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Die Macht der Farben: Bedeutung und Symbolik

von Harald Braem (Autor:in)
172 Seiten

Zusammenfassung

Harald Braem, 1944 in Berlin geboren. Studien: Visuelle Kommunikation, Psychologie und Marketing. Bei Young & Rubicam im Team der lila Milka-Kuh; als Creative Director bei Compton/Saatchi & Saatchi für internationale Werbekampagnen verantwortlich. Von 1981 bis 2000 Professor für Farbenlehre und Farbpsychologie an der FH/University of Applied Sciences in Wiesbaden. Mitglied des Expertenstabes im Bundesverband deutscher Psychologinnen und Psychologen. Dozent an der Gutshofakademie Frielendorf. Unter seiner Mitwirkung entstanden zahlreiche Radio – und TV-Sendungen zum Thema (u. a. Terra X „Die Magie der Farben“, 2015, ZDF). 2005 wurde die Dokumentation „Farbpsychologie. Entdecken Sie Ihre Wohlfühlumgebung“ von Rainer Wälde mit dem World Media Award ausgezeichnet.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Harald Braem

 

 

Die Macht der Farben

Bedeutung & Symbolik

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

Elvea Verlag

1. Auflage 2020

 

Lektorat der Originalfassung: Harald Braem

Satz: Uwe Köhl

Grafikgestaltung: Barbara Baer

Coverbild: Dimitris Kolyris

 

Deutsche Erstausgabe:

Die Macht der Farben

© 1985 by Wirtschaftsverlag Langen Müller/Herbig, München (1. – 9. Auflage)

 

Die Macht der Farben. Bedeutung und Symbolik

© 2012 by Amalthea Signum Verlag, Wien (10. Auflage)

Vorwort


Als die erste Fassung von ›Die Macht der Farben‹ 1985 in Deutschland erschien, war das Buch als Arbeitsinstrument für meine Studenten an der FH/University of Applied Sciences Wiesbaden gedacht und auf die Fachrichtungen Kommunikation, Design, Architektur und Innenarchitektur ausgerichtet. Es sollte eine leicht verständliche Einführung in das spannende Gebiet des noch jungen Wissenschaftszweigs Farbpsychologie sein. Danach folgten – zusammen mit dem Kulturinstitut für interdisziplinäre Forschung und meinem inzwischen leider verstorbenen Freund und Kollegen Prof. Dr. Dr. Harald Brost (Institut für Farbe, Licht und Raum) – mehr als 20 Jahre praktische Forschung und Erprobung in den Bereichen Marketing, PR und Werbung, Medizin, Psychologie, Mode, Sport, Politik sowie Freizeit- und Unterhaltungsindustrie. In der Quintessenz wurden dabei wichtige Erkenntnisse von Johann Wolfgang von Goethe, Johannes Itten, Professor Max Lüscher, Heinrich Frieling, Warden, Flynn und anderen Farbforschern auf verblüffende Weise bestätigt und wissenschaftlich untermauert.


›Die Macht der Farben‹ berührt sämtliche Bereiche des privaten und gesellschaftlichen Lebens und unterliegt einer ständigen Kontrolle und Aktualisierung durch die tägliche Praxis. Wir alle erlebten zum Beispiel den furchtbaren Schock vom 11. September 2001 und die farbliche Trendwende der freiheitlich-demokratisch orientierten Welt in West und Ost (!) von Rot zu Blau, was sich unter anderem in der Farbgestaltung zahlreicher Produkte – am deutlichsten sichtbar in der Automobilindustrie – widerspiegelt. Die neue Gefühls- und Bewusstseinsmatrix der globalen, mobilen Gesellschaft heißt offensichtlich Blau. Unternehmen, die ihre Corporate Identity und das Corporate Design bereits auf Blau ausgerichtet hatten, erlebten – trotz der natürlichen Grenzen des Wachstums – Kompetenzstärkung, Umsatzsteigerung und überproportionale Gewinne. In vielen Bereichen vom Sport bis hin zu TV-Nachrichtensendern wird Blau vom Konsumenten als Treuegarantie verstanden, wie es auf ähnliche Weise bereits mit den UNO-Blauhelmen und den Eurocops geschieht. Blau steht für Lebensqualität, Freiheit und Zufriedenheit und ist mittlerweile die absolute Lieblingsfarbe aller modernen Menschen von Tokio über Berlin bis New York. Das Geheimnis scheint in der unendlichen Vielfalt an Farbtönen zu liegen. Jeder Mensch kann sein eigenes Blau finden …


Orange – von Natur aus der lebhafte, quirlende Gegenpol zum eher ruhigen Blau – wurde seiner Rolle als körperbezogener Sympathieträger gerecht. Denken wir kurz an die orangene Revolution in der Ukraine, für die eine lachende Rocksängerin mit viel Sexappeal zur Ikone wurde. Oder an die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, die ihren Wahlkampf im orangenen Kostüm gewann. Nach dem Sieg trug Frau Merkel – der traditionellen Farbcodierung einer christlichen Lobby entsprechend – wieder das strenge, abgrenzende Schwarz. Orange kann also – zumindest vorübergehend – für rasche Veränderungen genutzt werden. Wir sehen immer häufiger irgendwo in der Welt orangene Fahnen wehen. Sie sind bereits zum internationalen Symbol für friedlichen Paradigmenwechsel geworden. Mit Orange kann man Bewegung schaffen, auf sympathische Weise Verhalten ändern und motivieren, aber mit Blau länger regieren, denn Blau verkörpert die Sehnsucht nach Ordnung, Treue und Zuverlässigkeit, nach einer unantastbaren Instanz.


Beide Farben scheinen sich gegenseitig zu bedingen. Aus diesem Grund stellen sie in vielen Sportarten die ideale Kombination für siegreiche Trikots dar. Natürlich schaffen das die Farben nicht allein, sie unterstützen nur ein Bestreben. Letztendlich entscheiden Leistungen, in der Politik wie im Sport, um langfristig Glaubwürdigkeit zu erreichen.


Ob es sich um ADS- oder Indigokinder handelt, die lila Milka-Kuh, Greenpeace oder das mediterrane Wohndesign des Papstes, Frauenpower, Teppichfarben, gelb getönte Sonnenbrillen der coolen Smiley-Generation, Trikots bei der Fußball-WM, der Tour de France oder um die Neugestaltung eines Büros … Die Macht der Farben scheint überall zu wirken, nach festen Regeln und voraussagbaren Gesetzmäßigkeiten zu funktionieren. Und: Die Macht lässt sich gezielt nutzen. Um es noch einmal zu betonen: ›Die Macht der Farben‹ wurde nicht als Kommentar zu bestimmten Ereignissen geschrieben, sondern genau umgekehrt: Die Dinge passierten einfach und bestätigten die zuvor gemachten Aussagen.


Kein Wunder also, dass nach und nach national und international die Medien aufmerksam wurden und ihren Fokus auf spezielle Phänomene der Farbpsychologie richteten. Das Buch wurde zum Dauerbestseller, in zahlreiche Sprachen übersetzt (kürzlich auch in russisch, chinesisch und koreanisch) und war Grundlage vieler Radiosendungen und TV-Berichte (TerraX, ZDF). Höchste Zeit also, dass alle Informationen zum Thema Farbpsychologie nun auch für den englischen Sprachraum verfügbar gemacht werden.


Auch diesmal wieder – das wird Sie vielleicht im ersten Moment etwas erstaunen – wurde bewusst auf Bildmaterial verzichtet. Beim Lesen werden Sie feststellen, dass in diesem Fall tatsächlich schöne Fotos überflüssig sind. Denn die besten Bilder entstehen immer im eigenen Kopf. Nämlich in Ihrem. Dieses Buch lädt zu einer Entdeckungsreise ein und möchte anregen, neue Bilder zu sehen, uralte Muster zu erkennen und bisher nicht geahnte Zusammenhänge festzustellen. Wenn das passiert, habe ich einen kleinen, bescheidenen Beitrag zur Bewusstseinserweiterung geleistet.


Harald Braem

Nierstein 2020

 

Die Macht der Farben


Was wir auch tun, ob wir uns für ein neues Auto oder ein Kleid entscheiden, ob wir im Supermarkt einkaufen oder eine Wohnung einrichten, beim schnellen Orientieren im Straßenverkehr ebenso wie beim geruhsamen Betrachten eines Fotobandes oder beim Auswählen von passenden Weihnachtsgeschenken – ständig haben wir es mit der geheimen Macht der Farben zu tun. Farben prägen, kontrollieren und steuern wirkungsvoll und nachhaltig unser gesamtes Denken, Fühlen und Handeln. Und besonders dann, wenn wir am wenigsten darauf achten.

Kann diese Aussage so stehenbleiben? Sind nicht gerade Farben etwas äußerst Subjektives, etwas, das mit individuellem Geschmack und mit Mode zu tun hat? Reagiert nicht jeder Mensch anders und auch wir von Situation zu Situation verschieden?

Natürlich spielt das subjektive Empfinden eine wichtige Rolle. Ebenso der persönliche Geschmack, Reiz und Ablehnung, Nachahmungstrieb und bewusstes Abgrenzen davon, individuelle Note und Mode. Aber wenn wir meinen, das wäre schon alles, verwechseln wir Ursache und Wirkung. Wir reden dann über Resultate und Erscheinungsformen, über die Oberfläche einer Sache: also, die weitaus mehr Tiefgang besitzt, ja deren Wurzeln oft bis weit in die Vorzeit der Menschheit hineinreichen.

›Archetypisch‹ nennen wir solche Eigenschaften, man könnte auch von ›Urprägungen‹ sprechen. Die Tiefenpsychologie (besonders C. G. Jung) hat auf diesem Gebiet eine Menge wissenschaftlicher Arbeit geleistet und erstaunliche Zusammenhänge zutage gefördert. Wir fangen als Mensch eben nicht mit der Geburt beim Punkt Null an wie ein ›unbeschriebenes Blatt‹, das nur darauf wartet, von Umwelt und Gesellschaft ›beschrieben‹ zu werden. Nein, wir tragen in uns, im genetischen Code unserer Zellen und in den alten Zentren unseres Gehirns, Restbestände der gesamten Menschheitserinnerung, die sich in Verhaltensweisen und Reflexen, in Denkstrukturen, Bildern und Träumen äußern. Zu diesen Urprägungen gehören auch die Farben. Genauer: die Gefühle, die ursprünglich damit identifiziert, und die kulturellen Anmutungsqualitäten, die im Laufe der Zeit mit den Farben verbunden wurden.

Wem dies jetzt zu theoretisch klingt, dem möchte ich an dieser Stelle ein paar konkrete Beispiele präsentieren, die schlagartig deutlich machen, was gemeint ist und die aufzeigen, wie eng die Wirkung von Farben mit biologisch-chemisch-physikalischen und psychisch-seelischen Vorgängen in unserem Körper verbunden sind.


Beispiel I: Der Streichholzschachtel-Test


Bereiten Sie unbeobachtet vor dem Test eine Streichholzschachtel auf folgende Weise vor: Leeren Sie die Schachtel und schreiben Sie auf die Innenseite folgende Wörter: Hammer, Geige/Gitarre, Rot. Danach füllen Sie die Schachtel wieder mit Streichhölzern, damit sie das richtige Gewicht erhält und auf gewohnte Art klappert. Wenn Sie eine Testperson gefunden haben, erklären Sie ihr: »Dies ist ein Konzentrations-Test, bei dem es auf Geschicklichkeit ankommt.« Nehmen Sie die Streichholzschachtel zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand, führen Sie mit der Hand eine Drehung aus und übernehmen Sie die Schachtel mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. Bei jeder Übernahme und Drehung wird der Drehvorgang laut mitgezählt.

Das sieht ganz einfach aus und ist es auch. Aber bezweifeln Sie lauthals, dass Ihr Testpartner dazu fähig ist, konzentriert und ruhig im gleichmäßigen Rhythmus die Schachtel zu drehen und dabei laut und deutlich zu zählen.

Natürlich wird Ihr Testpartner widersprechen.


Lassen Sie es ihn vorführen. Siehe da – es funktioniert. »Gut«, sagen Sie nun, »das klappt ja ganz gut. Aber ich bezweifle, dass du dich richtig konzentrieren kannst. Ich werde dir jetzt ein paar Fragen stellen, die du spontan, ohne nachzudenken, beantworten sollst. Es sind keine echten Fragen, eigentlich nur immer ein Reizwort, das ich in den Raum werfe, und du antwortest genauso schnell mit einem Wort, das dir dazu einfällt. Du wirst sehen, wie schnell du aus dem Dreh- und Zähltakt gerätst.«

Jetzt protestiert die Versuchsperson und gibt sich besondere Mühe, zu beweisen, wie gut sie sich konzentrieren kann. Lassen Sie sie bis sechs oder sieben zählen und fragen dann blitzschnell:

»Werkzeug?« »Hammer«, antwortet die Testperson in fast 90 % aller Fälle. Gelegentlich, aber selten, kommt auch »Zange« als Antwort. Lassen Sie weiterdrehen. Bei zwölf oder dreizehn fragen Sie: »Musikinstrument?«

Und wieder kommt ebenso spontan die Antwort:

»Geige«. Sollte es sich um eine jüngere Testperson handeln, kann auch »Gitarre« als Antwort folgen. In den sechziger und frühen siebziger Jahren war noch etwa zu 90 % Geige als Antwort zu erwarten. Heute hat sich das Verhältnis zu etwa 60 % Geige und 40 % Gitarre verlagert. Andere Instrumente werden extrem selten genannt und stellen dann meist das Instrument dar, das der Betreffende selbst spielt oder für ihn von außergewöhnlicher Bedeutung ist.


Bei der dritten Blitzfrage »Farbe?«, die bei etwa zwanzig, einundzwanzig kommen kann, lautet die Antwort zumeist (in etwa 80 % aller Fälle)

»Rot«, manchmal auch »Blau« (etwa 20 %). Andere Farben werden nahezu nie genannt.

Bedanken Sie sich bei Ihrer Testperson, nehmen Sie die Schachtel, schütten Sie den Inhalt aus und lassen Sie das dort bereits aufgeschriebene Testergebnis selbst vorlesen. Die Verblüffung ist jedes Mal groß, der Überraschungseffekt auf Ihrer Seite.


Was ist hier geschehen!

Ganz einfach: Je mehr ein Mensch mit äußerlichen Dingen beschäftigt ist (hier: Konzentration auf Drehen und Zählen), desto weniger hat er Kontrolle über sein Unterbewusstsein. Aus diesem Urreservoir an Gefühlen, Zeichen und Bildern tauchen nun ›archetypische‹, urtypische Begriffe auf. Es sind also keine überlegten Antworten, sondern wie Instinkte schnell abrufbare, griffbereite Programme. Der Hammer ist eben seit der Erfindung des Faustkeils das Handwerkszeug Nr. 1 und mit der Entwicklung der Menschheitsgeschichte aufs engste verbunden, Geige und Gitarre (zumindest in unserem Kulturkreis) die populärsten Instrumente, und Rot die älteste Farbe.

Die älteste Farbe? Was soll das nun wieder bedeuten? Waren nicht alle Farben von Anfang an gleichzeitig da?

An dieser Stelle keine Antwort. Näheres hierzu erfahren Sie sehr ausführlich im Kapitel ›Die Farbe Rot‹.


Beispiel 2: Das Herz


Geben Sie einer x-beliebigen Testperson eine Auswahl Buntstifte, Filzstifte oder Farbtuben und fordern Sie sie auf, ein Herz zu malen. Es wird immer ein rotes, nie ein blaues, gelbes oder grünes sein.

Rote Herzen sind üblich, man ist sie gewohnt? Richtig. Aber machen Sie den gleichen Test doch bitte einmal mit Kleinkindern, die weder einen Anatomieatlanten, Transplantationen, Herz und Kreislaufmittel noch Liebessymbolik kennen. Ohne eine Sekunde zu zögern greifen sie zur roten Farbe.

Natürlich ist das kein ›Urwissen‹. Es ist ihnen irgendwann einmal von der Mutter oder dem Vater gezeigt worden. Aber es reichte ein Blick, um die Richtigkeit des Gezeigten zu erkennen und das ›Urprogramm‹ wiederzuentdecken. Ich muss in diesem Zusammenhang immer wieder an Katzenjunge denken, denen die Mutter in Nullkommanichts und mit drastischem Beispiel beibringt, wie man sich ›stubenrein‹ verhält. Eine ›Vorführung‹ genügt und das Urprogramm aller Katzen funktioniert.


Beispiel 3: Die merkwürdigen Kisten


Ein Transportunternehmer in den USA wunderte sich darüber, dass sich seine Arbeiter an bestimmten Tagen häufiger beschwerten und auffallend früher als sonst Ermüdungserscheinungen zeigten. Dem Sachverhalt nachgegangen, stellte sich heraus, dass an diesen Tagen ausschließlich dunkle Kisten getragen werden mussten. Das Verblüffende bei der Angelegenheit war nur, dass das Gewicht der Kisten exakt mit dem identisch war, das an anderen Tagen in helleren Kisten getragen wurde.

Einbildung, Autosuggestion?

Die amerikanischen Psychologen Warden und Flynn gingen dem Phänomen nach und ließen das Gewicht gleich schwerer, aber verschieden farbiger Packungen schätzen.

Dabei wichen sie im Test bewusst von relativ bekannten, ›erlernbaren‹ Maßeinheiten (also ein Pfund oder ein Kilo) ab und wählten eine ›abstrakte‹, schwer nachvollziehbare, nämlich eine 3-Pfund-Packung.

Das Ergebnis klingt beinahe unglaublich: Jede Farbe wiegt anders.


Das Ergebnis:


Weiß (als Ausgangsrelation) 3,0 Pfund

Gelb (bereits geschätzt auf) 3,5 Pfund

Grün 4,1 Pfund

Blau 4,7 Pfund

Grau 4,8 Pfund

Rot 4,9 Pfund

Schwarz (fast verdoppelt) 5,8 Pfund


Man kann sich vorstellen, dass diese Ergebnisse weder geheim blieben, noch bleiben konnten oder sollten. Im Gegenteil: Sie wurden von der Industrie begeistert und erfolgreich aufgegriffen werden doch mittels einfacher Farbgebung plötzlich doppelte Böden, Schein- und Trickpackungen überflüssig, die bisher mit aufgeblähtem Volumen mangelnden Inhalt wettmachen sollten. Und selbst bei gleicher Größe und Gewicht vermittelt eine dunkle Packung eben, dass ihr Inhalt kompakter, konzentrierter, massiver und gewichtiger, also wertvoller ist.

Wie gesteuerte Farbgebung nicht nur das Gewicht, sondern auch Geschmack, Geruch, Konsistenz, Qualität, Haltbarkeit, Frische usw. manipulieren kann, lernt heutzutage ein GraphikDesign-Student im Grundstudium. Ebenso wie man durch die richtige Farbkombination Dinge verändern kann, z.B. großes kleiner, schweres leichter, bitteres süß etc.

 

Sind Farben also geheime Verführer!

Viel mehr als das! Farben greifen direkt, massiv und vom klaren Denken weitgehend unkontrolliert in biochemische und biophysikalische Prozesse des menschlichen Körpers ein, beeinflussen Herzschlag, Puls und Atemfrequenz, erhöhen oder mindern den Blutdruck, lassen Verletzungen langsamer oder schneller heilen, erzeugen Hitze, Kälte, Hunger, Durst, Ruhe, Angst und Aggression.

Mittlerweile wissen die meisten Ärzte und Krankenhäuser um diese Dinge, berücksichtigen sie in ihrer Therapie, müssen sich Designer, Architekten und Innenarchitekten bereits in der Entwurfsphase auf solche grundsätzlichen Gegebenheiten einstellen.

Ein Vergleich der Farben Rot und Blau in Bezug auf ihre körperlichen Auswirkungen beim Menschen verdeutlicht das Gesagte.


Beispiel 4: Der Rot-Blau-Gegensatz


Rot Blau

Atmung rascher Atmung langsamer

Puls und Blutdruck Puls und Blutdruck

steigen fallen

Herzschlag Herzschlag

beschleunigt verlangsamt

 

Insgesamt bedeutet dies: Der Anblick roter Farbe erregt und aktiviert, der von Blau beruhigt alle Körperreaktionen.

Noch deutlicher wird dies bei Untersuchungen, die das subjektive Kälte- bzw. Wärmeempfinden messen. Der Kontrast zwischen kalt und warm umfasst eine Spanne von ca. 13° Celsius.


Beispiel 5: Kälte- und Wärmeempfinden


In einem blau-grün gestrichenem Raum stellt man schon bei etwa 15° Kälte fest, im orangefarbenen erst bei 2°. Ein völlig neuer Aspekt zum Thema Energiesparen!

Spaß beiseite, dass sich der Mensch dieser Tatsachen und Hintergründe bewusst ist, spiegelt deutlich und zutreffend der Volksmund wieder. Dort stehen als Synonyme für Blau Eis und für Rot Feuer. Eisblau und feuerrot machen plastisch, beinahe körperlich spürbar deutlich, welche Eigenschaften der Mensch von jeher den Farben zuordnet.


Fassen wir zusammen:


Über Farben und ihre Wirkungen zu reden, ist keine Geschmacksfrage, über die sich streiten lässt, obwohl dies – oberflächlich gesehen – im Einzelfall so zu sein scheint. Farben sind vielmehr ›visualisierte Gefühle‹ (nach Prof. Max Lüscher, dem Erfinder des bekannten Lüscher-Farb-Tests). Mehr noch: Farben sind eng mit den archetypischen, also vorgeschichtlichen, Erfahrungen der Menschheit verknüpft und bewirken klar erkennbare und messbare Zustände.

Welche überaus gewichtige Rolle Farben als Signal, Gestaltungselement, Verhaltenssteuerung und Manipulationsinstrument spielen, wird deutlich, wenn wir daran denken, dass etwa 80% aller Informationen optischer Natur sind. Die Welt ist nicht nur bunt – sie ordnet und steuert durch die Wirkung der Farben ihre Bedeutung für den Menschen.

Aufgabe dieses Buches, das sich bewusst nicht als ein weiteres Fachbuch für Farbenlehre versteht, ist es, das Schwergewicht weniger auf Theorie und dafür mehr auf nachvollziehbare, ›spürbare‹ Praxis zu legen. In Form eines populärwissenschaftlichen Lesebuches spricht es gerade den Laien an, will für ihn die ›geheime Macht der Farben‹ transparent machen. Es werden daher also keine komplizierten physikalischen Sachverhalte behandelt, sondern Blicke hinter die Kulisse der Psyche riskiert. Bewusst wird versucht, sich an prähistorische ›Ursituationen‹ heranzutasten, um herauszufinden, warum der Mensch damals so auf unterschiedliche Farben reagierte und sich heute kaum wesentlich anders verhält.

Es wird in diesem Buch auf kulturelle Situationen ebenso eingegangen, wie auf geschichtliche Ereignisse, die Mode (also bewusstes Nachahmen) hervorriefen. Und auf die Sprache des Volksmunds, die in vielerlei Hinsicht wie ein Seismograph funktioniert.

Dabei werden Assoziationen ebenso zugelassen wie Widersprüche, denn nichts erscheint mir für Bewusstseinserweiterung einengender und schädlicher als stromlinienförmige Grundgesetze, die geglaubt – und schlimmer noch – unreflektiert auswendig gelernt werden müssen.

Nein, Leben und Erfahrung sind fließende Prozesse, bei denen Umwege und Abschweifungen nicht nur nützlich, sondern ausdrücklich erwünscht sein müssten. Will man zu reifen, gewachsenen Ergebnissen kommen, so sollten tunlichst viele Facetten und Aspekte ein und derselben Sache angesehen, so viele Blickwinkel wie möglich in Betracht gezogen werden.

Schließlich gehört zur Wissenschaft eine gehörige Portion Phantasie und die Bereitschaft, sich faszinieren zu lassen, will sie farbig und deutlich werden; sonst bleibt sie so, wie das Sprichwort sagt: »Grau, grau ist alle Theorie.«

Wir aber haben es im wahrsten Sinne des Wortes mit einer ›farbigen‹ Wissenschaft zu tun. Eine, die uns zudem deshalb so plastisch vorkommt, weil sie uns auf Schritt und Tritt tagtäglich im Alltag begegnet.

Wenn dieses Buch erreichen sollte, im Umgang mit Farben den Blick zu schärfen, zu sensibilisieren und bewusster zu machen, dann hat es bereits seinen Zweck erfüllt.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Neugier, Spaß und verwertbare Informationen bei dieser Spurensicherung in Sachen Farbe.

Die Geschmäcker sind verschieden
– wie verschieden sind sie wirklich!


Die meisten Menschen, die zum ersten Mal etwas von Farbpsychologie hören, entgegnen sofort: »Das ist ja alles furchtbar interessant, aber auf mich trifft das nicht zu, ich habe meinen eigenen, persönlichen Geschmack.« Das klingt fatal nach den stereotypen Aussagen, die man ebenfalls immer wieder zu hören bekommt:

»Die Masse mag ja so sein, aber ich bin Individualist und denke da ganz anders.«

Oder: »Die Masse reagiert eben auf Werbung, ich nicht.«

Interessant, wie sehr hier Selbstüberschätzung zugrunde liegt. Man hält sich selbst offenbar für ein einzigartiges, völlig eigenwilliges Wesen, das in seiner Entscheidung – im Gegensatz zur manipulierbaren Masse – vollkommen autonom und unbeeinflussbar ist. Individualität ist ›in‹, die Masse wird abgewertet, sie unterliegt einem unreflektierten Verhalten, mit dem man sich nicht identifizieren möchte.


Da so aber nahezu alle denken, haben wir es mit einer riesigen Menge von Menschen zu tun, die sich für Individualisten halten und in dieser Einschätzung massenhaft übereinstimmen, also letztendlich doch wieder eine Masse bilden.


Natürlich gibt es so etwas wie einen ›persönlichen‹ Geschmack, aber man darf davon ausgehen, dass er nicht einmalig auf der Welt ist, sondern viel häufiger mit dem ›persönlichen‹ Geschmack einer großen Anzahl anderer Menschen übereinstimmt, als wir in unserer Individualitäts-Sucht wahrhaben wollen.

Tests und großangelegte Befragungen geben darüber deutlich Auskunft und relativieren die Beschwörungsformel ›persönlicher Geschmack‹ erheblich, nämlich zum Geschmack einer bestimmten, überschaubaren Gruppe innerhalb der Gesellschaft.

Ferner muss man sich ernsthaft die Frage stellen, was dieser sogenannte ›persönliche Geschmack‹ eigentlich sein soll. Wenn man nämlich sein Zustandekommen genauer untersucht, stellt sich heraus, dass er lediglich die für Individualität gehaltene Mischform vieler bereits vorhandener Faktoren und Prägungen ist.

Die meisten davon sind dem ›normalen‹ Menschen gar nicht bewusst. Nehmen wir den ›persönlichen Geschmack‹ einmal analytisch auseinander:


Da finden wir zuerst die Mode, den gesellschaftlichen Geschmack, oder besser: die gesellschaftliche Ausrichtung bestimmter, klar erkennbarer Interessengruppen in der Gesellschaft. In der Wechselwirkung dazu bildet sich der ›persönliche Geschmack‹ heraus, je nachdem ob wir das, was andere tun bejahen oder ablehnen. Oft beschränkt sich dabei das ›persönliche‹ bereits auf eine Mischung von verschiedenen Elementen unterschiedlicher Moderichtungen.

Wie aber kommt Mode zustande? Auch sie fällt ja nicht vom Himmel, sondern ist Fortsetzung, Ablehnung oder Wiederaufgreifen bereits vorhandenen gesellschaftlichen Geschmacks bzw. der sich daraus ergebenden Mischformen.

Jeder Mode liegt eine gewisse bewusste oder unbewusste Symbolik zugrunde, die sich im Laufe der Zeit, sozusagen historisch, gebildet hat. Vieles dieser Symbolik, besonders die ursprüngliche Entstehungsgeschichte einzelner Symbole, liegt aber für uns heutigen Menschen im Dunkel, ja entspringt womöglich dem kollektiven Unterbewusstsein, jenem geheimnisvollen Reservoir an Menschheitsträumen und -ängsten, an Märchen, Sagen und Mythen.

Es ist in jedem Fall anzunehmen, dass all diese Vorstellungen und Empfindungen des kollektiven Unterbewusstseins auf Urerlebnissen beruhen.

Solche Urerlebnisse nennen wir Ur-Engramme, Ur-Eindrücke oder archetypische Situationen.


Um sich an ihre Wurzeln heranzutasten, bedarf es außer geschichtlicher, sozialwissenschaftlicher und psychologischer Kenntnisse eines großen Maßes an psychohistorischer Intuition.

Am Ursprung angekommen, stellen wir fest, dass wir nichts außergewöhnlich Neues verkörpern, sondern lediglich das jüngste Glied einer durch Jahrmillionen hindurch aufgefädelten Kette sind.

Gerade im Zusammenhang mit Farben und deren Wirkung auf den Menschen, stoßen wir aber auch noch auf weitere Gegebenheiten, die die Zauberformel vom ›persönlichen Geschmack‹ erschüttern – nämlich auf die physiologische Bedingtheit, also auf körperliche Reaktionen, die vom biologischen Aufbau des Menschen verursacht werden und herzlich wenig mit individueller Meinung oder Geschmack zu tun haben. Über die physiologische Wirkung der Farben wird u. a. in den einzelnen Kapiteln die Rede sein, speziell noch einmal aus medizinischer Sicht im Kapitel ›Heilen mit Farben‹.


Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Farben in der Tat – wie Lüscher es nennt – »visualisierte Gefühle« sind, oder, profaner ausgedrückt: Reizerscheinungen des Nervensystems, die je nach Veranlagung angenehm oder unangenehm wirken. Farben sind so etwas wie Resonanzkräfte, die den Menschen zum ›Mitschwingen‹ veranlassen. In ihrer Fähigkeit ›mitzuschwingen‹, in dem Maße wie ein solches Mitschwingen begünstigt, gehemmt oder gar blockiert ist – darin unterscheiden sich eigentlich die Menschen voneinander, darin äußern sich ihre Gefühlslagen und letztendlich sogar ihre Krankheiten.


Bleibt zum Schluss eigentlich nur noch eine Aussage zur Ehrenrettung des Begriffes ›persönlicher Geschmack‹: Wenn wir alle diese Faktoren wie Mode (gesellschaftlicher Geschmack), Symbolik, kollektives Unterbewusstsein, archetypische Prägung und physiologische Bedingtheit zur Beurteilung in die Waagschale werfen, so verbleibt schließlich ein einziges unberechenbares Kalkül: das individuelle Unterbewusstsein.

Auch hier kann ja ein Ur-Engramm, eine frühe Prägung zugrunde liegen, die, ähnlich der archetypischen Situation bei der Menschheitsgeschichte, tief und unbekannt in der frühen Kindheit des einzelnen Menschen verborgen ist. Einzig die tiefenpsychologische Therapie vermag darüber Auskunft zu geben, inwieweit hier möglicherweise ein prägendes Erlebnis stattfand, das in der Folge schwerwiegende Veränderungen nach sich zog.

Ein Beispiel: Wir können feststellen, dass Blau eine Farbe ist, die in allen vorgenannten Bereichen (gesellschaftlicher Geschmack, Symbolik, kollektives Unterbewusstsein, Archetypik und physiologische Bedingtheit) Kälte, Beruhigung und Sehnsucht repräsentiert. Jetzt hat sich dummerweise eine Person als Kleinkind heißes Wasser über den Körper gekippt, das aus einem blauen Kessel kam. Es liegt daher nahe zu vermuten, dass diese Person im späteren Leben (und dann unbewusst) bestimmt nicht mehr Kälte mit Blau assoziiert, sich nicht danach sehnt, etwas Blauem nahezukommen und im Gegenteil wahrscheinlich sogar im höchsten Maße beunruhigt reagiert, wenn sie mit Blau in Berührung kommt.

Hier liegt eine schwere Störung der ›normalen‹ Erfahrung vor, die im Gegensatz zu allen anderen Bereichen steht. Einzig solche Erlebnisse im persönlichen Unterbewusstsein, ungewöhnliche Verknüpfungen negierender oder übersteigert bejahender Art, vermögen nachhaltig die Persönlichkeitsstruktur in auffälliger Weise zu beeinflussen.

Ansonsten aber handelt es sich beim ›persönlichen Geschmack‹ um eine Mischung vorgegebener Grundelemente, bei dem das Ich, das Ego des Individuums, höchstens noch etwas variiert das Mosaik zusammensetzt.

Geben wir uns nicht mit einem flüchtigen Blick auf das fertige Mosaik zufrieden, betrachten wir näher und intensiver seine einzelnen Bausteine. Nicht der äußere Schein einer Sache verkörpert die Realität, sondern immer erst in der Tiefe offenbart sich das eigentliche Wesen der Wirklichkeit.

 

 

Die Farben

 

Die Farbe Rot


Nach allem was man darüber weiß, ist Rot tatsächlich die älteste Farbe der Menschheit. Wie es zu dieser Aussage kommt?

Nun, da gibt es zunächst einmal die Sprachforschung. In vielen Ländern erscheinen alljährlich sogenannte ›Hitlisten‹ der hundert oder mehr gebräuchlichsten Wörter einer Sprache. Anhand dieser Listen kann man feststellen, ob sich eine Sprache verändert, welche Wörter zum Standard gehören, welche in Mode kommen oder veralten, welches Bewusstsein die Sprache prägt.

Bei uns in der Bundesrepublik Deutschland spiegelt die ›Hitliste‹ beispielsweise deutlich wieder, dass wir noch immer im Patriarchat leben: die Wörter er, Mann, sein und Herr finden sich ganz vorn in der Rangliste des häufigen Gebrauchs, während feminine Begriffe wie sie, Frau, ihr, Dame usw. an auffallend schlechteren Positionen platziert sind. Sprache ist eben verräterisch.


Auffallend ist auch, dass unter den ersten Hundert nur eine einzige Farbe (noch vor Position zwanzig) auftaucht, nämlich Rot. Alle anderen Farben, Grün, Gelb, Blau usw. finden sich entweder auf einem Platz weit nach 100 oder überhaupt nicht in der Tabelle. Diese unangefochtene Favoritenrolle behauptet Rot nun schon so lange, wie es solche Untersuchungen gibt. Und das nicht nur bei uns, sondern in vielen Ländern und Sprachen der Erde.

Rot scheint also – wie der Philosoph Hegel einmal sagte – »die konkrete Farbe schlechthin« zu sein.

Erforschen wir den Sachverhalt weiter, steigen wir tiefer in die Sprachforschung (Etymologie: Lehre von der Herkunft der Wörter/Sprachwurzelforschung) ein, so stellen wir fest, dass Rot in der Tat in den meisten Sprachen der Erde der älteste Farbname zu sein scheint. In einigen Sprachen, wie z.B. im Russischen, ist die Bezeichnung ›Rot‹ (krassnij) sogar identisch mit ›schön‹.

Augenscheinlich muss Rot die Menschen von Anfang an beeindruckt haben. Aber was ist es, das Rot so einzigartig, so faszinierend und wichtig macht? Was muss passiert sein, wenn eine Farbe derart unauslöschlich in unser Unterbewusstsein eingebrannt ist?

Unternehmen wir einmal den Versuch, solche prägenden Urerlebnisse nachzuempfinden. Lassen wir uns ein paar Jahrtausende, oder sagen wir ruhig eine Million Jahre und mehr zurückfallen in die Frühzeit der Menschheitsgeschichte: Höhlenjäger haben einen Urbüffel gestellt. Aus mehreren Pfeil- und Lanzenwunden strömt das Blut. Er ist gereizt, zu allem entschlossen. Einen der Jäger, der ihm unvorsichtigerweise zu nahe kam, hat er mit seinen scharfen Hörnern erwischt und der Länge nach aufgerissen. Der Mann liegt stöhnend am Boden und presst die Hände auf die Wunde, als könne er so den Schwall seines Blutes aufhalten. Vergebens, von Minute zu Minute zerrinnt seine Lebenskraft.

Als endlich der Büffel durch mehrere todesmutig ausgeführte Lanzenstiche fällt, hat auch der Verletzte sein Leben ausgehaucht. Schweißnass und keuchend, aus Jagdfieber und tranceähnlicher Ekstase erwachend, stehen die Männer herum. Sie sehen ihren Gefährten reglos in einer Blutlache liegen. Sein Lebenssaft ist versickert.


Rot – die Farbe des Lebens!

›Rot wie Blut‹, ›blutrot‹ bezeichnet treffend der Volksmund. Und Goethe lässt Mephisto den Dr. Faust mit Blut unterschreiben: »Blut ist ein ganz besonderer Saft …«

Wir wissen das. Wir sind zivilisiert, wir können kein Blut sehen. Bei uns fallen viele Leute schon um, wenn es um einen einzigen Tropfen Blut bei der Blutprobe geht. Das macht die ›Kulturschranke‹. Blut vergießt man nicht. Blutvergießen ist Sünde.


Doch scheint diese anerzogene Verhaltensweise nur sehr schwach ausgeprägt zu sein: Normalerweise reagieren wir auf das Signal ›Rot‹ richtig (z.B. vor einer roten Ampel). So lange jedenfalls, bis wir ›rot sehen‹. Unter extremen Bedingungen bricht die ›Kulturschranke‹ aber schnell zusammen. Als Stichworte seien hier nur Krieg, Amoklauf, Blutrache und Blutrausch genannt, es sei an Stier- und Hahnenkämpfe erinnert, an rituelle Schlachtungen und Opferzeremonien, an religiöse Selbstverstümmelungen, Voodoo und Macumba.

Aber wir brauchen bei unseren Beispielen nicht einmal so weit ins Exotische auszuweichen. Auch hier passiert es ja beinahe täglich – wenn etwa eine sensationslüsterne Menge Schaulustiger gierig zusammenläuft, um die Unfallopfer in ihrem Blut anzustarren oder bei blutrünstigen Horrorfilmen, die bei Zehntausenden jenes unerklärliche Kribbeln erzeugen. Besonders beliebt bei Jugendlichen (als Mutprobe) sind z. Zt. Videocassetten mit Kannibalismusszenen.

Der ›echte‹ Kannibalismus hatte den Sinn, sich mit dem Fleisch und Blut des Gegners auch dessen Kraft und Stärke einzuverleiben. Im Christentum wird dieser Gedanke auf symbolische Art durch das Abendmahl fortgeführt. Man ›isst‹ den Leib (Oblaten) und trinkt das Blut (Wein) Christi, um sich im Glauben zu stärken. Sein Blut wurde ja vergossen, weil es die Kraft hat, die Sünden der Menschen wiedergutzumachen.


Aber Blut ist nur ein Aspekt. Tauchen wir noch einmal in die Vorzeit zurück. Welches Element zieht von jeher magisch den Menschen an, weil es sowohl gnadenlos zerstört und verzehrt, als auch Nahrung spendet, ebenso verbrennt wie wärmt und schützt, kurzum – alles verwandelt? Natürlich das Feuer.

Heute wissen wir, dass Herstellung, Bändigung und bewusster Einsatz des Feuers einen (vielleicht den bedeutendsten) Kulturschub beim Menschen auslöste. Und wir können es gut nachvollziehen: Rohes Fleisch verwandelt sich in Braten, eine kalte, unwirtliche Höhle in ein behagliches Heim, die gefährliche Nacht wird mittels des Feuers zum überschaubaren Tag gemacht.

Und dann noch die geheimnisvollen Veränderungen, die Feuer bewirkt: Wenn man Ockerpulver erhitzt, wird plötzlich aus einem gelben, hellbräunlichen Ton ein leuchtendes Rot, die Farbe des Blutes. Jeder kennt diesen Vorgang, der sich beim Brennen von Ziegeln abspielt. Bei den frühen Steinzeitmenschen galt gebrannter Ocker daher als heilige Farbe, mit der ganz bestimmte Stellen am Wild gekennzeichnet wurden, das sie in magischen Beschwörungsritualen an die Wände ihrer Höhlen malten (Altamira, Lascaux usw.)

Feuer hat immer einen ungeheuren Reiz auf den Menschen ausgeübt und tut es heute noch. Wer hat noch nicht am Kamin oder am Lagerfeuer gesessen und gebannt in die tanzenden, züngelnden Flammen gestarrt und sich faszinieren lassen?

Auch hier kann die ›Kulturschranke‹ schnell übersprungen werden. Wir brauchen nur an das ›Zündeln‹ und ›Kokeln‹ der Pyromanen, der ›Feuerteufel‹ zu denken, die aus krankhafter Leidenschaft heraus zu Brandstiftern werden.

Feuer ist Macht, ist entfesselte und zerstörende Leidenschaft. Wer einmal miterlebt hat, mit welcher Wut und Gewalt ein Waldbrand tobt, wird diesen Anblick wohl nie vergessen.

Ist Rot also die Farbe des Feuers!

Nicht nur das. Ein altes Sprichwort verrät, dass außer Feuer und Blut noch eine dritte Komponente im Spiel ist. Es lautet:

Rot ist die Liebe, rot ist das Blut, rot ist der Teufel in seiner Wut.


Rot also überdies noch als Farbe der Liebe

Ja, aber gewiss nicht in der stillen, platonischen Form. Hier ist eher die körperliche Seite der Liebe gemeint, Sex und Sinnlichkeit, kein heimlich schwelendes Feuer, sondern eins, das glutvoll entfacht ist und lichterloh brennt.

Über das rote Herz als einfachstes Symbol für die Liebe wurde bereits im vorigen Kapitel gesprochen. Es gibt eine Theorie über die Entstehung der Herzform selbst. So sollen nämlich die nackten Hinterteile von Frauen, die vor ihren Männern in die Höhle krochen, als Vorbild gedient haben. Ein recht derber Bezug, der aber ahnen lässt, wie handfest das Herzsymbol mit Sex und Erotik verbunden ist.

Könnten Sie sich übrigens ›gewisse Viertel‹ mit blauen oder grünen Laternen vorstellen? Nein, das rote Licht der Etablissements spricht eine deutliche Sprache, die auch ohne weitere Erklärung verstanden wird.


Fassen wir zusammen: Rot steht für die Erfahrungen mit den Urerlebnissen Blut, Feuer und Liebe.

Bevor wir uns jetzt näher mit der tiefenpsychologischen Dimension der Farbe Rot beschäftigen, sei ein kurzer Streifzug durchs Altertum und die jüngere Geschichte erlaubt, der facettenartig die weiteren Ausprägungen und Anmutungsqualitäten der Farbe ins Blickfeld rückt.

Schon in Ägypten war Rot eine kostbare Farbe, mit der sich nachweislich die Töchter der Pharaonen schmückten. Damals kam die Mode des Schminkens von Wangen, Lippen und Fingernägeln auf. Aber zu welchem Preis: Um ein wenig Purpurrot zu gewinnen, mussten Sklaven tausende von Purpurschnecken sammeln, zerstampfen und zu Sud zerkochen. Der rote Farbstoff der Schnecke stammt aus einer kleinen (Sexualhormon-)Drüse.

Auch im alten Rom fand die auffallende Farbe Anklang. Aber nur sehr wenige Reiche konnten sich den teuren Farbstoff leisten. Zuerst war es allein dem obersten Senat vorbehalten, eine rote Toga zu tragen. Später wurde das auch in wohlhabenden Kreisen üblich.

Die Purpurherstellung im römischen Reich war einer eigenen Zunft vorbehalten, die strenger staatlicher Überwachung unterworfen und zur Wahrung ihres Berufsgeheimnisses verpflichtet war. Wenn man sich vorstellt, dass über zehntausend Schnecken notwendig waren, um nur ein Gramm zu gewinnen, und das Färben von einem Kilo Wolle nach heutigen Maßstäben etwa 7000 Euro kostete, so wird deutlich, welch kostbaren Luxus der Purpurfarbstoff bedeutete.

Nachdem die Purpurfärberei einen regelrechten Boom erlebte und verschiedene Städte (z.B. Tarent) zu Wohlstand und Ansehen brachte, geriet das Herstellungsrezept langsam in Vergessenheit.

Die Kaiser von Byzanz unterschrieben ihre Briefe und Urkunden noch mit purpurroter Tinte (heute kennen wir dies nur noch von der roten Tinte, mit der Lehrer Fehler korrigieren).

Nach dem Zusammenbruch des römischen Reiches aber kam die Purpurverwendung vollends aus der Mode. Rot fand erst sehr viel später wieder massenhaft Einsatz durch die Krapp-Pflanze (Altrot oder Türkischrot genannt, heute, künstlich hergestellt, als Krapp-Lack bekannt).

Lange Zeit hindurch war Rot das deutliche Zeichen von Macht und Gewalt. Scharfrichter trugen die rote Robe, Kardinäle und Könige den roten Mantel als Zeichen dafür, dass sie Herren über Leben und Tod waren.

Rot war auch die Farbe von Mars, dem römischen Kriegsgott. Die rote Fahne, die sogenannte ›Blutfahne‹ wurde zuerst im römischen Heer eingesetzt. Wenn sie aufgezogen wurde, war dies das Signal für den Angriff: Blut würde fließen.

Später, in der französischen Revolution, tauchten die roten Fahnen massenhaft auf als Symbol des gewaltsamen Umsturzes. So ist es bis heute geblieben. Man kann sich auch schlecht ein Heer von blauen, grünen oder bunten Fahnen vorstellen. Im Wind flatternde rote Banner aber sehen wie züngelnde Flammen aus, erregen den Betrachter und erzeugen ein kollektives Gefühl von Gewalt und Entschlossenheit.

Die Farbe Rot als Symbol der Besitzergreifung manifestiert sich in vielen Wappen und Fahnen. Von 97 Staaten enthalten (nach W. Köhler) 77 Flaggen Rot. Bei 21 Fahnen ist Rot sogar die Grundfarbe. Das bedeutet nun keineswegs, dass all diesen Staaten revolutionäre Gesinnung gemein wäre. Vielmehr wird hier bewusst Rot als Farbe der vereinigten Massen eingesetzt.

Wir wissen, wie Rot auf größere Menschenansammlungen wirkt. Wir brauchen dabei nur an den Stierkampf zu denken und an Fußballmannschaften in roten Trikots, denen man besondere Kampfkraft, Aktivität und Dynamik nachsagt. In beiden Fällen werden mit der Farbe vorrangig die Zuschauer angesprochen, stimuliert und in gesteigerte Erregung versetzt.

Beim Fußball scheint eine intensive Wechselbeziehung zwischen Zuschauern und Spielern zu bestehen. ›Rot fordert Applaus heraus. Durch die unterschwellige Wirkung der Farbe hat der Fan im Stadion schnell die Entscheidung getroffen: Das sind die Stärkeren. Das sind Gewinner-Typen. Die Folge: Den Roten wird schon bei kleinen Erfolgen Beifall gespendet, selbst dann, wenn die Mannschaft auswärts spielt. Das Wohlwollen des Publikums wiederum ermutigt die Spieler und spornt sie zu Höchstleistungen an, was dann wieder mit verstärktem Beifall belohnt wird. Daraus entwickelt sich ein ähnlicher Vorteil wie bei einem Heimspiel.‹ (Lüscher)

Goethe (der nicht nur Dichter, sondern auch empirisch forschender Farbwissenschaftler war) bezeichnet den Eindruck von Rot in seiner ›Farbenlehre‹ so: »Die Wirkung dieser Farbe ist so einzig wie ihre Natur. Die aktive Seite ist hier in ihrer höchsten Energie, und es ist kein Wunder, dass energetische, gesunde, rohe Menschen sich besonders an dieser Farbe erfreuen.« Damit wird bereits viel über den Charakter der Farbe ausgesagt.

So vielgesichtig und ›laut‹ wie das Leben selbst, war und ist die Wirkung der Farbe Rot auf den Menschen: Im alten China war Rot die Glücksfarbe, die Krankheiten und böse Geister vertrieb und galt zugleich als Farbe des Reichtums. Noch heute stellt ein rotgesichtiger Mann im chinesischen Theater eine heilige Person dar. Aus der jüngsten Vergangenheit kennen wir die Roten Garden der Kulturrevolution unter Mao.

Rothaarige hingegen hatten in vielen Kulturen zu leiden: im alten Ägypten wurden sie für die Unfruchtbarkeit des Ackers verantwortlich gemacht und getötet. Im christlichen Abendland (mit Ausnahme vielleicht von Irland) galten rothaarige Frauen als Buhlinnen des Teufels, der sie ›mit seiner Höllenfarbe gezeichnet hatte‹. Im Orient hingegen, auch in Indien, färben sich noch heute viele Leute die Haare aus Schönheitsidealen mit Henna rot.

Rote Farbtöne wurden von vielen Indianerstämmen zur Dämonenbeschwörung benutzt. Beim Geistertanz wurden die Gesichter rot gefärbt. Vom Medizinmann verteilte rote Gegenstände wie bemalte Knochen, Steine und Tücher galten als glücks- und gesundheitsfördernde Talismane.

Auch bei den Papua in Neu-Guinea, die für uns deshalb so interessant sind, weil sie zum Teil heute noch in Steinzeitverhältnissen leben, gilt Rot als Glücksfarbe.

Die Ureinwohner Neuseelands, die Maori, strichen die Häuser der Häuptlinge und ihre Kriegskanus rot an. Zu bestimmten feierlichen Anlässen wurden sogar die Körper der Häuptlingsfamilien in rote Farbe getaucht.


Im europäischen Mittelalter wurde Rot zum politischen Zankapfel: Während der Bauernkriege wurde als äußeres Zeichen der Gleichberechtigung erbittert um die Forderung gekämpft, dass jedermann eine rote Schaube (damals weitverbreitetes Kleidungsstück, ein vorn offener Mantel) tragen dürfe. Dieses Privileg war bis dahin ausschließlich den Reichen vorbehalten.

Immer häufiger wurde nun Rot als Symbol des politischen Radikalismus eingesetzt. Ob es in der französischen Revolution die roten Mützen der Jacobiner waren (die der Kopfbedeckung der Galeerensklaven nachempfunden waren), oder die roten Fahnen, die roten Hemden von Garibaldis italienischen Freischärlern oder heute die roten Nelken im Knopfloch – stets wurde und wird der Signalcharakter der Farbe richtig verstanden: Als aktive Entschlossenheit für ihre Träger und Provokation für den politischen Gegner. Den aktuellsten Bezug auf höchster Ebene stellt wohl das ›rote Telefon‹ dar, eine Einrichtung, die über den sogenannten ›heißen Draht‹ zwischen Washington und Moskau über unser aller Leben und Schicksal entscheiden kann.


Es ließen sich hier noch endlos Beispiele aufzählen, bei denen sich der typische Charakter der Farbe Rot wie ein ›roter Faden‹ durch die Geschichte zieht, doch würde dies den Rahmen des Buches sprengen. Beschränken wir uns daher auf diese Übersicht und wenden wir uns stattdessen lieber einem anderen wichtigen Erfahrungsbereich zu.

Die Farbenlehren von Malerei und Design schreiben Rot folgende Eigenschaften zu: Kraft, Lebensfreude, Dynamik. Rot drängt sich auf ohne jede Zurückhaltung, vermittelt Wärme, Wohlwollen und sogar Charme. Die Farbe lässt sich eher dem männlichen als dem weiblichen Prinzip zuordnen (nach C. G. Jung), eher einem jüngeren als einem älteren Menschen, mehr dem Ex- als dem Introvertierten, vom Temperament her eher dem südlichen als dem nördlichen Lebensraum. Rot zieht den Blick an, ob man will oder nicht. Die Farbe erhält dadurch einen ausgesprochenen Signalcharakter, der nicht nur bei Verkehrsschildern (alle Verbotsschilder sind rot), sondern auch besonders in der Werbung eine entscheidende Rolle spielt.

Rot suggeriert kraftvolle Gesundheit, Energie, Zuversicht und Leistungsfähigkeit. Es ist eine Farbe, die den Appetit reizt (auch auf Geschlechtliches) und im Verpackungsdesign gern für süße, aber auch scharfe und würzige Produkte eingesetzt wird.

Bei Tests mit sogenannten ›Schnellgreifbühnen‹ (der Vorhang öffnet sich nur kurz, in Sekundenschnelle muss die Testperson spontan die ›richtigste‹ Packung aus dem Angebot herausgreifen) wird immer wieder festgestellt, dass Rot (neben Orange) in kürzester Zeit die größte Aufmerksamkeit auf sich lenkt.


Ein Beispiel aus der Anzeigenwerbung: Drei völlig gleichlautende Textanzeigen für Waschmittel unterschieden sich nur in der Farbgebung der jeweils klein abgebildeten Packung (Rot, Blau, Gelb). Dieser Unterschied führte zu völlig voneinander abweichenden Reaktionen. Die Anzeige mit der roten Packung wurde als ›informierend, aktuell, modern, glaubwürdig (! ), etwas Neues bietend, wissenschaftlich, technisch, interessant, lebhaft, frisch, attraktiv, jung und konkret‹ beurteilt. Die Anzeige mit der blauen Packung wurde als ›zu langweilig und diskret‹, die mit der gelben als ›zu schwach‹ eingeschätzt (nach Favre und November).

 

Nun ist es aber wichtig, an dieser Stelle auf folgende grundlegende Kriterien hinzuweisen:

1. Selten steht eine Farbe völlig allein für sich da. Meistens handelt es sich um Kombinationen verschiedener Farben, die sich gegenseitig harmonisch ergänzen (Farbharmonie/Farbakkordik) oder im Gegensatz (Farbkontrast) verstärken. Schwarz z.B. erhöht die Wirkung von Rot erheblich, Gelb macht sie noch wärmer, dynamischer, mitteilsamer und kommunikativer, Grün-Blau setzt einen krassen Kontrast dazu, der Rot wie aufgepeitschtes Feuer wirken lässt.

2. Keine Farbe lässt sich in die Schablonen ›gut‹ oder ›schlecht‹ pressen. Das ganze Spektrum der Anmutungsqualitäten einer einzigen Farbe bewegt sich vielmehr zwischen gegensätzlichen Polen. Im Fall von Rot kann sich dies z.B. von absolut lebensverneinend (Aggression, Tötungssignal, Blutrausch) bis hin zu absolut lebensbejahend (Vitalität, Liebe, Gesundheit) bewegen. Bei der Farbe Rot lässt sich also nur der generelle Charakter (nämlich Erregung) feststellen, der sich in verschiedenartigen Ausprägungen manifestieren kann.

3. Rot ist kein spezieller Farbname, sondern eine sehr allgemeine Bezeichnung (ein Begriff wie ›Sport‹ etwa), die mannigfaltige Abtönungen, Nuancen und Unterscheidungen zulässt.

Mit zunehmender Verdunkelung wird Rot tiefer und prahlerischer. Mit zunehmender Aufhellung temperamentvoller, fröhlicher und phantasievoller.

Purpurrot dagegen wirkt streng, traditionell, reich, mächtig und strahlt Würde aus. Es ist die Farbe der Inkarnation, das Symbol des Väterlich-Göttlichen, das ›kalte‹ Rot der Kardinäle – im Gegensatz zum lauten, heißen und aktiveren Feuerrot. Die unmittelbaren Assoziationen zu Purpurrot sind: erhaben, mächtig, würdig, König, Richter, Amt, Anspruch, Feierlichkeit, pompös und wertvoll.

Je stärker der Gelb- bzw. Orangeanteil am Rot ist, desto aufreizender wirkt es.

Ein Blauanteil bis hin zum geheimnisvollen Violett und Lila verändert die Anmutungsqualität völlig (siehe Kapitel Violett). Je mehr das Rot ins Bräunliche übergeht, desto stärker werden die ›Erregung‹ zur ›Beruhigung‹, das ›aufregende Lodern‹ zur ›gemütlichen Wärme‹. Ein warmes Bordeaux-, Burgunder- oder Rostrot besitzt kaum noch typische Eigenschaften von Rot, hat dafür aber bereits viele Wesenszüge der Farbe Braun (siehe Kapitel Braun). Rosa wird von vielen Malern als scheu, süßlich, romantisch verspielt und weich eingeschätzt. Es mangelt dem Rosa an Vitalität, es ist eher schüchtern und zart, sanft und intim. Rosa wirkt mehr nach innen als nach außen und wird daher ebenso von introvertierten Menschen bevorzugt, wie es die mütterliche Fürsorge anregt. Die unmittelbaren Assoziationen sind: zart, scheu, jungmädchenhaft, süß, süßlich, duftend, fein, leise, mild, Unterwäsche, Frühlingsblüten, Ballett, Kosmetik.

Man wird sich wohl kaum eine Demonstration mit rosa Fahnen, einen Boxer mit rosa Handschuhen oder beim Stierkampf einen Torrero mit rosa Tüchlein vorstellen können.

Verpackungsdesign und Werbung haben sich die Anmutungsqualitäten von Rosa zu eigen gemacht und nutzen sie, wenn es um Fürsorge und Zärtlichkeit, Körperpflege und Babyartikel, sanfte Waschmittel (z.B. Weichspüler) und betont ›unaggressive‹ Medikamente geht.


Wir stellten fest, dass die physiologische (also körperbezogene) Wirkung der Farbe Rot Erregung ist. Alle Vorgänge im Körper werden angeregt und beschleunigt, das vegetative Nervensystem direkt beeinflusst. Um diese Vorgänge zu begreifen, sollten wir uns einen kleinen Abstecher auf das Gebiet der Medizin erlauben:

Das Nervengeflecht des Menschen stellt ein kompliziertes, voneinander abhängiges und nach Gleichgewicht strebendes Regelsystem dar, das von zwei Hauptnerveneinheiten gesteuert wird – dem Vagus und dem Sympaticus.

Der Nervus Vagus hat eine beruhigende, der Nervus Sympaticus eine erregende Funktion. Beide zusammen veranlassen im wohl aufeinander abgestimmten Wechselspiel alle automatischen Körperfunktionen, wie Atemtätigkeit, Verdauung, Pulsfrequenz, Blutdruck, Schweißsekretion usw.

Bei Gefahr und außergewöhnlichen Belastungssituationen übernimmt der Sympaticus die Steuerung, schüttet verstärkt Hormone aus (z.B. Adrenalin) und versetzt den Körper so in erhöhte Alarmbereitschaft. Wir nennen diesen Vorgang allgemein Stress. Ist die Gefahr vorüber, so sorgt der Vagus dafür, dass der Organismus wieder auf ein normales, ausgeglichenes Niveau zurückpendelt. Rot scheint also unmittelbar den Sympaticus anzusprechen und den Körper Stressartig in Erregung zu versetzen.

Man hat beobachtet (Nienstedt), dass körperliche Reaktionen auf Farben nicht unbegrenzt lange anhalten. Nach einem anfänglichen Anstieg der Erregung (durch Rot) normalisieren sich die körperlichen Funktionen allmählich wieder. Offenbar kann man sich also selbst an extreme Farbreize gewöhnen und anpassen.


Wenn eine Farbe dazu in der Lage ist, so deutliche Körperreaktionen (wie Stress) auszulösen – wie muss es dann erst um die psychische Wirkung bestellt sein?

Prof. Max Lüscher (der Erfinder des gleichnamigen Farbtests) u. a. kommen zu folgender Einschätzung: Rot bedeutet Aktivität. »Wird die erregende Sinnesempfindung des Rot vom subjektiven Gefühl als lustvoll bejaht, gilt Rot als kraftvolle Stärke. Wer Rot bejaht, empfindet sie als stimulierend, aktivierend, als Erobern und expansives Begehren. Rot ist Appetit in all seinen Erscheinungsformen, von der brünstigen Liebe bis zur gierigen Bemächtigung … Rot entspricht der aktiven Seite der Macht: der Eroberung.« Damit entspricht Rot also dem uneingeschränkten Selbstwertgefühl, dem Vertrauen in die eigene Stärke und dem eigenen Durchsetzungsvermögen.

Wird Rot jedoch abgelehnt, so wird es als aufregend und quälend eingeschätzt. »Dann wird seine Stärke als Bedrohung empfunden, bewirkt Rot Überreizung und Ekelgefühl, also genau das Gegenteil des reizenden Appetits« (Lüscher).

 

Mittlerweile findet der Lüscher-Farbtest seit etwa vierzig Jahren Verwendung – in so unterschiedlichen Bereichen wie Experimentalpsychologie, Medizin, Verpackungsgestaltung und Werbung. Viele Einsatzformen mit zum Teil recht interessanten Ergebnissen sind seitdem bekannt geworden. Um nur einige stellvertretend im Telegrammstil aufzuzählen:


Frauen, deren bevorzugte Farbe Rot war, lehnten während der Schwangerschaft plötzlich Rot entschieden ab (H. Klar) und wählten stattdessen Gelb, Blau und Grün. Sie wünschten sich ›Lösung von Spannung‹, hofften, dass die Erwartungen in Erfüllung gehen (H. Klar).

Auch in Spannungssituationen vor Examen und Prüfungen wird Rot deutlich verdrängt und durch seinen Gegenpol Blau ersetzt. Ebenso verhielten sich europäische Rückwanderer aus dem Krisengebiet Vietnam an Bord eines Schiffes (Klar) und Kriegsgefangene, die jahrelang hinter Stacheldraht und in lebensbedrohlichen Situationen leben mussten (Paul).

Raucher sogenannter ›starker‹ Zigaretten bevorzugen Rot dagegen auffallend. »Hier scheint der Reiz des Rauchens als Abwehr gegen Erschlaffung eingesetzt zu werden.« (Lüscher) Kaffeetrinker beurteilen den gleichen Kaffee aus einer blauen Kanne als mild, aus einer braunen als zu stark und aus einer roten als aromatisch und kräftig (Favre/November).


Sensible, leicht introvertierte Menschen schreckt das brutal deutliche Rot hingegen eher ab. Die Optimisten unter ihnen geben zu, alles etwas schöner zu sehen, als es eigentlich ist – sie betrachten die Welt durch eine ›rosarote Brille‹. Man könnte auf diesem Gebiet spielend eine Vielzahl weiterer Beispiele auflisten. Doch macht die Übersicht bereits deutlich, welche Charaktereigenschaften die Farbe Rot besitzt, bzw. anspricht, und wie sie auf die menschliche Psyche wirkt.


Fassen wir zusammen:

Rot ist die aktivste und attraktivste Signalfarbe, fällt sofort ins Auge und will auch gesehen werden, entspricht psychologisch dem Willensmenschen, dem leicht erregbaren Choleriker, steht symbolisch für kraftvolle Männlichkeit, Eroberung, Macht und Herrschaftsanspruch.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752118445
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Oktober)
Schlagworte
Design Psychosomatik Symbolik Psychologie Farblehre

Autor

  • Harald Braem (Autor:in)

Harald Braem, 1944 in Berlin geboren. Studien: Visuelle Kommunikation, Psychologie und Marketing. Bei Young & Rubicam im Team der lila Milka-Kuh; als Creative Director bei Compton/Saatchi & Saatchi für internationale Werbekampagnen verantwortlich.