher gewusst“, lächelte er. „Das weiß ich immer!“, nickte er und sein Blick wurde zärtlich.

„Schade nur, dass ich nichts davon in den vergangenen Wochen gespürt habe“, verströmte Lena weiterhin ihr Gift.

„Ach, Lena, ich sage es dir aber jetzt“, versuchte er ihren Kopf zu sich zu ziehen, doch sie wurde stocksteif und blieb wie ein Blitzableiter kerzengerade sitzen.

„Ich will es dir zeigen!“, kam er daher ihrem Gesicht näher und versuchte sie zu küssen. Sie drückte ihn allerdings weg und blitzte ihn zornig an.

„Glaubst du wirklich, so einfach lassen sich unsere Probleme lösen? Legst mich halt schnell einmal kurz vor Mitternacht flach und damit ist alles geregelt?“

Er blickte sie weiterhin liebevoll an. „Aber ich liebe dich und das will ich dich spüren lassen! Was ist denn daran verkehrt?“, flüsterte er, während er mit seiner Hand zärtlich über ihren Nacken strich und sein Mund sich ihren Lippen näherte.

Sie spürte ein leichtes Flattern im Bauch und ihr Widerstand begann zu bröckeln. Ja, auch sie liebte ihn. Sehr sogar. Zumindest noch vor einem Jahr war dieser Gedanke sogar der allesbeherrschende in ihrem Kopf gewesen.

Bevor sie bei ihm eingezogen war, hatte sie sich so viele Monate nach ihm verzehrt. Ohne Gegenliebe. Damals hätte sie alles dafür gegeben, seine Nähe und sein Begehren so intensiv spüren zu können. Und auch jetzt empfand sie die gleiche Leidenschaft, als er sie so zärtlich berührt hatte und sie seine Lippen vor ihren sah.

Doch es war so vieles geschehen. Seit sie bei David wohnte, hatte sich fast alles verändert.

Sie fühlte sich wie in einem viel zu engen Korsett, das ihr die Luft zum Atmen nahm. Ihr derzeitiges Leben zerdrückte sie regelrecht.

Und das ließ sich nicht mit einer zärtlichen Stunde wieder zurechtrücken. Sie wusste zwar auch nicht, was ihr helfen könnte, und ob David ihr überhaupt helfen konnte, doch jetzt mal schönen Sex, was sollte das an ihrer Verbitterung ändern? An ihren Träumen? Sie versuchte daher ihrem Kribbeln im Unterleib nicht zu viel Bedeutung beizumessen und drehte ihren Kopf zur Seite, damit er sie nicht küssen konnte. Sie wusste, wenn sie seine Lippen erst auf ihren spürte, war es um sie geschehen.

„Und du hast tatsächlich mit Maggie geredet?“, fragte sie und schob ihn wieder etwas von sich fort, um seine Nähe nicht so intensiv zu spüren. Sie wollte Herr ihrer Sinne bleiben und wenn sie sein Aftershave roch, konnte sie das nicht.

David nickte und strich ihr weiterhin über ihren Nacken, kraulte ihr Haar. Wie sehr liebte sie diese zärtliche Geste. Ein Schauder ging durch ihren Körper und sie strich daher seine Hand weg.

„Und?“, fragte sie jedoch etwas weniger aggressiv als noch zuvor. „Weißt du jetzt alles?“

Wenn David mit Maggie geredet hat, warum ist er dann so liebevoll?, wunderte sich Lena. Aufgrund der Erfahrungen, die sie bisher mit David gemacht hatte, war sie sicher gewesen, dass er absolut kein Verständnis dafür haben würde, dass sie allein zur Romy-Verleihung gehen wollte.

Absolut nicht.

„Ja, Maggie und Peter haben mir gesagt, wie einsam du dich fühlst und da dachte ich, möglicherweise können wir etwas ändern. Sie haben angeboten, dass du an einem Tag in der Woche Raffael zu ihnen bringen kannst und er bei ihnen übernachtet. Dann könnten wir wieder in der Tanzschule gemeinsam tanzen und danach vielleicht fein essen gehen. So, wie früher!“, schien er sich scheinbar Gedanken gemacht und Lösungen gesucht zu haben.

„Und danach wären wir dann ungestört“, flüsterte er, während er ihr wieder näherkam. Er strich mit der Hand über ihren Busen, ließ seine Finger zärtlich über ihren Bauch nach unten gleiten und legte seine Hand sachte auf ihren Venushügel. Dabei blickte er ihr in die Augen und sie erkannte das brennende Verlangen in seinen riesengroßen Pupillen.

Er bewegte seine Hand kaum, übte lediglich einen ganz sanften Druck aus. Doch das genügte. Lena begann innerlich zu brennen. Die monatelange Sehnsucht nach ihm und sein völlig unerwartetes, liebevolles Verhalten, ließen sie wie heiße Butter zerfließen. Sie stöhnte heftig auf und schob sich ihm entgegen.

Durch diese Einladung stürzte sich David wie ein Verhungernder über ihre Lippen und schob ihr Nachthemd hoch. Kurz innehaltend, zog er ihr das dünne Stück Stoff über den Kopf und strich über ihre Brüste. Als sich die Warzen aufstellten, küsste er sie abermals stürmisch, während Lena begann, an seinen Hemdknöpfen zu zerren.

„Nimm mich!“, stöhnte sie und David ließ sich das kein zweites Mal sagen.

Er richtet sich auf, befreite sich mit hektischen Bewegungen von seiner Kleidung und nahm Lenas Körper in Besitz. Im Moment der Vereinigung stöhnte er auf, hielt aber kurz darauf inne um versuchte seine Lust zu unterdrücken.

Diesen Augenblick des Einsseins mit der Mutter seines Kindes, die er mehr liebte, als sie sich das vorstellen konnte, wollte er mit allen Sinnen spüren. Auch visuell. Er hielt ihren Kopf in seinen Händen und blickte in ihr hübsches Gesicht. Sie spürte seinen Blick und öffnete ihre Lider, sodass er ihre wunderschönen Augen wahrnahm, die ihn liebevoll anblickten. Er hätte diesen Augenblick am liebsten angehalten und versuchte daher, sich nicht zu bewegen. Was schwer war, denn Lena kreiste ihr Becken und er spürte ihre Hitze und ihre ungeduldige Lust. Ihr wieder so nah zu sein, wollte er aber auskosten, leitete sie an, sich ebenfalls nicht zu bewegen.

„Halt still, mein Liebes, halt ganz kurz ganz still“, flüsterte er. „Ich will dich nur spüren. Ich will unsere Liebe ganz intensiv fühlen“, küsste er sie zärtlich, doch Lena erwiderte diesen Kuss stürmisch und begann ihr Becken ungestüm zu bewegen. Sie konnte Davids Wunsch offenbar nicht nachgeben und augenblicklich war es auch um David geschehen. Rasend vor Leidenschaft steuerten sie auf den Höhepunkt zu und Lena klammerte sich an David, während ihre Körper gleichzeitig förmlich explodierten.

Dieser Ausbruch ihrer Gefühle war derart heftig, dass Lenas Beben automatisch in ein hemmungsloses Schluchzen überging, um ihren Überdruck verarbeiten zu können. Auch David kämpfte mit seinen Gefühlen und er begrub sein Gesicht in ihrem Haar, während sich ihre noch immer zuckenden Körper weiterhin zusammenpressten.

„Psst, mein Kleines, weine dich nur aus. Ich werde künftig mehr auf dich achtgeben, denn du bist das Wichtigste in meinem Leben“, flüsterte er und streichelte sie, bis sie ruhig und satt in seinen Armen lag.

Dann hob er seinen Kopf und strich mit den Fingern über seine Augen, weil sie irgendwie ein wenig feucht waren. Er blickte Lena in ihr Gesicht und fand so viel Liebe in ihrem Blick.

Er kam nicht umhin, sie abermals zu küssen. Nur kurz. Ganz sanft. Dann stützte er sich auf den Ellenbogen und strich Lena einige Haarsträhnen aus dem verschwitzten Gesicht.

„David, was war das jetzt?“, lächelte sie.

„Ich weiß es nicht, Lena. Aber es war unglaublich. Du bist unglaublich“, verbesserte er sich. „Ich glaube, ich habe in meinem Leben noch nie einen intensiveren, schöneren und innigeren Augenblick erlebt“, versuchte er zu erklären, was ihn selbst soeben völlig aus der Bahn geworfen hatte.

Er küsste sie abermals und in diesem sanften Kuss lag so viel Wärme und Liebe, dass Lena förmlich dahinschmolz.

Nachdem er sie freigegeben hatte, legte er sich neben sie und zog ihren Kopf an seine Brust, umschlang sie mit beiden Armen. Sie hörte sein Herz schlagen und strich mit ihren Fingern gedankenverloren über seinen Oberarm. David spielte selbstvergessen wieder mit einer Haarlocke Lenas.

„Ich werde künftig vermehrt auf deine Wünsche eingehen!“, versprach er und nahm sich wirklich vor, mehr an ihrer Beziehung zu arbeiten.

Als er eine gute Stunde zuvor von Peter gehört hatte, wie schlecht es Lena ging, hatte er beschlossen, dass er sich mehr Mühe geben musste.

Nein, nicht musste.

Wollte!

Das soeben Erlebte bestätigte ihm, dass ihre Liebe es wert war, dafür zu kämpfen. Lena liebte ihn genauso wie er sie. Das hatte er gerade deutlich spüren können.

Daher musste und wollte er es irgendwie schaffen, dass sie beide wieder glücklich wurden. Er würde Lena ein wenig entgegenkommen und wollte ihre Probleme verstehen lernen.

Damit hatte er nämlich tatsächlich ein massives Problem. Er konnte Lenas Unzufriedenheit und oftmals spürbare Abneigung Raffael gegenüber einfach nicht verstehen.

Er selbst verbrachte doch den ganzen Tag mit seinem Sohn und genoss jede Minute. Gut, es war oft auch hektisch und laut. Aber wenn der Kleine ihn dann mit seinen großen blauen Augen ansah, ging ihm das Herz über und er könnte sich nie über diesen kleinen Kerl ernsthaft ärgern.

Nie!

Daher hatte er aber auch wirklich Schwierigkeiten, zu verstehen, warum es für Lena in den wenigen Abendstunden so viel schwerer zu ertragen war. Raffael war doch ein süßer, lebhafter Junge und David war so glücklich, diese so schnell dahingaloppierende Zeit mit seinem Sohn so intensiv nutzen zu können. Warum Lena es nicht ähnlich ging, konnte er einfach nicht verstehen.

„Es ist nicht jeder gleich!“, hatte Peter versucht, seinem Freund die Augen zu öffnen, als er sich bei ihm ausgesprochen hatte. „Und Lena versucht eine gute Mutter zu sein, doch derzeit wird ihr alles zu viel. Das kann mit ihren zerstörten Träumen zusammenhängen. Du weißt ja, sie wollte schon als Kind Schauspielerin werden.“

Als David bei diesen Worten die Augen verdreht hatte, hatte Peter ihn an den Schultern genommen. „Siehst du, das meinte ich: Du nimmst ihre Träume und Wünsche überhaupt nicht ernst und verdrehst die Augen!“

„Ja, natürlich, weil ich diesen Schwachsinn nicht verstehe!“

„Für Lena ist es aber kein Schwachsinn und wenn du ihr nicht das Gefühl vermitteln kannst, dass du sie verstehst, wie soll eure Beziehung dann glücklich werden? Sie braucht dich doch als Vertrauensperson, also nimm ihre Bedürfnisse ernst!“

„Das ist aber schwer, denn ich sehe nun einmal eine Realität, die schöner nicht sein könnte: Wir haben so einen tollen Sohn, wir lieben uns, sind gesund und haben keine finanziellen Probleme. Und jetzt will Lena auf einmal etwas haben, das mit einem Kind nun einmal nicht geht! Als sie Raffael geboren hat, muss sie doch gewusst haben, was auf sie zukommt!“, hatte David den Kopf geschüttelt.

„Vergiss nicht, dass Raffael doch eigentlich gar nicht geplant war. Und auch wenn sich Lena zur Mutterschaft entschlossen hat, so hat sie doch keinesfalls gewusst, wie es in Wirklichkeit sein würde. Unsere Sarah war ein Wunschkind, doch auch Maggie ist manchmal überfordert. Ich bin aber am Abend daheim und manchmal schicke ich sie einfach an die frische Luft, damit sie auch mal zum Durchatmen kommt. Lena hat diese Möglichkeit nicht. Wenn sie nach der Arbeit heimkommt und mit Raffael allein ist, muss sie durchhalten. Und das fällt ihr zunehmend immer schwerer, auch, weil sie deine Unterstützung nicht mehr spürt.“

Peter hatte David lange angeblickt und abermals auf seine Schulter geklopft, wie um ihm seine nächsten Worte damit einzuhämmern. „So eine Situation kann schnell zum Nährboden für Depressionen, Sinnfragen, Kurzschlussreaktionen oder aber nur für allgemeine Unzufriedenheit werden.“ Er sah David tief in die Augen. „Ich weiß nicht, in welcher Phase Lena steckt, aber ihre Unzufriedenheit ist massiv. Also hilf ihr! Schenke ihr Verständnis und höre ihr zu!“

„Aber ich habe Raffael den ganzen Tag!“, hatte David nicht gleich verstehen wollen. „Warum habe ich kein Problem mit unserem Sohn, sie aber schon?“

„Weiß ich doch nicht! Vielleicht hast du einen besseren Zugang zu ihm, weil er nach dir gerät! Vielleicht hast du einfach bessere Voraussetzungen als Vater. Vergiss nicht: Ein Kind zu machen ist sehr leicht!“, Peter hatte schief gelächelt, war aber gleich darauf ernst geworden. „Ein Kind zu einem glücklichen Menschen zu machen, ist hingegen die schwierigste Aufgabe der Welt. Und du darfst auch nicht vergessen: Eine Mutter bekommt bei der Geburt keine Bedienungsanleitung mitgeliefert. Sie hat lediglich den angeborenen Mutterinstinkt.“

„Den habe ich bei Lena lediglich wahrgenommen, als Raffael noch ein kleines Baby gewesen ist.“

„Glaube mir, David, sie liebt ihn!“, Peter hatte ihn kräftiger geschüttelt. „Und sie liebt auch dich. Also hilf ihr! Sei nicht so verbohrt! Sie braucht dich jetzt.“

Als David an dieses Gespräch dachte, wusste er, sein Freund hatte rechtgehabt. Ja, sie liebte ihn und mit dieser Liebe in ihren Augen sah sie ihn nun an.

„Danke, David! Das hätte ich nicht von dir gedacht, dass du so verständnisvoll bist!“

„Echt nicht? Wie siehst du mich denn?“, versuchte er ein beleidigtes Gesicht zu zeigen, lächelte allerdings dabei.

„Nun, ich weiß doch, was du davon hältst, auf diese Gala zu gehen und dass du nun doch so tolerant bist, das überrascht mich halt einfach. Aber ich freue mich so sehr darüber!“, strahlte sie nun über das gesamte Gesicht.

„Was meinst du?“, löste er seine Arme, mit denen er sie zuvor noch so festgehalten hatte. Er blickte sie überrascht an. „Von welcher Gala redest du?“

„Na, von der Romy-Gala auf die ich gerne gehen würde. Du hast gesagt, dass du mit Maggie geredet hast und ich habe gedacht, sie hätte es dir erzählt.“

„Nun, die meiste Zeit habe ich mit Peter gesprochen, denn Sarah hat zu weinen begonnen, kurz nachdem ich gekommen bin. Maggie ist fast die ganze Zeit bei Sarah gewesen.“ Dann zog er seine Stirn in Falten.

„Wieso? Was hast du zu Maggie gesagt? Wovon hast du vorhin geredet?“, wollte er wissen.

„Nun, ich habe Maggie erzählt, dass ich gerne zu der Romy-Gala gehen möchte. Allerdings habe ich zu ihr gesagt, dass ich allein hingehen will, weil ich so sauer auf dich gewesen bin, nachdem du diese Veranstaltung als Hokuspokus bezeichnet hast.“

„Ist es auch!“, entschlüpfte David im Affekt, doch Lena hatte seine Wortmeldung gar nicht richtig mitbekommen, weil sie voll Enthusiasmus weitersprach. Davids Versprechen, mehr auf ihre Wünsche eingehen zu wollen, erfüllte sie mit so viel Hoffnung und neuer Lebensfreude, dass sie David richtiggehend anstrahlte.

„Aber jetzt möchte ich gerne mit dir hingehen. Ich freue mich richtig darauf“, lächelte sie, hob ihren Kopf und küsste ihn zärtlich.

Er spitzte jedoch seine Lippen, wodurch ihr Kuss zu einem winzigen Busserl wurde. Trotzdem spielte sie verliebt mit seinen dunklen Haaren und plapperte weiter.

„Es war vorhin so schön und ich bin so glücklich. Weißt du, ich habe schon befürchtet, dass wir gar kein Paar mehr sind. Doch jetzt, vorhin!“, sie strich ihm über seine Brust und küsste seinen Hals, während sie ihm zuflüsterte. „David, es war wundervoll. Ich liebe dich!“

„Aber trotzdem willst du diesen Schauspieler-Schnickschnack?“, antwortete er und seine Stimme bekam einen harten Klang.

„Wie meinst du das?“, erschrak sie über Davids, so unvermutet aufgetretene Aggression. „Du weißt doch, dass ich ... also du hast ja gesagt, dass du auf meine Wünsche ... und ich dachte, vielleicht öffnet das einige Türen“, begann sie richtiggehend zu stottern, redete aber weiter. „Mark Kellermann, der ja für die Romy nominiert ist ... also ... wir haben früher gemeinsam Theater gespielt und ich dachte ... “

David setzte sich auf uns sah sie geschockt an.

„Was dachtest du? Denkst du ernsthaft darüber nach, über diesen Mark in diese windige Society-Gesellschaft einsteigen zu können? Willst du tatsächlich Teil dieser Schicki-Micki-Gesellschaft werden? Und glaubst du im Ernst, dass du, nur weil du mit diesem Mark in der Schule gespielt hast, eine Schauspielerin bist?“

Lena blickte ihn überrascht an.

„Willst du tatsächlich diesem Kindertraum als erwachsene Frau noch immer nachjagen? Willst du wirklich das Leben, das wir führen, aufgeben für diese oberflächliche Scheinwelt, in der es doch keine echten Werte gibt?“ Er schüttelte angeekelt den Kopf. „Ich habe gedacht, du hättest dich menschlich weiterentwickelt. Ich habe gehofft, du hättest dich geändert und kannst erkennen, was im Leben wirklich zählt.“

Lena schluckte schwer. Sie kannte Davids vorgefasste Meinung über die Kunstszene. Er warf alle Mitglieder dieser Gesellschaft in einen Topf. David hielt alle Schauspieler, nein, gleich alle Künstler, für oberflächlich und leichtfertig.

Genauso hatte David auch Lena bei ihrem Kennenlernen wahrgenommen. Als oberflächliche und leichtfertige Person.

Und damals war sie das tatsächlich auch gewesen. Doch dann war sie durch ihre eigene Schuld so richtig auf die Schnauze gefallen. Und am Tiefpunkt ihres Lebens hatte sie Christian Gottlieb kennengelernt. Er hatte ihr die Augen geöffnet und den richtigen Weg gezeigt. Durch seine Worte hatte Lena erkannt, wie oberflächlich sie gewesen war und sie hatte sich geändert. Diese neue, kaum mehr wiederzuerkennende Lena hatte David seinerzeit richtiggehend verzaubert.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752118575
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Drama Tragödie Krimi Nächstenliebe Liebe Israel Komödie Romanze Musik Sozialkritik Thriller Spannung

Autoren

  • Brigitte Kaindl (Autor:in)

  • Brenda Leb (Autor:in)

Brigitte Kaindl wurde 1960 in Wien geboren. Die Autorin und Musikerin ist verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen Kindern. Ihre Autobiografie "Mein Weg aus dem Fegefeuer" schrieb sie unter dem Pseudonym ‘Brenda Leb’. Danach veröffentlichte sie humorvolle Unterhaltungsliteratur sowie fesselnde Romane mit sozialkritischem Hintergrund. Die Autorin schreibt für Leser die Unterhaltung, Humor, Spannung und Gefühle suchen
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Titel: Das Echo von Gottlieb