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Der Stern von Erui: Heimkehr

von Sylvia Rieß (Autor:in)
530 Seiten
Reihe: Der Stern von Erui, Band 1

Zusammenfassung

Neuauflage 2021 Eine totgeglaubte, junge Frau taucht vier Jahre nach ihrem Verschwinden plötzlich wieder auf. Es gibt keine Hinweise, wo sie gewesen ist. Selbst die Polizei kann nur vermuten, wer sie so grausam misshandelt hat. Wie weit diese Vermutungen allerdings von der Wahrheit entfernt liegen, wird allen klar, als der Atem der Dunkelheit zum Leben erwacht. Die Yar’Ukthairi sind Fenia über die Grenzen gefolgt. Wenn sie sich und ihre Freunde retten will, muss sie ihr Schweigen brechen und die magischen Schleier erneut öffnen. -Die Reise beginnt mit der Heimkehr.-

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Nebel

1.

Bleiern und schwer hingen Daves Gedanken in der Luft wie die Nebelschwaden, die mit jedem anbrechenden Tag vom Ufer des Flusses durch die Wiesen heraufgekrochen kamen. Sie klopften mit feuchten, kalten Fingern an die Scheiben der Terrassentür, krochen bis hinauf zum Balkon des Schlafzimmers im ersten Stock und riefen ihn wach. Zuverlässig. Jeden Morgen.

Er löste sich aus der Umarmung seiner Frau, die wie immer im Tiefschlaf neben ihm lag, ihr Gesicht an seine Schulter gelehnt. Ein Griff zum Morgenmantel und leise wie ein Dieb in der Nacht huschte er aus dem Zimmer.

Die Kinder waren nicht da. Ihre Türen standen offen. Kevin war zum Studieren weggezogen. Daran würde Dave sich noch gewöhnen müssen. Sara war mit einer Freundin nach Frankreich gefahren. Sprachreise. Übermorgen kam sie wieder. 20.30 Busbahnhof. Nicht vergessen!

Die alten Holzstufen knarrten unter seinen Schritten, erinnerten ihn daran, dass sie gerichtet werden sollten, schon seit sie vor fünfzehn Jahren in dieses Haus eingezogen waren.

„Im nächsten Frühjahr ist es das Erste, was ich mache.“ Jedes Neujahr derselbe Satz. Seit fünfzehn Jahren.

Wenige Schritte noch, dann stand er an der Tür. Die Sonne begann gerade, hinter der Biegung des Flusses aufzugehen. Sie schickte ein diffuses, goldenes Glitzern durch die nassen Nebelfetzen und ließ die knorrigen, alten Apfelbäume zwischen den dünner werdenden Schleiern wie grotesk verkrümmte Riesen emporragen. Ein pelziges Etwas huschte durch die krummen Zweige von Baum zu Baum. Vielleicht ein Eichhörnchen oder eine zierliche Katze? Ein Kauz schrak auf, als das wuselnde Ding seinen Zweig erreichte, und verschwand im nächsten Augenblick ebenfalls als verschwommener Schatten in den Tiefen des Nebels.

Die Eule, die am nahen Waldrand wohnte, ließ ihren letzten Ruf erklingen, bevor sie sich zur Tagesruhe begab, und die Rehe auf der großen Wiese hoben alarmiert den Kopf. Lange würde ihr Frühstück jetzt nicht mehr dauern.

Dave trat mit demselben ehrfürchtigen Staunen auf die Stufen der Veranda wie jeden einzelnen Morgen der vergangenen fünfzehn Jahre und betrachtete das Schauspiel des erwachenden Tages. Dafür hatte er die alte Mühle am Rand des winzigen Dorfes damals überhaupt gekauft. Er liebte die Einsamkeit, auch wenn seine Kinder ihn deswegen ab und an verfluchen mochten. Diese morgendliche Stille, die nur bei Regen ausblieb, war für ihn die beste Zeit des Tages. Die Welt selbst deckte sich dann für eine Weile zu. Sie hielt den Atem an und lauschte, lauschte den vielen Geschichten, die sie schon erlebt hatte, und denen, die sich gerade anbahnten.

Vor langer Zeit, in einem anderen Leben, als er noch kein braver Ehemann und Familienvater gewesen war, hatte einmal jemand zu ihm gesagt: „Der Morgennebel nimmt allem, was lebt und in Bewegung ist, die Sicht auf die Welt. Sogar die Zeit, die immer rastlos und ruhelos ist, wird für einen Augenblick blind und hält an, um ihren Weg nicht zu verfehlen. In dieser Stunde ist alles auf einmal da - das Gestern, das Heute und das Morgen; und wer fähig ist, still und bewegungslos zu werden und zu horchen, der erhascht so manches Mal einen Blick darauf.“

Ein Lächeln flog bei der Erinnerung an vergangene Zeiten über sein Gesicht, bis eine Parkettbohle hinter ihm knarrte, und das Geräusch ihn herumfahren ließ.

„Na, hat der frühe Vogel schon etwas gefangen?“ Verschlafen tappte seine Frau durch das Wohnzimmer in die Küche. „Wenigstens Kaffee hättest du anschalten können.“

Schranktüren wurden mit lauterem Klappern als notwendig geöffnet und jedes weitere Geräusch aus der Küche verriet Caitlins Unmut. Dave versuchte, sich davon nicht ablenken zu lassen, sah der Sonne dabei zu, wie sie die letzten hartnäckigen Schleier aus den Ästen der Bäume fegte und sie wie tanzende Nymphen in die Luft trieb.

„Wo sind denn die neuen Papierfilter?“

„Hab’ gestern vergessen einzukaufen!“

„Och Dave!“

Schuldbewusst zu Boden blickend, wandte Dave sich endgültig von dem einmaligen Schauspiel vor seinem Haus ab und schlurfte, nun ebenfalls gähnend, in Richtung Küche. Da nahm er aus den Augenwinkeln plötzlich Bewegung im Garten wahr. Einen Moment zu spät trat er zurück an die Tür. Hatte er sich das nur eingebildet?

Seine Augen wollten ihm weismachen, eine menschliche Gestalt draußen im Nebel gesehen zu haben. Sie war mit den letzten grauen Schwaden plötzlich zwischen den Bäumen aufgesprungen und in Richtung Wald davon geeilt.

„Dave! Hörst du mir überhaupt zu?“

Caitlin stand mit den Händen in der Hüfte in der Wohnzimmertür und funkelte ihn wütend an. Er warf noch einmal einen Blick über die Schulter. Nichts zu sehen.

„Du solltest doch mittlerweile jedes verdammte Blatt in diesem Garten mit Namen kennen! Was ist denn so schwer daran, sich einmal davon loszureißen und mir wenigstens zuzuhören? Du warst gestern nun mal mit Einkaufen dran. Ich habe dir den Zettel extra noch an die Pinnwand gehängt; und wo finde ich ihn grade?! Kannst du dich nicht einmal wie ein normaler Mensch benehmen? Ich verstehe ja, dass ich mir darüber hätte Gedanken machen können, als ich mich entschieden habe, einen Schriftsteller zu heiraten. Aber auch geistige Koryphäen müssen essen und trinken und aufs Klo gehen, und ohne Klopapier wird zumindest das ziemlich unangenehm.“

Er kannte ihre Schimpftiraden und wusste, es war am besten, sie einfach über sich ergehen zu lassen. Er würde sich in einer Stunde ins Auto setzen, die zehn Kilometer zum nächsten Supermarkt fahren, ihr einen Strauß Blumen vom Geschäft direkt gegenüber mitbringen, und dann würde sich ihre Laune schon wieder bessern.

Er konnte sich noch an Zeiten erinnern, in denen sie nicht so gereizt gewesen war. Doch der berufliche Erfolg innerhalb der letzten vier Jahre, die Teilhaberschaft an der Kanzlei und der dadurch bessere Verdienst, hatten nicht nur Caitlins Zeit stetig weniger werden lassen. Auch die Tage, an denen sie gute Laune hatte, waren selten geworden. - So war das eben, wenn man im Leben etwas erreichen wollte. Es konnte nun mal nicht jeder das Leben eines verträumten Autors mittelalter-licher Kriminalromane leben.

Noch viel früher, als er Caitlin nicht einmal gekannt hatte, hätte auch er sich sein jetziges Leben nicht in seinen abwegigsten Träumen vorstellen können. Niemals hätte er geglaubt, dass er einmal eine Frau treffen würde, die unbedingt arbeiten gehen wollte, die Hosen trug und einem gestandenen Kerl wie ihm die Meinung geigte. Nicht im Entferntesten hätte er daran gedacht, dass er einer solchen Frau jemals einen Heiratsantrag machen würde - und erst recht nicht, dass sie ihn beim ersten Mal ablehnen würde!

Sein Leben war klar gewesen. Gerade. Dass es Aufs und Abs gab, hatte sein Vater ihn gelehrt. Nur von den vielen versteckten Seitenwegen, auf die das Leben einen führte, von dem Links und Rechts des Wegrandes hatte er nie gesprochen.

Ob es sich so allerdings besser oder schlechter lebte, vermochte Dave selbst nach zweiundvierzig Jahren noch nicht zu beurteilen. Er lebte anders, als er es wohl getan hätte, wenn er zu Hause geblieben wäre.

Während er vor sich hin sann und achtlos etwas Honig neben sein Brötchen tropfen ließ, wanderten seine Gedanken zu seinem Vater und seinem Bruder und zu dem gefälschten Ausweis auf den Namen ‚David Vindour’ in seinem Portemonnaie, auf dem sein ganzes Leben hier begründet lag.

2.

„Fenni? Darf ich reinkommen?“

Auf ein zögerliches „Hmh“ hin streckte Yvonne zunächst ihren braunen Lockenschopf durch einen Türspalt und suchte Blickkontakt mit der Freundin. Als diese den Kopf in ihre Richtung hob und schließlich nickte, schob sie die Tür ganz auf und trat ein. Fenia nahm die Kopfhörer des Mp3-Players aus den Ohren.

„Hey, schön, dass ich dich mal hier treffe. Meistens bist du ja nicht zu Hause, wenn ich klingel. Immer unterwegs, was? - Wie früher.“

Fenia nickte. Eine peinliche Stille trat ein.

„Du, wir wollen heut’ Abend ins Twentyfour, ein bisschen plaudern, ein bisschen chillen. Ich wollte fragen, ob du vielleicht mitkommen magst.“

„Wer ist denn wir?“

„Nina, Lena, Daniel, Alex und mein Bruder Jan. Der ist aus Berlin da. Die Üblichen halt. Wir wollten mal wieder mit der Clique um die Häuser ziehen, wie in alten Zeiten. Wir sehen uns ja auch nicht mehr so oft, seit die Jungs arbeiten gehen.“

Fenia schwieg. Ihr war nicht nach Um-die-Häuser-ziehen. Gar nicht. Allerdings war ihr auch nicht danach in ihrem Zimmer zu sitzen und wieder einen Abend allein vor sich hin zu brüten. Sie wischte sich mit der Linken über die Augen. Die Müdigkeit ließ sich dadurch jedoch nicht vertreiben.

„Ja, vielleicht komme ich heute Abend mit. Ich mag mich jetzt nur noch ein wenig hinlegen.“ Ihre Stimme kam Yvonne leise und irgendwie kraftlos vor. Fenia war blass und mager. Aber kein Wunder nach allem, was passiert war.

„Okay, ruh’ dich noch ein bisschen aus. Ich komm dann so um sieben vorbei. In Ordnung?“

Fenia nickte. Ihr fielen schon wieder die Augen zu.

Nur einen Augenblick später klopfte es bereits wieder an ihrer Zimmertür. Schlaftrunken hob sie den Kopf und rief: „Herein!“.

„Hab’ ich dich etwa geweckt?“

Es war wieder Yvonne und unten aus dem Wohnzimmer drangen die Stimmen von Nina und Jan zu ihr herauf.

„Du hast doch nicht bis jetzt geschlafen?“

„Doch. Wie spät ist es denn?“ „Viertel nach.“ „Nach was?“ „Sieben.“

Fenia rappelte sich auf und schaute auf den Wecker. Tatsächlich! Sie hatte den ganzen Nachmittag verschlafen, ohne auch nur ein bisschen ausgeruhter zu sein als zuvor.

„Komm, die anderen warten schon.“ Energisch zog Yvonne sie auf die Füße und betrachtete sie dabei von oben bis unten. Während sie anschließend in Fenias Kleiderschrank tauchte, versuchte sie, die gedrückte Stimmung mit ein paar Späßen aufzuhellen.

„Hey schau mal, das hattest du an, als du dich vorm Kino mit Martin so in den Haaren hattest“, lachte sie und hielt einen hellen Pulli mit einem goldgelb glitzernden Einhorn-Motiv in die Höhe.

Fenia versuchte zu lächeln. In ihrem Kopf drehte sich alles. Es kostete sie im Moment bereits all ihre Kraft, auf den Füßen zu bleiben. ‚Martin‘, wirbelte es durch ihre Gedanken.

„Also dein Kleiderschrank ist ’ne Katastrophe. Wir sollten mal zusammen shoppen gehen. Die meisten Sachen da drin sind mindestens fünf Jahre alt.“

„Ja. Ich kam in der letzten Zeit nicht so oft zum Einkaufen“, entfuhr es Fenia gereizt. Im selben Moment tat ihr der bissige Unterton in der Stimme aber auch schon wieder leid. Sie wollte Yvonne keine Vorwürfe machen. Sie versuchte wirklich ihr Bestes. Trotzdem schaute die Freundin betreten weg.

Nach einigem Hin und Her und einer vehementen Weigerung Fenias, sich in irgendetwas mit der Farbe schwarz stecken zu lassen, trug sie schließlich ein paar dunkelblaue Jeans und einen weißen Rollkragenpullover mit halblangen Ärmeln.

„So, und jetzt müssen wir noch das Unkraut auf deinem Kopf bändigen. - Wann hast du die zuletzt gekämmt?“

Yvonne deutete anklagend auf das lange, früher immer glänzende Haar, das im Augenblick in alle Richtungen von Fenias Kopf ab stand. Wortlos ließ Fenia sich ins Bad schieben.

„Was hättest du denn gern?“ „Mach einfach einen Zopf draus.“ „Nee, wie langweilig. Wir gehen heute aus. Jetzt lass dich mal nicht so hängen.“

Trotz ihrer forschen Worte verrieten Yvonnes Gesten und Gesichtszüge nur allzu deutlich, wie überfordert sie mit der ganzen Situation war. Fenia nahm ihr das nicht übel. Sie war es ja selbst. Sie wusste, sie hatte sich die ganze Zeit, die sie fort gewesen war, nichts sehnlicher gewünscht, als wieder heimzukehren. Jetzt war sie es, doch es fühlte sich einfach nur fremd an.

Yvonne zupfte ein bisschen hier und da an ihrer dunkelblonden Mähne herum, bis sie schließlich „Et voilá!“ rief und Fenia vor den Spiegel zerrte. Die achtete allerdings nicht auf das, was die Freundin ironisch Kunstwerk nannte. Sie sah bloß das Schreckgespenst mit der fahlen Haut. Unter ihren Augen lagen tiefe Ringe, die von den vielen schlaflosen Nächte der letzten Zeit erzählten. Die Wunden im Gesicht waren größtenteils abgeheilt. Bloß ganz feine, dünne Narben waren an der Stirn und am Hals noch zu erkennen. Sie würden mit der Zeit völlig verblassen. Nur die aufgerissenen Male, wo die Ketten um ihre Handgelenke gelegen hatten, waren immer noch deutlich da. Sie heilten fast gar nicht.

„Vielleicht sollte ich doch lieber was mit langen Ärmeln anziehen.“ Sie rieb sich über die dunklen Verfärbungen und schorfigen Krusten.

„Ach, Quatsch. Da drin ist dunkel. Das fällt sicher keinem auf. Ich finde, du siehst hübsch aus.“ Fenia seufzte leise.

Keine zehn Minuten später saßen sie in Jans Passat. Nina auf dem Beifahrersitz, Fenia und Yvonne hinten. Sie unterhielten sich hauptsächlich über Jans Chemiestudium, weil Nina selbst überlegte, sich nach dem Abi dafür einzuschreiben.

„Wie sind denn die Profs so? Wie Lehrer?“

„Nein, schlimmer!“ Jans Lachen war herzlich. Während er erzählte, schaute er immer wieder in den Rückspiegel und zwinkerte Fenia zu, woraufhin sie jedoch den Blick abwandte und aus dem Fenster stierte. Das Gespräch der anderen ließ sie dabei an sich vorbeiplätschern.

Es war so ungewohnt. Yvis großer Bruder war zwei Jahrgänge über ihnen gewesen. So wie die Jungs aus ihrer Clique von damals. Daniel, Alex, Joe und ja, … ja, und auch Martin. Allerdings hatten Jans Freunde die vier Motorradfuzzis, wie sie bei ihnen abschätzig hießen, nie leiden können. Diese Zeit schien länger her zu sein als bloß vier Jahre. Ein ganzes Leben wie Fenia empfand. Damals waren sie Schüler gewesen. Ihre größten Probleme waren die nächste Klassenarbeit oder welcher Popstar auf Platz eins der Charts rangierte. Wenn sie der Unterhaltung gerade allerdings auch nur einen Moment Aufmerksamkeit schenkte, dann stellte sie fest, dass sich daran für die anderen nicht viel geändert hatte. Anders als für sie.

„Welche Leistungsfächer hast du eigentlich, Fenni?“, fragte Jan plötzlich und riss sie aus ihren Gedanken.

„Noch keine. Ich gehe ja jetzt erst ab Montag wieder hin. Ich habe mich für Deutsch und Physik eingetragen. Wenn ich nicht klarkomme, darf ich aber auch noch wechseln“, sagte sie ohne jede Begeisterung in der Stimme.

Ihre Augen wollten schon wieder zur Scheibe wandern, um die Wälder, an denen sie vorbeifuhren, im Blick zu behalten, doch Jan hatte das dringende Bedürfnis auch diese Belanglosigkeit zu kommentieren.„Krass, nach vier Wochen schon?! Ich meine, ist das nicht alles ein bisschen schnell? Du hast doch total viel verpasst.“

Sie nickte abwesend. „Sie haben mich gefragt, was ich denn am liebsten an Kursen machen möchte. Dann musste ich einen Test schreiben. Da waren wohl Aufgaben aus den Klausuren vom letzten Jahr drin.“

„Ja stimmt, der Maier hat erzählt, dass du phänomenal gut abgeschnitten hast. Keiner von ihnen hatte das erwartet, weil du ja dreieinhalb Jahre keine Schule hattest, und vor allem auch wegen der anderen Sache … also … du weißt schon.“

Fenia wusste darauf nichts zu sagen. Nina hatte ja recht. Erneut wollte sich eine drückende Stille breit machen, da drehte Jan kurzerhand das Radio auf und sang lautstark und schief zu Brian Adams mit. Er hatte Musik nicht ohne Grund in der Oberstufe abgewählt, und hatte die Lacher damit bald wieder auf seiner Seite.

So kamen sie doch noch relativ gut gelaunt im Twentyfour an, wo Alex, Daniel und Lena schon auf sie warteten und einen der besten Tische freigehalten hatten. Der Laden war die Bar hier in der Stadt. Alles war total schick und modern eingerichtet, nur die urigen Ledersofas in den Ecken dienten als Kontrast. Sie gaben dem Ganzen genau die richtige, entspannte Atmosphäre. Die vier Neuankömmlinge ließen sich in die bequemen Polster fallen und orderten auch gleich ihre Lieblingscocktails.

„Dreimal Long Island Iced Tea, davon einen ohne Alkohol - und was trinkst du, Fenia?”

“Ein Orangensaft, bitte.”

Mit einem charmanten Lächeln machte die Bedienung auf den hohen Hacken kehrt und lief in Richtung Bar. Alex stupste Jan in die Seite.

„Alter, hast du den Vorbau gesehen? Die darf sich das nächste Mal gern noch ein bisschen tiefer über den Tisch beugen.“

Alex grinste. Die Mädchen rollten mit den Augen. Die Gespräche kamen ins Rollen und nahmen ihren Lauf. Sie redeten über Alex’ Arbeit bei der Bank, seinen nervigen Chef und die Kollegin, die seinen eigenen Worten nach der Knaller war, wohl aber nichts von ihm wissen wollte. Welch ein Wunder! Daniel wurde ausgequetscht, wo er seine Freundin gelassen hatte, und erzählte dann, dass sie sich gerade auf ihre Abschlussprüfung zur Krankenschwester vorbereitete.

Jan erzählte noch mehr von der Uni, von Studentenstreichen und den haarsträubendsten Methoden, bei den streng überwachten Prüfungen doch ein wenig zu schummeln. Als er schließlich die Geschichte von dem Kumpel zum Besten gab, der einen Freund bestochen hatte, betrunken in die Prüfung zu platzen, um den ahnungslosen Dozenten abzulenken, brach der ganze Tisch in grölendes Gelächter aus.

„Heeeee, Harrrrry, du schul’lest mir noch Gält!“, ahmte er die Szene nach und machte ein dummes Gesicht, genau wie der Professor, der sich nicht erklären konnte, woher ein wildfremder Mann, der aussah und roch wie der letzte Straßenbruder, seinen Namen kannte.

Yvonne, die die Story schon kannte, hatte trotzdem einmal mehr die Lachtränen in den Augen stehen.

„Oh man, das erinnert mich an unsere zwei Klassenclowns“, gluckste Nina in ihr Glas.

„Martin und Joe?“

„Japp. Die haben auch immer so Dinger getrieben. Wie die die Frösche im Biokurs vor dem Sezieren gerettet haben.“

„Genau, um sie später Frau Altenberg in die Tasche zu setzen, wo die doch ’ne Phobie vor allem hat, was glitschig oder schuppig ist.“

Martin!

Da war er wieder, der Name, den Fenia unter allen Namen auf der Welt zu vergessen suchte. Hastig stand sie auf und wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. Sie flüsterte ein leises „Entschuldigt bitte“, das fast im lauten Gelächter am Tisch unterging, und verschwand in Richtung der Toiletten.

„Scheiße“, murmelte Daniel. „Ja, da dran hätten wir echt denken können.“ Auch Jan und Nina schauten bedrückt. Nur Alex schien schon zu tief ins Glas geblickt zu haben.

„Ey komm, die soll sich mal nich’ so anstellen. Was schleppt ihr die überhaupt mit hierher? Die is’ doch eh nich’ mehr ganz richtig im Kopf.“

„Ich glaube, du hältst dich mal lieber ein bisschen zurück.“ Jans Augen funkelten zornig.

„Sie kann doch nichts dafür. Meinst du sie hat sich freiwillig entführen lassen?“

„Ganz ehrlich, Nina? Sie war mit Martin zusammen. Sie wusste bestimmt besser als wir, was der für krumme Dinger gedreht hat. Ich hab’ das ja nie kapiert. Ich mein, heute ist sie echt, … also ne? … Guckt sie euch an. Aber vor vier Jahren! Die hätt’ doch kein Kerl freiwillig genommen. Dass der andere Sachen mit ihr vorhatte, als sie heiraten, das konnte sie sich ja ma’ an ihren zehn Fingern abzählen.“

„Ich glaube, du nimmst dir jetzt besser ein Taxi und fährst nach Hause, Alex.“ Jan packte ihn am Arm und zog ihn von der Couch hoch.

„Alter, spinnst du? Ich glaube es geht noch oder was!“

Alex’ Stimme wurde lauter und andere Gäste drehten sich bereits nach ihrem Tisch um. Da stand plötzlich Fenia wieder hinter ihnen und legte Jan besänftigend die Hand auf die Schulter.

„Ist schon okay. Ich wollte ohnehin heim.“

Der kurze Moment, in dem die Situation in eine Prügelei zwischen den beiden zu eskalieren drohte, verstrich. Jan ließ Alex los.

„Fenni, du musst dir wegen dem nicht die Laune verderben lassen.“ Jan musste zweimal schlucken, bevor er überhaupt noch ein Wort hervorbringen konnte. Sie schien von seiner Nervosität allerdings nichts zu merken.

„Was? Ach. Nein, nein. Ist schon gut. Ich bin nur müde. Ich habe grade meine Eltern angerufen, sie kommen gleich her. Sie wollen sowieso nicht, dass ich so lange weg bleibe. Ich warte draußen auf sie.“

Dass sie müde war, nahmen ihr alle sofort ab. Sie war nun nicht mehr einfach nur blass, sondern kalkweiß im Gesicht.

„Kommt nicht in Frage, dass du draußen wartest. Dein Vater würde uns lynchen, wenn wir das zulassen würden.“ Yvonne schaute sie besorgt an.

„Keine Sorge. Ich kann auf mich selbst aufpassen.“

„Da hab ich aber anderes gehört!“ Alex hatte sich wieder in die gemütlichen Kissen fallen lassen und prostete ihr nun provokativ mit seinem Glas zu, wofür er gleich fünf böse Blicke erntete. Da Fenia jedoch einfach tat, als habe sie ihn nicht gehört, verlor auch sonst keiner ein weiteres Wort dazu. Stattdessen bot Jan an, mit ihr die paar Minuten draußen zu warten. „Ein bisschen frische Luft könnte ich auch vertragen“, fügte er mit einem letzten Blick auf Alex hinzu.

Fenia sagte auch hierzu nichts. Dabei entging ihr keineswegs, dass der große Bruder ihrer besten Freundin sie seit ihrer Rückkehr anders behandelte als früher.

Er hatte sich damals kein Stück um sie geschert, war immer mit seinen eigenen Freunden unterwegs gewesen. Er konnte weder mit Yvonnes Freundinnen, noch mit den Jungs aus der Clique etwas anfangen. Dabei war er mit Alex, Daniel, Johannes und Martin im selben Jahrgang gewesen. Anscheinend hatte sich das geändert in den letzten Jahren. Genauso wie sein Verhalten ihr gegenüber.

Während sie aus der Glastür hinaus in die kühle Nacht traten, bot er ihr seine Jacke an, denn Fenia selbst war viel zu dünn angezogen. Sie bemerkte das Lächeln, das er ihr schenkte, und lehnte ab, obwohl ihr wirklich kalt war. Sie versuchte seinem Blick auszuweichen. Jan machte den Eindruck, als wolle er über irgendetwas reden. Doch sie wollte jetzt nichts hören. Nicht das, was er zu sagen hatte.

Früher wäre sie nicht in so eine Situation gekommen. Früher …

***

Vier Jahre zuvor ...

Warum war sie jetzt eigentlich hier, fragte Fenia sich, während sie ihre Hände noch tiefer unter dem weiten Pulli vergrub. Es war Januar und bitterkalt. Trotzdem hatte sie ihre Jacke daheim am Haken vergessen. Ihre Mutter würde schimpfen, wenn sie zurückkam, und das mit Recht. Allerdings hatte sie doch selbst noch mit Engelszungen auf ihre Tochter eingeredet, auf Yvonne zu hören und mitzugehen.

Es war immer Yvonnes Idee, wenn sie mitkommen sollte. Schon seit dem Kindergarten war sie die Einzige, mit der Fenia so einigermaßen auskam und die sie nicht irgendwie komisch fand. Also schleifte Yvi sie auch jetzt immer noch fortwährend mit. Damit trug sie Sorge dafür, dass Fenia nicht jeden Nachmittag mutterseelenallein durch die nahen Wälder ihres Dorfes streifte. Wirklich dazu gehörte sie deswegen allerdings nicht.

Die eigentliche Clique bestand damals noch nur aus Lena, Nina und Yvi. Fenia war die Vierte im Bunde, doch kam sie sich stets wie ein ungeliebtes Anhängsel vor.

Lena war die Hübscheste in ihrem Jahrgang. Sie war unglaublich beliebt an der Schule und für Nina und Yvonne war es fast schon eine Ehre, dass Lena sie beide zu ihren besten Freundinnen auserkoren hatte. Dass Yvi darauf bestand, Fenia mitzunehmen, um der alten Freundschaft willen, ging Lena oft auf die Nerven, aber sie tolerierte es.

Erst vor Kurzem hatten sie ein paar Jungs aus der zehnten Klasse kennengelernt und verabredeten sich nun manchmal gemeinsam. Die vier waren die coolste Gang an der Schule und gerade ihr Anführer Martin war der Mädchenschwarm schlechthin. Er hatte schulterlange, hellblonde Haare, ein sehr markantes, freundliches Gesicht und dunkelblaue Augen, in die die meisten Mädchen total vernarrt waren.

In Fenias Augen war der hübsche Junge allerdings einfach nur ein eingebildeter Mistkerl und sie konnte überhaupt nicht verstehen, was Lena, Nina und sogar Yvonne an ihm fanden. Alle paar Wochen hatte er eine neue Freundin und es war allgemein bekannt, dass er von diesen nicht mehr wollte, als sie ins Bett zu kriegen. Es schien irgendwie ein ehrgeiziger Sport von ihm zu sein, bis zu seinem Abschluss, den er zweifelsfrei miserabel hinlegen würde, jedes gutaussehende Mädchen der Schule herumgekriegt zu haben.

Der Rest der Clique war auch nicht viel besser. Da war sein bester Freund Joe, der nicht viel zu sagen hatte und wenig eigene Meinung zu besitzen schien. Er zeichnete sich einzig dadurch aus, die besten Noten seines Jahrgangs zu haben. Vermutlich war das auch einer der Haupt-gründe, warum Martin mit ihm befreundet war. Die anderen beiden waren Alex und Daniel. Ihre Markenzeichen waren die schwarzen Lederjacken, mit denen sie schon fast verwachsen schienen.

An diesem Nachmittag wartete Fenia also als Erste am Kino, und eigentlich graute ihr mehr vor dem, was da kommen würde. Lena würde sich bestimmt wieder an Martin ranschmeißen, der sie vermutlich noch ein bisschen zappeln ließ. Joe würde gar nichts sagen und Alex würde dumme Witze über Brüste machen und die Tatsache, dass Fenia so wenig davon hatte. Sie fragte sich erneut mit einem langen Seufzer, warum sie sich das überhaupt antat. Vielleicht, um ihrer Mutter das beruhigende Gefühl zu geben, dass sie doch dazu gehörte. Vielleicht auch, um sich selbst zu beweisen, dass sie eine ganz normale Vierzehnjährige war.

Während sie so wartete, ließ sie ihre Gedanken treiben und traf wie sooft das Einhorn. Ihre Fantasie liebte es, sie immer wieder mit allen möglichen Fabelwesen zu überraschen. Am häufigsten allerdings mit diesem wundervollen Geschöpf. Sie entfloh der Kälte und den wenig erfreulichen Aussichten um sich her, indem sie sich vorstellte, wie sie dem Tier auf einer großen, sonnendurchfluteten Waldlichtung gegenüberstand. Der Boden war mit weichem Gras bedeckt. Dazwischen wuchsen Buschwindröschen. Gerade als sie dem schönen Tier mit den sanftmütigen, braunen Augen den Hals streicheln wollte, dröhnte eine Stimme in ihren Gedanken dazwischen und jemand zog an ihrem Pferdeschwanz. Die Waldlichtung und das Einhorn verblassten.

„Sieh mal einer an, hat Yvi wieder ihr stummes Haustier mitgebracht? Mach mal den Mund auf, du Fisch, und sag mir, wo die Mädels sind.“

Martin taxierte sie mit einem abschätzigen Blick. Sein Gefolge stand hinter ihm aufgereiht.

„Ein Mädel steht vor dir ...“ ‚du hohle Nuss‘, wollte sie noch hinzufügen, dachte es sich dann aber nur.

„Wo? Ich seh’ keins“, mischte sich jetzt auch Alex ein.

Fenia überging ihn einfach und wollte gerade etwas sagen, als Joe von weiter hinten meinte: „Hey Marti, da sind sie schon.“

Martin ließ Fenia daraufhin achtlos stehen und begrüßte die anderen drei ganz charmant jeweils mit einem Kuss auf die Wange. Lena sah er dabei einen winzigen Moment länger in die Augen. Sie schaute kichernd weg. Als ob ihr das peinlich wäre! Es wussten doch alle, worauf sie es anlegte. Fenia hatte jetzt schon keine Lust mehr. Aber was hätte sie machen sollen? Ihre Mutter war noch zu einem Termin gefahren, nachdem sie sie abgesetzt hatte, und würde erst nach dem Ende der Fünf-Uhr-Vorstellung wieder hier auftauchen.

„Dann brauchen wir ja nur noch reingehen, die Karten abholen“, tat Lena kund und druckste einen Moment herum, bevor sie schließlich noch hinzufügte: „Wir müssen nur schauen, dass wir noch eine Karte mehr kriegen. Mit Fenia hab ich nämlich nicht gerechnet.“

Dass sie mal wieder keine Karte für sie mitbestellt hatte, ärgerte Fenia gar nicht so sehr. Viel schlimmer war, dass sie es zu Yvonne sagte, und so tat, als wäre Fenia selbst gar nicht anwesend.

„Na ja, der Film läuft ja schon ’ne Weile und ich glaub nicht, dass so viele Leute nachmittags um fünf schon die Nerven dafür haben“, meinte Martin, und für ihn war es damit abgetan.

Allerdings weder für Fenia, noch für Joe, der ganz entgegen allen Gewohnheiten plötzlich Einspruch erhob.

„Ihr habt also doch für den Horrorfilm vorbestellt?“

„Ja, das war doch schon alles abgesprochen“, tat Lena ganz selbstverständlich.

„Abgesprochen war auch, dass ich Fenia mitbringe“, merkte Yvonne halbherzig an.

Lena wurde daraufhin ungeduldig. „Aber man weiß ja nie, ob das dann wirklich der Fall ist. Ich wollte nicht für sie mitbestellen, wenn sie dann wiedermal nicht kommt.“

„Als ob es ein Zwang wäre, vorbestellte Karten auch zu bezahlen.“ Fenia platzte bei dieser dreisten Behauptung nun endgültig der Kragen.„Wäre ich nicht hier, dann könntest du da einfach reinspazieren und sagen: Hey, doch nur sieben von den acht Karten. Wo ist also das Problem?“

„Das Problem ist ja grade, dass du hier bist“, platzte es aus Martin heraus und seine blauen Augen blickten Fenia herablassend an.

Sie wusste, dass er sie nicht leiden konnte, doch so deutlich hatte er es noch nie zugegeben. Fenia hielt seinem Blick allerdings stand. Diesmal würde sie nicht einfach alles runter schlucken. Dieser arrogante Arsch würde schon sehen!

„Wenn du keine Leute um dich haben magst, wenn du mit deiner neuen Flamme ins Kino gehst und im Dunkel rumknutschen willst, dann solltest du vielleicht einfach in Zukunft darauf verzichten, deinen Hofstaat einzuladen.“

Jetzt lief Lena knallrot an. Yvonne wollte den Mund aufmachen, um den ganzen Streit zu schlichten, als ausgerechnet Joe noch einen drauf setzte.

„Richtig, für zwei Leute sind allemal genug Karten da, und wenn ihr anderen mitwollt auch.“ „Wieso?“ „Weil meine Karte frei ist.“ Martin entgleisten für einen Augenblick alle Gesichtszüge.

„Ich hab dir gestern, als ihr beide telefoniert habt“, Joe deutete dabei auf Lena und ihn, „schon gesagt, dass ich mir den Schwachsinn nicht antue. Darauf hast du behauptet, ihr hättet sie doch nicht bestellt und wir würden heute entscheiden, was wir schauen.“

Selbst Fenia war überrascht. Joe hatte noch nie eine andere Meinung als Martin gehabt. - Oder hatte er das nur bisher nicht raushängen lassen?

Es dauerte allerdings nur eine kleine Weile, bis Martin die Beherrschung wiedergefunden hatte. „Na, wenn ihr euch so wunderbar einig seid, dann könnt ihr ja gemeinsam überlegen, was ihr machen wollt. Wir werden jetzt unsere Karten bezahlen gehen.“

Damit ging er durch die Glastüren und stellte sich am Schalter an. Die anderen folgten ihm. Joe nicht. Er blieb neben Fenia stehen, zuckte mit den Schultern und meinte: „Und nun?“

„Ich glaube, er erwartet, dass du mitgehst.“ Fenia deutete unsicher durch die Tür auf Martin, der Joe auffordernd ansah.

„Tja, jeder muss irgendwann mal lernen, dass die eigenen Erwartungen enttäuscht werden können. Du siehst aus, als wäre dir kalt. Sollen wir rüber ins Valentinos gehen und ich spendiere dir einen Kakao?“

Von seinem Angebot völlig überrumpelt willigte Fenia ein. Was danach folgte, wurde der seltsamste Nachmittag, den Fenia bis dahin je erlebt hatte. Während sie mit Joe im Café saß und die Sahne von ihrer Tasse löffelte, plauderten sie die ganze Zeit, als wären sie schon immer gute Freunde gewesen. Joe las dieselben Bücher wie sie, liebte dieselben Filme. Überhaupt hatten sie mehr gemeinsam, als sie bisher angenommen hatte. Auch er erzählte, dass er gern einfach draußen unterwegs war, mit dem Motorrad irgendwo zu einer ruhigen Stelle fuhr, um mal für sich zu sein.

„Jetzt sag bloß, dass du auch die Einhörner besuchen gehst?“, lachte Fenia. Bei dieser nur halb spaßig gemeinten Bemerkung fiel ihm der Löffel aus der Hand, mit dem er versonnen in seiner Tasse gerührt hatte. „Einhörner? Nicht dein Ernst, oder?“ Sie lachte lauter.

„Jein. Also, natürlich nicht echt. Ich bin ja vielleicht weltfremd, aber verrückt bin ich nicht. Nein, wenn ich im Wald bei meinem See bin, dann besuche ich in Gedanken die Einhörner. Eins von ihnen ist mein Freund. Es kommt mich immer abholen.“

Sie wusste nicht, warum sie das gerade ausgerechnet ihm erzählte, doch ihr war einfach danach. Joe sah auch nicht aus, als würde er sie für eine Spinnerin halten.

„Es nimmt mich mit in seinen Wald. Immerfrühlingswald heißt er, hat es gesagt. Dort leben noch viel mehr von ihnen. Es ist wunderschön. Ich wünschte ich könnte es dir zeigen. Aber es ist ja nur in meinem Kopf. Wenn ich die Augen aufmache, dann bin ich immer noch hier.“ Es klang ein wenig enttäuscht.

„Wärst du gerne dort?“

Fenia schaute ihn an. In seinen grünen Augen glitzerte es, als stünde er kurz davor, ihr ein Geheimnis zu verraten.

‚Ach Fenia, wenn ich dir nur sagen könnte, dass es diesen Wald wirklich gibt. In der Welt, aus der ich komme …‘, geisterte seine Stimme für einen Augenblick durch ihre Gedanken.

Dabei war sie sich ganz sicher, dass Joe nichts gesagt hatte. Sie lächelte und schüttelte dann den Kopf. Mit offenen Augen zu träumen, zu hören, was sie hören wollte, konnte ein Fluch und ein Segen sein. Aber es war dennoch schön, sich für eine Weile vorzustellen, dass Joe es tatsächlich gesagt hatte.

***

„Du bist ein seltsames Mädchen, Fenia“, hörte sie seine Worte von damals in sich widerhallen und sie trugen sie zurück in die Realität.

Die Erinnerung ließ sie frösteln. Die Jacke, die Jan ihr schließlich doch noch um die Schultern gelegt hatte, hielt sie mit klammen Fingern fest um sich geschlungen. Sie nahm es jedoch nicht einmal wahr; genauso wenig, wie seine Versuche sie anzusprechen. Seine Stimme war nicht bis in ihre Erinnerungen vorgedrungen. Erst, als ihr nun plötzlich ein paar Tränen über ihre Wangen liefen und sie sich diese energisch wegwischte, wurde ihr wieder bewusst, dass er neben ihr stand.

„Willst du drüber reden?“ Sie schüttelte den Kopf. In diesem Moment sah sie völlig verloren aus, fand Jan. Ihre Augen glitzerten. Sie starrte vor sich auf das Kopfsteinpflaster. Er wollte noch etwas sagen. Da hupte ein Auto.

„Mein Vater“, murmelte sie, und es klang wie eine Entschuldigung. Ohne ein weiteres Wort oder einen Blick über die Schulter zu werfen, stieg sie ein und fuhr fort.

Kopfschüttelnd stand Jan noch eine ganze Weile da, bevor ihm nur in seinem Hemd kalt wurde und er wieder in die Bar zu den anderen ging.

3.

Die schier endlos scheinenden Kurven der schmalen Landstraße wanden sich unter Daves Wagen hindurch und glitzerten silbern vom Tau wie das Band eines Flusses, der sich durch eine weite Ebene wälzt. Es war Sonntag. Viertel nach acht. Er würde zu spät kommen. Wie immer.

Selbst nach all den Jahren hatte er sich nicht an das Tempo gewöhnen können, in dem die Menschen hier lebten. Heute hier und morgen dort. Autos, Züge, Flugzeuge. Sie ließen Entfernungen zu Nebensächlichkeiten werden. Es hieß hier ‚Reisen bildet‘, doch er wusste beim besten Willen nicht wie.

Man konnte in nur einem Tag am anderen Ende dieser Welt sein, ganz Asien an einem halben überfliegen, in Tokio landen, ohne auch nur das Geringste von den Ländern und ihren Menschen kennengelernt zu haben, die man unter sich zurückgelassen hatte.

‚Was wäre, wenn es auf einmal keine Autos mehr auf der Welt geben würde? Keine Flugzeuge?‘, sinnierte Dave einmal mehr vor sich hin. Vor seinem geistigen Auge verwandelten sich die Windkrafträder links und rechts in gemauerte Mühlen, an deren oberen Enden sich vier Flügel lustig im Wind drehten. Fleißige Gesellen entluden Ochsenkarren, mit denen die Bauern Säcke voll gedroschenen Korns anlieferten. Kinder in grauen Kitteln oder Hosen aus grobem Leinen liefen über die Wiese einem bunten Lederball hinterher. Pferde wieherten auf einer fernen Koppel. Hunde bellten. Die Sonne schien.

In seiner Fantasiewelt kamen gerade Reiter über die Hügelkuppe bei der Mühle galoppiert. Sie trugen allesamt dunkelrote und goldene Waffenröcke, schwarz polierte Stiefel und braune Hosen. Die Satteldecke des einen zierte ein Wappen: goldene Ähren auf dunkelroten Grund, über denen zwei goldene Schwerter wie zum Schutz gekreuzt waren. Der Reiter trug als Einziger ein weißes Hemd und einen goldenen Reif um die Stirn.

Dave lenkte das Auto um die Kurve und ließ die Mühle mit ihren Bewohnern und die königliche Jagdgesellschaft hinter sich. Er fuhr viel langsamer, als er gemusst hätte, und verringerte somit seine Chance, nun auch nur annähernd pünktlich zu sein, immer weiter.

Sein Blick blieb an den Rehen hängen, die links des Straßenrandes ästen und kurz aufsahen, als sie das Auto kommen hörten. Der Wald hinter den Tieren versank schon fast in der Dunkelheit und war bloß noch als Kontur zu erkennen. Das Einzige, was sich davon abhob, war der rot-golden schimmernde Leib des Einhorns, das zwischen zwei uralten Eichen stand und Dave mit seinen dunklen Augen folgte.

Die Straße machte nun eine sanfte Rechtskurve und ging dann in eine lange Gerade über, an deren Ende ein heller Schein über den Hügeln davon kündete, dass im Tal dahinter die Stadt lag, deren unzählige Straßenlaternen die Nacht erleuchteten. Der kleine Bach, der bis hierher rechts dem Lauf der Straße gefolgt war, knickte nun scharf ab und verschwand in endlosen, von Weiden gesäumten Windungen zwischen den Wiesen.

‚Einhorn? Moment!‘

Dave trat scharf in die Bremsen. Es quietschte, der Wagen begann auf der feuchten Fahrbahn zu schlingern und kam mit dem rechten Vorderrad vom Teer ab. Er verlor die Kontrolle über das Fahrzeug. Es schleuderte um die eigene Achse, drohte auf die Wiese zu geraten und sich zu überschlagen, doch Dave konnte im letzten Moment noch das Lenkrad herumreißen und stand wieder in Fahrtrichtung auf dem Asphalt. Es stank nach verschmortem Gummi und verdampfendem Gras am Auspuff. Die Rehe waren panisch in den Wald geflohen und der Waldrand, den Dave nun im Rückspiegel sah, war leer. Leer – bis auf den rot-golden schimmernden Fleck zwischen den beiden Eichen.

‚David Vindour, wach auf!‘, ermahnte er sich scharf und wandte den Blick vom Rückspiegel vor sich auf die Straße.

Er hatte Glück gehabt, dass weder ein Wagen hinter ihm gewesen war, noch einer ihm gerade entgegen kam. Ein schlechter Autofahrer war er wegen seiner mangelnden Konzentration schon immer gewesen, aber sich selbst oder andere dadurch in Gefahr zu bringen, lag ihm eigentlich fern.

Wütend auf sich, drehte er den Zündschlüssel wieder um und wollte weiterfahren. Er schaute nach vorn. Die Straße war immer noch frei. Er fühlte sich beobachtet. Ein Blick in den Rückspiegel. Das seltsame Leuchten, aus dem seine Fantasie ein Einhorn gemacht hatte, war fort. Einen Moment schloss er die Augen, um sich zu konzentrieren. Dann ließ er die Kupplung langsam kommen, trat das Gas und fuhr am - nur um erneut voll in die Eisen zu steigen.

Wieder war das Leuchten im Rückspiegel aufgetaucht, diesmal näher, und wieder hatte sein Verstand ihm vorgegaukelt, es habe die Gestalt eines Pferdes gehabt. Ein Pferd, mit einem goldenen Horn auf der Stirn!

Er schüttelte den Kopf. Was war denn heute los mit ihm? Er müsste eigentlich seit fünf Minuten am Busbahnhof sein. Sara wartete sicherlich schon auf ihn und sie würde berechtigterweise ziemlich wütend sein. Wie ihre Mutter hasste sie Unpünktlichkeit und Unzuverlässigkeit.

Aber er hatte ein Einhorn gesehen!

Das musste doch selbst sie verstehen. Dave schaltete den Motor ab und öffnete die Wagentür. Mittlerweile war es ganz dunkel geworden. Ohne die Scheinwerfer hätte er hier nicht mehr viel gesehen. So erkannte er zumindest im Lichtkegel vor seinem Auto alles ganz deutlich. Vor allem erkannte er, dass da kein Einhorn stand. Auch nicht rechts und links oder hinter ihm. Wieder schüttelte er den Kopf.

Er konnte sich selbst nicht erklären, warum er sich von solchen Hirngespinsten auch nur eine Sekunde lang täuschen ließ. Aber vielleicht wurde man ja so, wenn man den ganzen Tag zu Hause vor seinem Computer saß und Personen und Orte erfand, die mit der Realität nur sehr wenig zu tun hatten.

Müde wischte er sich mit der Hand über die Augen.

‚Ich sollte aufhören, mich selbst zu belügen‘, dachte er, als er in den Wagen zurückstieg. Wie viele Jahre er auch hier sein würde und wie normal sein Leben jetzt auch scheinen mochte, jeder, der dort aufgewachsen wäre, wo er die ersten zwanzig Jahre seines Lebens verbracht hatte, würde früher oder später anfangen, auf einsamen Landstraßen Fabelwesen zu sehen.

Ein leiser Seufzer entrang sich Daves Kehle, als er den Motor wieder anließ. Es hatte so real gewirkt. Dabei wusste doch jedes Kind, dass alle Einhörner silbern waren.

***

Ohne weitere Zwischenfälle kam Dave schließlich eine halbe Stunde zu spät am Busbahnhof an. Zu seiner Verwunderung konnte er seine Tochter aber nirgendwo entdecken, dafür eine Handvoll anderer Leute, die ebenfalls zu warten schienen. Nach einer kurzen Unterhaltung mit ihnen war klar, dass der Bus im Stau gestanden hatte und sich etwa zwei Stunden verspäten würde. Die Menschen um ihn herum, schienen von dieser Tatsache sichtlich entnervt zu sein. Manche versuchten sich in ebenso ungeschicktem wie krampfhaftem Smalltalk mit den anderen Wartenden. Die meisten saßen oder standen allerdings irgendwo allein herum und tippten gelangweilt auf ihren Touchpads und Smartphones herum. Dave zuckte nur mit den Schultern, nahm sein Jackett aus dem Wagen und warf es sich über. Ein Spaziergang durch die Stadt war allemal sinnvoller, als sich hier die Beine in den Bauch zu stehen.

Seine Gedanken trieben wieder vor sich hin. In seinem Kopf spannen sich Geschichten von Grafen und Herzögen, die Intrigen zum Opfer fielen, Burgherrinnen, die auf mysteriöse Weise zu Tode kamen, heroischen Duellen und wilden Verfolgungsjagden durch finstere Klöster, Burgen und Wälder.

Er hatte bisher noch nicht die zündende Idee für ein neues Buch gehabt. Was sich vor allem darin niederschlug, dass seine Kondition hervorragend war. Wenn sich die erhofften Einfälle nicht einstellten, dann wandte er seinem Computer den Rücken zu und joggte stundenlang durch den Wald. Auch das war so ein Punkt, der häufig zu Streit führte.

„Deine Sportbesessenheit macht mich noch ganz krank, David. Kannst du nicht mal für ein paar Minuten Ruhe halten? Wenn dich nicht innerhalb von fünf Minuten in diesem Saustall, der sich bei dir Arbeitszimmer schimpft, ein Geistesblitz trifft, dann hast du schon keine Lust mehr. Wenn ich so arbeiten würde …“, klangen wieder einmal Caitlins Worte in seinem Kopf.

Wie sollte er denn so überhaupt gute Ideen haben, wenn er immer nur über diese ewigen Zankereien nachdenken musste? Dave versuchte, die düsteren Gedanken von sich zu schieben, und weiter durch die Straßen zu schlendern.

„Was du schlendern nennst, nennen andere Leute rennen! Kannst du nicht mal langsam machen?“

Es war zwecklos. Caitlin und er hatten in letzter Zeit einfach zu viel gestritten. Es nahm ihm die Konzentration, die Freude an der Arbeit, die Freude an all den Dingen, die er gerne tat. Sie hatte einfach an allem etwas auszusetzen.

Er hatte ihr einmal vorgeschlagen, sich gemeinsam irgendeine Art Hobby zu suchen. Sie brauchte dringend einen Ausgleich zu ihrem Job. Die Kanzlei war klein und unbekannt gewesen, als Caitlin dort angefangen hatte. Mit ihrem Elan und ihrem Engagement hatte sich das in den letzten Jahren gehörig geändert. Die Aufträge wurden immer zahlreicher, immer größer, die Klienten immer vermögender und die Gehälter immer besser. Aber beruflicher Erfolg war nicht alles. Das hatte er ihr am Anfang versucht klar zu machen. Sie hatte es nicht hören wollen.

„Ich will nicht die brave Ehefrau sein, die daheim sitzt, ihren Mann bekocht, Haus und Kinder hütet und abends in den Kirchenchor oder die örtliche Yogagruppe geht.“

Er hatte nie von ihr verlangt, gar nicht zu arbeiten, aber einen weiteren Teilhaber in der Kanzlei anzustellen. Ja, sie würde sich das durch den Kopf gehen lassen und mit ihrem Partner besprechen.

Die Besprechungen dauerten bis heute an.

Missmutig hielt Dave in seinem ziellosen Lauf durch die engen Gassen der mittelalterlichen Altstadt inne. Er ließ sich auf den Rand eines Brunnens sinken. Es war einfach nicht wegzuleugnen: Zwischen Caitlin und ihm lief vieles schief in letzter Zeit.

Er dachte an ihre Freunde und Bekannten. Die machten alle nicht den Eindruck, als hätten sie grade eine Ehekrise. Hatten sie eine? Er überlegte lange.

Wann hatten Caitlin und er das letzte Mal gemeinsam etwas ohne die Kinder unternommen? Wann hatten sie das letzte Mal einfach nur einen gemütlichen Abend vor dem Fernseher verbracht? War es vielleicht doch so, wie sie sagte, dass sie zu viel und er zu wenig Arbeit hatte?

„Wenn man sein Leben lang ein Träumer und Bücherschreiber war, dann reicht es einem vielleicht, einfach in einem netten Haus am Ende der Welt zu wohnen und in den Tag hinein zu leben.“

Wieder einer von vielen Vorwürfen. Einer von vielen Irrtümern. Doch ihm blieb nichts, als die Wahrheit herunterzuschlucken. Sie wusste es nicht, konnte es gar nicht wissen, und das war auch besser so. Dennoch tat es weh, ihre Vorwürfe einfach so über sich ergehen lassen zu müssen. Dabei bemühte er sich wirklich, für sie da zu sein, auf ihre Wünsche einzugehen.

Ob sie lieber in die Stadt ziehen wollte, hatte er gefragt. - Nein!

Ob sie sich ein größeres Haus wünschte? - Nein!

Ob sie mehr Geld für Urlaub ausgeben wollte? Mal weit weg fahren? Einen Monat Australien vielleicht? - Um Himmels Willen, die ganze Arbeit, die dann liegen bleiben würde!

Dave war in vielen Gesprächen zu dem Schluss gekommen, dass er nicht im Entferntesten ahnte, was seine Frau eigentlich wollte. Wusste sie das überhaupt selbst?

So saß er da, immer noch auf der Brunnenkante. Über ihm thronte der Heilige Georg auf einem Pferd und hatte einem auf dem Rücken liegenden Drachen seinen Speer ins Herz gestoßen. Dort trat das Wasser aus dem Brunnen, ganz so, als wäre es Drachenblut, welches sich in ein Bronzebecken ergoss und über dessen Kanten hinaus in ein zweites Becken aus rotem Marmor floss. In diesem nahm die Flüssigkeit wirklich einen rötlich-braunen Schimmer an wie frisches Blut. Zum Glück roch es nicht auch so.

Dave hatte die Arme vor der Brust verschränkt, die Augen auf seine Schuhspitzen gerichtet. Die Glocke der nahen Kirche schlug gerade zehn Uhr. Es war also noch Zeit, bis der Bus ankommen würde. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie sich aus der Gasse links von ihm eine Gestalt näherte, relativ groß und schmal.

Dem ersten flüchtigen Blick warf Dave einen zweiten, etwas genaueren, hinterher. Die dunklen Jeans und der helle, trenchcoatartige Mantel betonten eine sehr schlanke, weibliche Figur. Sie hatte langes, dunkelblondes Haar, das als geflochtener Zopf über ihren Rücken fiel. Am auffälligsten aber war ihr Gang. Sie bewegte sich nahezu lautlos, ohne bewusst zu schleichen. Einen Moment fragte sich Dave, ob ihre Füße überhaupt den Boden berührten oder ob sie einfach ein paar Zentimeter darüber schwebte. In ihren Bewegungen lagen so viel Kraft und Eleganz wie in denen einer Katze.

Ihre Augen waren auf ein unbestimmtes Ziel gerichtet und sie schien sehr abwesend. Dennoch huschte ihr Blick immer wieder von einer Hauswand zur anderen; nicht ungeduldig, nicht hektisch wie der Blick einer Person, die vor etwas Angst hatte. Nein. Sie schaute sich einfach nur immer wieder um, als rechne sie damit, dass das Schicksal sie an jeder Ecke mit etwas Unerwartetem überraschen könnte.

Sie überquerte den Platz nur ein paar Schritte vom Brunnen entfernt. Das Licht der Laternen fiel auf ihr Gesicht. Es war äußerst seltsam. Perfekte, volle, rote Lippen unter hohen Wangenknochen. Die Augen lagen tief, sodass man ihre Farbe nicht erkennen konnte, und wirkten groß und dunkel unter den schön geschwungenen Brauen. Einzelne Haarlocken verirrten sich aus dem strengen Zopf und umspielten das Ganze wie ein goldener Rahmen. Alles in allem war es ein bezauberndes Gesicht, aber sie hatte etwas an sich, was Dave nicht in Worte fassen konnte. Etwas, das fremd und gleichzeitig vertraut wirkte.

Ihre Augen huschten in seine Richtung und … übersahen ihn. In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er sich reflexartig tief in den Schatten des Brunnens gedrückt hatte. Sein Atem war so flach geworden, dass man selbst dann keine Bewegung gesehen hätte, wenn man direkt an ihm vorbeigelaufen wäre.

Ungesehen und ungehört bleiben. Dinge, die er in seinem früheren Leben bis zur Perfektion beherrscht hatte. Manchmal die letzte Chance, eine Situation zu überleben. Jetzt nutzte er sie, um im Schatten einer nächtlichen Stadt jungen Frauen nachzustarren. War er so tief gesunken, dass er das nötig hatte, während er hier saß und über seine Eheprobleme sinnierte?

‚Midlifecrisis‘, dachte er mürrisch und schalt sich in Gedanken einen Idioten.

Bewusst langsam stand er auf und klopfte sich ein wenig Staub und Dreck von der Hose. Die Frau hatte den Platz fast überquert, fuhr nun aber erschrocken herum, als sie die plötzlichen Geräusche hinter sich vernahm. Wieder konnte er ihr genau ins Gesicht sehen. Erneut war er so fasziniert von dem, was er sah, dass ihm erst im zweiten Moment bewusst wurde, dass dieses Mädchen nicht älter sein konnte als seine eigene Tochter.

Er spürte Scham in sich aufsteigen und kurz darauf väterliche Sorge. Was machte so ein junges Ding alleine um nachtschlafende Zeit hier draußen? Da konnte wer weiß was passieren!

Er öffnete den Mund und wollte etwas sagen, als sich innerhalb eines Lidschlags der Ausdruck in ihrem Gesicht änderte. Der überraschte Blick einer Person, die man aus tiefen Gedanken gerissen hatte, wich blankem Entsetzen.

Verwirrt trat Dave einen Schritt auf sie zu, wollte fragen, was los sei, aber sie schlug nur die Hände vor den Mund, um nicht zu schreien. Sie schüttelte ungläubig den Kopf, sah sich hektisch um und verschwand schließlich ohne ein weiteres Wort oder einen Blick im Schatten einer schmalen Seitengasse.

***

Ihre Augen waren blau gewesen, kam es Dave später in den Sinn, als sie sich bereits wieder auf der Rückfahrt befanden. Sara war nach den ersten paar Kurven auf dem Beifahrersitz eingeschlafen. Paris musste wirklich einen überwältigenden Eindruck auf sie gemacht haben. Er war froh, dass seine Tochter nicht in der Stimmung zum Erzählen war. Seine Gedanken taten nämlich noch immer nicht das, was er wollte. Seit er Caitlin auf dem Campus begegnet war, hatte es nie wieder eine Frau geschafft, ihn so in ihren Bann zu schlagen. Bis heute.

Warum liebte das Schicksal es eigentlich, immer zu den un-günstigsten Gelegenheiten zuzuschlagen? Hätte er nicht einfach nur dorthin fahren, seine Tochter ins Auto laden und wieder heimfahren können, während sie ihn mit all ihren Erlebnissen und den Eindrücken von Mont Martre, der Champs Elysèe, Nôtre Dame und dem Louvre überschüttete?

Nein! - Schicksal, Zufall oder wer auch immer für solchen Blödsinn zuständig war, schien Gefallen daran zu haben, wenn einem treu sorgenden Familienvater und liebendem Ehemann statt seiner Frau, seinen Kindern und seiner Arbeit, Einhörner, Ehekrach und fremde, junge Frauen im Kopf herum spukten.

Wieder und wieder ging Dave in Gedanken die Szene am Brunnen durch. Er erinnerte sich an jede ihrer Bewegungen, an jedes noch so winzige Detail ihrer Kleidung. Am linken Ärmel hatte ein Knopf gefehlt. Um den Hals hatte sie ein goldene Kette getragen. Daran hing ein Kreuz. Die Kleidung insgesamt hatte etwas Sonderbares an sich gehabt, als passte sie nicht zu ihr. Oder sie nicht dorthin. Dave wusste selbst nicht, warum er das dachte. Es war nur so ein Gefühl. Doch etwas schien furchtbar falsch an ihr.

Am deutlichsten aber erinnerte er sich jetzt an ihre Augen. Blaue Augen mit grünen und grauen Sprenkeln darin. Augen, von denen man sich nicht losreißen konnte, tief wie ein Ozean, die einen festhielten, rettungslos, ertrinkend, fasziniert. - Augen, die ihn erkannt hatten!

4.

Vier Jahre zuvor ...

Sonnenschein fiel auf die Oberfläche des Waldsees. Die untersten Zweige der alten Eichen, die ihn umgaben, tauchten mit ihren Blättern in das schimmernde Gold. Ein lauer Wind trieb sanfte Wellen an das sandige Ufer, von dem aus man den See bequem zum Schwimmen betreten konnte. Allerdings kam man nicht weiter als ein paar Züge, dann wurde das Wasser bereits wieder flacher. In der Mitte ragte ein großer Felsblock aus dem Gewässer, der, anders als das übliche Gestein der Gegend, aus dunklem Granit bestand. Ein Mitbringsel der großen Gletscher, die sich vor knapp zehntausend Jahren bis hierher ausgedehnt hatten. Die ganze Lichtung war von dichtem Wildrosengebüsch umgeben, welches sich um alte, verfallene Baumstämme rankte und im Frühjahr über und über mit feinen, weißen Blüten gespickt war. Der Wald, der dahinter lag, war weniger dicht und bestand zumeist aus weit auseinanderstehenden Hainbuchen. Wann immer man aus jenem lichten Teil auf dem fast unsichtbaren Pfad durch die Brombeeren und Heckenrosen hindurch die Lichtung am See betrat, konnte man meinen, man habe eine andere Welt gefunden.

Fenia hätte es auch zu keiner Zeit gewundert, wenn in dem großen Stein im See auf einmal ein rostiges, altes Schwert gesteckt hätte, welches sich, von der richtigen Hand gezogen, zu silbernem Glanz wandelte und vor Magie zu sprühen begann. Manchmal fragte sie sich, ob das nicht vielleicht insgeheim ihre Hoffnung war: irgendwo in dieser Welt einen Funken Magie zu finden. Ein Zeichen dafür, dass es mehr gab in diesem Universum. Mehr als die Schule, in der es galt, gute Noten zu bekommen. Mehr als später einen soliden Beruf zu erlernen und bis zu seiner Pension zu arbeiten. Mehr als Logik und Vernunft, mit denen die Erwachsenen einem geboten, sich auf diese wesentlichen Dinge des Lebens zu konzentrieren.

Warum aber wurde jedes Kind mit so vielen Träumen im Herzen geboren? Wo gingen sie hin, wenn man erwachsen wurde? Waren sie dann einfach weg?

Mit den Fingern streifte sie rechts und links des Weges über Zweige, Blätter und hohe Gräser, was grade unter ihre Handflächen kam. Hin und wieder erwischte sie dabei einen der noch kahlen, dornigen Zweige. Aber das war nicht schlimm.

Es war der erste Tag der Winterferien. Ihre Gedanken hingen wie immer in fernen Ländern fest. Sie galoppierten mit den Einhörnern durch ihren Zauberwald und malten sich eine Welt, die ganz anders war als ihre eigene. So anders wie sie.

Sie tat den letzten Schritt durch das Gebüsch und trat in den schwachen Sonnenschein der Lichtung. Am Fuß der großen Eiche nah am Ufer streifte sie die Schultasche ab und erklomm ihren Stamm. Geschickt balancierte sie auf ihrem breitesten Ast entlang. Er beschrieb einen sanften Bogen über dem klaren Spiegel des Sees, in den man sich wie in einer Hängematte fallen lassen konnte. Normalerweise ließ sie auch ihre Schuhe am Fuß des Baumes zurück, um die bloßen Füße ins kühle Wasser baumeln lassen zu können. Dazu war es aber noch viel zu kalt. Ein wenig sehnte Fenia den Frühling herbei. Dann würde sie wieder öfter herkommen.

Es war eigentlich gar nicht ihre Art, trotz Minusgraden und angekündigtem neuen Schneefall direkt nach der Schule hierhin zu gehen. Normalerweise ließ sie sich wenigstens zum Mittagessen daheim blicken. Heute aber musste es sein. Sie hatten ihre Zeugnisse bekommen und waren in die Ferien geschickt worden. Vierzehn Tage frei, bis das neue Halbjahr anfangen würde. Es war der erste Freitagnachmittag seit Wochen, den sie nicht mit den anderen unterwegs war.

Die ganzen letzten Wochenenden hatte es nicht einen Tag oder Abend gegeben, an dem sie etwas ohne Nina, Yvonne und Joe unternommen hatte. Letzten Freitag waren sie im Wellenbad gewesen und hatten samstagabends bei Nina DVDs geschaut. Nicht, dass das nicht lustig gewesen wäre. Im Gegenteil. Wenn Joe dabei war, war alles spaßig. Vermutlich sogar eine Audienz beim Papst. Fenia grinste.

Gerade deshalb musste sie aber einfach mal wieder einen Augenblick für sich sein. Es war soviel passiert in den letzten Wochen, dass sie das dringende Bedürfnis verspürte, ihre Gedanken zu ordnen. Und wann wäre ein besserer Zeitpunkt gewesen, als jetzt?

Nina und Yvonne waren gemeinsam in den Ferien bei Yvi̕s Opa. Joe hatte in einem Preisausschreiben einen Skiurlaub gewonnen und würde ab morgen sicher jede Menge Spaß im Schnee haben. Lena war auch Skifahren, in St. Moritz wie jedes Jahr. Von Martin, Alex und Daniel wusste sie nichts. Die waren noch sauer auf sie, weil sie es gewagt hatte, sich mit Martin anzulegen.

Sollten sie doch! Martin war ein Arsch. Er und die beiden anderen Jungs konnten nichts weiter, als auf denen herumhacken, die schwächer waren als sie. Fenia war es leid für die Clique den Pausenclown herzugeben. Sie war eben ein wenig einzelgängerisch. Sie fand es nun einmal toll hier in ihrem Baum zu sitzen und Nachmittage lang vor sich hin zu träumen.

Ja und? Sie war nicht sonderlich hübsch, hatte mit vierzehn noch keine nennenswerten weiblichen Rundungen und legte keinen Wert darauf, ihr Äußeres mit pfundweise Make-up zu bespachteln, um danach auszusehen, als wäre sie in den Farbkasten gefallen. Aber auch das, fand sie, war kein Grund für die Jungs, allen voran Martin, sie ständig ins Kreuzfeuer ihrer fiesen Bemerkungen zu nehmen.

Vor sechs Wochen bei dem Kinobesuch war ihr klar geworden, dass sie nur zwei Möglichkeiten hatte: Entweder zog sie weiterhin den Kopf ein und blieb bis zum Sankt Nimmerleinstag das Ziel jeglichen Spotts, oder sie machte den Mund auf und sagte diesen arroganten Typen mal ordentlich die Meinung.

Sie legte keinen Wert auf ihre Freundschaft, auch nicht auf die von Lena. Yvonne und Nina, gut, die konnte sie leiden und mittlerweile auch Joe. Der hatte gemeint, man müsste ganz schön Courage haben, um sich so mit Martin streiten zu können, wie sie es getan hatte.

Dieser Streit war nur leider vor zwei Wochen eskaliert. Anscheinend hatte es ihm missfallen, dass sie sich mit Joe gut verstand. Er hatte ihm in einem Gespräch mitgeteilt, dass er nicht verstehen könne, wieso er sich mit ihr abgeben würde, und dass Joe sich überlegen sollte, wessen bester Freund er war. Welche Worte weiter fielen wusste Fenia nicht mehr genau. Im Prinzip aber hatte Martin nicht weniger verlangt, als dass Joe sich auf seine Seite schlagen und mit ihm Fenia ein für allemal aus der Clique ekeln sollte.

Ihr war die Clique ja egal, sie war nur hier wegen Yvonne … und Joe, so ein bisschen. Aber dass dieser dumme Mistkerl die Dreistigkeit besaß, Leuten vorzuschreiben, mit wem sie befreundet sein durften und mit wem nicht, weil es seiner Hoheit nicht passte, das war zu viel gewesen!

Oh ja, sie hatte gute Ohren, und als Joe das Ganze einfach nur abtat und erwiderte, er sollte sich mal nicht so anstellen, da war sie explodiert.

Sie hatte Martin auf offener Straße angeschrien. Der war so perplex gewesen, dass er erst gar nichts zu sagen gewusst hatte und dann zurück schrie. Fenia waren fast die Tränen in die Augen getreten, aber sie war zu stolz, um in seiner Gegenwart zu weinen.

„Am besten gehst du heim zu Mami und spielst mit deinen Barbiepuppen und Hoppapferdchen. Wer aussieht, wie grade zehn geworden, sollte sich Freunde suchen, die auf seinem geistigen Niveau sind.“

Fenias Antwort war darauf sehr leise geworden. Ihre Stimme hatte vor Zorn gebebt. „Glaubst du eigentlich, du musst dein Arschloch-Image pflegen, weil du ein Heimkind bist, oder haben dich deine Eltern dort abgegeben, weil sie sich für so was wie dich geschämt haben?“ Daraufhin hatte sie sich umgedreht und war gegangen.

Erst zwei Tage später hatte Joe ihr erzählt, was für einen Riesenkrach diese Bemerkung ausgelöst hatte. Dass er und Martin Waisenkinder waren, war ein von ihnen sehr gut gehütetes Geheimnis. Weniger, weil Joe es wollte, vielmehr hatte Martin ein Problem damit, anderen zu sagen, dass er mit fünf Jahren ausgesetzt worden war. Mitten im Wald.

Joe hatte Fenia nur davon erzählt, weil er hoffte, sie würde so ein bisschen besser verstehen, warum Martin war, wie er war. Eigentlich sei er ein total netter Kerl. Er konnte sie nicht wirklich überzeugen, aber sie hatte versprochen, es nicht weiterzuerzählen.

Jetzt war es im Zorn aus ihr herausgeplatzt. Es tat ihr nicht einmal leid, denn Martin hatte ihrer Ansicht nach diesen Dämpfer verdient. Allerdings hatte sie ihr Versprechen gegenüber dem Jungen gebrochen, der so etwas wie einem besten Freund wohl am nächsten kam, und, was noch schlimmer war, Martin redete seitdem auch nicht mehr mit Joe. Er war wütend, weil er es ihr verraten hatte.

Für Fenia war es keine Strafe, von ihm ignoriert zu werden, aber Joe mochte ihn. Sie waren beste Freunde, seit sie klein waren. Fenia verstand es nicht, aber sie verstand, dass es Joe ziemlich traf.

Sie seufzte und zog die Knie enger an den Körper. Sie hatte nicht gewollt, dass die Clique zerbrach. Sie hatte nicht gewollt, dass sich irgendwer für oder gegen jemanden entscheiden musste. Sie wollte doch selbst eigentlich nur dazugehören.

Und nicht mal das!

Wenn sie Joe oder Yvonne hätte sehen können, sich mit ihnen verabreden, ohne dass die anderen dabei waren, wäre ihr auch das recht gewesen. Aber die beiden hingen nun einmal stets mit der Clique zusammen.

Fenia fühlte sich immer noch schuldig und hätte die Worte am liebsten ungesagt gemacht. Gestern hatte sie sich deshalb sogar dazu durchgerungen, in der großen Pause zu den Jungs zu gehen.

„Ich will mit dir reden, Martin“, hatte sie gesagt. Er hatte sie ignoriert, doch sie ließ sich nicht beirren. „Ich weiß, dass du mich hören kannst und auch wenn du es vielleicht nicht hören willst, es ist mir scheißegal, wenn du nicht mit mir redest.“

„Warum bist du dann hier?“

„Weil es Joe nicht egal ist. Er kann nichts dafür, dass ich das gesagt habe.“

„Joe ist ein mieser Verräter. Ganz einfach.“

„Joe hat immer zu dir gehalten, egal ob du in seinen Augen Mist gebaut hast oder nicht. So eine Freundschaft sollte dir eigentlich etwas wert sein. Aber du bevorzugst nun einmal Leute um dich herum, die dir nach dem Mund reden und so viel eigenen Charakter besitzen wie ein Besenstiel.“ Damit hatte sie ihn stehen lassen. Wieder einmal. Vertragen hatten sich die beiden daraufhin offensichtlich auch nicht, denn heute Morgen hatte Joe in der Pause immer noch bei ihr gesessen.

Gedankenverloren sah Fenia einem Eichhörnchen nach, das über den Boden huschte und nach seinen Verstecken vom vergangenen Herbst suchte. Sie würde wohl weiter nichts machen können. Joe und Martin mussten sich selbst wieder zusammenraufen.

Wolken zogen mit einem Mal vor die Sonne und der Wind wurde noch kälter. Die Luft roch nach Schnee. Fenia setzte sich auf und rieb sich die Arme. Trotz der warmen Winterjacke begann sie zu frieren. Langsam balancierte sie zum Baumstamm zurück und kletterte nach unten. Auf dem Boden um den Baum herum hatte sich ein dünner Nebelschleier gesammelt. Als sie einen Fuß hineinsetzte, wirbelte er kurz auseinander und kroch dann an ihren Knöcheln empor. Es war wohl Zeit, nach Hause zu gehen.

***

Bis zu diesem Gedanken war der Traum völlig klar gewesen. Die Erinnerungen so punktgenau, dass Fenia glaubte, es noch einmal zu erleben. Dann aber wurde es um sie herum mit einem Schlag dunkel. Weiße Schleier waberten vor ihren Augen. Sie hörte Stimmen, die nach ihr riefen. Kurz blitzte der See auf, wie er da lag, in Nebel gehüllt. Nur der Fels schaute gerade noch so heraus. Eine schwarze Gestalt stand darauf. Es war eine Frau. Eine Frau in einer langen Robe. Ihre Augen waren nachtschwarz und bohrten sich Fenia direkt ins Herz. Langsam streckte sie die Arme nach ihr aus und rief ihren Namen.

„Komm, Fenai! Komm zu uns!“

Hände reckten sich nach ihr, tasteten suchend durch den Nebel. Er stob auseinander und gab den Blick erneut auf die Gestalt frei. Sie hatte sich verändert. Jetzt saß da ein Mann in einem wallenden schwarzen Umhang. Seine langen Finger griffen nach ihr. Die scharfen Nägel schnitten in ihre Haut, während er die Faust um ihren Arm fester und fester schloss.

„Ja, komm her, Fenai. Komm zu mir.“ Er zog sie näher an sich heran. Sie begann um sich zu schlagen und zu schreien. Wieder sah sie den See. Seine Wasser hatten sich blutrot verfärbt. „Sieh, was du getan hast! So viel Blut wurde vergossen. So viel Tod.“ Seine Hände zogen sie weiter, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte.

Ihre Füße standen im Wasser. Noch einmal sah sie kurz die Frau in dem wallenden Gewand. Eine Träne floss über ihr Gesicht, bevor sie ihr den Rücken zuwandte und in den Nebelschwaden verschwand. Als nächstes spürte Fenia, wie starke Arme sie unter die Oberfläche drückten. Die Luft schoss aus ihren Lungen wie aus einem kaputten Ballon. Sie schrie auf vor Schmerz. Statt Tönen stiegen nur Luftblasen auf. Das Wasser bohrte sich wie tausend Nadeln in ihren Körper. Gesichter tauchten auf. Gesichter, die sie zu kennen glaubte. Sie alle blickten sie schmerzverzerrt an.

„Hilf uns!“, flehten sie und streckten ihr die Hände entgegen. Sie wollte nach ihnen greifen, aber die schwarzen Klauen hielten sie noch immer gepackt und drückten sie unter Wasser.

„Sieh sie dir alle an. Was ihnen passiert ist, war deine Schuld. Nur deine Schuld!“

Fenia wusste, dass ihr bald die Luft ausgehen würde. Vor ihren Augen begann schon alles zu verschwimmen. Noch einmal versuchte sie verzweifelt sich loszureißen, aber die Hände gaben nicht nach. Sie sank tiefer und tiefer dem schwarzen Grund entgegen, bis sie plötzlich spürte, wie sich der Griff lockerte. Sie fühlte Hände, die sie an den Schultern packten und zurück an die Oberfläche zogen.

Immer wieder versuchten die Klauen diese Hände von ihr fern zu halten, griffen erneut nach ihr und zogen sie zurück ins Wasser. Hin und her gerissen zwischen Leben und Tod, rang Fenia mit den beiden Gestalten, die an ihr zerrten. Gesichter wirbelten vor ihrem verwirrten Gedächtnis durcheinander. Zuletzt sah sie in Martins dunkelblaue Augen. Sein blondes Haar war nass, seine Hände blutverkrustet.

Ein Schlag auf den Kopf traf Fenia und sie erwachte. Benommen schlug sie die Augen auf. Sie lag neben ihrem Bett auf dem Fußboden. Ihr Kopf tat weh. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen.

Gestern Abend war sie von Jan ins Kino eingeladen worden. Es war lange her, dass sie mit Joe und den anderen ins Kino gegangen war. Alles war damals noch anders gewesen.

Sie wollte heute wieder zur Schule, fiel ihr ein. Sie rappelte sich auf und taumelte ins Bad. Sie sah furchtbar aus, sagte der Spiegel. Sie wusch sich das Gesicht. Wirklich besser wurde es davon nicht. Sie betrachtete ihre Hände mit den Malen an den Handgelenken. Sie konnte die Fesseln praktisch immer noch spüren. Wie in Trance griff sie nach der Zahnbürste und weinte nicht. Es war wirklich ihre Schuld, so wie der Traum gesagt hatte.

Sie griff sich an den Hinterkopf und erwartete fast, dort eine blutende Wunde zu finden. Wie damals am Waldsee. Alles, was sie diesmal allerdings fühlte, war eine Beule. Sie tat weh, wenn sie draufdrückte. Damals war alles noch besser gewesen.

Sie spülte sich den Schaum aus dem Mund und trank noch einen Schluck Wasser hinterher. Die Platzwunde am Kopf konnte der Arzt damals ganz einfach flicken, dachte sie, trat einen Schritt zurück und ließ sich auf den Toilettendeckel sinken.

Ihre Katze strich um ihre Beine und schnurrte. Mechanisch beugte Fenia sich hinab und hob Feline auf ihren Schoß. Sie drückte ihr Gesicht in das seidige Fell und spürte nun doch die Tränen in sich aufsteigen. Manche Wunden konnte kein Arzt der Welt heilen.

5.

Dave hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan. immer wieder hatte er sich hin und her gewälzt, Schafe gezählt, über sein neues Buch nachgedacht, dem leisen, gleichmäßigen Atem Caitlins gelauscht, die friedlich neben ihm lag. Nichts hatte geholfen. Er war aufgestanden, um einen Becher warme Milch zu trinken, war dann aber vor seinen Gedanken geflohen und hatte versucht, den Bildern in seinem Kopf mit genügend Whisky Herr zu werden.

Die Uhr am DVD-Player leuchtete ihm nun eine fette, rote Zwei, eine Fünf und eine Acht entgegen. Er saß in seinem alten Fernsehsessel; - dunkelbraun, breite, abgewetzte Armlehnen, durchtränkt mit dem scharfen Geruch von Lederreiniger. Er schwenkte abwesend das Glas in seiner Hand. Die bernsteinfarbene Flüssigkeit darin bildete einen Strudel, dem er fasziniert zuschaute. Er drehte das linke Handgelenk in die andere Richtung. Der Strudel stockte augenblicklich und die schwere, goldene Flüssigkeit klatschte gegen die geschliffenen Wände seiner gläsernen Begrenzung, bevor er langsam in die entgegengesetzte Richtung einsetzte. Ein paar Tropfen spritzten Dave ins Gesicht und auf das Blatt Papier, das an dem Klemmbrett auf seinem Schoß steckte. Die Zeichenkohle lag noch in seiner Rechten, als er mechanisch über das Blatt wischte, um die Tropfen von den schnell hingeworfenen Skizzen zu wischen. Ein dicker, schwarzer Streifen zog sich nun mitten über das Bild. Frustriert riss Dave die Zeichnung vom Block und schmiss sie zusammengeknüllt auf den Boden.

Er hatte geglaubt, das Zeichnen könne ihm helfen, auf andere Gedanken zu kommen, oder auch nur dafür sorgen, dass seine Augen endlich müde wurden. Das war oft der Fall, wenn er wie zurzeit, nicht so recht die Ideen für eine neue Geschichte fand. Er zeichnete dann das Erste, was ihm in den Sinn kam, einen alten Baum, eine düster anmutende Ruine, ein Gesicht oder auch nur den Umriss einer Person, und die Geschichten spannen sich von ganz allein um das Gemalte, wenn er es nur lang genug betrachtete.

Er musterte die neue Skizze, die er gerade mit fahrigen Strichen auf das Blatt gebannt hat. Sie glich jener, die er eben weggeworfen hatte, bis aufs Haar.

Nicht, dass sie ihn nicht auch zum Nachdenken bringen würde. Sein Hirn arbeitete auf Hochtouren. Wann, wie, warum oder einfach nur wer? Er wollte es wissen. Alles! Diesmal würde er die Antworten aber nicht irgendwo in seiner Phantasie finden, sondern nur in der Realität.

Scheiße!

Er kippte den Whisky in einem Zug herunter. Dann schenkte er nach. Die Augen auf dem Blatt starrten ihn an. Schuldbewusst blickte er weg. Die Flasche war bereits halb leer. Wieder trank er und goss nach. Sie ließ ihn nicht los. Was war es, das seine Gedanken so zu diesem Mädchen hinzog?

Er schlug ein neues Blatt auf. Wie von selbst flogen die Finger seiner Rechten darüber, setzten zielsicher schwarze Linien und Punkte, die sich zu dem makellos schönen Gesicht der Fremden zusammenfügten. Der Alkohol schien seinen Kopf nicht zu betäuben, wie er es eigentlich sollte. Vielmehr betäubte er jeden Funken Vernunft und Willenskraft und rückte dieses Gesicht in den Fokus seiner Wahrnehmung. Die Lippen auf dem Blatt schienen sich zu bewegen und formten wieder und wieder ein und dasselbe Wort.

‚Hör auf, an sie zu denken!‘, befahl er sich. Er ließ die Kohle fallen, gab seinen Fingern den Befehl, sich um das Blatt mit dem fremden Gesicht zu krümmen und es ebenfalls vom Block abzureißen.

Er sah wie seine Finger sich um das Papier zusammenzogen, es abrissen, zerknüllten und auf den Couchtisch legten. Er stand auf, ging zum Schrank, stellte den Whisky hinein und entnahm stattdessen eine Kerze und ein Feuerzeug. Er sah dem Blatt Papier dabei zu, wie es sich zuerst unter den leise züngelnden Flammen wand, ihnen nachgab, an den Enden schwarz wurde. Es faltete sich leicht auseinander und er sah, wie das Feuer sich zur Mitte und zu dem Gesicht hin durch fraß. Die Lippen, denen er den Hauch eines Lächelns gegeben hatte, wurden dunkel und verzogen sich, ganz so, als ob das Papiergesicht Schmerzen litte. Das Feuer erreichte die Augen und ließ sie mit einem Mal hell aufglühen.

Dave zuckte zusammen. Das Glas fiel ihm aus der Hand und kullerte über den Boden. Keine Kerze. Kein Feuer. Er musste für wenige Sekunden eingenickt sein.

Er rieb sich übers Gesicht. An seiner Hand klebte der Geruch von Hochprozentigem. Die Zeichnung lag immer noch auf seinem Schoß. Um ihn drehte sich alles.

‚Du bist ja bescheuert. Besessen! Sieh dich mal an!‘ Sein verzerrtes Spiegelbild blickte ihn von der Flasche aus an. ‚Midlifecrisis!‘, höhnte die Stimme in seinem Kopf.

Energisch klappte er den Block zu und erhob sich taumelnd. Das war doch alles totaler Blödsinn und Verfolgungswahn obendrein. Er kannte das Mädchen nicht. Sie kannte ihn nicht. - Niemand kannte ihn. Das war ausgeschlossen. Er würde den Block jetzt in seinen Schreibtisch legen, wo er hingehörte. Jawohl! Und dann würde er nach oben ins Schlafzimmer gehen, wo er hingehörte, sich neben seiner Frau ins Bett legen und seinen Rausch ausschlafen.

Es war alles doch ganz leicht zu erklären. Er hatte zurzeit eine Schreibblockade, war unzufrieden mit sich. Dazu kam, dass Caitlin auf der Arbeit extrem viel zu tun hatte. Sie hatten seit über drei Jahren keinen gemeinsamen Urlaub mehr gemacht. Das alles schlug doch nun einmal aufs Gemüt. Ja, das war̕s. Einfach nur viel zu viel Mist in der letzten Zeit …

Vermutlich hätten sich seine benebelten Gedanken noch eine ganze Weile weiter so um sich selbst gedreht, wenn nicht plötzlich ein markerschütternder Schrei durchs Haus geklungen wäre.

Er kam eindeutig aus Saras Zimmer. Mit wenigen Schritten eilte er zur Treppe. Immer drei Stufen auf einmal nehmend, sprintete er nach oben. Das Adrenalin vertrieb den größten Teil des Alkohols aus seinem Kopf. Auf der letzten Stufe schlug er allerdings noch einmal zu und brachte ihn ins Taumeln. Dave spürte mehr, als dass er sah, wie ein großer, menschlicher Schatten mit einem Satz über seinen Kopf an ihm vorbei hechtete und die Treppe hinunter flitzte. Er blickte auf und sah seine Frau im Flur stehen, das lange, blaue Nachthemd flatterte im Wind der offenen Balkontür hinter ihr.

Mit einem Kopfnicken gab sie zu verstehen, dass sie in Saras Zimmer gehen würde. Dave brauchte ein wenig, um es zu begreifen, drehte sich dann aber um und hetzte die Stufen wieder hinab. Die Gestalt war bereits an der Terrassentür. Sie machte sich gar nicht erst die Mühe, nach dem Griff zu suchen, sondern sprang einfach mitten durch die Scheibe, als wäre die gar nicht da. Für Daves Verständnis unendlich langsam, zerbarst das Glas und flog in alle Richtungen auseinander. Er merkte nicht, dass er über Scherben weiterlief.

Die schwarze Gestalt war entsetzlich schnell. Er jagte sie zwischen den alten Obstbäumen hindurch. Fast hatte er den Eindruck, der Einbrecher flöge über die unebene Wiese. Wofür ging er eigentlich jeden Tag laufen?

Der Verfolgte erreichte das Feld mit einem Vorsprung von vielleicht fünfzig Metern. Dave gab sich noch nicht geschlagen und rannte weiter. Im Wald kannte er sich gut aus. Dort war es äußerst unwegsam. Die kühle Nachtluft half ihm, den Whiskey auch noch für den nächsten halben Kilometer zu ignorieren. Er kam dem Flüchtigen zwar nicht näher, hielt jedoch den Abstand, bis ihn mit einem Mal die Kräfte verließen. Ihm wurde schwindelig und seine Eigenweide drehten sich einmal um sich selbst. Dave fiel auf die Knie und würgte. Aus dem Augenwinkel sah er noch, wie die Gestalt mit der Schwärze des Waldes verschmolz.

Seine Fäuste bohrten sich wütend in den lehmigen Ackerboden. Eine ganze Weile starrte er wie betäubt auf die Stelle, an der der Einbrecher verschwunden war. Warum, zum Teufel, hatte er den Mann nicht gehört, begann er sich zu fragen. Er war darin ausgebildet worden, jahrelang geschult, Leute zu bemerken, die unbemerkt bleiben wollten. Er konnte doch nicht alles verlernt haben.

Langsam rappelte er sich auf und taumelte zu den ersten Bäumen. Zwischen zwei großen Weiden war der Mann verschwunden. Daves Blick sondierte akribisch jeden Millimeter des Bodens, betrachtete das Gestrüpp. Keine Spuren im feuchten Untergrund, nicht einmal ab-geknickte Zweige. War er vielleicht doch ein Stück weiter links oder rechts in den Wald hinein?

Dave schlich ein paar hundert Meter an den Bäumen entlang, ohne jedoch etwas zu finden. Seltsam. Entweder war dieser Kerl verdammt gut oder von seinen einstigen Fähigkeiten war wirklich nicht viel mehr übrig geblieben als die bloße Erinnerung.

Der Wind drehte und blies Dave seinen eigenen betrunkenen Atem ins Gesicht. Er musste unwillkürlich husten. Missmutig drehte er dem Wald schließlich den Rücken zu. Hier konnte er ohne Licht nichts mehr ausrichten. Während er sich umdrehte und zum Haus zurück stolperte, kam ihm auf einmal Saras entsetzter Schrei wieder in den Sinn. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass dort zu Hause seine Frau und seine Tochter auf ihn warteten. Dieser Einbrecher hatte dem Kind vielleicht etwas getan!

Angstschweiß kroch auf seine Stirn. Warum hatte er nicht zuerst die Polizei gerufen, Türen und Fenster verriegelt, das Haus durchsucht, ob sich da eventuell noch jemand herumtrieb? Er hatte es mit einem Mal sehr eilig wieder zurückzugelangen.

Das Wohnzimmer war hell erleuchtet, als er durch die Terrassentür trat. Sara saß auf dem Sofa. Sie war in eine bunte Wolldecke gehüllt. Ihr Gesicht war kreidebleich. In der Hand hielt sie einen Becher heiße Schokolade, in den sie hinein stierte. Ihre Mutter nahm gerade die fast leere Whiskykaraffe, verkorkte sie und stellte sie zurück in den Schrank. Ihre Augen streiften Dave kurz, als er hereinkam, dann bückte sie sich nach dem Kohlestift, der sich in seinen Einzelteilen auf dem weißen Hochflorteppich verteilt hatte. Ihr Blick hätte einen ausgewachsenen Drachen töten können.

Sie machte Anstalten, auch den Skizzenblock aufzuheben, doch ihr Mann war schneller. Hastig klappte er ihn zu, trug ihn ins Nebenzimmer zu seinem Schreibtisch und legte ihn in die oberste Schublade. Im Wohnzimmer konnte man hören, wie ein Schlüssel gedreht wurde.

„Komm Kind, trink aus und leg dich dann wieder hin.“ Caitlin strich ihrer Tochter eine lange, dunkle Strähne aus dem Gesicht.

„Was ist denn eigentlich passiert?“, fragte Dave vorsichtig.

Sara blickte zu ihrem Vater auf und wollte schon antworten, als ihre Mutter ihr das Wort abschnitt. „Wenn es dich interessiert, kannst du dir ja morgen ihre Aussage bei der Polizei anhören. Jetzt ist Zeit zum Schlafen. Zumindest für alle, die nicht gerade ihre Inspiration am Grund einer Schnapsflasche verloren haben und danach tauchen müssen.“ Sie wollte ihrem Mädchen den Arm um die Schulter legen, aber Sara wand sich daraus frei.

„Ich geh schon mal hoch“, murmelte sie. Die Luft im Zimmer war so aufgeladen, dass man es dort kaum noch aushalten konnte. Sara hörte, wie hinter ihr die Wohnzimmertür geschlossen wurde. Morgen früh würde sie ihren Vater wohl auf der Couch vorfinden.

6.

Das Hallen ihrer Schritte auf dem großen, leeren Schulhof klang so unbeschreiblich vertraut, dachte Fenia, als sie neben Yvonne auf den Eingang zuging. Sie waren mal wieder die Letzten, - wie früher schon immer. Dabei war es eigentlich gar kein Problem pünktlich zu sein. Der Bus fuhr nur fünfzig Meter von ihrem und Yvonnes Häusern entfernt. Er kam gute zwanzig Minuten vor Unterrichtsbeginn an. Sie verpassten ihn trotzdem an vier von fünf Wochentagen, weil Yvonne im Bad stets die Zeit vergaß. Meistens nahm Yvis Vater sie dann mit zur Schule, denn seine Versicherung hatte ihre Geschäftsstelle ganz in der Nähe. Heute Morgen war er allerdings schon weg gewesen. Jan hatte sie gefahren.

Fenias Herz schlug heftig. Hier hatte sich wirklich nichts verändert. Der Rasen war frisch gemäht, fünf Zentimeter lang wie immer. Die großen Fliederbüsche begannen gerade zu blühen und ließen ihren süßlichen Duft durch die Morgenluft wehen. An der Gartenmauer waren ein oder zwei neue Graffiti hinzugekommen, ansonsten war sie aber noch so marode, wie Fenia sie in Erinnerung hatte. Insgesamt hatte die Schule ihren trostlosen Anblick nicht verloren. Sie hatte vor vier Jahren eigentlich schon seit langem gestrichen werden sollen, was aber offensichtlich bis heute noch nicht geschehen war.

Erinnerungen flanierten mit ihnen gemeinsam über den menschenleeren Platz. Fenia fragte sich, ob sie damals glücklich gewesen war. Gemeinsam mit Joe, und später auch mit Martin, hatte sie an den Pausentischen da drüben gesessen. Für einige wenige Wochen hatte sie ganz und gar dazu gehört. Sie war normal gewesen. Etwas, was sie sich seit dem Kindergarten immer gewünscht hatte.

„Komm, wir sind eh schon unpünktlich. Die Mischke gibt immer noch Strafarbeiten fürs Zuspätkommen“, drängte Yvonne und zog Fenia am Ärmel, die ganz versonnen unter den großen Platanen bei den Sitzgruppen stehen geblieben war. Fenia ließ sich mitschleifen. Die Erinnerungen winkten noch einmal von fern, als sie durch die Eingangstür trat.

Frau Mischke. Ihr Kopf suchte nach einem Gesicht zu dem Namen. Hager, dunkelblond, knallrot geschminkte Lippen? Nein, das war Frau Schulz.

Plötzlich standen sie vor der Klassentür und Yvonne hatte schon angeklopft. Wollte sie das überhaupt?

Sie war nicht mehr wie früher. Fast vier Jahre war es her, dass sie zuletzt eine Schule von innen gesehen hatte. Eine halbe Ewigkeit. Die Zeit hatte sie verändert, mehr, als nur in ihrem Gesicht zu lesen war. Mathe und Deutsch, Chemie, Physik, - Dinge, die hier wichtig waren, sie waren es nicht. Nicht für sie. Würden es nie wieder sein.

Und dann waren da all die Mitschüler!

Sie wusste, wie es sich anfühlte, angestarrt zu werden. Sie kannte es, unzähligen, forschenden Blicken ausgeliefert zu sein. Doch das hier würde anders werden. Sie kam sich vor wie ein Tier in einem Zoo, das sich vor dem neugierigen Gaffen der Passanten nicht retten konnte. Passanten, die seine Handlungen zu deuten versuchten, und doch nicht im Entferntesten begreifen konnten, wie es sich wirklich fühlte. Panik wollte sich in ihr breit machen, aber nur für einen kurzen Moment. Dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle. Auch das etwas, was sie gelernt hatte. Letztendlich. Es gab nichts Schlimmeres, als sein Innerstes preiszugeben. Es machte verletzlich.

Die Tür öffnete sich. Sie traten ein. Dreiundzwanzig neugierige Gesichter starrten sie an und sahen bloß einen starren, ausdruckslosen Blick, der durch sie alle hindurch glitt. Yvonne entschuldigte sich für sie beide. Fenia könne nichts dafür, dass sie zu spät waren. Die rundliche Gestalt von Frau Mischke nickte mit dem ganzen Körper. Durch die rechteckigen Brillengläser musterte sie Fenia von oben bis unten. Ihr Mund ging auf und gleich wieder zu. Vermutlich wusste sie nicht, was genau sie sagen sollte. Schließlich sagte sie nur: „Neben Tobias ist noch ein Platz frei.“

Fenia blickte durch die Klasse und sah, wie ein sommersprossiger Junge aus der letzte Reihe ihr zögerlich zuwinkte. Tobias … Sie glaubte sich zu erinnern, dass er in der Fußballmannschaft der Schule gewesen war. Die vergangenen Jahre hatten sie alle ganz schön verändert. Dennoch waren es die Blicke neugieriger Kinder, die auf ihr lasteten, während sie stumm durch die Klasse zu ihrem Platz ging. Sie wussten alle so schrecklich wenig von dieser Welt. Sechsundvierzig Augen folgten jedem ihrer Schritte. An ihrem Platz angekommen nahm sie die Jacke ab und ließ sich auf den leeren Stuhl fallen. Ein zögerliches Lächeln huschte über das Gesicht ihres Nachbarn. „Hi. Ich bin Tobi“, flüsterte er und reichte ihr die Hand. Fenia nickte nur.

Yvonne hatte sich vorne neben Nina in die erste Reihe gesetzt und schaute sich nun zu ihr um.

„Wenn ich dann bitte wieder eure Aufmerksamkeit auf Goethes Faust lenken dürfte?“ „Die rechte oder die linke?“, tönte es von irgendwoher, aber keiner fand diesen Uraltwitz lustig.

Frau Mischke fuhr mit dem Unterricht fort und der normale Geräuschpegel hastig kritzelnder Stifte, tuschelnder Schüler und quietschender Kreide stellte sich ein.

Fenias Blick glitt immer wieder zum Fenster. Gegen Ende der ersten Stunde ging draußen die Sonne auf und malte goldene Kringel auf den Rasen. Ein paar Sperlinge pickten Krumen aus einem Pausenbrot vom Vortag. Eine dicke Amsel zupfte in ihrer Nähe einen Wurm aus dem weichen Erdboden. Zweimal musste Tobias Fenia in die Seite stupsen, als diese von der Lehrerin aufgefordert wurde weiterzulesen.

„Zwei Seelen wohnen ach in meiner Brust,

die eine will sich von der andern trennen.“

Doktor Faust sprach ihr aus der eigenen Seele. Es könnte alles gut und alles normal sein, jetzt, wo sie endlich wieder zu Hause war. Die Worte plätscherten ohne Betonung aus ihrem Mund, während ihre Gedanken wieder in die Vergangenheit irrten.

***

Vier Jahre zuvor ...

Das Erste, was wieder an ihr Bewusstsein drang, war ein lautes, gleichmäßiges und durchdringendes Summen. Um sie herum war alles weiß: die Decken, die Wände, das Bett, in dem sie lag. Ihr Kopf pochte heftig und sie wollte sich an die schmerzende Stelle fassen. Sie hob die Hand und sah den durchsichtigen Plastikschlauch, der in einer rosa Kanüle auf ihrem Handrücken mündete. Einen Augenblick war Fenia verwirrt. Sie war in einem Krankenhaus. Was machte sie hier?

Sie versuchte sich ein wenig mehr aufzurichten. Sofort zahlte ihr Kopf ihr diese Anstrengung mit noch heftigeren Schmerzen heim. Sie ließ sich wieder zurück ins Kissen sinken und schloss für einen Moment die Augen. Hinter den Lidern wirbelte alles durcheinander.

Sie musste gestürzt sein am See.

Warum?

Ihr Kopf pochte heftiger, je mehr sie sich zu erinnern versuchte. Irgendwann gab sie auf. Sie hatte Durst. Sie öffnete die Augen wieder und sah sich um. - Es gab hier doch solche Klingeln, mit denen man eine Schwester rufen konnte.

Links von ihr standen nur ein paar Stühle vor einem leeren Tisch, dahinter die weiße Wand. Sie wurde auch nicht schöner, wenn man eine Weile darauf starrte, stellte Fenia fest und drehte ihren benommenen Kopf in die andere Richtung. Sie fühlte sich fast, als könnte sie sich beim Denken zusehen, so langsam und verschwommen lief alles ab. Ihre grauen Zellen hatten wohl ganz schön einen abbekommen.

Sie brauchte eine Weile, um zu registrieren, dass rechts auf einem kleinen Nachttisch eine Vase mit Blumen stand, die offensichtlich für sie waren. Auf dem Zettel daran las sie ihren Name. Daneben stand sogar ein Wasserglas. Fenia griff danach und trank einen Schluck. Ihre Hand zitterte, als sie das Glas wieder abstellte. Vorsichtig nahm sie den Zettel. Nicht, dass er irgendwo festgebunden war und sie gleich in Blumen-wasser schwamm.

Weiße Rosen. Brachte man die nicht eher zu Beerdigungen mit? Hübsch waren sie auf jeden Fall.

Der Zettel war gar kein Zettel, sondern ein kleiner Umschlag. Die Handschrift war groß und geschwungen, nicht verschnörkelt. Fenia kannte sie nicht. Neugierig öffnete sie ihn und nahm das gefaltete Blatt heraus. Es war mit derselben Schrift beschrieben, Zeile für Zeile. Eine schöne Handschrift. Der Sinn der Worte drang jedoch erst einmal nicht zu Fenia durch. Sie starrte nur auf das Blatt.

Plötzlich ging die Tür auf. Eine junge Frau mit weißem Kittel und rosa Crocs kam herein. Alina stand auf dem kleinen Schildchen auf ihrer Brust. Sie war höchstens fünfundzwanzig. Sie lächelte Fenia an.

„Na, ausgeschlafen?“

Fenias Augen folgten ihr schweigend durch den Raum. Schwester Alina ging zum Fenster und kippte es. Augenblicklich drang Baulärm von draußen herein.

„Es stört dich doch nicht, oder? Die Luft hier drin ist furchtbar stickig.“

Fenia schüttelte den Kopf. Jetzt kam die Krankenschwester zu ihrem Bett. Routiniert rollte sie den Ärmel ihres dünnen Nachthemdes hoch, maß den Blutdruck und trug ihn auf einer Karte ein, die am Fußende des Bettes hing. Sie legte Fenia kurz die Hand auf die Stirn.

„Fieber hast du keins mehr.“

Fenia schaute ihr direkt ins Gesicht. Die junge Frau wich ihrem Blick aus. Sie schaute auf Fenias Hände und entdeckte den Brief.

„Netter junger Mann, der dir die Blumen gebracht hat. Ist das dein Freund?“

„Nein. Also, … ja, möglich, … also, ein Freund von mir … sicher. Also nicht, … ich meine ... Ich bin mit keinem Jungen zusammen, wenn Sie das meinen.“

Schwester Alina lächelte noch breiter über ihr freundliches Gesicht.

„Als ich so jung war wie du, wär̕s mir auch peinlich gewesen, so was gefragt zu werden. Aber ein netter Kerl ist er schon. Hübsche blaue Augen.“ Noch einmal blickte sie zum Fenster, dann zu ihr und dann verließ sie das Zimmer wieder.

‚Joe hat keine blauen Augen‘, dachte Fenia.

Neugierig geworden widmete sie sich wieder dem Brief. So fein und sauber die Handschrift war, so ungelenk schienen die Worte, die sie formte:

„Hallo Fenia.

Ich wollte dir das schon früher sagen. Erst mal hoffe ich, es geht dir besser. Na ja, muss ja, wenn du das hier lesen kannst. Komischer Zufall, das mit dem Unfall. Ich war auf dem Weg zu dir. Deine Mutter meinte, ich finde dich an diesem See. Ich wollte sagen, es tut mir leid. Ich hoffe du nimmst meine Entschuldigung an.

Martin.

P.S. Gute Besserung.

P.P.S. Bevor du dich für verrückt hältst, ich habe es auch gesehen.“

Dieser letzte Satz stand zweimal da. Das erste Mal war er durch-gestrichen worden, dann hatte Martin ihn aber doch wieder unten drunter geschrieben. Darunter stand noch ein Satz der mit P.P.P.S. begann. Allerdings war er so rabiat mit Kuli getilgt worden, dass Fenia ihn gar nicht mehr lesen konnte.

Martin?!Jetzt machten die blauen Augen auch Sinn. Aber der Brief nicht. Warum entschuldigte er sich? Woher der plötzliche Sinneswandel? Und was meinte er mit: ‚Ich habe es auch gesehen.‘?

Die Kopfschmerzen stiegen ins Unerträgliche. Fenia klingelte. Zehn Minuten später hatte Schwester Alina ein zweites kleines Fläschchen mit dem Tropf verbunden. Die Schmerzen ließen langsam nach und Fenia war dabei einzuschlafen.

***

Es läutete. Fünfminutenpause. Die vorher so stille, schläfrige Klasse wurde auf einmal lebhaft und geschwätzig. Überall in den Bänken drehten die Schüler sich zueinander um und begannen aufgeregt zu tuscheln. Fenia brauchte nicht fragen, was das Gesprächsthema des heutigen Tages war. Sie blickte kurz zu Yvonne, die von ihren Mitschülern umringt war, und kreuzte dabei zwei, drei neugierige Blicke, die sie von den anderen zugeworfen bekam. Beschämt wendeten sie sich aber schnell wieder ab.

Yvonne suchte ebenfalls Blickkontakt mit ihr, was aber gar nicht so einfach war. Sie schien von Fragen bedrängt zu sein und zuckte in Fenias Richtung nur hilflos mit den Schultern. Fenia schenkte ihr so etwas wie ein Lächeln. Als hätte sie damit nicht gerechnet. Man verschwand nicht einfach so für ein paar Jahre, kam dann zurück, setzte sich mit den alten Leuten an einen Tisch und alles war wieder wie vorher.

Sie seufzte leise, erhob sich dabei unbewusst und schlenderte zum Fenster. Mit angezogenen Knien ließ sie sich auf der breiten Fensterbank nieder. Ihre Augen wanderten zu der alten Kastanie, die vorn am Schultor auf dem Rasen stand. Nichts war wie vorher.

Ihr Blick war abwesend, ihre Gedanken weit weg. Was andere dachten oder vermuteten, interessierte sie nicht. Dass sie die Wahrheit kannte über das, was geschehen war, das allein zählte. Nein, eigentlich zählte nur, dass es diese Wahrheit überhaupt gab.

Sie hätte sie vergessen können, so, wie sie die Polizei glauben ließ. Sie hätte ohne Erinnerungen an all die Tage, Wochen, Monate hierher zurückkehren können. Es würde nichts ändern. Sie fühlte sich leer, wie ein Fass, aus dem der letzte Tropfen seines Inhaltes gezapft worden war.

„Von den Toten auferstanden!“, „Mysteriöser Mordfall muss neu aufgerollt werden – Opfer lebt!“

Die Schlagzeilen der letzten Wochen hatten sich jeden Tag aufs Neue übertroffen in ihren reißerischen Darstellungen von dem, was passiert war. Doch keine, nicht einmal die abwegigste und wildeste Spekulation, war der Wahrheit auch nur im Entferntesten nahe gekommen.

Fenias Kopf sank auf ihre Knie. Dort vorn bei den Bäumen hatte sie in der Pause immer gesessen. Da war sie schon mit Martin zusammen gewesen. Es hatte sich komisch angefühlt, aber auch irgendwie schön.

Martin ...

Der Gong ertönte und erstickte die gerade aufsteigenden Tränen im Keim.

„Gefühle machen uns verletzlich, Fenai! Wenn du deine Gefühle beherrschst, gibt es keine Schmerzen für dich auf dieser Welt.“

Sie ging zurück zu ihrem Platz und schrieb ohne Elan mit, was die Lehrerin ihnen zum gerade gelesenen Text diktierte.

7.

„Das war alles?“ Der Polizeibeamte überflog noch einmal, was er da gerade getippt hatte.

„Alles, was ich gesehen habe, ja“, beteuerte Sara.

„Gut, dann kommen wir nun zu Ihnen, Herr Vindour.“ Er rückte sich die Brille zurecht und schaute Dave mit seinen eulenhaften Augen an.„Schon mal vorweg, kann ich nachher ein Autogramm von Ihnen haben? Meine Frau ist ein großer Fan Ihrer Bücher. Ich übrigens auch. Beeindruckend, wie lebendig sie ihre Welt beschreiben. Man hat jedes Mal fast das Gefühl, man sei um tausend Jahre in die Vergangenheit gereist.“

Dave lächelte. Es hatte ihn immer mit einem zwiespältigen Gefühl versehen berühmt zu sein. Gut, seine Bekanntheit reichte bei weitem nicht an die eines Popstars oder Schauspielers heran, aber dennoch genoss er den Ruhm auf gewisse Weise. Es war ein wenig wie damals zu Hause. Auch wenn er dort für andere Dinge bekannt gewesen war, als das Morden auf dem Papier. Ein Hauch Unbehagen war allerdings immer dabei. Manchmal wollte er am liebsten sagen: „Nicht doch. Ein paar Zeilen zusammenschreiben, dafür sollte man keine Autogramme geben.“ Aber falsche Bescheidenheit übten so manch andere seiner Branche und dieses Gehabe kotzte ihn an. Deswegen machte er nicht viel Wind darum, wenn ihn einer fragte, und lehnte es schon gleich gar nie ab. Das machte einen doch erst für die Presse interessant.

„So“, der Beamte räusperte sich, um Daves Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. „Dann schildern Sie doch bitte einmal Ihre Beobachtungen, Herr Vindour.“

„Ja, gut. Also ich saß unten im Wohnzimmer.“

„Um drei Uhr in der Nacht?“

„Ja genau. Es war zwei Uhr achtundfünfzig, wenn man nach der Uhr an unserem DVD-Gerät geht.“

„Das wissen Sie noch so genau?“

„Ja. Ich hatte zufällig gerade drauf geschaut.“

„Was haben Sie um diese Uhrzeit im Wohnzimmer gemacht?“

„Ich konnte nicht schlafen. Wissen Sie, wenn mir Ideen für ein neues Buch durch den Kopf spuken, kann ich oft nicht schlafen“, log Dave.

Der Beamte hielt im Schreiben inne und sah zu ihm auf. „Ein neues Buch? Ist ja interessant. Wird es bald fertig sein?“

„Wenn mich in nächster Zeit öfter nachts solche Gäste behelligen, dann wohl eher nicht.“

„Oh ja, Verzeihung.“

Gewissenhaft wandte er sich wieder dem Protokoll zu. Dave erzählte, was er gesehen und gehört hatte. Der Schrei seiner Tochter, der Mann in dem schwarzen Anzug auf der Treppe. Ob er groß oder klein war, konnte Dave nicht sagen. Vielleicht so mittel. Haarfarbe? Keine Ahnung. Er hatte eine Maske getragen. Mann oder Frau? Auch das wusste Dave nicht genau. Sein Stolz verbot ihm eigentlich zuzugeben, dass es auch eine Frau hätte gewesen sein können. Also eigentlich eher ein Mann. Sicher war er sich allerdings nicht.

Sie verbrachten den ganzen Vormittag auf dem Revier. Caitlin war nicht mitgekommen. Auch wenn sie am Morgen beim Frühstück noch davon gesprochen hatte, dass sie Dave das Ganze eigentlich nicht anvertrauen wollte. Dann hatte aber die Kanzlei angerufen. Es sei dringend. „Bitte mach einmal etwas richtig, David“, hatte sie gesagt, ihre Jacke genommen und war gefahren.

„Müsst ihr euch eigentlich immer streiten?“ Sara schaute vor sich auf die Straße, während sie zurück zum Parkdeck gingen.

„Es ist im Moment alles nicht so einfach, Schatz. Deine Mutter hat zu viel Stress.“

„Aber du hast zu wenig, Paps. Sie glaubt, dass alles an ihr hängen bleibt.“

Dave konnte dazu nichts sagen. Als Schriftsteller schrieb man, wenn man Ideen hatte, wenn nicht, dann nicht. Zumindest dann, wenn man es sich finanziell erlauben konnte, was für ihn, Gott sei Dank, zutraf.

„Warum hast du eigentlich getrunken heute Nacht?“

Ein tiefer Seufzer entfuhr ihm. Sara schaute ihn an.

„Tja, deine Mama hat wohl recht. Ich bin nicht so ganz der Vorzeigevater, wie?“

„Das ist keine Antwort.“

„Vielleicht will ich dir keine geben.“

Sie schwiegen, bis sie zum Auto kamen. Dave schloss auf und hielt seiner Tochter dann die Tür auf. Sie grinste.

„Danke, der Herr.“

„Bitte sehr, die Dame.“

Beim Verlassen des Parkhauses nahm ein Mercedes Dave die Vorfahrt. Er fluchte, schaltete ruckartig und trat aufs Gas. An der nächsten Ampel hatte er ihn eingeholt und gab ihm wild gestikulierend zu verstehen, was er von Autofahrern wie ihm hielt.

„Paps!“, schrie Sara mit einem Mal, als Dave weiterfuhr.

„Das war aber doch auch ein Idiot!“

„Ja schon, aber du bist falsch abgebogen. Fahr hier links.“

„Wo?“

„Zu spät. Jetzt können wir einmal durch die ganze Stadt durch.“

„Warum? Ich kann doch da vorn abbiegen.“

„Ne, hier sind nur Einbahnstraßen. Echt mal Papa, du bist so verpeilt. Wie hast du dein Leben eigentlich auf die Reihe gekriegt, bevor du Mama kennengelernt hast?“

„Werd' mal nicht frech, Fräulein! Schließlich verdiene ich das Geld, von dem deine teuren Tanzstunden bezahlt werden und...“

„ … das Klavier und der Gesangunterricht. Ja Papa, du bist ganz toll. Aber der beste Autofahrer bist du nicht.“

Sie streckte ihm die Zunge raus. Dave grinste in sich hinein. Sie hatte recht. Er war wie immer unkonzentriert. Dann sah er plötzlich ein Schild vor sich. Tierheim war darauf zu lesen. Prompt riss er das Lenkrad herum. Sara hielt sich an ihrem Sitz fest.

„Mensch Papa!“

„Du bist ja fast schlimmer, als deine Mutter, wenn du meckerst. Armer Mann, der dich mal heiraten wird!“

„Witzig, witzig. Wo willst du eigentlich hin?“

„Na, vielleicht war es ja Schicksal, dass ich falsch abgebogen bin. Wie wäre es mit einem Wachhund? Nach dem Einbruch dürfte deine Mutter nichts dagegen haben, wenn wir einen vierbeinigen Bodyguard bei uns engagieren.“

Saras Augen begannen sofort hell zu strahlen. Einen Hund hatte sie sich immer schon gewünscht. Ihr Vater wollte ihr vor zehn Jahren schon einen schenken.

„Ach ja, und die Arbeit mit dem Vieh bleibt dann an mir hängen?“

War Caitlin wirklich schon damals so mürrisch und nörgelig gewesen? Dave schüttelte verwundert den Kopf.

Was hatte er nur wann falsch gemacht, dass alles so aus dem Ruder gelaufen war?

Die Reifen knirschten auf dem geschotterten Parkplatz. Sie standen kaum, da war Sara auch schon abgeschnallt und zu dem großen eisernen Tor gelaufen. „Warte, warte.“ Es war gut, dass wenigstens seine Tochter ihm das Gefühl gab, nicht immer alles falsch zu machen.

8.

Vier Jahre zuvor ...

Fenia war jetzt seit drei Tagen im Krankenhaus. Ihre Kopfschmerzen waren nicht mehr so schlimm, aber die Gehirnerschütterung hatte sie noch nicht ganz überstanden. Ab und an musste sie sich noch übergeben. Ihre Mutter war gerade zu Besuch dagewesen und hatte ihr ein Buch mitgebracht. Die Buchstaben tanzten ein wenig vor ihren Augen, wenn sie sich länger konzentrierte, und so musste sie immer wieder Pause machen. Plötzlich klopfte es an der Tür.

„Ja?“, sagte sie zögerlich. Nichts geschah. Nach einer Weile klopfte es erneut. Jetzt rief Fenia lauter. “Ja, herein!“ Die Klinke bewegte sich und die Tür schob sich nach innen auf. Es war Martin.

„Hi, kann ich reinkommen?“

Fenia nickte. Sie hatte ihn nicht erwartet. Er trat langsam näher und wich dabei immer wieder ihrem Blick aus.

„Ah, du hast den Brief schon gelesen.“ Er deutete auf die Blumen und den nicht mehr vorhandenen Umschlag daran. Der Brief lag jetzt in Fenias Nachttischschublade. Sie hatte ihn noch ein paarmal überflogen, weil sie sich unsicher war, ihn richtig verstanden zu haben. Sie schwiegen beide eine Weile.

„Willst du dich nicht setzen?“ Sie deutete auf die Stühle, die direkt am Fenster standen. Martin zog sich einen davon an ihr Bett und ließ sich hineinsinken. Er schaute immer noch wie gebannt auf die Bettdecke, als gäbe es dort etwas sehr Spannendes zu beobachten. Fenia schaute auf dieselbe Stelle. Die Minuten vergingen, ohne dass einer von ihnen ein Wort sagte. Die Situation war irgendwie zu befremdlich.

„Ich wollte noch einmal persönlich sagen, dass es mir leid tut“, begann Martin schließlich und sah ihr bei diesen Worten ins Gesicht.

Seine Augen waren wirklich faszinierend. Dunkelblau. Fenia starrte sie einfach nur an. Sie passten perfekt zu den schulterlangen, hell-blonden Haaren. Martin war schon ein gutaussehender Junge. Aber er war auch ein arroganter Mistkerl.

„Warum?“, fragte sie gerade heraus.

Martin starrte sie verblüfft an. „Warum was?“

„Warum du dich auf einmal entschuldigst?“

„Soll ich wieder gehen?“ Seine Stimme wurde patzig.

„Ich kann dich nicht davon abhalten, wenn du das willst.“ Ihre Worte klangen abweisender, als sie gemeint waren.

Er sprang auf und wandte sich zur Tür. „Gut, wenn du nicht willst. Ich meine, ich hab es nicht nötig, hier zu sein.“

„Nein, gewiss nicht. Deine aktuelle Freundin wird dich auch sicherlich schon vermissen. Wie heißt sie denn? Kiara, Jenny oder bist du doch endlich mit Lena zusammen?“

Die Tür knallte und seine stapfenden Schritte entfernten sich wütend auf dem Flur. Fenia schüttelte den Kopf. Er tat wieder weh. Auf solche Besuche konnte sie echt verzichten. Sie schloss die Augen.

Wenige Augenblicke später tippte sie jemand an der Schulter an. Konnte bitte irgendwer den Presslufthammer von ihrer Stirn nehmen?

„Es tut mir leid. Wieder einmal.“ Martin nahm ihre Hand und drückte ein Wasserglas hinein. „Aspirin“, erklärte er.

Fenia trank. „Was soll das? Findest du lustig, was du da machst?“

„Ich habe mich entschuldigt. Jetzt fang bitte nicht wieder an.“

Fenia machte den Mund wieder zu und schluckte die bissigen Worte hinunter. Er schien es ernst zu meinen, oder? Wäre er sonst noch hier? Sie wusste trotzdem immer noch nicht so recht, was sie mit der Situation anfangen sollte.

„Weißt du, alle beurteilen mich immer nach dem, was sie glauben über mich zu wissen. Aber ich bin nicht so, wie du denkst.“

„Ach nein?“

„Ich weiß, dass das blöd klingt.“

„Ja, tut es.“

Wieder Schweigen.

„Wie soll man einen Menschen denn beurteilen, wenn nicht nach dem, was er tut und sagt?“

„Ich weiß nicht“, erwiderte er und zog sich einen Stuhl neben ihr Bett. „Aber bist du denn wirklich einfach nur ein stummer, langweiliger Fisch, der versucht möglichst wenig aufzufallen?“

Fenia sah ihn an. „Das denkt ihr alle von mir, nicht wahr?“

„Ja. … Also nein. Nicht mehr. - Weißt du, Joe hat neulich gesagt, dass ich mal darüber nachdenken soll, warum die Leute manche Dinge über mich sagen. Warum sie bestimmte Dinge tun. Aber glaub mir, das mache ich. Nur habe ich gelernt, dass es egal ist. Es zählt doch ohnehin nur der erste Eindruck. Wenn der schlecht ist, dann kannst du es vergessen. Man kann sich nicht immer aussuchen, wer man sein will. Wir spielen doch alle nur die Rolle, in die wir irgendwann mal gesteckt worden sind. “

Er war aufgesprungen und lief jetzt im Zimmer auf und ab. Seine Blicke kreuzten sich immer wieder mit Fenias, die ihm mit den Augen folgte.

„Seit ich fünf war, habe ich immer nur zu hören gekriegt, dass ich miese Eltern hatte, die mich einfach nicht wollten. Sie haben mich mitten im Wald ausgesetzt, und wenn mich nicht zufällig irgendwelche Spaziergänger aufgelesen hätten, dann gäb‘s mich nicht mal mehr. Sie wollen, dass man ihnen dankbar ist und begreift, dass man ohne sie nichts wäre. Nicht mal mehr am Leben. Was wissen die denn schon wirklich? Meine Eltern mochten mich!“ Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und funkelte Fenia an. „Ich weiß nicht mehr, wer meine Eltern waren oder wo wir gewohnt haben, aber ich weiß noch, dass es nebelig war, als ich zum Spielen in den Garten ging. Meine Mutter war bei mir. Sie hat mich gerufen. Ich habe mich versteckt. Mehr weiß ich nicht mehr. Nur, dass sie gerufen hat, immer und immer wieder, bis ihre Stimme immer leiser wurde. Im Heim haben sie das nicht geglaubt. Sie sagen, Kinder erfinden so etwas, um sich ein besseres Selbstwertgefühl zu geben, sich nicht ungewollt zu fühlen. Scheißpsychologen. Aber alle sind so. Selbst du!“ Anklagend blickte er sie an.

Fenia hielt seinem Blick stand. Sie begriff, dass ihre Worte ihn so tief getroffen hatten, wie nichts anderes ihn hätte treffen können. Seine Eltern waren Martins wunder Punkt.

„Ich wusste das nicht. Das weißt du auch. Hätte ich das, hätte ich das damals bestimmt nicht so gesagt.“

„Nicht so?“

„Ja genau, nicht so. Ich meine, schlimm genug, was dir passiert ist, und dass du drunter leidest. Aber berühmt für Verständnis und Herzensgüte bist du auch nicht. Wie man in den Wald hineinruft, …“

Martin ließ sich wieder in den Stuhl sinken und sah sie an. „Du hast Recht. Und Joe hat Recht. Und deswegen bin ich ja auch hier.“

„Hast du schon mit ihm geredet?“

„Nein. Ich wollte das erst zwischen uns beiden klarstellen.“

„Klarstellen?“

Er zuckte mit den Schultern. Ein besseres Wort fiel ihm anscheinend grade nicht ein. Aber klarstellen klang wirklich doof. Ein Grinsen mogelte sich in sein Gesicht. Dann wurde er schnell wieder ernst. Er sah auf die Uhr. „Die werden mich hier wohl gleich rausschmeißen“, stellte er nüchtern fest. Als er aufstand, um zu gehen, sah er Fenia noch einmal an. „Du bist ein seltsames Mädchen, Fenni.“

„Warum?“

„Weil ich das Gefühl habe, es hat dir Spaß gemacht, dich mit mir anzulegen. Dabei gehen die meisten anderen Streit lieber aus dem Weg. Na ja, die meisten Mädchen, die ich kenne, sind auch irgendwie in mich verschossen.“ Wieder ein Grinsen auf seinem Gesicht, aber eher schüchtern.

„Du solltest gehen, bevor ich meine Meinung über dich gerade wieder ändere.“

„Und du solltest die Haare öfter offen tragen. Das steht dir.“

Bevor Fenia dazu noch etwas sagen konnte, kam ein Pfleger mit ihrem Abendessen ins Zimmer. Sie verzog angewidert das Gesicht. Martin schenkte ihr noch ein Augenzwinkern und tauchte dann unter dem strengen Blick des Mannes hinweg.

***

Diese Erinnerungen waren alle so verdammt lang her. Fenia konnte kaum glauben, dass dies wirklich ihr Leben gewesen sein sollte.

Der Wind strich ihr sanft um die tränenverkrusteten Wangen. Die Äste der altvertrauten Eiche hielten sie zärtlich fest und schaukelten sie hin und her wie eine mitfühlende Mutter, die ihrem Kind den Schmerz nehmen und es trösten will. Es gelang dem Baum nur nicht. Die Erinnerungen waren hier am See noch überwältigender als irgendwo anders. Hier, wo alles angefangen hatte. Hier, wo sie vor vier Wochen wieder aufgetaucht war.

Alles verschwamm in düsteren, blutigen Gedankenfetzen. Ihre Arme und Beine schmerzten noch immer. Sie spürte die gerade erst wieder verheilten Rippen noch bei jedem Atemzug. Mit den Fingern fuhr sie über die schorfigen Krusten an den Handgelenken. Den Ärzten war es ein Rätsel gewesen, dass es überhaupt so schnell ging. Ihrer Meinung nach müsste sie eigentlich noch immer halb bewusstlos auf der Intensivstation liegen. - Stattdessen war sie hier. Doch auch hier wollte sie nicht sein. Darum schloss sie erneut die Augen und floh zurück in die Vergangenheit. Dort war alles besser.

9.

„Was ist denn das für ein Dreck? Und was stinkt hier so furchtbar?“

„Ich mach es grade weg, Mama. Es ist nur der Flur. Auf den Fliesen kann man es ja wieder abwaschen.“ Sara rannte mit Küchenpapier und dem Mülleimer an ihrer Mutter vorbei. „Er macht das auch bestimmt nur, weil er sich hier noch fremd fühlt“, fügte sie entschuldigend hinzu.

„Von wem sprichst du da?“

„Von unserem neuen Haus- und Hofwächter.“ Dave grinste über das ganze Gesicht, als er aus dem Arbeitszimmer trat. Auf seinen Armen, alle viere nach unten hängend, lag ein undefinierbares, schwarzes Knäuel. Es hatte unglaubliche Ähnlichkeit mit einem schmutzigen Wischmop. Caitlin trat ungläubig näher. Sofort hob sich ihr unter all dem Fell eine nass glänzende Schnauze entgegen und ein helles, aufgeregtes „Waff waff!“ erklang.

„Nein, Merlin. Das ist die Mama, die wird nicht angebellt. Die darf hier wohnen.“

„Ach so, darf ich das? Das ist ja nett. Werde ich vielleicht in Zukunft auch mal gefragt, wenn wir hier irgendwas ändern?“ Ihre grauen Augen funkelten böse.

Sara duckte sich in die Ecke, in der sie stand, und Dave setzte den Hund zu Boden. Unbeholfen tapste er umher.

„Wir hatten vor Jahren schon besprochen, dass wir in diesem Haus keinen Hund gebrauchen können!“ Caitlins Jacke flog an den Haken, die Tasche hinterher. Während sie sich mit der Hand durch Gesicht und Haar fuhr, schoss sie ins Wohnzimmer und ließ sich dort auf einen Sessel fallen.

„Schatz, ich dachte, ein Hund könnte uns in Zukunft warnen, wenn nochmal Einbrecher zum Haus kommen.“

„Ich fass̕ es nicht! Jetzt nimmst du diesen Vorfall auch noch als Anlass, mir einen Hund unterzujubeln! Hältst du mich eigentlich für total bescheuert, David?“

„Mama! Paps hat es doch nur gut gemeint. Und du brauchst dich auch gar nicht drum kümmern. Morgens kann er mit Papa joggen gehen und über Tag geht er in den Garten, und nachmittags bin ich ja dann da.“

Die Wohnzimmertür schob sich auf und Merlin, mit dem viel zu langen Fell vor den Augen, stolperte herein. Er rutschte auf dem glatten Boden aus, fiel auf die Nase und heulte jämmerlich auf.

„In den Garten? Und von da aus in den Wald oder wie? Da kriegen wir dann dauernd Ärger mit dem Jagdpächter, weil unser Hund wildert.“

„Ich habe mich schon mal erkundigt. Wir wollten den Garten doch immer mal umzäunen, weißt du noch. Wir hatten mal an eine Bruchsteinmauer gedacht, sodass sie aussieht, als würde sie zum Haus gehören.“ Dave hielt seiner Frau ein Baumarktprospekt unter die Nase und deutete auf das abgedruckte Beispiel.

Merlin winselte währenddessen immer noch und kroch langsam näher. Er hatte schon begriffen, dass mit der rothaarigen Rudelführerin nicht gut Kirschenessen war.

Caitlin blickte zu dem Fellknäuel vor ihren Knien. Vorsichtig legte das Hundebaby ihr eine Pfote auf den Rock. Natürlich hing Dreck dran. Natürlich war es der weiße Rock. Aber Merlin hatte schon gewonnen.

Caitlin hob den kleinen Kerl hoch, der sich das gefallen ließ wie ein Plüschtier, und setzte ihn auf ihren Schoß. Vor Freude jaulte und kläffte er und ließ dabei fröhlich der Natur ihren Lauf. Caitlin sprang auf, als es warm und nass an ihren Beinen wurde. Dann grinste sie aber. Röcke konnte man waschen. Früher war sie auch nicht so pingelig gewesen.

„Komm, Schätzchen. Mama macht sich mal sauber, und dann suchen wir dir eine Schlafdecke vom Dachboden. Daran haben die beiden Helden bestimmt nicht gedacht.“

Natürlich hatten Dave und Sara schon alles für Merlin eingekauft. Leine, Körbchen, Futter, Halsband, aber das musste Caitlin ja nicht wissen. Mit siegessicherem Grinsen verschwand Dave wieder in seinem Arbeitszimmer.

10.

Es war Mittwoch. Der Wecker klingelte um sechs Uhr. Fenia war schon lange wach. Sie kam gerade rechtzeitig wieder zum Fenster herein-geklettert, um ihn ausschalten zu können. Dann war auch schon ihre Mutter an der Zimmertür und klopfte.

„Fenni, bist du wach?“

„Jaha!“ Sie konnte nur mit Mühe ein atemloses Keuchen unterdrücken.

„Okay, unten gibt̕s frische Brötchen.“

„Ich geh̕ noch kurz duschen. Dann komm ich.“

Ihr Puls schlug bis zum Hals. Das war mehr als knapp gewesen. Wenn ihre Mutter reingekommen wäre… Vorsichtshalber wartete sie noch fünf Minuten, bevor sie sich frische Sachen aus dem Schrank nahm und ins Bad ging. Sie schloss die Tür ab und machte die Dusche an. In aller Ruhe rubbelte sie sich währenddessen die nassen Haare trocken und zog sich andere Kleider an. Es fühlte sich wie Verrat an, so heimlich zu tun. Aber hätten ihre Eltern sie verstanden?

Sie konnte sich die Unterhaltung lebhaft vorstellen:

„Warum um Himmels Willen kommst du durch das Fenster, und wieso hast du nasse Haare?“

„Weil ich am Waldsee schwimmen war.“

„Vor sechs Uhr in der Früh? Bei der Kälte?“

„Aber heute ist doch Tagundnachtgleiche.“

Es wirkte so absurd, sowohl dass sie diesen Brauch weiterhin pflegte, wie auch, dass sie es vor ihren Eltern geheim hielt. Lügen und Geheimnisse, das war alles, woraus ihr Leben hier noch zu bestehen schien.

Sie griff in die Tasche der ausgezogenen Hose und nahm ein dunkelblaues, blutdurchtränktes Stück Tuch heraus, in dem ein glattes, rundes Etwas eingewickelt war. Für einen kurzen Moment zögerte sie, schlug das Tuch auseinander und betrachtete den kleinen, weißen Stein, der auf ihrer Handfläche neben einem goldenen Ring ruhte. Sie wollte danach greifen, hielt kurz vorher aber doch inne und schlug beides wieder in den Stoff ein. Sie ließ das Bündel zurück in die Tasche ihrer Jeans gleiten und griff nach der Haarbürste.

Mit einem streng geflochtenen Zopf erschien sie nach zwanzig Minuten am Frühstückstisch. Zwei Brötchen und ein gekochtes Ei lagen auf ihrem Platz. Eine fertig gepackte Brotdose stand neben ihrem Teller. Ihre Mutter war noch in der Küche beschäftigt. Fenia nutzte die Gelegenheit, griff nach einem Apfel aus dem Obstkorb, trank einen Becher Milch und ließ die anderen Sachen unangetastet stehen.

„Ich muss weg, Yvonne abholen“, rief sie von der Haustür aus. Bevor ihre Mutter noch etwas sagen konnte, zog sie diese hinter sich zu und war am Gartentor. Yvonne würde natürlich noch nicht wach sein, geschweige denn fertig angezogen, aber sie wollte jetzt nicht darüber diskutieren, warum sie nichts essen mochte.

Sie klingelte und Jan öffnete ihr die Tür. „Welch schöne Überraschung so früh am Morgen. Yvi …“

„Ist noch nicht wach. Ich weiß schon.“

„Das auch. Aber vor allem ist sie krank. Hat sie dich nicht gestern angerufen? Sie hatte Kopfschmerzen und Fieber und war beim Arzt. Der meinte, sie solle lieber mal daheim bleiben.“

„Die Arme. Kann ich ihr Hallo sagen?“

„Besser nicht. Ihr geht̕s wirklich schlecht und sie schläft sicherlich noch.“

„Na, dann geh ich mal besser wieder. Schönen Tag noch.“ Sie versuchte den Blickkontakt mit ihm zu meiden und wandte sich schnell ab, doch Jan hielt sie an der Schulter fest.

„Wenn du kurz wartest, dann trink ich meinen Kaffee aus und fahre dich.“

Er lächelte sie an. Fenia schluckte. Sie ahnte, dass sie nun in eine Situation kommen würde, in der sie lügen musste.

„Jan, das ist nett von dir, aber der Bus fährt ohnehin gleich und ich will dir keine Umstände machen.“ Sie schaute zu Boden.

„Nein, das willst du sicher nicht.“ Seine Stimme war jetzt ernster als eben. „Ich würde dich trotzdem gerne fahren, weil ich mit dir reden möchte. Auch über das, was Sonntag war.“

Fenia seufzte.

Sie fühlte sich unbehaglich, als sie zehn Minuten später neben Jan im Auto saß und er den Motor anließ. Das Radio, das sich automatisch anschaltete, verkündete, es sei kurz vor halb sieben, beste Zeit zum Aufstehen und diesen Sender zu hören, außerdem gäbe es Stau auf den üblichen Strecken.

Die Häuser des verschlafenen Nestes flogen an ihnen vorbei. Sie hörten das Bäckerauto, das hupend seine morgendliche Runde drehte, und sahen hier und da ein paar Kinder in Richtung Bushaltestelle laufen.

„Ich wollte dir am Sonntag nicht zu nahe treten, Fenia.“

Jan riss sie rabiat aus ihren Gedanken. Richtig! Er wollte ja reden. Reden hieß immer Antworten geben auf Fragen, auf die es so schwer war zu antworten. Fragen wie „Wer hat dir das angetan?“ oder „Hast du irgendeinen Hinweis, wo du gewesen sein könntest?“

Lügen, nichts als Lügen, wann immer sie mit irgendwem darüber sprach. Sie war es so leid. Überhaupt hier zu sein. Hätte sie die Wahl, würde sie einfach wieder zurückgehen. Auch dort gab es Fragen und unangenehme Antworten. Aber dort musste sie nicht lügen.

„Ich kann mir vorstellen, dass es im Moment schwer für dich ist, wieder in ein normales Leben zu finden.“

Er hatte keine Ahnung wie schwer!

„Ich meine, nach allem was war. … Vier Jahre hinterlassen ja schon ihre Spuren.“ Sein Blick wanderte ungewollt zu Fenias Handgelenken. Sie zog die Ärmel ihres Pullis darüber und vergrub die Hände an den Seiten ihres Körpers. „̕tschuldige“, murmelte Jan. Fenia sah aus dem Fenster und schwieg weiter beharrlich. Er wollte schließlich reden. Nicht sie.

„Ich weiß, dass du es nicht böse meinst, aber ist dir mal in den Sinn gekommen, dass all die Leute, die du vor den Kopf stößt, dir nur helfen wollen?“

Er war hilflos, ganz eindeutig. Er wusste nicht mehr, was er noch sagen sollte, um eine Reaktion zu bekommen. Fenia kannte auch das nur zu gut. Jeder um sie herum bemühte sich um Verständnis. Jeder wurde nur mit Zurückweisung abgestraft. Irgendwann reagierten alle so. Patzig, fordernd, verzweifelt. Sie wünschte ja selbst, es gäbe eine andere Lösung. Aber es gab keine. Die Wahrheit über das, was geschehen war, hatte in diesem Leben keinen Platz.

„Du hast der Polizei nur erzählt, dass du dich nicht mehr erinnern kannst, aber das stimmt nicht. Oder?“

Sie regte sich nicht.

„Immerhin haben sie Martins Blut auf deinen Kleidern gefunden.“ Seine Stimme war vorsichtig. Er wollte wissen, wie Fenia reagierte, wenn er sie einfach mit seinen Vermutungen konfrontierte. Er fühlte, dass ihre ganze Ablehnung nur eine Mauer war, vielleicht, um sich selbst vor der Wahrheit zu schützen. Er wollte ihr helfen, ihr Vertrauen gewinnen. Eigentlich wollte er sogar noch viel mehr. Ein Herz dachte nicht lange nach, bevor es sich verliebte.

„Du bist gar nicht entführt worden. Du bist damals mit Martin und Joe weggelaufen, hab ich Recht?“

Fenia staunte nicht schlecht. Er kam der Wahrheit immerhin näher, als irgendeiner der klugen Herrn Kommissare. Sie gab ihm trotzdem keine Antwort. Jan nahm das als ein Ja an und bohrte weiter.

„Die beiden wollten vermutlich aus dem Heim weg, und weil du damals mit Martin zusammen warst, hast du dich überreden lassen mitzukommen. Jetzt hast du das Gefühl, dass du selbst an allem Schuld bist, was danach passiert ist.“ Noch immer zuckte sie nicht einmal mit der Wimper, doch unter der ruhigen Oberfläche begann es zu brodeln und jeder Muskel ihres Körpers war angespannt. „Und dann seid ihr an irgendwelche Kriminellen geraten oder Martin und Joe haben selbst angefangen, krumme Dinger zu drehen. Drogen und ähnliches, und dich haben sie gezwungen mitzumachen. Ich kann mir vorstellen, dass-“

„Gar nichts kannst du dir vorstellen!“, fauchte Fenia ihn ganz plötzlich an. „Warum glauben eigentlich immer alle, sie wissen besser als ich, was passiert ist?“

„Vielleicht, weil deine Aussage dazu lautet, dass du dich an nicht mehr viel erinnern kannst.“

„Martin und Joe haben nichts damit zu tun.“ Sie kämpfte mit den Tränen, als sie ihre Ärmel wieder zurück schlug und auf die Wunden und Blutergüsse deutete.

„Wie kommt dann sein Blut an dich? Oder willst du behaupten, der DNA-Test war falsch? Egal, wie sehr du ihn mal mochtest, für so etwas gehört ein Mensch ins Gefängnis und nicht in Schutz genommen.“

„Er war es nicht, okay!“ Ihre Stimme überschlug sich fast und rote Flecken traten auf ihre Wangen.

„Aber er muss dort gewesen sein. Er hat mitgemacht.“

Eine lange Stille trat ein. Fenia kämpfte mit all den aufgewühlten Gefühlen. Martin. Martin. Immer wieder Martin!

Natürlich hatte die Polizei ihn als Hauptverdächtigen ins Visier genommen. Diese Leiche … Man hatte ihn wegen Mordverdachts suchen lassen. Dann war sie wieder aufgetaucht. Eine unidentifizierte Tote blieb, ebenso, wie die Anklage auf Körperverletzung, Menschenraub, Missbrauch. Es war ihre Schuld. Einfach alles.

„Er hat mir geholfen.“ Ihre Stimme war ganz leise. „Er war da, weil er mich dort rausholen wollte, Jan. Ich will nicht darüber sprechen, weil ihr es alle nicht verstehen würdet, weil ihr mich für verrückt halten würdet, aber ich will nicht, dass irgendwer seinen Namen so durch den Dreck zieht.“ In ihren Augen lag ein sonderbares Funkeln. „Ohne ihn wäre ich nicht hier. Ohne ihn wäre ich immer noch dort, wo ich war.“

Einzelne Tränen drohten, sich auf ihren Wangen zu mogeln, und sie drehte schnell den Kopf zum Fenster.

Wieder Stille, bis Jan schließlich fragte: „Und warum erzählst du das nicht der Polizei?“

„Weil weitere Fragen kommen würden. Es kommen immer weitere Fragen.“

„Aber das musst du doch verstehen. Diese Leute sorgen sich um dich. Sie wollen verstehen, um dir helfen zu können. So wie ich.“

„Ihr könnt es aber nicht verstehen. Ihr würdet es nicht einmal glauben.“

„Aber du hast ja noch gar nicht versucht, es jemandem zu erzählen.“

„Würde ich es dir sagen, wüsstest du, warum ich es für mich behalte. Es gibt einfach Geschichten, die so abwegig sind, dass sie niemand glauben will.“

„Das ist doch unsinnig. Klar, Geschichten von Aliens, die Menschen entführen, oder von Wirbelstürmen, die kleine Mädchen ins Land Oz tragen, die glaubt einem keiner. Aber was du zu erzählen hast, ist doch was ganz anderes.“

Fenia schwieg und starrte weiter aus dem Fenster. Jan hatte Dinge in ihr aufgewühlt, die sie in den letzten Wochen versucht hatte zu verdrängen.

Es war passiert. Sie konnte es nicht ändern. Sie konnte überhaupt nichts mehr tun, wie es schien. Dabei hatte sie jeden nur möglichen Weg versucht, um zurückzukehren. Doch es blieb ihr verwehrt. Als ihr das klar geworden war, hatte sie alles darangesetzt zu vergessen, um vielleicht irgendwann noch ein normales Leben zu leben. Es war schwer, fast unmöglich, und die Fragen der anderen würden keine Ruhe finden, solange sie nicht antwortete.

„Martin.“ Sie flüsterte den Namen und er klang fremd in ihren Ohren. Er passte nicht mehr zu dem Gesicht, das sich immer wieder in ihr Bewusstsein drängte. Ein vertrautes Gesicht. Ein klarer Blick. Eine markante Stirn. Der Bart um sein Kinn. Und dann das Blut. Sie presste die Hände vor die Augen, um die Gedanken zu vertreiben, es gelang ihr nicht mehr.

„Du bist, was du bist. Kannst dein Herz, dein Blut nicht verleugnen und wenn du es tust, wirst du immer unglücklich sein.“

Es hatte so weise geklungen, als Lykill es zu ihr gesagt hatte. Aber was wusste der schon? Schwester hatte er sie genannt, dabei waren es wahrlich Welten, die sie trennten!

Hilfe suchend schob sich ihre rechte Hand in die Tasche, in welcher der Ring und der Stein lagen. Sicher verwahrt, eingewickelt in das blutige Tuch; die einzigen Zeugen ihrer Geschichte.

Ihre Hand glitt unter den Stoff und schmiegte sich um die kühle, weiche Oberfläche. Sie fühlte das Pulsieren unter ihren Fingern. Es wurde stärker. Wärme durchfloss sie. Die Trauer und die Verzweiflung wichen für einen Moment. Dann plötzlich war draußen ein ohrenbetäubender Knall zu hören. Fenia und Jan schraken auf. Sie ließ den Stein los, er glitt zurück in das Tuch, aber es war zu spät. Sie blickte aus dem Fenster. Jan hatte während ihres Gesprächs in einem Feldweg geparkt, kurz vor dem Waldrand. Nebel waberte um sie herum. Nichts Ungewöhnliches zu dieser Jahreszeit.

„Was war das?“ Jan hatte die Hand bereits am Türgriff. Als er ihn ziehen und aussteigen wollte, spürte er allerdings, wie Fenia ihre Hand darüber legte und ihn zurückhielt. Es durchfuhr ihn wie ein Blitz bei ihrer Berührung, und er achtete kaum auf das, was sie sagte.

„Nicht.“ Ihre Stimme war nicht mehr als ein ersticktes Flüstern. In ihren Augen lag nackte Angst. Ihre Hände begannen zu zittern, während sie sich immer wieder hin und her drehte und hinaus in den Nebel spähte.

„Fahr, Jan. Bitte. Wir dürfen nicht hier bleiben.“

Er riss sich aus seiner Starre los und sah sie an. „Nein. Das klang ganz danach, als wäre ein Auto irgendwo gegen gefahren. Vielleicht braucht jemand unsere Hilfe. Was ist denn nur los?“ Wieder machte er Anstalten die Tür zu öffnen, da hörte er das leise Klicken der Zentralverriegelung.

„Du gehst da nicht raus“, sagte Fenia mit einer Bestimmtheit in der Stimme, die nun beinahe ihm Angst machte. Hatte ihm das aber noch nicht gereicht, so gab ihm das, was folgte, den Rest.

Als er sich auch weiterhin weigerte zu fahren und verzweifelt versuchte, die Tür zu entriegeln, legte Fenia eine Hand auf das Lenkrad, schloss kurz die Augen und … der Motor! Er sprang an!

Mit der Linken löste sie die Bremse. Die andere lag weiterhin einfach nur still in der Mitte des Lenkrades. Der Wagen schoss rückwärts zurück auf die Straße, wendete einmal um hundertachtzig Grad und raste dann die engen Kurven der Landstraße mit einhundertfünfzig Sachen entlang. Jan spürte, wie sich die Pedale unter seinen Füßen wie von selbst bewegten. Er warf einen Blick über die Schulter zurück.

Der Nebel lichtete sich dort, wo sie eben noch geparkt hatten, und gab den Blick frei auf etwa ein Dutzend hochgewachsene, dunkle Gestalten. Manche davon waren in schwarze Kutten gehüllt, andere schienen tatsächlich Schwerter bei sich zu tragen. Sie deuteten wild gestikulierend auf das Auto. Fenia murmelte ein paar Worte und der Passat legte noch einen Zahn zu. Zweihundertzwanzig zeigte die Tachonadel jetzt. Jan hätte am liebsten die Augen geschlossen, doch er konnte nicht.

„Das ist Wahnsinn! Was machst du da eigentlich?!“, schrie er auf.

„Uns den Hals retten“, gab sie gepresst zurück.

Das Auto bremste ruckartig aus seiner rasanten Fahrt ab, schoss dann im nächsten Augenblick rückwärts, drehte sich und bog in einen Weg ein, der über ein nebelverhangenes Feld führte. Sie wurden langsamer, als sie auf den Wald zuhielten und der Motor schien immer leiser zu werden, bis Jan ihn schließlich nicht mehr hörte, sondern nur noch das Gefühl hatte, die Räder unter ihnen drehten sich aus eigener Kraft. Hinter einem Stapel Holz kam der Wagen wieder zum Stehen. Fenia drehte sich um.

„Ich glaube nicht, dass sie uns bis hier her folgen konnten.“

Jan hatte da trotz der wilden Fahrt seine Zweifel. „Den Räderspuren in dem Schlamm kann ein kleines Kind folgen.“ Auch er wendete den Kopf und schüttelte ihn ungläubig, als er zur Rückscheibe hinaus auf den nassen Waldboden sah. Dort waren keine Spuren. Als wäre das Auto über den Boden geflogen. Er schloss die Augen und ließ sich zurück in den Sitz fallen. „Sag mir bitte, dass ich träume und gleich wieder aufwachen werde.“

„Leider nicht. … Verstehst du es jetzt?“ Ihre blauen Augen bohrten sich tief in sein Herz, als er seine wieder öffnete und ihr direkt ins Gesicht schaute.

Fassungslosigkeit und Unverständnis lagen darin. Fenia seufzte. Was hätte sie auch erwarten sollen.

„Was hast du mit dem Auto gemacht?“, fragte Jan, als er sich so langsam wieder fing.

„Ich bin es gefahren. Das ist nichts Ungewöhnliches für ein Auto.“

„Fenia, was soll das alles?“

Sie war es, die nun nach dem Türgriff tastete, und während sie ausstieg sagte sie: „Weil Menschen wie du nicht einmal glauben, was sie selbst erleben, hat meine Wahrheit hier keinen Platz. Halte dich fern von mir, Jan. Es ist besser so. Meine Gegenwart ist tödlich.“

Seine Ohren hörten ihre Worte, aber sein Kopf weigerte sich, einen Sinn darin zu erkennen. Er konnte nichts weiter tun, als ihrer schmalen Gestalt nachsehen, wie sie fast lautlos zwischen den Bäumen verschwand.

11.

„Na dann, Merlin. Wollen wir mal sehen, wer von uns beim Laufen zuerst schlapp macht.“

„Er ist noch ein Baby, David. Übertreib es nicht.“

Caitlins Worte waren tadelnd wie immer, aber das verzückte Lächeln auf ihrem Gesicht, das dem Hundekind galt, entschädigte Dave für jeden Streit der letzten zehn Jahre.

„Na komm, Großer. Das Frauchen muss zur Arbeit. Wir sollten sie nicht länger aufhalten.“

„Waff waff!“, machte die piepsige Welpenstimme und Merlin folgte Dave zur Terrassentür.

„Willst du nicht lieber eine Leine mitnehmen? Am Ende läuft er weg und findet nicht mehr heim. David? David, sei doch nicht immer so unvernünftig.“ Caitlin stand in der Tür und konnte nur noch zusehen, wie ihr Mann ihr fröhlich vom Gartentor zuwinkte.

Es hatte keinen Tag gedauert, bis die neue Mauer fertig gewesen war. Caitlin schüttelte den Kopf. Er war manchmal wie ein großes Kind, besonders, wenn er sich für etwas begeisterte. Sie warf sich ihre Tasche über die Schulter und verließ das Haus durch die Vordertür.

Dave rannte nur die ersten hundert Meter, bevor er seinen Schritt verlangsamte, damit das kleine Fellbündel, das hinter ihm her gestolpert kam, mithalten konnte. Er hatte auch nicht vor, weit zu gehen, nur so lang, dass der Kleine gleich seelenruhig in sein Körbchen fallen und einschlafen würde. Er wollte ungestört schreiben. Es kribbelte schon in seinen Fingern, wenn er an die Blätter dachte, die er gestern mit Worten hatte füllen können. Sie war wieder da, seine Inspiration! Obwohl er bezweifelte, dass er diesmal veröffentlichen konnte, was er auf die Seiten bannte.

„Warum schreibst du das alles nicht mal auf und machst ein Märchenbuch draus?“, hatte Caitlin ihn immer gefragt, wenn sie abends an der Kinderzimmertür seinen Gute-Nacht-Geschichten gelauscht hatte.

„Das ist viel zu persönlich“, hatte er ihr darauf geantwortet.

Aber jetzt, ja jetzt fühlte er sich fast schon dazu berufen, die alten Geschichten zu Papier zu bringen. Lächelnd erinnerte er sich.

„Papa, Gibt es in deinem Land auch Feen?“

Sara war elf gewesen und hatte Windpocken gehabt. Sie hatte eine ganze Woche daheim bleiben müssen. Eine ganze herrliche Woche, wie sie später erzählte, weil ihr Papa ihr alles über den Feenkönig erzählt hatte.

„Nein, in dem Land, von dem ich dir bisher erzählt habe, gibt es keine Feen, außer sie sind auf der Reise und kommen da zufällig vorbei.“

“Und wo leben die Feen dann?“

„Sie leben ganz oben an der Küste. Das Meer soweit im Norden ist wild und rau und die Brandung schlägt wie mit wütenden Fäusten gegen die steilen Felsen, die das Land schützen. Eine Tagesreisen von dieser Küste entfernt in den Hügeln von Fenlar, so heißt das Land, liegt ein Schloss. Riesig, mit jeder Menge Zinnen und Türmchen, steht es auf einer Klippe, umgeben von einem tiefen Graben, über den sieben geschwungene Brücken führen. Von diesem Schloss aus kann man an ganz klaren Tag bis zum Meer schauen. Bis zu jeder Grenze des Landes sogar, sagt man.“

„Dann muss das aber ein kleines Land sein.“

„Na ja, es ist viel größer als unser Land. Aber Feen haben vielleicht einfach bessere Augen. Auf jeden Fall ist das Schloss groß und schneeweiß und es glitzert im Sonnenlicht wie Mamas Halskette. Die aus Perlmutt, die du ihr immer stibitzt, wenn du Prinzessin spielst.“

Sara hatte ganz rote Bäckchen bekommen und gekichert.

„Deswegen heißt es Peleneth, die Perle des Nordens.“

„Und da lebt der Feenkönig?“

„Ja, dort lebt der Feenkönig. Er heißt Don. Don MacLugh. Er ist schon ein wenig älter, musst du wissen. Mit weißem Bart und Haaren. Aber er ist immer noch sehr königlich.“

„Hat er eine Frau?“

„Nein, die ist ihm leider gestorben. Aber er hat eine Tochter. Eine wunder-, wunderschöne Tochter. Unter all den Prinzessinnen in ganz Erui -“

„Was ist Erui?“

„Na, das ist die Welt, in der Arvindûras und Fenlar liegen.“

„Ach so.“

„Also sie ist, so heißt es, die schönste aller Prinzessinnen in ganz Erui.“

„Wie sieht sie aus?“

„Sie hat langes, hellbraunes Haar und ganz geheimnisvolle, graue Augen. Außerdem ist sie eine sehr nette Prinzessin.“

„Wird sie von einem Drachen geraubt?“

„Nein. Nein, so eine Geschichte ist das nicht. Aber jetzt sei mal nicht so ungeduldig. Prinzessin Gaya AnDon ist also die schönste Prinzessin im ganzen Land. Als junges Mädchen wird sie für ein paar Jahre zum Heiligen Zirkel gegeben. Das sind die Priesterinnen, die tief in den Mittlandwäldern von Erui leben. Dort steht ein großer Tempel, und darum ist die Stadt der Priesterinnen gelegen. Sie heißt Nualschadan.

„Das musst du mir aufmalen Papa. Deine Welt ist ja riesig.“

Und so hatte Dave ganz Erui für seine Tochter gezeichnet. Bei jedem weißen Fleck, den er auf dem Papier gelassen hatte, hatte sie den Finger darauf gelegt und gefragt: „Und was ist da?“

Eine schier unendliche Welt hatte sich auf dem Blatt vor Saras Augen entsponnen und ihr Papa schien zu allem, was er gemalt hatte, eine kleine Geschichte zu kennen. Nicht nur die von der schönen Feenprinzessin, die den Mann nicht heiraten durfte, den sie liebte, nur weil dieser kein Prinz war, sondern auch von den Zwillingen, die im Königreich Arvindûras lebten. Er hatte erzählt von den weisen Frauen des Heiligen Zirkels, von Priestern, welche die Magie der Elemente beherrschten, von Drachen, die vor langer Zeit dort gelebt hatten und die jetzt verschwunden waren. Sara war aus dem Staunen nicht mehr heraus gekommen. Ihre Augen waren rund und glänzend geworden wie Christbaumkugeln bei all den Wundern, die ihr Verstand sich ausmalte. Dave dachte sehr gerne an diese Zeit.

Auch Kevin hatte er viele Geschichten aus seiner Welt erzählt. Aber den interessierten eher die tapferen Ritter, die auszogen, um neue Länder zu erkunden. Die Prinzen, die sich darüber stritten, wer von ihnen einmal ein würdigerer König werden würde.

„Welcher von den Prinzen hat eigentlich das Königreich geerbt?“

„Na, der Ältere natürlich, Kev. Prinz Melias.“

„Und was hat der andere gemacht?“

„Der zog aus, um Abenteuer zu erleben. Dem war das Regieren eh viel zu langweilig.“

„Wie hieß der andere, Papa?“

„Weiß ich nicht mehr.“

„Erzählst du mir dann morgen, welche Abenteuer er erlebt hat?“

„Das weiß ich nicht mehr so genau. Ich kenne nun wirklich auch nicht alle Geschichten.“ Verschmitzt hatte Dave seinem Sohn zugezwinkert.

„Aber du hast die Welt doch gemacht Papa“, hatte der mit tiefster Überzeugung kundgetan bevor er sich endlich zum Schlafen in seine Decke gerollt hatte.

Verträumt hob Dave einen Stock vom Boden auf und ließ ihn in der Hand hin und her schwingen wie eine Waffe. Hinter ihm ertönte ein helles Bellen. Merlin tauchte erdverkrustet vor ihm auf und wedelte mit dem Schwanz.

„Na, du kleines Wildschwein. Wo hast du dich denn gesuhlt?“

„Waff, waff!“

Lachend warf er den Stock und Merlin stürzte hinterher. Dave schaute sich um. Er hatte selbst nicht einmal gesehen, wo das Holzstück hingeflogen war. Hunde hatten schon beeindruckend gute Sinne.

Gemächlich schlenderte er weiter. Wo würde er heute anfangen zu schreiben? Es gab so viele Geschichten in seinem Kopf. Vielleicht sollte er wirklich erst einmal die Geschichte von Gaya und Cormac aufschreiben. Die hatte er noch am deutlichsten vor Augen.

Zehn Minuten vergingen und Merlin kam nicht zurück. Dave pfiff nach ihm. Zuerst geschah nichts. Dann tauchte der strubbelige, schwarze Kopf plötzlich seitlich in einem Gebüsch wieder auf und piepte ganz aufgeregt.

„Da bist du ja. Hast du dich verlaufen, Tollpatsch?“ Merlin drehte aber bereits auf dem Absatz wieder um und kroch zurück durch das Gebüsch. „Du Lausehund, bleib hier.“

Da Merlin auf das Pfeifen nicht hörte, blieb Dave nichts anderes übrig, als missmutig und leise vor sich hin fluchend dem jungen Hund durch das Gebüsch zu folgen. Überall blieben die Ranken und Dornen in seinen Kleidern hängen. Von Merlin keine Spur. Dann, mit einem Mal, wurde das Gestrüpp weniger und er sah den Welpen am Rand einer Lichtung vor sich liegen und wie gebannt auf den Schatten am Fuß eines alten Baumes starren.

Dave schlich sich leise zu ihm, die Augen auf den Schatten gerichtet. Etwas bewegte sich dort vorn. Geräusche von umherstreifenden Füßen drangen an sein Ohr. Gestalten lösten sich aus dem Schatten, dunkel, wie dieser selbst. Weite Umhänge umwehten sie. Stimmen erklangen in einer Sprache, die Dave längst vergessen zu haben glaubte.

„Es muss hier gewesen sein. Es ist ganz deutlich zu spüren.“

„Still! Dort ist etwas!“

Dave duckte sich tiefer in das Dickicht. Seine Augen konnten nicht glauben, was er da sah. Waren diese Gestalten wirklich das, wofür er sie auf Anhieb hielt? Hatte er den Verstand verloren?

Selbst zu Hause waren sie nicht mehr als düstere Legenden aus einer lang vergangenen Zeit gewesen. Er betete zu allen Mächten des Himmels, er möge unentdeckt bleiben. Auch Merlin schien die Gefahr instinktiv zu spüren und presste seinen kleinen Hundekörper dicht auf den Boden, ohne den leisesten Mucks von sich zu geben.

Etwa eine halbe Stunde suchten die Gestalten die Lichtung um den See herum ab, bevor sie achselzuckend weiterzogen. Dave verharrte an Ort und Stelle noch zehn Minuten, erst dann wagte er es, sich wieder zu bewegen.

„Komm, mein kleiner Krieger,“ flüsterte er erstickt, als er das zitternde Bündel auf den Arm hob und sich auf den Heimweg machte.„Du bist so ein kluger Hund, Merlin. Woher wusstest du nur, dass die uns nicht sehen dürfen?“

Er rannte den ganzen Weg zurück, das Hundebaby fest umklammert. ‚Sie waren in unserem Haus‘, schoss es ihm durch den Kopf, als er an den Einbrecher von vor zwei Tagen dachte. ‚Sie sind hier und sie suchen etwas.‘

Er hatte bisher nur in Gruselgeschichten von diesen Wesen gehört. Menschenähnlich, schwarz wie die Schatten, aus denen sie geboren wurden.

„Der Einbrecher hat mich berührt. Im Gesicht! Es war so kalt, als würde einem das Herz einfrieren“, hatte Sara ihm noch vor ihrer Fahrt zum Polizeirevier gestanden. Wie hatte er nur glauben können, seine Tochter habe nur Angst gehabt? Sie war von seinem Blut. Sie hatte gespürt, was auch er hätte merken müssen. Instinktiv!

Aber er hatte es nicht. Betrunken vom Whisky, benebelt von dem lauen Leben ohne jede Furcht und Sorge, das er hier führte, waren seine Sinne so verkümmert, dass es völlig an ihm vorbeigegangen war.

Rotglühende Augen! Nicht einen Moment hätte er das für ein Produkt ihrer Fantasie halten dürfen.

‚Dave, komm zu dir und erinnere dich an das, was du bist. Deine Familie ist in Gefahr, wenn du dir weiter vorgaukelst, es gäbe diese Dinge nicht. Du weißt es besser.‘

Energisch knallte er das Gartentor hinter sich zu und ging ins Haus.

12.

Es war völlig absurd, dass sie jetzt hier durch leere Flure huschte und sich Gedanken darüber machte, ob sie von den Lehrern Ärger für ihr Zuspätkommen bekommen würde oder nicht.

Sie waren hier. Auf dieser Seite! - Wie?

Fenias Gedanken rasten. ‚Nur nicht die Nerven verlieren‘, sagte sie sich. Sie hatten sie nur aufgespürt, weil sie sich für einen Moment gehen lassen und den Stein berührte hatte. Nicht auffallen. In der Masse untergehen. Sie war ganz normal wie alle anderen Mädchen in ihrem Alter.

Sie klopfte an die Tür zum Klassenzimmer. Der Lehrer hieß sie eintreten. Was für ein Fach hatten sie überhaupt? Hatte sie eigentlich Hausaufgaben gemacht? Verwirrt blickte sie zur Tafel.

Sie waren ihretwegen hier. Daran bestand gar kein Zweifel. Was, wenn sie anderen etwas antaten? Fenia lief ein Schauer über den Rücken.

„Gibt es auch einen Grund, warum du zu spät bist, oder muss ich mich anschweigen lassen?“ Herr Belzer war noch nie für besonders viel Geduld und Nachsicht bekannt gewesen.

„Entschuldigen Sie. Ich war noch bei Yvonne Stahl. Wir fahren normalerweise zusammen im Bus, aber sie war krank, und ich habe leider den Bus verpasst und erst den zweiten bekommen.“ Wie von selbst kamen die Worte über ihre Lippen, während ihre Gedanken weiterhin bei den schwarzen Gestalten hingen.

„Gut, du darfst bis morgen Text drei und vier auf Seite siebenundfünfzig im Buch schriftlich zusammenfassen. Das ist das, was du hier verpasst hast. Darf ich deine Hausaufgaben sehen?“

Fenia nahm ein Heft aus ihrer Tasche auf dem Geschichte stand, und gab es ihm.

„Willst du mich zum Narren halten? Das ist ja ganz leer?“

„Es tut mir leid. Ich habe es wohl einfach vergessen. Ich habe das nicht mit Absicht gemacht.“

„Mädchen, was glaubst du eigentlich wo du hier bist? In der Waldorfschule? Ich will dir jetzt mal ganz ehrlich sagen, dass ich Bedenken geäußert habe, als sie sagten, dass du wieder in deinen alten Jahrgang zurück sollst, und ich muss sagen, bisher hatte ich recht. Du hältst den Rest der Klasse auf. Die meisten deiner Mitschüler hatten eigentlich vor, in etwas mehr als einem Jahr ihr Abitur zu bestehen.“

Der Mann war hoffnungslos überfordert mit der Situation und Fenia war kurz davor, ihm das mitzuteilen, aber sie wollte keinen Streit vom Zaun brechen. Außerdem schwirrten ihr gerade ganz andere Dinge im Kopf herum. Sie notierte sich die Strafarbeiten plus die versäumten Hausarbeiten in ihrem Heft, und tat dann so, als würde sie dem weiteren Unterricht folgen.

In der Fünfminutenpause mussten sie den Raum wechseln.

„Wo hast du jetzt?“, fragte Nina, die zu ihr aufschloss, als die Klasse verließ.

„Weiß gar nicht“, meinte Fenia abwesend.

„Hast du deinen Stundenplan irgendwo?“

Sie nickte und kramte in ihrer Tasche. „Mathe beim Stein“, sagte sie.

„Oh, ich bin im anderen Kurs. Wir sehen uns dann wohl später in Deutsch. Da hast du die Hausaufgaben aber, oder?“

Fenia schüttelte den Kopf. Sie war die Nachmittage seit Anfang der Woche immer am See im Wald gewesen. Hausaufgaben? So etwas kam ihr gar nicht in den Sinn. „Wenn du lernen willst, muss du mit dem Herzen dabei sein, Fenai“, erinnerte sie sich. Die alte Gwendolyn war auch immer streng mit ihr gewesen, aber das Lernen dort war etwas anderes gewesen. - Hausaufgaben? So ein Unsinn!

Die Stunden zogen sich dahin. Mathe, Politik, und dann auch noch zwei Stunden Physik am Stück. Erschöpft ließ sie sich gegen Mittag auf ihren Platz im Deutsch-Leistungskurs neben Tobi fallen. Der lächelte ihr zu.

„Na, ist alles noch ein wenig ungewohnt was?“ Sie nickte stumm. „Du gewöhnst dich schon wieder dran.“

Sie nickte erneut. Aber eher aus Reflex. Nach heute Morgen war sie sich nämlich ziemlich sicher, dass ihr Ausflug in ein normales Leben schon bald ein Ende finden würde. Ihr Platz war einfach nicht hier, obwohl sie auch noch nicht begriff, wie das alles wirklich möglich war. Sie selbst hatte es versucht, wieder und wieder. Es gab keinen Weg zurück! Offensichtlich aber einen hierher.

Kurz bevor die Stunde anfing, kam Nina bei ihr vorbei und gab ihr zwei Zettel. „Das sind meine Hausaufgaben. Die Mischke sammelt heute garantiert ein, wenn ich es mal vergesse, ist das nicht so wild, außerdem hab ich grad ne gute Ausrede.“ Noch bevor Fenia Danke sagen konnte, verschwand Nina auch schon wieder auf ihrem Platz.

Wie vermutet, bat Frau Mischke alle, kaum dass sie in der Klasse war, ihre Hausaufgaben nach vorn zu bringen. Sie wollte die schriftlichen Ausarbeitungen einsehen und benoten. Fenia nahm die Blätter und ging vor. Nina war ebenfalls aufgestanden und setzte gerade dazu an, ihre Ausrede vorzubringen, als Fenia ihr die Zettel in die Hand drückte.

„Nina, es ist sehr nett, dass du mir helfen willst, aber ich habe weder deine Handschrift, noch deinen Stil.“ Die Lehrerin hob die dunkel geschminkten Augenbrauen und sah die beiden Mädchen an. „Frau Mischke, ich habe vergessen Hausaufgaben zu machen. Nina wollte mir helfen, weil ich heute Morgen in Geschichte schon Ärger bekommen habe. Aber ich will Sie nicht anlügen.“ - ‚Das muss ich in letzter Zeit einfach zu oft bei zu vielen Leuten‘, dachte sie bei sich.

Einen Augenblick war Stille, dann sagte die streng dreinblickende Frau: „Ich schätze sowohl Hilfsbereitschaft, als auch Ehrlichkeit, und im Gegensatz zu manchem Kollegen, habe ich doch ein wenig Verständnis für deine Situation, Fenia. Es reicht, wenn du mir den Aufsatz nach dem Wochenende gibst, damit du keine Probleme in anderen Fächern bekommst.“

Die umstehenden Klassenkameraden staunten nicht schlecht und ein aufgeregtes Tuscheln ging durch die Reihen.

„So, wir machen nun weiter. Ihr erinnert euch. Faust und Mephisto sind gerade in einem Wirtskeller gelandet. Konstantin, Daniel, Anna und Nina ihr lest die Szene bitte.“

Drei Stunden noch, dann konnte sie heim gehen. Innerlich seufzte sie und versuchte krampfhaft dem Unterricht zu folgen. Sie wollte nicht schon wieder verpassen, wenn sie mit Lesen dran war. Irgendwann war es dann endlich vorbei. Sie schob ihre Sachen mit einer Handbewegung zurück in ihren Rucksack und ging Richtung Tür, als sie noch jemand am Ärmel festhielt.

„Hi.“ Ein Mädchen mit dunklen Augen und braunen, lockigen Haaren stand vor ihr. Sie kam ihr seltsam vertraut vor.

„Ich bin Sara, wir kennen uns noch nicht, zumindest hatten wir früher nie viel miteinander zu tun. Ich habe aber am Freitag Geburtstag und geb̕ ne Party für den ganzen Kurs. Ich wollte dir nur persönlich sagen, dass auch du herzlich eingeladen bist.“

Sie drückte ihr eine Karte in die Hand. „Die Adresse ist auf der Rückseite. Ich würde mich wirklich freuen, wenn du kommst.“ Dann war sie wieder in der Menge verschwunden.

Fenia drehte die Karte um und las die Adresse. ‚Fichtenweg 27‘. Ganz offensichtlich wohnte diese Sara sogar in ihrem Ort, in der alten Mühle am Waldrand. - ‚Familie Vindour‘.

13.

Dave ließ Merlin im Haus wieder auf die eigenen Pfötchen, doch der Hund wich nicht mehr von seiner Seite. „Braver, tapferer Merlin“, murmelte er vor sich hin, nicht nur, um allein den Welpen zu beruhigen.

Mit hastigen Schritten durchquerte er das Wohnzimmer und den Flur in sein Arbeitszimmer. Er hatte den Schlüssel hier irgendwo versteckt. Aber wo genau? Verdammt, war das alles lange her! Er hatte sich damals selbst verrückt gescholten, gedacht, dass es nie nötig sein würde. Jetzt sah die Sache anders aus.

Er riss die unterste Schublade des Schreibtischs auf. Angefangene Manuskripte flogen auf den Boden. Sie waren es alle in seinen Augen irgendwann nicht mehr wert gewesen, vollendet zu werden, und hier wahllos gestapelt worden. Die nächste Schublade. Zack. Sein Zeichenblock flog hinterher. Das oberste Blatt schlug um und zwei tiefe, dunkle Augen blickten ihn an. Ein Schauer lief über seinen Rücken. Er wurde das Gefühl nicht los, dass sie etwas damit zu tun hatte. Obwohl das vollkommener Unsinn war. Er war ihr rein zufällig begegnet.

Er spulte die Szene vor seinem inneren Auge erneut ab, während er weiter sämtliche Schränke im ganzen Raum durchsuchte. Er sah alles immer noch genauso klar und deutlich vor sich wie an dem Abend, als es passiert war. Nicht die übliche Unschärfe des allmählichen Vergessen, welche sich mit der Zeit über Erinnerungen legte. Es wirkte auf ihn fast wie eine Szene aus einem Buch, die er geschrieben hatte. Einmal auf Papier gebannt, änderte sich nie etwas an den Details. Sie blieben immer gleich. Immer klar und deutlich in seinem Kopf.

Seine Gedanken gerieten ins Stocken.

War es genau das? War er dem Mädchen gar nicht wirklich begegnet? Leise Zweifel über den Vorfall am Brunnen begannen an ihm zu nagen. Er hatte sich über all die Jahre nie zu hundert Prozent sicher gefühlt. Diese unbestimmte Ahnung, von irgendwem oder irgendwas ständig beobachtet zu werden, kroch täglich mindestens einmal über ihn. Was, wenn sich daraus eine ausgewachsene Paranoia entwickelt hatte, wenn er Dinge sah, die es gar nicht gab?

Dave hielt in seiner panischen Suche inne. Die Gestalten im Wald! Waren die vielleicht auch Auswüchse seiner Fantasie?

Er sah sich im Raum um. Man konnte durchaus denken, dass hier schon wieder eingebrochen worden wäre, so verwüstet sah alles aus. Schubladen an Tischen und Schränken waren aufgezogen und ihr ganzer Inhalt verteilte sich über den Boden.

‚Du bist ja nicht mehr normal!‘, wies er sich in Gedanken scharf zurecht und begann dann, das Chaos, das er angerichtet hatte, zu beseitigen. Es gestaltete sich als äußerst mühsam, weil die einzelnen Stapel durcheinander gekommen waren. Er fluchte leise, als er anfing, die Steuererklärungen aus seinen Zeichnungen zu sortieren und wieder in die Folien ihres angestammten Ordners zu stecken. Er konnte nur hoffen, dass er fertig sein würde, bevor Caitlin nach Hause kam; sonst würde er in leichte Erklärungsnot geraten.

Etwa zehn Minuten widmete er sich seiner neuen Tätigkeit, schimpfte und fluchte dabei immer wüster vor lauter Zorn über seine eigene Unbeherrschtheit. Dann fiel sein Blick zur Tür und zu dem schwarzen, immer noch zitternden Bündel. Merlin verstand wohl die Welt nicht mehr.

„Herrchen macht komisch Dinge, was, mein Großer?“ Der Hund jaulte auf, wedelte zaghaft mit dem Schwanz und kroch in Daves Arme. Der hob ihn hoch und ging mit ihm zu seinem Bürostuhl. Mit einem tiefen Seufzer sank er hinein und ließ noch einmal seinen Blick über die nur mäßig beseitigte Unordnung am Boden schweifen. Er sah wieder auf den Hund. Nein, es war ausgeschlossen. Merlin war der Beweis.

Er konnte sich solche Dinge vielleicht einbilden, aber dass der Hund diese Hirngespinste sah und sich vor ihnen fürchtete, war ausgemachter Blödsinn. Auch wenn Merlin nicht reden konnte, war er dennoch Zeuge dessen gewesen, was Dave im Wald gesehen hatte.

Sein Blick huschte kurz zu dem Mädchen auf dem Papier. Einen Moment lang wünschte er sich, Merlin wäre auch dort schon dabei gewesen. Wenn er sich doch nur sicher sein könnte. Sie war viel zu schön, um ein Traum gewesen zu sein.

‚Lass dich nicht ablenken‘, ermahnte er sich. Also noch mal von vorn: Ein Mann, der unheimliche Ähnlichkeit mit den Schattengestalten aufwies, brach in sein Haus ein, nahm aber nichts mit. Drei Tage später tauchten die Gestalten in der Nähe seines Hauses auf und suchten etwas. - Machte das alles Sinn?

Wenn es wirklich sie gewesen waren, in beiden Fällen, dann ließ die Reihenfolge ihres Auftauchens darauf schließen, dass sie nicht seinetwegen hier waren. Aber Kunststück! Er war ihnen früher schließlich nie begegnet. Sie waren nicht mehr als Gestalten aus Schauergeschichten für ihn. Auch wenn sein Großvater immer darauf bestanden hatte, dass es sie wirklich gab. Nein, kam er zu dem Schluss, mit ihm hatte das alles hier herzlich wenig zu tun. So langsam begann er sich zu fragen, was daheim wohl geschehen sein mochte seit dem Tag, an dem er gegangen war.

***

Vor dreiundzwanzig Jahren ...

„Du bist dir sicher?“

„Ganz sicher.“

„Das ist schade. Ich könnte deine Hilfe gut gebrauchen.“ Sein Bruder sah ihn mit ernsten Augen an. „Du warst immer mehr dafür geeignet, in Vaters Fußstapfen zu treten, als ich.“ Es klang irgendwie verloren und vermutlich war er das auch.

Ein wenig hilflos, aber dennoch liebevoll und bestimmt hielt Mel das Bündel im Arm, in dem sein Sohn lag. Der Kleine schaute Dave mit den gleichen braunen Augen an wie sein Vater. Ganz so, als wolle auch er ihn bitten, sie nicht allein zu lassen.

„Was wirst du jetzt mit ihm machen?“ Das schlechte Gewissen nagte schon an ihm, obwohl sein Entschluss feststand. „Er braucht eine Amme. Er ist zu klein, um ohne Mutter groß zu werden.“

„Das weiß ich selbst, Dave.“ Sanft wiegte Mel den Jungen hin und her. „Wenn du dir solche Sorgen um uns machst, warum gehst du dann?“

„Weil ich muss. Ich folge nur dem Ruf meines Herzens.“

„Dann ist das hier wohl wirklich der Abschied?“

„Es muss ja nicht für immer sein.“ Dave versuchte zu lächeln, doch er konnte nicht. Seinen Bruder zurückzulassen, tat ihm mehr weh, als er zugeben wollte. Noch dazu, wo er jetzt mit diesem Kind ganz allein dastand.

Was hatte er sich nur dabei gedacht, sich mit diesem Mädchen einzulassen? Er liebte sie, hatte er gesagt. Sie ihn aber nicht. Sie war doch schon fast verlobt gewesen!

Diesem Verlobten wollte sie jetzt nicht das Kind eines anderen Mannes eingestehen. - Verständlich?

Dave wusste nicht so recht. Es war alles so kompliziert geworden, seit ihr Vater gestorben war. Alles schien aus dem Ruder zu laufen. Die unbeschwerten Jahre, in denen sie gemeinsam hatten tun und lassen können, was sie wollten, waren schlagartig vorbei gewesen. Am Totenbett hatte ihr alter Herr sich gewünscht, dass sie wie gute Brüder immer zusammenhalten mögen. Jetzt ging er fort.

„Mel, es tut mir leid, euch zwei so im Stich zu lassen, aber irgendwie ist mein Platz nicht hier.“

„Glaubst du denn, dass er dort ist?“

„Möglich.“

„Dann kann ich dich nicht aufhalten.“

„Ich werde eines Tages wieder zurückkommen. Das verspreche ich.“

„Versprich lieber nichts, was du nicht halten kannst.“ Das Baby in Mels Armen zappelte und reckte die kleinen Ärmchen nach oben.

Dave griff nach den Kinderhänden und drückte sie sanft. „Mach deinem Papa keine Schande, D̕winn“, murmelte er. Dann schwang er sich in den Sattel und blickte noch einmal zurück. Vielleicht hatte Mel Recht, und er würde all das hier nicht wiedersehen.

„Ich werde euch nie vergessen, Bruder.“

Wie es Brauch bei ihnen war legten sie beide die rechte Hand an die Stirn und neigten leicht den Kopf in die Richtung des anderen.

„Mögest du mit dem Wind reisen“, gab sein Bruder ihm mit auf den Weg.

***

So steif diese Abschiedsformel auch geklungen hatte, so viel Trost hatte sie Dave damals mitgegeben. Es war ein letztes Stück Heimat gewesen auf der Reise in das größte Abenteuer seines Lebens.

Dave wusste heute, dass er unter anderem gegangen war, weil alles mit einem Mal so furchtbar fremd gewirkt hatte. Die Zimmer, Säle und Hallen, die einmal sein und des Bruders Zuhause gewesen waren, schienen nach des Vaters Tod immer weniger Platz für ihn zu beherbergen.

Mel war nun einmal der Ältere und nach ihrer Tradition der Erbe; und auch wenn er ihn deswegen nicht geringer behandelt hatte als zuvor, so war Dave sich doch immer mehr wie ein Fremder vorgekommen. Als die alte Gwen dann eines Tages das Kind gebracht hatte, war dieses Gefühl nur noch schlimmer geworden.

„Er ist ein gesegnetes Kind. Kümmere dich gut um ihn“, hatte sie mit vorwurfsvollem Blick zu Mel gesagt. Mel war nachdem nie wieder er selbst gewesen.

Wie auch? Er hatte nicht gewusst, dass er in der Zwischenzeit Vater geworden war. Sie hatte es ihm nicht gesagt. Dave hatte sich sehr unwohl gefühlt in seiner Haut. Er hatte sich so weit fort gewünscht wie nur irgend möglich und die Gelegenheit, die sich geboten hatte, war ihm gerade recht gekommen.

Es hatte von jenem Tag an keine drei Jahre gedauert, bis er schließlich selbst erfahren hatte, was es bedeutete Vater zu sein. Doch hatte er seinen Sohn nicht aus den Armen einer alten Frau übergeben bekommen. Er war bei Kevins Geburt dabei gewesen, hatte mit Caity von Anfang an alle Sorgen und Pflichten geteilt. Er hatte ihn aufwachsen sehen, jeden seiner Schritte mitverfolgt. Mit Faszination hatte er jedem neuen Wort gelauscht, das er von sich gegeben hatte. Dann war Sara dazu gekommen, seine kleine Prinzessin. Zwei Kinder. Doppeltes Glück. In all diesen Jahren waren seine Gedanken dabei immer wieder auch zu seinem Bruder und seinem Neffen gewandert.

Was er wohl gerade tun mochte, hatte er sich oft genug gefragt.

An Kevins drittem Geburtstag, als der voller Begeisterung die ersten Türme aus seinen neuen Bauklötzen stapelte, war ihm kurz der Gedanke gekommen, dass Dûrowinn nun schon fast sechs Jahre alt war. Er hatte sicherlich bereits sein erstes Pferd geschenkt bekommen. Würde er ihn heute treffen, wäre er ein junger Mann von dreiundzwanzig Jahren. Ob er ihn überhaupt erkennen würde?

Fragen über Fragen geisterten durch seinen Kopf, während seine Blicke unbewusst den Raum durchsuchten und seine Hände unablässig durch Merlins Fell glitten. „Da!“, rief er mit einem Mal und sprang auf. Der Hund plumpste von seinem Schoß zu Boden und fiepte betroffen. „Entschuldige Merlin, aber ich hab̕s gefunden.“

Er eilte zum großen Aktenschrank gegenüber seines Schreibtischs und griff nach etwas, das darauf lag. Eine Menge Staub rieselte vom Deckel des Schranks herab. Dort war wohl so lange nicht gewischt worden, wie sie dieses Haus hier bewohnten. Doch genau aus diesem Grund hatte er den Platz dort oben ja auch ausgesucht.

Caitlin war der Meinung, dass Schränke dazu dienten, um Sachen hinein zu tun, nicht, um sie darauf zu stapeln. Weil Dave sich im Rest des Hauses penibel an diese Regel hielt, war auf einem Schrank das beste Versteck gewesen, das er hätte wählen können.

Er nahm die fein geschnitzte Schachtel behutsam herunter und blies den Staub vom Deckel. Die zwei Jahrzehnte schienen dem Holz bisher nichts angehabt zu haben, was für die Qualität der Schatulle sprach. Auf dem roten Samt in ihrem Inneren, der immer noch glänzte, als sei er gerade erst hinein gespannt worden, lag der große bronzene Schlüssel.

Einen verborgenen Eingang in einen geheimen Keller durch einen versteckten Schlüssel zu sichern, das war Dave damals schon komisch vorgekommen. Über zehn Jahre später schien es ihm reichlich paranoid. Eigentlich war es sogar total verrückt. So klar und deutlich ihm die Erinnerungen seiner Kindheit und Jugend vor Augen lagen, so unwirklich schien ihm das alles gleichzeitig.

Er nahm den Schlüssel an sich. „Komm Merlin. Es gibt noch mehr Geheimnisse und du bist das erste lebende Wesen hier, das ich darin einweihen werde.“

„Waff!“ Merlin schien jedes Wort zu verstehen. Aufgeregt wackelte sein Schwanz hin und her, als er Dave zurück ins Wohnzimmer folgte.

„Pass auf, Großer. Das ist wie bei James Bond.“ Dabei zog er an einem der Bücher, ‚Theoretische Grundlagen moderner Psychologie‘ stand auf dem vergilbten Einband. Wie erwartet, hatte das nie jemand aus seiner Familie freiwillig in die Finger genommen. Ein wenig zögerlich, weil der alte Mechanismus lange nicht benutzt worden war, kam die Wand des Regals auf ihn zu, und gab eine Tür frei, die dahinter lag.

Der Makler hatte ihm dieses Geheimnis der alten Mühle gleich bei seiner ersten Besichtigung gezeigt. Als Dave ihn darauf hinwies, dass seine Frau solche Details eher abschreckten als faszinierten, hatte er es beim späteren gemeinsamen Rundgang unerwähnt gelassen, sodass Dave sich sicher sein konnte, dass niemand außer ihm von der Existenz dieses Zugangs zu einem geheimen Teil des Kellers wusste.

So war es dann auch nicht verwunderlich gewesen, dass Caitlin nichts als zänkische Worte für ihn übrig gehabt hatte, als die Renovierungsarbeiten in manchen Teilen des Hauses langsamer voran gegangen waren als geplant. Er habe eine Inspiration gehabt, und deswegen sei die Küche noch nicht gestrichen; solche und ähnliche Lügen hatte er ihr öfter aufgetischt, als ihm selbst lieb gewesen war. In Wirklichkeit hatte er alles daran gesetzt, zuerst den Keller herzurichten. Einige Kisten mit seinen privaten Sachen waren gleich zu Beginn ihres Umzugs dort hinuntergewandert und seitdem nicht wieder herauf-gekommen.

Das Schloss knarrte, als Dave den Schlüssel drehte, und die Tür schwang quietschend auf. Merlin begann vor lauter Aufregung zu bellen. „Psst, Großer. Muss doch keiner wissen, was es hier gibt.“ Verschwörerisch zwinkerte er dem Welpen zu und riss ein Streichholz an. Die Fackel im Halter rechts von der Tür entflammte knisternd, als habe sie all die Jahre nur darauf gewartet, ihren Dienst tun zu dürfen. Dave war sich bewusst darüber, dass es mehr eine Spinnerei von ihm gewesen war, als ein wirkliches Problem, elektrisches Licht hier herunter zu legen. Doch die Fackeln hatten in seinen Augen etwas Heimeliges gehabt.

Er ging die ersten Stufen hinunter und schloss durch einen zweiten Mechanismus auf dieser Seite Tür und Bücherwand wieder. Merlin tapste vorsichtig hinter ihm her. Ganz entgegen jeglicher Erwartung von alten Kellern, roch es hier unten kein bisschen modrig, was bewies, dass die eingebauten Luftschächte ihren Dienst taten. Etwa zehn Meter wand sich die Wendeltreppe in die Tiefe, bis sie erneut eine Tür erreichten. Dave griff noch einmal in die Holzschatulle, die er bis jetzt bei sich getragen hatte, und entnahm ihr nach Schlüssel und Streichhölzern auch noch einen Ring. Sein Gold schimmerte im Fackelschein rötlich. ‚D.A.‘ war in verschlungenen Ornamenten auf dem Siegel zu lesen. Dave steckte den Ring in eine kleine Öffnung in der scheinbar glatten Wand. Lautlos schoben sich die Steine zur Seite. Er nahm den Ring wieder heraus und zog ihn an den Ringfinger der linken Hand.

Ein Kribbeln breitete sich in seinem Bauch aus. Sein Puls begann zu hüpfen. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Ihm war, als betrete er eine andere Welt. Eine Zeit, die so lange zurück lag, dass er sich kaum noch vorstellen konnte, dass es einst sein Leben gewesen sein sollte.

Vorsichtig trat er über die Schwelle. Unförmige Schatten tanzten über die Wände. Er wandte sich nach rechts und entzündete eine zweite Fackel, die an der Wand hing. Sie leuchtete flackernd auf und erhellte die feinen Granitfliesen, mit dem der Raum hier unten bis unter die Decke ausgekleidet war.

Dave ging weiter auf einer Art Empore, die sich einmal um das runde Gewölbe zog und fünf weitere Fackeln loderten hinter ihm auf. Jetzt lag der Raum vollständig vom Feuerschein erhellt vor ihm. Voller Ehrfurcht sah er sich um. Die Wände wirkten trotz ihrer dunklen Farbe warm im Schein des Feuers. Zwei dunkelrote Banner zierten die Seiten. Sie waren ein wenig eingestaubt und von Spinnweben verhangen, aber sonst noch völlig intakt. Keine Mottenlöcher oder ähnliche Schäden waren auszumachen, als Dave sanft mit den Händen darüber strich.

Merlin bekam Staub in die Nase und gab einen kleinen Nieser von sich. Dave lachte. Er ging zwei Stufen hinunter und befand sich in einem Rund von etwa fünfzehn Metern Durchmesser. Eine Kleiderpuppe in altertümlichen Gewändern mit einem fein gearbeiteten Lederharnisch stand hier herum. Daneben eine Halterung, in der ein geschwungenes Schwert und ein Bogen steckten, und eine Truhe.

Dave überlegte erst, bevor er sich dagegen entschied, die Truhe zu öffnen. Ihr Inhalt war vermutlich genauso unangetastet wie der Rest dieses Raumes. Stattdessen ließ er sich in den Sessel fallen, den er hier in der Mitte aufgestellt hatte. Merlin sprang direkt auf seinen Schoß und rollte sich ein. Dave ließ die Fackel in einen großen eisernen Halter gleiten.

So viele Jahre war er nicht mehr hier gewesen. So viel Zeit war seit dem vergangen. Seine Kinder waren groß geworden. Seine Frau hatte die ersten grauen Haare in dem sonst so gleichmäßigen Feuerrot ihres Schopfes. Und er? War er auch so viel älter geworden? Er fühlte sich zumindest so.

„Tja, Merlin. Kannst du mir sagen, wer ich nun bin?“

Seine Stimme war leise und voller Wehmut. Sein altes Ich schien irgendwo mit den Jahren verschwunden zu sein. Die Gewohnheiten und Sorgen seines neuen Lebens hatten alles überschattet, was einmal gewesen war. Oder vielleicht doch nicht? Wäre er jetzt hier unten, wenn wirklich alles in ihm verblasst wäre?

14.

Fenia spürte es sofort, als sie die Lichtung betrat. Es lag wie ein böser, dunkler Schleier über dem vormals so idyllischen Ort. Die friedlichen Bäume waren abweisend, in sich gekehrt, als fürchteten sie, was hier gewesen war, würde wiederkommen. Der Boden, der sonst weich und locker unter ihren Schritten federte, wirkte hart wie Granit. Und selbst das Wasser … Ja, am Wasser sah man die Veränderung am deutlichsten. Die sonst lustig plätschernden Wellen lagen starr und grau da wie düsterer Stahl. Sie kannte diese Zeichen nur allzu gut. Ein Land, das den Hauch des Schattens gespürt hatte, brauchte lange, um sich wieder zu erholen. - Sie waren also hier gewesen.

Aufmerksam, fast ängstlich, sah sie sich um. Was, wenn sie noch hier waren? Es knackte in den Zweigen und Fenia fuhr zusammen. Kein Vogel war im Gebüsch zu sehen. Kein Eichhörnchen tollte über die Zweige. Alles war totenstill. Vorsichtig, ständig darauf gefasst, so schnell wie möglich fliehen zu müssen, ging sie weiter.

Sie mussten länger hier gewesen sein, wurde ihr bewusst. Nur ein Aufenthalt von mehreren Stunden konnte diese tiefen Veränderungen in der Natur hervorrufen. Vielleicht hatten sie auf sie gewartet.

Aber woher hätten sie wissen sollen, dass sie hierherkommen würde? Und wenn sie es so genau gewusst hatten, wären sie dann nicht geblieben und hätten sich jetzt längst auf sie gestürzt?

Ihre Finger zitterten und ihr Herz schlug bis zum Hals. Was, wenn nicht sie, hatten sie an diesem Ort gesucht? Fenia glaubte ja an viel, aber nicht daran, dass diese Kreaturen irgendetwas aus blankem Zufall taten. Sie musste Spuren hinterlassen haben. Auch wenn sie nicht hätte sagen können, welche.

Wäre sie dort, dachte sie für einen Moment, so würde sie auf den anderen Ebenen nach Hinweisen suchen. Hier war das allerdings entschieden zu gefährlich. Es konnte durchaus so starke Impulse senden, dass es sie wieder zu ihr führte. So wie die Berührung des Steins. Sich so vorsichtig umsehend, erreichte Fenia nun den Fuß der Eiche. Hier war die dunkle Aura am stärksten zu spüren. Jeder Spaziergänger hätte sie bemerkt. Auch wenn ein solcher zweifelsfrei nichts damit hätte anfangen können, außer sich zu Tode zu ängstigen.

Sie kniete sich mit angehaltenem Atem nieder, legte die Hand an den knorrigen Stamm des alten Baumes und flüsterte leise ein paar Worte. Die Wurzeln begannen daraufhin zu knarren. Langsam wie von Geisterhand wanden sie sich auseinander und gaben schließlich einen winzigen Spalt unter sich frei. Fenia griff hinein. Der Beutel war noch da und unberührt. Sie löste die Schnüre und versicherte sich, dass alle Gegenstände an ihrem Platz waren. Nichts schien zu fehlen.

Ob das sie angelockt hatte? Möglich wäre es schon. Umso besser also, dass sie ihre Schätze den Händen eines treuen Wächters übergeben hatte. „Danke, Eiche. Du hast gut darauf aufgepasst, aber ich glaube, ich sollte das jetzt besser bei mir behalten.“

Die Wurzeln des Baumes schlossen sich wieder, als Fenia sich erhob. Es war besser so, auch wenn diese Dinge es SEINEN Häschern sicherlich einfacher machen würden, auf ihre Spur zu kommen. Sie gab sich nicht weiter der Illusion hin, unentdeckt bleiben zu können. Zu nah waren sie ihr nun schon mehr als einmal gekommen, zu viele von ihnen hielten sich in der Gegend ihres Dorfes auf. Wenn es zu dem unausweichlichen Zusammenstoß kommen würde, wollte sie vorbereitet sein.

Auch den in das Tuch eingeschlagenen Stein und den Ring, die noch immer in ihrer Hosentasche ruhten, ließ sie nun in den Beutel gleiten und band diesen schließlich an ihren Gürtel. So war jetzt wenigstens alles an einem Platz.

Langsam, sich immer wieder umsehend, ging Fenia durch den Wald zurück. Ein wenig hatte sie Angst, die Gefahr zu nah zu ihren Eltern zu bringen. Sie brachte es aber nicht über sich, sie ein zweites Mal einfach zu verlassen, allein mit der Ungewissheit, was wohl aus ihr geworden sein mochte. Was die Nebel beim letzten Mal getan hatten, war schon grausam genug gewesen.

15.

Die Bohrmaschine in den Händen haltend, blickte Dave an die Wand. Selbst er musste zugeben, dass es ein gewisser Stilbruch im Raum war. Seit dem Spaziergang im Wald fühlte er sich allerdings nicht mehr sicher genug, wenn die Klinge nicht in seiner Nähe war. Er konnte nur hoffen, dass ihm eine gute Geschichte einfiel, warum zum Geier er es ausgerechnet heute für nötig gehalten hatte, ein altes Schwert ins Wohnzimmer zu hängen, und vor allem, wie er so schnell an eines dran gekommen war.

Es kribbelte in seinen Fingern, wenn er nur daran dachte, wie sich seine Hände um den kühlen Stahl schmiegten. Gedankenverloren griff er danach. - Rechts, links, parieren. - Er vollführte die einzelnen Bewegungen, zwar nicht mehr so schnell wie früher, aber immer noch so präzise. Es war fast wie tanzen. Hatte man einmal den Rhythmus des Schwertes gefunden, ging es wie von selbst. - Vorwärts, rückwärts, drehen und Schlag.

„Saukrass, Papa. Ich wusste gar nicht, dass du so was kannst.“

Entsetzt fuhr Dave zusammen und hätte fast das Schwert wieder fallen gelassen. Sein Sohn stand mit seinem Treckingrucksack auf dem Rücken in der Tür und seine Augen leuchteten, als habe er gerade festgestellt, dass sein Vater Supermann war.

„Darf ich auch mal?“

„Nein, Kevin, nicht jetzt.“ Rasch hing er die Waffe zurück an die Wand. „Und kein Wort zu Mama.“

„Aber nur, wenn du mir irgendwann zeigst, wie das geht.“

„Versprochen. Warum bist du eigentlich hier? Hast du nicht erzählt, du hättest bis zum Beginn des neuen Semesters so viele Prüfungen?“

„Ja, schon. Also eigentlich müsste ich morgen Chemie schreiben, aber den achtzehnten Geburtstag meiner Schwester kann ich doch nicht verpassen. Ich bin mal auf ihr Gesicht gespannt.“

„Die Überraschung ist dir in der Tat gelungen. Aber jetzt lass dich erst mal drücken.“

Merlin, der das Ganze bisher nur still aus seinem Körbchen verfolgt hatte, begann leise zu winseln, als Dave seinen Sohn umarmte und ihm freundschaftlich auf den Rücken klopfte.

„Oh entschuldige, Großer. Wie konnte ich es wagen, dich nicht zuerst vorzustellen. Na komm.“ Der Welpe spitzte die pelzigen Schlappohren, sprang unbeholfen aus seinem Korb und kam auf Kevin zu. In dessen Gesicht machte sich das gleiche verzückte Grinsen breit, wie in dem seiner Schwester und seiner Mutter die Tage zuvor.

„Der ist ja knuffig. Seit wann hat Mama sich denn dazu breitschlagen lassen, einen Hund zu haben?“

„Na ja, sie wurde damit mehr oder weniger überrumpelt. Der Kleine heißt übrigens Merlin und ist mal mindestens der klügste Hund der Welt.

„So so, Merlin, der Zauberer. Kannst du denn schon Sitz und Pfötchengeben?“ Merlin jaulte nur, als er Kevins streng erhobenen Finger sah, und kugelte sich auf den Rücken.

„Wir haben ihn erst seit ein paar Tagen. Die Erziehung kommt noch.“

„Was mich wundert“, grinste Kevin und kraulte Merlins Bauch, der ebenso pelzig war, wie der Rest an ihm, „ist, dass Sara sich nicht diese Woche hat krankschreiben lassen. Ich meine, wir haben einen Hund und sie geht freiwillig in die Schule?“

„Freiwillig würde ich das nicht nennen. Mama hat angedroht, dass er wieder weg kommt, wenn sie wegen ihm auch nur einen Tag Schule schwänzt.“

Während sie sich unterhielten, räumte Dave die Werkzeuge zusammen, brachte sie zurück in die Garage und holte den Staubsauger. Als Merlin sah, wie sich sein Herrchen in Richtung des großen, dröhnenden Dings bewegte, zog er sich in seinen Korb zurück und legte die Pfoten übers Gesicht.

„Dein Putzwahn wird boykottiert, Paps“, meinte Kevin und deutete lachend auf den kleinen Hund

„An den Krach wird unser Sensibelchen sich noch gewöhnen müssen.“

Während sein Vater nun die Überreste der Bohrlöcher vom Teppich saugte, brachte Kevin den Rucksack nach oben in sein Schlafzimmer. Als er wieder herunter kam, hatte sein Vater gerade die Autoschlüssel gegriffen.

„So, und jetzt gehen wir schon mal die Getränke für Freitag holen. Dann brauchen wir das morgen nicht mehr erledigen.“

16.

Fenia erreichte den Waldrand, ohne weitere Auffälligkeiten entdeckt zu haben. Nichts Verwunderliches, denn die Schatten tauchten wenn immer plötzlich auf. Sie hinterließen keine Spuren. Trotzdem untersuchte sie den Waldboden gründlich auf dem Weg, den sie nahm. Sie wollte sicher sein, nichts zu übersehen.

Bevor sie schließlich zwischen den Bäumen hindurch auf den Kiesweg trat, der zurück zum Dorf führte, warf sie noch einen allerletzten Blick über die Schulter. Ein knackender Ast hielt ihre Aufmerksamkeit gefangen, doch es war nichts zu sehen. Dafür spürte sie, dass sich unmittelbar auf dem Weg jemand befand. Jemand, dem sie gerade den Rücken zugewandt hatte. Ihre Instinkte übernahmen ihr Handeln und sie hob in einer einzigen fließenden Bewegung einen Ast zu ihren Füßen auf, holte damit weit aus, wirbelte herum und …

„Fenia, nicht doch!“ Mit der gleichen Präzision, mit der sie aus den Augenwinkeln gezielt hatte, stoppte sie nur wenige Millimeter vor Jans Kopf. Sie atmete tief aus und ließ den Stock sinken.

„Jag̕ mir nie wieder so einen Schrecken ein!“, keuchte sie. Noch immer schoss das Blut wild brodelnd durch ihre Adern. Hastig wanderten ihre Augen hin und her und suchten den Waldrand und die Wiesen zum Fluss hinunter ab. Jan schaute allerdings noch entsetzter drein. Es dauerte eine ganze Weile, bis er seine Sprache wiedergefunden hatte.

„Entschuldige.“

„Warum bist du eigentlich hier?“, frage Fenia, deren Augen sich noch immer nervös umsahen.

„Ich war bei dir zu Hause. Deine Mutter sagte, du seist noch nicht wieder da. Sie hat vermutet, dass du zum See gegangen bist.“

„Und da wolltest du grade hin?“ „Ja.“ „Wieso? Was soll das? Warum folgst du mir?“

Ihr Ton war gereizt. Sie wollte absolut nicht mit ihm sprechen. Sie wollte ihn eigentlich nicht einmal in ihrer Nähe haben. Jan schien das entweder nicht zu merken oder ignorierte es eiskalt.

„Was das soll, ist die richtige Frage, aber ich glaube, dass eher ich die stellen sollte. Meinst du nicht? Was war das heute Morgen?“

„Ich weiß nicht, was du meinst.“ Fenia schien von einer auf die andere Sekunde entschieden zu haben, direkt nach Hause zu gehen. Sie ließ den Ast in ihrer Hand sinken, drehte ihm abweisend die Schulter zu und ging an ihm vorbei in Richtung Dorf.

Immer noch raste ihr Puls und sie war sich nicht sicher, ob hier nicht doch noch etwas anderes war. Wieder glitt ihr Blick zwischen den Bäumen und Büschen hindurch und durchdrang das schattige Dickicht des Waldes. Sonnenflecken tanzten über das alte Laub und machten es schwer, Bewegungen auszumachen. War da gerade etwas entlang gehuscht oder hatte nur der Wind an den Zweigen gerüttelt?

Fenia rieb sich mit der Hand über die Augen. Ihre Nerven waren überreizt. Kein Wunder. Eine Hand legte sich von hinten auf ihre Schulter und hielt sie fest. Sie zuckte zusammen und wehrte die Berührung automatisch ab.

„Du kannst mich nicht einfach so stehen lassen. Ich war dabei. Ich weiß, was ich gesehen habe. Du bist mir eine Erklärung schuldig.“

„Bin ich das?“ Der Ton in ihrer Stimme war frostig. Ihre Augen funkelten Jan finster an. „Ich habe dich nicht gebeten dich einzumischen. Du hast selbst darauf bestanden mit mir zu reden.“

„Ja, weil ich mich entschuldigen wollte. Ich bin dir zu nahe getreten, das weiß ich. Aber ich habe es nicht böse gemeint. Ich habe in dem Moment nicht nachgedacht. Ich …“

Fenia wusste schon, was er sagen wollte. Sie war weder blind noch dumm. Deswegen war sie auch gegangen. Kino mit Freunden? Gut. Yvonne sagte plötzlich ab; sie habe noch Schularbeiten zu machen. Wie offensichtlich! Jan wollte nicht mit ihr befreundet sein. Sie wusste selbst nur zu gut, wie wenig sich Gefühle beeinflussen ließen. Das war der Grund, warum sie einem so wehtun konnten.

„Stärke zeigt der, der Gefühle gar nicht erst an sich heran lässt.“ Auch so ein kluger Satz, den sie gepflegt überhört hatte. Dass alles so gekommen war, war wirklich ihre Schuld gewesen.

„… und deswegen wollte ich dir heute Morgen einfach nur sagen, dass ich verstehen kann, dass du von so was zurzeit nichts wissen willst. Ich mag dich aber trotzdem sehr und ich will dir helfen, wenn ich kann.“

Sie hatte Jan größtenteils nicht zugehört und auch jetzt sparte sie sich eine Antwort. Sie hatte diese Worte so schon einmal gehört. Damals. Von ihm.

Ein Schatten huschte über ihr Herz und ließ es dunkel und kalt in ihr werden. Sie dachten alle wie Jan. Der Kommissar, ihre Eltern, ihre Freunde. Sie glaubten, sie sei misshandelt, geschlagen und missbraucht worden. Grund genug, um niemanden mehr an sich heranzulassen. Und ja, es stimmte, was sie vermuteten. Alles, und sogar noch schlimmer, als sie ahnten. Aber das war nicht der Grund ihrer Traurigkeit. Sie würden die Wahrheit jedoch nicht begreifen, selbst wenn sie es ihnen ins Gesicht schreien würde.

Ein goldener Ring, den sie nicht tragen konnte. Ein Versprechen, das nicht erfüllt werden würde. Das war alles, was noch übrig war.

Kälte durchströmte sie, und so sehr ihr Herz auch dagegen arbeitete und Blut durch ihren Körper pumpte, es wurde nicht wärmer. Ihre Hände begannen zu kribbeln. Eine Masse, zäh wie schwarzer Teer, kroch durch sie hindurch und wollte sie in die Knie zwingen. Hinter ihr bewegte sich etwas. Ein Rascheln war aus dem Wald zu hören. Fenias Kopf schnellte in die Richtung des Geräuschs. Mit aller Macht versuchte sie, die Kälte und die Übelkeit aus ihren Gliedern zu vertreiben. Nur nicht auf der Stelle verharren!

Ihre Hand griff nach Jans Arm und zog ihn ein Stück weiter zu einem Heckenrosengebüsch. „Komm weg hier.“

Wie bereits am Morgen, war ihre Stimme nun nicht mehr als ein Flüstern. Ihre Augen hafteten an der Stelle, von wo das Rascheln kam, während sie rückwärts auf die Büsche zuging, um sich in ihren Schatten zu ducken, doch noch bevor sie die Deckung erreicht hatten sprang etwas Dunkles aus dem Wald und stürzte auf sie zu.

„Waff waff!“ Einen Moment später schaute sie entgeistert in die Augen eines struppigen, schwarzen Mischlingswelpen. Ihr Herz machte einen Sprung. In ihrem Kopf wirbelten Bilder und Gefühle durch-einander und sie musste sich an einem Baum festhalten, um nicht einfach dem Schwindelgefühl nachzugeben und zu Boden zu stürzen. Sie merkte nicht einmal, dass es kein Ast, sondern Jans Arm war, um den sie ihre Hände legte.

Der Welpe schien zu spüren, dass die Fremde sich erschreckt hatte und ließ sich unbeholfen auf sein Hinterteil fallen. „Waff!“, machte seine piepsige Stimme erneut und er hob die Vorderpfoten.

Fenia brauchte nur einen kurzen Augenblick, um sich wieder in der Gewalt zu haben und von Jans Arm zu lösen. „Entschuldigung“, murmelte sie leise.

Er sah sie besorgt an und schüttelte verständnislos den Kopf.

„Du kannst dich beruhigen, außer dem Kleinen ist hier niemand.“ Jan kniete nieder und fuhr dem Hund durch den dichten Pelz. Fenia wirkte noch immer verstört und sah sich weiter unruhig um.

Wieder gaukelten ihr die Schatten im Wald vor, da sei etwas. Aber vermutlich hatte Jan recht. Hier war wohl nichts außer dem Hundekind. Ihre Anspannung legte sich langsam und sie ging auf den Welpen zu. Seine Nase kam neugierig in ihre Richtung und er beschnupperte sie von oben bis unten. Dann beschloss er, dass sie eindeutig nicht sauber genug war, und fuhr ihr mit seiner rosa Zunge durchs Gesicht.

„Meeeeeeeeeeeeeeerlin!“, klang da mit einem Mal ein lang gezogener Ruf über die Wiese. Der kleine Hund drehte sich der Stimme entgegen, sah dann aber wieder zu Fenia und versuchte, ihr erneut mit der Zunge über die Nase zu fahren.

„Na na, jetzt ist aber mal genug Küsschen gegeben“, sagte sie und schob seinen Kopf sanft zur Seite. „Geh nach Hause, Kleiner. Dein Herrchen ruft.“ Sie stand auf und schob den Hund in Richtung der Stimme, die jetzt ein zweites Mal zu hören war. Sie kam eindeutig aus dem Garten mit den alten Apfelbäumen, der hinter der Mühle lag. Fenia kannte ihn gut.

Gleichzeitig kam ihr zum ersten Mal in den Sinn, dass dies auch das Haus auf der Einladungskarte war, die sie von ihrer Schulkameradin vorhin bekommen hatte.

„Willst du nicht nach Hause Merlin?“

Wieder wandte er ihr das Gesicht zu und fiepte ganz leise.

„Vielleicht hat er Angst, dass er fürs Weglaufen Ärger bekommt. Wir sollten ihn heim bringen.“

Jan nahm ihn kurzerhand auf den Arm, doch der kleine Hund zappelte so stark, dass er ihn wieder hinunterlassen musste. Jaulend drückte Merlin sich an Fenias Beine. Sie strich ihm beruhigend über den Kopf.

„Der hat wohl einen Narren an dir gefressen“, lachte Jan.

Er konnte den Kleinen gut verstehen. Auch jetzt, wenn er in ihr sehr blasses, besorgtes Gesicht sah, kam er nicht drum herum festzustellen, wie schön es war. Ihre großen Augen blickten sich immer noch ab und zu verstohlen um, als erwarte sie, doch noch irgendwo eine Schattengestalt in einer schwarzen Kutte auszumachen.

„Also gut. Lass uns gehen.“ Ein letzter Blick von ihr flog über ihre Schulter in Richtung Wald, bevor sie Jan nachlief, der querfeldein auf die Mühle zusteuerte. Merlin folgte ihr artig.

„Du hast ein Händchen für Tiere, kann das sein?“ Jan versuchte unbeholfen, die angespannte Stille zwischen ihnen zu durchbrechen.

Fenia zuckte mit den Schultern. Sie hatte keine Lust, mehr Fragen zu beantworten, und war dem kleinen Hund sehr dankbar dafür, dass er ihr Gespräch eben unterbrochen hatte. In Jans Blick las sie, dass für ihn die Sache noch nicht erledigt war. Sie konnte ihn gut verstehen. Dennoch konnte sie ihm keine weiteren Antworten geben.

Sie erreichten eine etwa einen Meter hohe Mauer, die ziemlich neu aussah und blickten in den Garten dahinter. Niemand war zu sehen und sie hörten auch kein Rufen mehr.

„Ein alter Schulfreund von mir wohnt hier“, bemerkte Jan beiläufig.

Fenia reagierte nicht darauf. Ihre Augen wanderten zwischen der Wiese hinter ihnen und dem kleinen Hund hin und her. Merlins Schwanz wedelte wild und er hechelte. Ein kurzes Japsen drang aus seiner Kehle, als Jan zum Gartentor ging.

„Er heißt Kevin. Wir haben uns leider nicht mehr viel gesehen, seit ich zum Studieren weg bin. Er hat mir nur mal geschrieben, dass er nach dem Abi auch ein Studium angefangen hat.“

Noch immer sagte Fenia nichts dazu, sondern folgte ihm einfach nur durch das Tor. Am liebsten wäre sie nicht mitgegangen, weil sie immer noch das ungute Gefühl hatte, verfolgt zu werden, doch Merlin machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Als sie stehen blieb, in der Hoffnung, er würde nun einfach mit Jan mitlaufen, setzte er sich direkt auf ihre Füße und rührte sich keinen Millimeter vom Fleck. Seufzend ergab sie sich in ihr Schicksal und der Hund trottete brav neben ihr her auf das Haus zu. Die Terrassentür stand offen. Jan ging wie selbstverständlich darauf zu und klopfte kurz.

„Hier oben ist er auch nicht“, hörten sie eine Männerstimme durchs Haus rufen, bevor sie Schritte auf der Treppe vernahmen.

„Papa?“ Die Frage schien an sie gerichtet zu sein, bevor schließlich ein hochgewachsener, junger Mann im Wohnzimmer erschien und auf sie zuging. Er hatte glattes, rötliches Haar und dunkelbraune Augen, die erst an dem Hund und dann an Fenia hängenblieben. Er stutzte kurz. Dann fiel sein zweiter Blick auf Jan und ein Lächeln trat in sein Gesicht.

„Jan, Alter! Was machst du denn hier?“

„Dasselbe könnte ich dich fragen.“

Sie begrüßten sich mit einem herzlichen Schulterklopfen, bevor Kevin sie herein bat. Wieder musterte er Fenia mit äußerst neugierigem Blick. „Ist das deine Freundin?“, fragte er nach einer Weile, als weder sie noch Jan Anstalten machten, sie vorzustellen.

Jan lief auf der Stelle rot an. Fenia achtete allerdings gar nicht auf die Frage. Nachdem sie sich mit einem letzten Blick über die Schulter vergewissert hatte, dass ihnen auch tatsächlich niemand gefolgt war, sah sie nach vorn an die Wohnzimmerwand.

Das sanft geschwungene Schwert fing sofort ihren Blick. Der feine Stahl des Griffes, der mit einzelnen Edelsteinen und Goldornamenten verziert war, blinkte ihr vertraut entgegen. Die Klinge glänzte wie reines Silber und war so sauber und frei von Scharten und Kratzern, als wäre sie nie in einer Schlacht geschwungen worden.

Dabei wusste Fenia, dass das nicht der Fall war. Fast schon ehrfürchtig blickte sie das Schwert an. Unbewusst machte sie einen kleinen Schritt zurück, und wäre um ein Haar Merlin auf den Schwanz getreten, der immer noch dicht neben ihr saß. Sie drehte sich um und sah in vier Augen, die sie fragend musterten.

„Entschuldigung“, sagte sie, ihre Verwirrung überspielend. „Ich hätte mich wirklich vorstellen können. Mein Name ist Fenia. Ich bin mit Jans Schwester befreundet. Wir haben uns gerade zufällig oben am Waldrand getroffen, als wir deinen kleinen Ausreißer gefunden haben.“

Kevin nickte. „Ja, der Lausekerl ist eben, als wir vom Supermarkt kamen, einfach aus dem Kofferraum gesprungen und weg war er. Er ist noch nicht lange bei uns. Paps hat schon gedacht, wir finden ihn nicht wieder.“

Er versuchte, Merlin zu sich zu locken, doch der drückte sich nur noch enger an Fenias Beine. Ein wenig betreten schaute sie zu Boden.

„Er ist ganz verrückt nach ihr. Vielleicht solltest du ihn wegsperren, Kevin, sonst geht er am Ende wieder mit ihr mit“, lächelte Jan.

„Wollt ihr was trinken?“

„Oh, ich wollte eigentlich nicht lange hier bleiben, ich habe daheim noch was zu tun und …“

„Ach, Unsinn. Ich rufe Paps eben aus dem Keller. Der will sich bestimmt noch bedanken. Außerdem kommt meine Schwester gleich aus der Schule. Wenn du mit Yvonne befreundet bist, dann bist du im selben Jahrgang wie Sara.“

Jan sah sie an und wollte etwas sagen. Merlin fiepte leise und legte sich erneut auf ihre Füße. Das Schicksal schien zu wollen, dass sie hier war. Noch einmal fiel ihr Blick durch die Balkontür, dann zurück zu dem Schwert.

„Gehört es deinem Vater?“, fragte sie an Kevin gewandt.

„Keine Ahnung“, ratlos zuckte er mit den Schultern.

„Er hat es vorhin da aufgehängt. Weiß der Himmel, wo er es aufgetrieben hat. Mein Paps kann manchmal etwas seltsam sein.“

„Es ist immer wieder erhebend zu hören, wenn die eigenen Sprösslinge voll Ehrfurcht von einem sprechen.“

Eine Fenia wohlbekannte Stimme erklang aus dem Flur und eine ihr nicht weniger vertraute Gestalt schob sich im nächsten Moment durch die Tür.

„Schön, dass du dich mal wieder blicken lässt, Jan. Oh, und da ist ja mein kleiner Ausreißer.“ Der große, dunkelhaarige Mann klopfte sich auf die Oberschenkel und endlich riss sich Merlin von Fenia los.

Mit lautem Fiepen und Jaulen stürmte er auf sein Herrchen zu und ließ sich auf den Rücken plumpsen. Hohes Kläffen und Gurgeln entrang sich seiner Kehle, als Kevins Vater ihm durch den weichen Pelz wühlte. Seine dunklen Augen glänzten dabei vor Verzückung und das tiefbraune Haar flog ihm wild um den Kopf.

Fenia starrte ihn wie gebannt an. Sie war kurz davor, wie bei ihrer letzten Begegnung einfach davonzulaufen, aber offensichtlich war der Mann vor ihr kein Hirngespinst. Sie sah auf das Schwert, dann wieder auf ihn und dann traf sie die Erkenntnis wie ein Blitz.

„Natürlich! Zwillinge“, hauchte sie.

Daves Kopf flog hoch. Seine Finger ließen augenblicklich von Merlin ab und er schaute auf die junge Frau, die vor dem Sofa stand, und auch ihn traf es wie ein Schlag vor den Kopf. Ihr Blick war nicht weniger entgeistert als Sonntagnacht am Brunnen.

Kevin und Jan sahen sich verwirrt an. Sie begriffen beide nicht, was hier gerade los war. Offensichtlich kannten sich Fenia und Dave, oder auch nicht. So ganz konnte man nicht schlau werden aus ihren Gesichtern.

Die Stille, die sich durch diesen Blick einstellte, war so vollkommen, dass man ein Staubkorn hätte hören können, wenn es zu Boden gefallen wäre. In Fenia kroch die Kälte wieder hoch. Sie wollte sich dagegen wehren, doch es ging nicht. Wild wirbelten ihre Gedanken durch-einander. Sie sah das Gesicht des Mannes, doch trug er in ihrer Erinnerung einen Bart. Seine Kleidung war ganz anders. Seine Gesten. Sie hörte die Schreie, die über das ganze Schlachtfeld wehten. Sah unzählige Gesichter.

Leichen. Alles Blut verschmiert. Ein junger Mann tauchte vor ihr auf. Er sah dem Älteren zum Verwechseln ähnlich. Sie hörte, wie die Stimme des anderen etwas rief. Sie sah die Klinge einer Axt niederfahren … „Vater! NEIN!“ … Ein Totenbett … Sein letzter Wunsch auf altem, vergilbten Pergament an sie gerichtet, und dann wieder blutiger Nebel um sie herum. Mehr Gesichter, mehr Schreie. … Martins Augen ... auch seine Brust voller Blut …

***

„Fenia?“ Eine leise Stimme drang an ihr Ohr. Sie blickte auf ein paar Balken an der Decke. Eine Hand rüttelte sie sanft wach.

„Was … was ist passiert?“

„Du bist plötzlich bewusstlos geworden und hast seltsames Zeug geredet.“ Jan sah sie voller Sorge an.

Noch zwei andere Gestalten standen im Hintergrund. Fenia wendete sich von ihnen ab zur Seite. Ein kleines Hundegesicht lag neben ihrem Kissen. In ihrem Kopf drehte sich noch immer alles.

„Lasst sie noch einen Moment zu sich kommen. Am besten tragt ihr schon mal die restlichen Kisten aus dem Auto“, sagte Dave. Die Jungen gehorchten und verließen den Raum. „Ich mache dir einen Tee, wenn du möchtest.“

Die Stimme dröhnte in Fenias Kopf. Langsam, wie in Zeitlupe, schüttelte sie ihn zur Verneinung. Diese Stimme, dieses Gesicht. Hier! Das war so unwirklich. Er hatte nie erzählt, dass er und sein Bruder Zwillinge gewesen waren. Warum nicht? Vielleicht weil es einfach zu selbstverständlich war, dass jeder es wusste?

Dave stellte einen Stuhl neben das Bett und setzte sich. Fenia richtete sich auf. „Es geht mir schon wieder besser“, murmelte sie. Sie wollte nicht mit ihm reden. Sie wollte gar nicht reden. Warum durfte sie nicht einfach vergessen? Erinnerungen taten so weh.

Sie wollte ihre Beine über die Bettkante schwingen, aufstehen und gehen. Einfach weggehen, ohne Erklärungen, ohne Wahrheiten. Es ging nicht. Ihr Körper tat nicht, was ihr Kopf forderte, sondern verharrte und schaute weiter in das so furchtbar vertraute Gesicht. Sie hatte ein Versprechen gegeben.

Ihre Hand wanderte zu der Seite, wo vorhin der Beutel gehangen hatte. Dave griff zum Boden und reichte ihn ihr. Hastig zog sie ihn an sich. Sie musste sich dazu zwingen, ihn nicht direkt aufzureißen und nachzusehen, ob noch alles da war.

„Du hast vorhin etwas gesagt“, begann Dave. Seine Stimme stockte dabei. Es war alles so lange her. Es kam so plötzlich. Das Mädchen nickte. „Du heißt Fenia, nicht wahr?“ Sie nickte wieder. „Also Fenia, woher weißt du von meinem Bruder?“

Sie hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Lügen war zwecklos. Aber sie brachte es nicht über sich etwas zu sagen.

„Du warst dort, nicht wahr?“ Keine Reaktion. „Ich weiß, wie schwer es ist, darüber zu reden.“ Dave merkte, dass es ihr nicht anders ging als ihm. Wenn er wissen wollte, was sie wusste, musste er wohl offen zu ihr sein.

„Ich weiß, wie das ist, wenn man sich von einer Lüge in die nächste retten muss. Ich tue das jetzt schon seit über zwanzig Jahren. Meine Frau, meine Kinder, niemand weiß, wer ich bin … aber du … eine völlig Fremde. Du hast mich schon am Brunnen erkannt. Du hast mich für Mel gehalten, nicht wahr?“

Er redete einfach. Er konnte sich nicht zurückhalten. Die Worte kamen und wollten raus, wollten gesagt werden nach all den Jahren. Ihre Augen, ihre tiefen, blauen Augen! Sie gaben ihm eine nie dagewesene Hoffnung. Alles würde gut werden, wer auch immer dieses Mädchen war. Dave verstand sich selbst nicht mehr.

„Warum fürchtest du meinen Bruder? Was ist passiert? Hast du ihn getroffen? Wie … wie geht es ihm? Wie geht es seinem Jungen, Dûrowinn?“

Fragen über Fragen. Fenia verstand ihn nur allzu gut. Sie hatte dieselben Fragen gehabt, als sie dort gewesen war. Ihre Familie war ihr nicht aus dem Kopf gegangen. Wie es ihnen ging. Was sie ohne sie taten. Ob sie sie vermissten. Sie hatten viel gemeinsam, er und sie. Trotzdem war es so unendlich schwer, Worte für das alles zu finden, was in dieser Welt so fremd klang.

„Euer Bruder …“ Sie stockte. Sie hatte das alles zu verdrängen versucht. So viel von dem, was passiert war, war ihre Schuld, und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass sie es hätte rückgängig machen können. Tränen schlichen sich an und drängten nach oben, aber sie erlaubte es ihnen nicht. Sie würde nicht weinen. Weinen hieß Schwäche zeigen. Ihre Schwäche war an allem Schuld.

Ihre Hand glitt in den Beutel und holte eine winzige Schatulle hervor, die mit einem bronzenen Haken verschlossen war. Sie drückte sie in Daves Hand und zwang sich anschließend aufzustehen.

Sie wäre gern hier geblieben, wo jemand war, der sie verstand, und dem sie alles hätte erzählen können, ohne dass er sie für verrückt gehalten hätte. - Es war nicht möglich. Ihre Schuldgefühle waren so stark, dass sie am liebsten an Ort und Stelle im Boden versunken wäre.

„Darf ich etwas fragen?“

Dave schaute sie verwundert an. Er wartete auf eine Erklärung, aber er ahnte schon, dass er keine bekommen würde.

„Seid Ihr glücklich? Ich meine mit Eurer Familie, mit Eurem Leben hier?“ Dave überlegte einen Moment. Es gab keinen Grund nein zu sagen, also nickte er. „Dann tut Euch selbst einen Gefallen und macht es nicht auf. In zwanzig Jahren ändert sich viel, und das Land, aus dem Ihr weggegangen seid, ist nicht mehr dasselbe.“

„Aber warum? Was ist passiert? Wieso gibst du mir das, wenn du nicht willst, dass ich weiß, was da drin ist?“

„Euer Bruder bat mich darum … falls ich einmal wieder hier bin.“

Sie hörten beide die Schritte auf der Treppe. Jan und Kevin waren fertig. Fenia rappelte sich endgültig auf und griff bereits nach der Tür, als sie von außen aufgemacht wurde.

„Vielen Dank, Herr Vindour. Ich muss jetzt wirklich los.“

Sie war schneller an der Haustür, als irgendwer die Chance gehabt hätte, ihr diese zu zeigen. Im Vorbeigehen tätschelte sie Merlin noch einmal am Kopf und lief dann so schnell sie konnte die Straße hinunter.

17.

Vier Jahre zuvor ...

„Na, ich bin ja mal gespannt, was das heute gibt“, argwöhnte Lena, während sie mit den anderen zusammen auf der Couch saß und wartete. Was sie von dem gemeinsamen Treffen heute hielt, war nur allzu deutlich auf ihrem Gesicht zu lesen.

Sie hatte sich eigentlich ganz gut mit der Situation arrangiert, immer das einzige Mädchen unter den drei Jungs zu sein. Alex und Daniel hatten Martin gegenüber nicht viel zu melden und sie genoss ja immerhin den Rang, seine nächste Auserkorene zu sein. Allerdings fand sie, dass er sie nicht mehr länger hinhalten sollte. Das wollte sie ihm heute auch irgendwann mitteilen. Entweder machte er es jetzt offiziell, dass sie zusammen waren, oder er würde schon sehen, was er davon hatte. Während sie über diesen Gedanken brütete, kaute sie sehr undamenhaft auf ihrer Unterlippe herum.

Sie wusste nicht, was die Winterferien gebracht hatten. Zuvor war sie mit Martin ein paar Mal allein ausgegangen. Sie hatten gescherzt, gelacht, sich lange in die Augen gesehen. Nur geküsst hatte er sie nie. Darüber verunsichert, hatte sie mal vorsichtig bei einer seiner Ex-Freundinnen nachgehakt und erfahren, dass es immer genauso bei ihm lief. Er ließ sich manchmal sehr lange Zeit, ging oft mit mehreren gleichzeitig aus. Wenn er sich dann aber für eine entschieden hatte, würde alles schneller gehen, als man dachte.

Was Lena ein wenig irritiert hatte, war, dass seine Ex kein bisschen schlecht über Martin gesprochen hatte. Sie selbst war auch schon mit einem Jungen aus ihrer Klasse gegangen. Da war zwar nicht viel gelaufen, aber seit sie Schluss gemacht hatte, redete er kein Wort mehr mit ihr oder gar über sie.

Vielleicht, so dachte sie, lag es ja gar nicht an Martin, dass er immer wieder mit einer anderen zusammen war. Sie war sich sogar ganz sicher, dass es nicht an ihm lag. Er war so ein toller Kerl. Natürlich stellte er Ansprüche an ein Mädchen und man lernte sich ja auch erst in einer Beziehung richtig kennen. Sie war auf jeden Fall fest entschlossen, ihn nicht nur für sich zu gewinnen, sondern ihm auch zu beweisen, dass sie es wert war, dass er bei ihr blieb. Dass er sich ausgerechnet jetzt mit Joe wieder versöhnt hatte und, laut dessen Aussage, sogar ein klärendes Gespräch mit Fenia geführt hatte, kam ihr so ganz und gar ungelegen. Solange sie zu viert unterwegs waren, hingen Alex und Daniel meist irgendwo in einiger Entfernung zu ihnen rum. Also hatte sie Martin für sich. Waren Joe, Nina und Yvonne nun wieder dabei, dann hatte es sich mit der trauten Zweisamkeit. Und dann war da auch noch Fenia. Wer hatte die eigentlich gebeten, wieder mitzumischen?

Früher war sie ihr mehr als egal gewesen. Sie hatte ihnen immer einen Grund zum Lachen geliefert. Aber seit sie so den Trotzkopf raushängen ließ und sich mit Martin gezofft hatte, war sie unerträglich.

Zu ihrem größten Bedauern tauchten mit dem nächsten Türklingeln dann auch noch alle vier gemeinsam auf. Martin samt Fenia, Joe und Yvonne. Sie hatte wenigstens gehofft, mit ihm nochmal ungestört reden zu können, bevor alle da waren. Sie seufzte leise, setzte ein gezwungenes Lächeln auf und begrüßte die anderen mit der gewohnt übertriebenen Herzlichkeit. Küsschen links, Küsschen rechts für Yvonne, eine Umarmung für Joe und ein forscher Schritt auf Martin zu.

Sie sah ihn auffordernd an, was allerdings nicht den Effekt hatte, den sie sich wünschte. Er hob nur die Hand in ihre Richtung und sagte: „Hi, ähm … schön dich zu sehen.“ Dann wagte er es doch tatsächlich, sich zu Fenia umzudrehen, die gerade aus ihrer Jacke geschlüpft war, und nahm sie ihr ab.

Auch diese selbst staunte nicht schlecht. Aber es war nur eine weitere positive Überraschung, mit der Martin in letzter Zeit aufwartete. Seit seinem ersten Besuch im Krankenhaus hatten sie sich ein paarmal getroffen. Sie waren die einzigen der Clique, die nicht in die Ferien gefahren waren. Joe war erst gestern aus seinem Skiurlaub zurückgekommen. Braun gebrannt und mit bester Laune. Sein Gesichtsausdruck war unbezahlbar gewesen, als er Fenia und Martin gemeinsam am Bahnhof sitzen gesehen hatte.

In der Tat war Fenia zu dem Schluss gekommen, dass Joe recht hatte. Martin hatte wohl seine Macken, aber eigentlich war er gar kein so übler Kerl, wenn man ihn näher kannte. Jetzt stand sie also hier im Flur, schenkte ihm ein freundliches „Danke, lieb von dir“ und fing sich damit sechs verwirrte Blicke ein. Selbst Joe schaute noch ein wenig ungläubig.

Nachdem der überschwängliche Begrüßungsreigen schließlich abgeschlossen war, schob Nina sie ins Wohnzimmer, damit der Flur wieder begehbar wurde. Dort brach dann auch das allgemeine Geschnatter los, weil jeder von seinem Urlaub erzählen wollte.

Joe war noch nie Skifahren gewesen. Da er aber sehr sportlich war, hatte er sich nicht schlecht geschlagen und war am Ende der zehn Tage sogar einmal eine Piste für Fortgeschrittene hinabgesaust.

Nina war mit Yvonne bei deren Opa gewesen. Alex machte wie üblich dumme Bemerkungen und Daniel schwieg sich aus. Auch Lena war irgendwie sehr still. Sie hatte sich rasch neben Martin gesetzt und funkelte ihn nun mit ihren großen Rehaugen an. Über St. Moritz und ihre eigenen Skiferien ließ sich nicht mehr als ein paar Sätze verlauten.

Nina sprang irgendwann auf und meinte, sie wolle die Pizzabrötchen in den Ofen schieben. „Oh man, du hast schon sauviel Glück, dass deine Eltern so was mitmachen. Meine würden mir garantiert nicht erlauben, ̕ne Party zu schmeißen, wenn sie mal übers Wochenende weg sind. Die wollen immer alles kontrollieren.“

„Ach, dafür ist doch Oma da“, lachte Nina und war schon halb im Flur.

Ihre Großmutter hatte im ausgebauten Untergeschoss des Hauses eine eigene Wohnung. Die hatte aber zum Glück, da das Haus am Hang lag, einen separaten Eingang, und die alte Dame war diskret genug, nicht alle fünf Minuten hoch zu rufen, ob sie Kekse oder Tee machen sollte. Daniel meinte, seine Großmutter würde das bestimmt tun, wenn sie im selben Haus wohnen würde.

„Kann mal einer die Gläser holen?“, kam Ninas Stimme aus der Küche und Fenia und Joe sprangen gleichzeitig auf.

„Einer reicht zum Tragen“, grinste sie und drückte Fenia den Stapel in die Hand. „Die Getränke stehen hinten in der Kammer, am Ende vom Flur. Du weißt wo oder?“

Fenia nickte.

„Kann ich dir sonst noch was helfen?“, fragte Joe der nun recht nutzlos zwischen Küchentisch und Ofen stand, an dem Nina herumwerkelte, um möglichst alle drei Bleche auf einmal hinein zu bekommen.

„Aus der Küche verschwinden. Ihr könnt ja schon mal aussuchen, mit welcher DVD wir anfangen.“

Mit dieser Aufgabe waren sie eine Weile beschäftigt, bis sie sich dann doch auf ‚Herr der Ringe‘ einigten. Damit verflogen die Nachmittagsstunden natürlich, fast ohne dass sie es merkten. Draußen vor den Fenstern wurde es dunkel. Sie ließen die Rollläden runter. Lena versuchte so im Halbdunkel, näher an Martin heranzurücken. Der schien sie aber immer noch geflissentlich zu ignorieren.

Es war irgendwann gegen Ende des zweiten Teils, während die Hobbits mit den Bäumen zusammen den weißen Turm einnahmen, als Fenia plötzlich aufstand. „Ich geh mal kurz raus“, flüsterte sie in die Runde und verschwand durch die Tür.

Im schwachen Licht, das von der Mattscheibe des Fernsehers strahlte, wirkte sie irgendwie blass. Nur Joe und Martin wussten, dass sie ihre Ferien mit einer Gehirnerschütterung im Krankenhaus verbracht hatte, und beide blickten ihr besorgt nach.

Draußen war es kalt. Ein starker Wind war aufgekommen und trieb einige unruhige Wolkenfetzen vor sich her. Fenias Kopf pochte laut. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass dies die Nachwirkungen der Gehirnerschütterung sein sollten. So schlimm war es doch gar nicht gewesen. In den letzten Tagen hatte sie diese Anfälle aber immer wieder gehabt.

Es fühlte sich zunächst an, als würde man zu tief tauchen und Druck auf die Ohren kriegen. Ihr wurde schwindelig. Geräusche um sie herum wirkten undeutlich, leise und verzerrt. Bunte Funken tanzten vor ihrem Blick, wenn sie die Augen schloss. Am schlimmsten war es immer, wenn sie nicht allein war. Jedes Treffen mit Martin war von diesen unangenehmen Kopfschmerzen begleitet. So wie auch jetzt wieder.

Langsam ließ sie sich am Stamm eines Baumes zusammensinken und presste die Hände vors Gesicht. Die bunten Lichter wurden größer, bis sie zu einem verschmolzen. In der Mitte erschien die Gestalt einer Frau. Sie war groß, schlank und in weite, wallende Gewänder gehüllt. Es war dieselbe Frau, die vor zwei Wochen am See aufgetaucht war.

Das Wasser hatte plötzlich begonnen, sich ohne den geringsten Windhauch zu kräuseln. Nebel war aufgezogen am helllichten Tag. Eine Stimme war um Fenia her erklungen und hatte wieder und wieder dieselben Worte gerufen. Mit jedem Mal war sie lauter und durchdringender geworden, als käme sie nicht von außen, sondern erschallte direkt in ihrem Kopf. Auch jetzt konnte sie sie hören.

„Assan ad Erui. Mar whel, dun däir!“

Die Worte hatten erst bittend geklungen, dann immer flehender, wie ein Schrei nach Hilfe. Die Gestalt der Frau war auf sie zu geglitten. Immer näher und näher. Sie hatte die Hände nach ihr ausgestreckt, doch Fenia hatte ihr Gesicht nicht sehen können. Es war wie ein verschwommener Fleck unter der dunklen Kapuze gewesen. Sie war zurückgewichen, weiter und weiter.

Ob sie langsam den Verstand verlor, hatte sie sich gefragt. Dann war sie über eine Wurzel gestolpert und rückwärts auf den Boden aufgeschlagen. Die Gestalt war immer weiter an sie herangekommen, und schließlich hatte Fenia geschrien. Doch dann war plötzlich alles vorbei gewesen. Eine andere Stimme war an ihre Ohren gedrungen.

„Hallo? Ist hier jemand?“, hatte sie gerufen. Der Nebel war gewichen. Die Gestalt hatte sich zurückgezogen. Nur ihre Hände hatten sich ein letztes Mal flehentlich in Fenias Richtung gereckt.

Dieses Bild war es, das sie auch jetzt vor Augen hatte. Sie wusste nicht, wo diese Hirngespinste herkamen. Vielleicht hatte sie zu viele Stunden damit verbracht, am Waldsee mit nur halb geöffneten Augen vor sich hin zu träumen.

Ganze Nachmittage waren an ihr vorbeigezogen, an denen sie nicht hätte sagen können, was für ein Wetter gewesen war. Sie war so weit in ihre Traumwelten abgedriftet und über endlose Wiesen im goldenem Sonnenschein spaziert, dass sie mehr als einmal mit Entsetzen festgestellt hatte, dass sie von einem Regenschauer in der Wirklichkeit ganz durchweicht worden war. - Waren ihre Träumereien gefährlich?

Sie hatte sich bis zu diesem Nachmittag keine Gedanken darüber gemacht. Es war ihr harmlos vorgekommen, von Einhörnern zu träumen und mit ihnen durch Zauberwälder zu reiten. Als sie schließlich nach oben geblinzelt hatte, der Stimme entgegen, die die Gestalt vertrieben hatte, hatte sie in Martins völlig aufgelöstes Gesicht geblickt. Er war blass gewesen und er hatte sie angestarrt, als sei sie ein Gespenst. An vieles danach erinnerte sie sich nicht mehr. Zum Beispiel wie sie dann eigentlich ins Krankenhaus gekommen war. Auch, was bis dahin passiert war, war erst Tage nachdem sie sich besser gefühlt hatte wieder gekommen.

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Fenia zuckte hoch. Erneut war es Martin, der vor ihr hockte.

„Geht es dir gut?“

Sie nickte benommen. ‚Was macht er hier?’, dachte sie und musste es unbewusst laut gesagt haben, denn er antwortete abrupt.

„Du bist seit fast zwei Stunden weg. Wir haben uns Sorgen gemacht. Joe und ich sind raus, dich suchen.“

Wieder nickte sie, aber es wirkte für ihn eher so, als realisiere sie seine Worte gar nicht. In ihren Augen lag der gleiche abwesende Glanz, den er schon einmal gesehen hatte, vor zwei Wochen, als er sie im Wald hatte um Hilfe schreien hören.

Er hatte ihre Stimme sonderbarerweise direkt erkannt. Er hatte sein Motorrad achtlos in den Schlamm fallen lassen und war durch das Gebüsch geeilt, aus dem die Schreie zu ihm gedrungen waren. Dort war er Zeuge von etwas geworden, das er bisher nur aus Horrorfilmen kannte. Die Erinnerungen an die schwebende Gestalt und den Nebel und die Stimme in seinem Kopf ließen ihn noch immer schaudern.

„War es wirklich da?“, fragte Fenia ihn mit einem Mal. Ihr Blick ging noch immer durch ihn hindurch.

Er nickte, wurde sich dann jedoch bewusst, dass sie das vermutlich nicht sah. „Ja. Ja, ich habe dieses Ding auch gesehen.“

Er legte ihr eine Hand auf den Arm. Sie zitterte am ganzen Körper. Er konnte nicht sagen warum, aber mit einem Mal überkam ihn ein dringendes Bedürfnis, ihr nahe zu sein, und er zog sie an sich. Fenia ließ ihn gewähren. Es fühlte sich irgendwie richtig an. Durch ihrer beider Jacken hindurch spürte sie, dass sein Herz ebenso laut pochte wie ihres.

Es war alles ziemlich verrückt. Keine fünfzehn Tage war es her, dass sie nicht ein Wort miteinander geredet hatten.

„Fenia, ich möchte dich nie wieder gehen lassen.“

In ihrem Kopf gab es nun nur noch seine Stimme. Der Nebel und die Gestalt und die flehenden Schreie waren fort.

„Ich glaube, ich habe mich zum ersten Mal verliebt.“

Seine Feststellung klang nüchtern und äußerst unromantisch, und doch war sie so schlicht und wahr, dass sie die Augen schloss und sich wünschte, die Zeit möge anhalten.

Ein Herz war ein seltsames Wesen, stellte sie in dieser Nacht fest. Es gehörte zu einem und schlug in der eigenen Brust und doch hatte man oft nur sehr wenig Ahnung davon, was es eigentlich wollte.

***

Fenia spürte Martins Kuss, ihren ersten Kuss, noch, als sie am nächsten Morgen die Augen aufschlug. Die Träume waren in dieser Nacht sanft zu ihr gewesen. Kein Blut, keine Schreie, keine Dunkelheit. Aber gerade das machte sie noch grausamer als jeden Alptraum.

Sie entließen Fenia in den neuen Tag, mit nichts als der Erinnerung an eine schöne Vergangenheit. Die Leere in ihrem Innern schien dadurch nur noch tiefer und schmerzhafter zu werden. Sie atmete bewusst ruhig ein und aus und flüsterte immer wieder leise Worte vor sich hin, während sie die Füße aus dem Bett schwang, sich ein paar dünne Sachen überwarf und das Fenster öffnete. Der Morgennebel würde die Träume wegwaschen. Alles würde gut werden.

Sie kletterte an den dicken Ästen des Haselstrauches hinab, der vor ihrem Fenster wuchs, und lief wie in Trance durch die Gärten in Richtung Dorfrand. Es musste so etwa halb fünf sein. Das hieß, noch gute eineinhalb Stunden, bis die Sonne aufging und die Nebel vertrieb. Diese Zeit wollte sie nutzen.

Schon spürte sie, wie die dicken, feuchten Schwaden durch ihre viel zu dünne Kleidung drangen und Füße und Hände zu kribbeln begannen. Ihre Wangen glühten zu Anfang noch rot, weil ihr Körper vergebens versuchte, sie zu wärmen. Als sie aber schließlich die Wiese am Fluss erreicht hatte, die neue Mauer mit einem Satz nahm und sich gegen den Stamm des alten Kirschbaumes fallen ließ, an dem sie jeden Morgen saß, hatte die Kälte bereits ihr Blut ins Körperinnere zurückgetrieben und ihr Gesicht und ihre Hände wirkten weiß und kränklich.

Fenia zitterte und schloss die Augen. Ihre Füße spürte sie schon nicht mehr. Als nächstes würden ihre Finger taub werden. Ein ganz lauer Wind kam auf und blies ihr ins Gesicht, was der klammen Kühle um sie her beißende Zähne verlieh.

Es war gut. Es war eine befreiende Kälte. Nicht so wie dort, wo die Kälte einen überfiel und erstickte, wo man nirgends vor ihr fliehen konnte, weil sie überall hinkroch. In jeden Felsspalt, jede Höhle, jedes Loch in der Erde. Dazu die nachtschwarze Dunkelheit, die alles verschlang und nichts von einem übrig ließ als Schmerzen und Angst.

Nein, so war das hier nicht. Der Morgennebel kroch freundlich an ihr hoch, legte seine kalten Finger auf ihr Gesicht. Er ließ die Tränen, die sie nicht weinen wollte, zu Eis erstarren. Er kroch unter ihr Hemd und schmiegte sich wie ein weiches, kaltes Tierchen an ihre Brust, das alle Wärme aus ihr saugte. Sie hieß ihn willkommen und umarmte ihn in Gedanken. Der Nebel war ihr Freund. Er fror alles ein. Selbst die blutenden, nicht heilen wollenden Wunden, die tief in ihrem Herz klafften. Deswegen saß sie hier. Sie wollte taub und gefühllos sein von den Fingerspitzen bis in die Tiefen ihrer Seele, damit sie die Tage in dieser lachhaft zynischen Idylle des Daheim-Seins aushalten konnte. Hier, wo alles gut war, wo sie sicher war, wo ihre Eltern ihr so viel Liebe und Verständnis gaben, wie sie aufbringen konnten, hier war alles am schlimmsten.

Sie wünschte verzweifelt, sie könnte wirklich einfach alles vergessen, so wie sie bei der Polizei behauptet hatte. Nach weiteren fünf Minuten, die sie reglos im taunassen Gras verbracht hatte, betäubte die Kälte aber auch diesen verzweifelten Wunsch. Die letzten vier Jahre lagen jetzt so deutlich vor ihren Augen, als habe sie ein Bilderbuch aufgeschlagen. Glückliches, Trauriges, Schreckliches kam und ging und ließ sie unberührt zurück.

18.

Sanft schlängelt sich das blaue Band vor den Augen dahin und wandert, weiche Kurven in die Landschaft ziehend, durch die grünen Hügel. In der Ferne sieht man die Schaufeln eines Mühlrades, das sich fröhlich im Takt des Flusses dreht. Lässt man den Blick dann von dem Haselhain, unter dem man steht, noch weiter dem Horizont entgegen schweifen, so erhebt sich dahinter die Spitze des Berges, um den sich, einem riesenhaften Drachen gleich, welcher den Berg bewacht, die Mauern des Schlosses winden.

Daves Finger hielten inne. Die Spitze der Feder verharrte zuckend über dem Blatt. Hatte er nicht ein Geräusch von draußen gehört?

Nervös blickte er zu Merlin, der in seinem Körbchen neben dem Schreibtisch lag. Auch der hatte den Kopf gehoben und blickte in Richtung des Fensters. Ein leises Knurren drang aus seiner Kehle. Behutsam legte Dave die Feder neben das feine Pergament, das er gerade damit beschrieben hatte, und den Finger an die Lippen. Merlin verstummte augenblicklich. Dave schob den Stuhl zurück. Der Hund sprang aus dem Korb direkt an seine Seite. Sein Nackenhaar sträubte sich wie das Fell einer zornigen Katze. Unendlich leise schlich Dave rückwärts aus seinem Arbeitszimmer. Das Fenster ließ er dabei nicht aus den Augen.

Caitlin war auf der Arbeit, Sara in der Schule und Kevin schon seit dem Mittag mit Jan unterwegs. Außer ihm war also niemand hier. Das war schon mal gut – falls sie ihnen wieder einen Besuch abstatten wollten.

Er spähte durch einen Türspalt in den Flur, sah nichts Auffälliges und schob sich hinaus in Richtung Wohnzimmer. Seine Schritte waren nicht zu hören, auch wenn die alten Dielen sonst immer knarzten. Merlin folgte ihm wie ein Schatten. Selbst sein nervöses Hecheln bemerkte man nur, wenn einen wie Dave jeder Atemstoß an der Wade traf. ‚Kluger Hund‘, zuckte es stolz durch seine Gedanken.

Er erreichte die Wohnzimmertür nach quälenden zwei Minuten und wusste erst einmal nicht weiter. Das Schwert hing im Prinzip direkt an der Wand neben der Tür, doch durch die großen Scheiben der Terrasse konnte man das ganze Zimmer von außen gut einsehen. Er bekam Gänsehaut bei dem Gedanken, dass sich vielleicht in genau diesem Moment schwarze Gestalten mit leeren Gesichtern und roten Augen vor den Glasscheiben herumdrückten, und nur darauf warteten, dass sich im Haus etwas regte.

Er schob die Tür zum Wohnzimmer einen winzigen Spalt breit auf, sodass er den Teil bis zum Durchgang zur Küche überblicken konnte. Der geschwungene Griff seines Schwertes blitzte ihm entgegen. Vielleicht sollte er es einfach riskieren, kurz die Hand danach aus-zustrecken und es an sich zu ziehen.

Er trat dicht an die Tür heran. Seine Muskeln spannten sich bis zum Zerreißen. Ein letzter Blick fiel zurück auf seinen Hundewelpen, und das war sein Glück.

Mit einem stummen Schrei auf dem kleinen Gesicht und blankem Entsetzen in den großen, dunklen Augen schob dieser sich nämlich langsam immer weiter zurück Richtung Wand. Sein Fell stand soweit in alle Richtungen ab, dass er aussah, als sei er gerade explodiert.

Daves Blick fiel zurück durch den Türspalt und sein Herz setzte für einen Schlag aus. Schwarze Stiefel, von weiten Umhängen umweht, schwebten über den Boden. Keine zwei Schritte trennten sie noch von ihm und nur die Tür hatte bisher verhindert, dass sie sich auf ihn stürzten.

Dave sah, wie einer sich zum Boden bückte und auf etwas deutete. Ein tiefer, gurgelnder Laut drang an seine Ohren und dann huschten ein paar krallenbewehrte Pfoten durch seinen schmalen Sichtstreifen, an denen etwas Riesenhaftes und Schuppiges zu hängen schien. Er hörte ein rasselndes, ersticktes Einatmen. Das Biest schien auf eine Fährte angesetzt zu sein. Die Schatten jagten etwas!

Fieberhaft versuchte Dave, eine Idee zu bekommen, wie er sein Schwert erreichte, ohne dass sich die Jäger und ihr fürchterliches Schoßtier gleich auf ihn stürzten. Alle Hirnzellen in seinem Kopf arbeiteten auf Hochtouren, doch ihm fiel nichts ein.

Das Schnüffeln näherte sich dabei gefährlich schnell der Tür. Ein Schritt noch, dann waren sie da, würden sie aufreißen und Dave würde völlig unbewaffnet vor ihnen stehen. Seinen letzten Kampf hatte er sich irgendwie anders vorgestellt.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739324593
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (November)
Schlagworte
Drachen erster Teil Magie Geheinisse andere Welten weiblicher Hauptcharakter starke Frauen heroisch

Autor

  • Sylvia Rieß (Autor:in)

Sylvia Rieß wurde 1985 in einer Kleinstadt im Lahntal geboren und wuchs im ländlich geprägten Mittelhessen auf. Im Mai 2015 begann mit der Veröffentlichung ihres Buchs "Der Stern von Erui -Heimkehr-" ihr Autorendasein in der Öffentlichkeit. Heute ist sie Mitbegründerin der Märchenspinnerei, engagiert sich im Phantastik Autoren Netzwerk PAN und lebt ihren Traum vom Doppeldasein als Fantasy-Autorin und Tierärztin mit eigener Praxis auf dem Land.
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Titel: Der Stern von Erui: Heimkehr