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Lenara: Die Blutmagie

von Dominique Heidenreich (Autor:in)
330 Seiten
Reihe: Lenara, Band 3

Zusammenfassung

Während Nathan um sein Leben kämpft, versucht Lenara Zugang zu ihren Erinnerungen zu finden. Doch die Dämonen der Vergangenheit jagen nicht nur sie und drohen alles, was sie sich aufgebaut hat, zu überschatten. Hin- und hergerissen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und einer ungewissen Zukunft, muss sie sich entscheiden, wer sie sein will. Auf der Suche nach der Wahrheit wird auch Dans Welt erneut auf den Kopf gestellt. Wird er sich diesmal auf Lens Seite schlagen oder sie erneut für sein Volk verraten?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Copyright © 2017 Dominique Heidenreich. Alle Rechte vorbehalten

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Alle in diesem Roman vorkommenden Personen, Charaktere, Schauplätze, Ereignisse und Handlungen entstammen der Vorstellungskraft der Autorin, oder sind fiktiv. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden, oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

1. Auflage

 

Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss, www.juliane-schneeweiss.com

Lektorat & Korrektorat: Pia Euteneuer und Lillith Korn

Selbstverlag: Isabel Heidenreich, BA
Kampfstraße 4, 1140 Wien

Heidenreich, Dominique

Die Blutmagie

Band 3 der Reihe - Lenara

Mehr Informationen finden sie auf www.dominiqueheidenreich.at

Besucht mich auf Facebook und Instagram: @DominiqueHeidenreich

 

Was bisher geschah …

 

Grace hat zusammen mit Nate, Luca und Rack Zuflucht bei William Jones’ Rudel gefunden.

Unterdessen sind die Gargoyles Grace nach Miami gefolgt. Markus wird von den Werwölfen gefangen genommen, und sein Bruder Daniel kommt, um seine Freilassung zu verhandeln, doch alles gerät aus dem Ruder.

Bei einem Kampf wird Nate verletzt. Als sein Leben bedroht ist, wird sich Grace ihrer Gefühle für ihn bewusst und zieht los, um sich mit Dan zu treffen. Von ihm bekommt sie das Gegengift und erfährt, dass Nate ihr essentielle Dinge über seine Herkunft vorenthalten hat.

 

Prolog

 

Sin stand an der Wand und beobachtete, wie 2121 in seinem Rollstuhl zu ihr hineingeschoben wurde. 2121 – Sisi.

Er war noch dünner geworden, seit sie ihn das letzte Mal zu Gesicht bekommen hatte. Eine Narbe verlief in der Mitte seiner Brust, eine weitere unterhalb seiner rechten Schulter. Sie hatten ihn schon so oft operiert. Es war schwer, sich zu erinnern, wie oft. Doch auch der Herzschrittmacher zögerte nur sein Ende hinaus. Natürlich wussten ihre Wärter das.

Ein Schlauch in der Nase versorgte ihn mit Sauerstoff. Mittlerweile hatten sie ihm einen künstlichen Ausgang gelegt. Seine Lippen waren blutleer, die Augenringe fast schwarz, die Wangen eingefallen. Er würde es nicht mehr lange machen.

Und trotzdem brachten sie ihn hierher. Zu ihr.

Sin lächelte und hüpfte aufgeregt auf der Stelle herum, was absolut bescheuert aussah, weil ihre Hände auf den Rücken gefesselt waren. Aber wenn sie dabei das Gleichgewicht verlor, unterstützte das ihren fraglichen Geisteszustand.

„Hast du mir Sisi zum Spielen gebracht, Cam?“, fragte sie in gespielter Freude und sah zu einer der Kameras in dem klinisch weißen Raum. Cam – Cameraman. So nannte sie ihn.

Die Plexiglasscheibe glitt wieder nach unten und die Männer in den Laborkitteln verschwanden. Kaum waren sie weg, klickten Sins Fesseln mechanisch, als sie von Cam via Fernsteuerung gelöst wurden.

„Sei sanft“, kam Cams Stimme lachend aus den Lautsprechern.

Sie schob schmollend ihre Unterlippe vor. Sin unternahm immer wieder Versuche, die Experimente umzubringen. So oft es ihr möglich war. Wenn sie es bemerkten, schritten die Wachen ein. Meistens waren sie zu spät.

Sin ließ immer genug Zeit zwischen den Morden vergehen. Und es war Mord.

Vollkommen egal dass viele um ihren Tod bettelten.

Vollkommen egal dass es für viele eine Erlösung von ihrem Leiden war.

Es war Mord.

Trotzdem bekam Sin immer wieder Gesellschaft. Sie wiegte die Wachen lange genug in Sicherheit, dass sie zumindest hofften, ihre Experimente würden überleben. Die Hoffnung reichte.

„Sisi“, flüsterte sie ihre Begrüßung, ihr Gesicht blieb eine strahlende Maske aus Freude. Wenn sie sich Mühe gab, war sie eine ausgezeichnete Lügnerin.

„Sin“, erwiderte er heiser und unter Anstrengung. Seine Gesichtszüge waren schmerzverzerrt. „Wirst du mich diesmal küssen?“

Manchmal wünschte sie, ihr Verstand wäre gebrochen und sie wäre das Monster, das sie mimte.

Aber ihr Verstand verarbeitete alles einwandfrei. Als wäre sie auf einem Besuch im Zoo und nicht selbst ein eingesperrtes Tier.

Sin war seit Jahren hier.

Wie viele es waren, wusste sie nicht. Es war schwer, einen Überblick über die Zeit zu behalten, wenn ein Tag nahtlos in den nächsten überging und immerzu Licht brannte.

Aber ihrem Verstand ging es gut.

Egal, wie viele in ihren Armen starben.

Egal, wie viele sie tötete.

Ihr Kopf sortierte die Erinnerungen, legte sie ab und machte weiter wie bisher.

Manchmal fragte Sin sich, ob sie nicht doch die Psychopathin war, für die sie alle hielten.

Langsam ging sie zu Sisi und legte eine Hand an seine Wange.

„Diesmal“, stimmte sie zu. So leise, dass nur er es hören konnte.

Er schloss die Augen, verbarg die Erleichterung in seinem Blick.

Zum Glück war er so schwach. Es würde schnell gehen.

Sie waren beide nackt. Ein Schamgefühl ihrem Körper gegenüber hatte sie nie besessen. Aber manchmal fiel es ihr schwer, die anderen anzusehen.

Viele waren entstellt. Die meisten ohne künstliche Hilfe nicht lebensfähig. Eine dritte Hand, Krallen statt Fingern, Fell statt Haut, Reißzähne, Katzenohren.

Sin hatte alles schon gesehen.

Die Ärzte in der Einrichtung versuchten seit Jahren, sie zu schwängern. Aber die männlichen Experimente hatten eine noch geringere Überlebenschance als die weiblichen. Trotzdem züchteten sie kaum Weibchen, schließlich hatten sie ein funktionierendes.

21N. Sin.

Sin war eine perfekte Kreation. Sie war kein Mensch, nicht entstellt, lebensfähig und brachte die eine wertvolle Eigenschaft mit sich: Vampire konnten sich von ihrem Blut ernähren.

Was die Ärzte nicht zu ahnen schienen, war, dass Sin nicht schwanger werden konnte.

Nicht solange sie selbst es nicht wollte.

Sie war mit einer Reihe von Instinkten und Grundwissen ausgestattet oder absichtlich gemacht worden. Instinkten, von denen keiner der hiesigen Ärzte und Forscher etwas wusste. Einer dieser Instinkte offenbarte ihr von Tag eins an, dass sie ihre Fruchtbarkeit selbst steuern konnte.

Problematisch wurde dieses Können erst später. Als ihre Periode zu lange ausblieb, half man mit Spritzen nach. Spritzen voll mit Hormonen, die ihr langsam, aber sicher die Kontrolle nahmen.

Damit sie aufhörten, ihren Körper mit Hormonen vollzupumpen, hatte sie begonnen, in unregelmäßigen Abständen ihre Periode zuzulassen.

Ein gefährliches Spiel.

Sie hatte neue Methoden finden müssen, eine Befruchtung zu verhindern. Innerhalb und außerhalb ihres Körpers. Aber es war ihr nicht immer gelungen. Manchmal schafften die Wissenschaftler es, ihr funktionsfähige Eizellen zu entnehmen.

Eizellen bedeuteten Embryos.

Embryos bedeuteten Babys.

Sin hatte sich schon vor langer Zeit geschworen, niemandem die Möglichkeit zu geben, sie zu reproduzieren. Oder zuzulassen, ein Baby in diese Hölle zu setzen.

Also hatte sie Mittel und Wege gefunden, sie zu töten.

Trotz all der Dinge, die Sin schon verbrochen hatte, war sie selbst immer noch am Leben. Sie hatten sie nicht getötet. Würden es niemals tun.

Sie klappte die Armlehnen des Rollstuhls weg und setzte sich, so vorsichtig sie konnte, auf Sisis Schoß.

„Gut so?", fragte sie nach Anerkennung heischend in die Kamera.

„Braves Mädchen“, lautete die Antwort über Lautsprecher.

Eine Flüssigkeit wurde in den Schlauch an Sisis Hand gepumpt. Wahrscheinlich Viagra. Innerlich schüttelte sie den Kopf. Sie machen es mir so leicht. Sisis Herz war viel zu schwach für das, was sie von ihm und ihr wollten.

Sin griff nach der Flasche Gleitmittel, die an seinem Rollstuhl befestigt war, und begann, an ihm zu arbeiten. Sein Atem kam rasselnd, sein Herzschlag so unregelmäßig, dass das Geräusch ihr geradezu in den Ohren wehtat.

Als sie beide bereit waren – so bereit, wie man unter den Umständen sein konnte – schob sie ihn in sich.

Vorsichtig griff sie nach Sisis Kopf und sah ihm in die Augen. Er kämpfte mit den Tränen. Ihre Bewegungen auf ihm waren so automatisch wie atmen. Sie schob sich zurecht und presste ihre Knie gegen seinen Rippenbogen. Er rang schmerzhaft nach Luft, während sie den Druck erhöhte. Sin spürte, wie sein Herz versuchte zu kämpfen und den Kampf langsam, aber sicher verlor.

Die Rippen brachen unter ihrem Druck, sein Atem kam röchelnd. Er würde an seinem eigenen Blut ersticken, wenn sein Herz nicht vorher versagte.

Sisi hustete, Blut rann aus seinem Mund, während Sin sich immer noch auf ihm bewegte.

Sanft presste sie ihre Lippen gegen seine.

„Lebwohl, Sisi“, flüsterte sie und sah zu, wie er starb.

Die Schritte ihrer Wärter wurden laut, die Plexiglasscheibe öffnete sich. Sin stand auf und ging gespielt gelassen zu der Stelle an der Wand, wo die Fesseln hingen. Ihre Finger rieben über das Blut an ihrem Mund und eine Gravur brannte sich in ihre Haut, direkt über dem Hintern. Unterhalb all der Nummern, die sich von ihrem Hals zwischen ihre Schulterblätter bis zu ihrem Hintern hinunterzogen.

Eine weitere Nummer.

2121.

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1

 

Grace

 

Es hatte länger gedauert, von dem Treffen mit Dan zurückzufliegen, als Grace gehofft hatte. Sie war schweißgebadet und ihre Muskeln brannten von der Anstrengung. Schließlich kam sie in Wills Anlage an. Ihre Finger waren um den Behälter mit dem Gegengift verkrampft. Keine Sekunde länger hielt sie den Druck aus, in ihrer Gargoyle-Form zu bleiben.

Erleichtert verwandelte sie sich in einen Menschen und stieg die Leiter hinab, in Charlies Kontrollraum. Zitternd reichte sie ihr den Sender, den sie zuvor von Charlie bekommen hatte, bevor sie barfuß durch die Anlage lief. Sie ignorierte die Blicke, die man ihr zuwarf, während sie durch die Gänge rannte und Leute anrempelte, die ihr nicht schnell genug auswichen.

Abrupt blieb sie stehen, als Rack sich ihr in den Weg stellte. Schnaufend drückte sie ihm das Päckchen gegen die Brust, bis er es endlich sicher in den Händen hielt.

„Gib ihm das“, verlangte sie völlig außer Atem. Sie konnte nur hoffen, dass sie nicht zu spät war.

„Was ist das?“

Das Misstrauen in seiner Stimme versetzte ihr einen schmerzhaften Stich. Sie war sich immer noch nicht sicher, ob er wirklich wütend auf sie war und warum. Es spielte im Moment jedoch auch keine Rolle. Nathan ging vor.

„Das Gegengift.“

Rack presste seinen Mund zu einer schmalen Linie zusammen. Sie hatte keine Zeit, um mit ihm zu streiten. Nathan hatte keine Zeit.

„Wo hast du das her?“

„Das spielt keine Rolle. Gib es ihm einfach“, verlangte sie ungeduldig und schob ihn beharrlich in die Richtung von Nathans Zimmer. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt, damit er sich nicht damit aufhielt, mit ihr zu streiten.

Ihre Brust brannte schmerzhaft, diesmal jedoch nicht von der Anstrengung des Fluges. Schweiß lag eiskalt auf ihrer Haut und ließ sie frösteln, während sie ziellos durch die Gänge wanderte.

Grace landete im Speisesaal und sah nach dem Gulasch, das sie vor Stunden aufgesetzt hatte. Mit leerem Blick starrte sie auf die Kücheninsel, viel zu aufgekratzt, um an Schlaf auch nur zu denken. Kurz erwog sie, die Schränke auszuräumen und sauber zu machen, ließ es dann aber, entgegen ihrer Gewohnheiten, bleiben. Stattdessen glitt sie zu Boden, lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Trotzdem wollte ihre innere Anspannung nicht weichen. Wie lange würde es dauern, bis das Gegengift anschlug? Sie konnte versuchen, danach zu googeln. Überstürzt tastete sie nach ihrem Handy. Dann fiel ihr ein, dass sie es im Zimmer gelassen hatte. Sie hatte sich bereits aufgerichtet, ehe ihr bewusst wurde, wie irrwitzig das war. Wonach wollte sie googeln? Auswirkungen von Chimärengift? Als ob so etwas im Internet zu finden wäre. Grace gab ein frustriertes Geräusch von sich, bevor sie sich erneut auf den Hintern fallen ließ.

 

„Halt den Mund“, fauchte der Mann und schubste sie zu Boden. Dann fing er an, seine Hose zu öffnen, und zwang sie, sich hinzulegen.

Der Flashback traf sie unvorbereitet und katapultierte ihren Puls in schmerzhafte Höhe. Ihre Finger vergruben sich in den Haaren, die Ellbogen hatte sie auf die Knie gestützt, während sie sich zwang, ruhiger zu atmen. Sie konnte es sich nicht leisten, jetzt den Kopf zu verlieren. Zähneknirschend kämpfte sie gegen das Gefühl von Hilflosigkeit an, das in ihr hochkroch. Verzweifelt um Ruhe bemüht, schloss sie abermals die Lider. Nur um sie sofort wieder aufzureißen, als erneut Bilder vor ihren inneren Augen aufblitzten. Diesmal von ihren blutverschmierten Händen, von Jake und dem widerlichen Gefühl, wie das Messer durch seine Muskeln glitt. Grace schluckte schwer, weil sie die Szene immer noch glasklar vor sich sah.

„Warum jetzt?“, wisperte sie verzweifelt und starrte auf ihre Hände. Sie kratzte den Dreck unter ihren Nägeln hervor, als könnte sie dadurch das imaginäre Blut auf ihren Fingern beseitigen. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, sie schlug den Kopf nach hinten gegen die Schranktür.

„Nein. Hör auf, durchzudrehen. Hör auf, daran zu denken. Er ist es nicht wert“, wies sie sich selbst zurecht und konnte trotzdem nur mit Mühe den Würgereiz unterdrücken. „Denk an etwas anderes. Egal was. Irgendwas“, flehte sie sich selbst an und starrte dabei ins Leere. Diesmal war es Nathans blasses Gesicht, das sie vor sich sah. „Scheiße.“

Was wenn es zu spät war und das Gegenmittel nicht half? Was wenn er starb? Was wenn ihm endlich klar wurde, dass er sich den Ärger mit ihr nicht länger antun wollte? Was wenn Dan die Wahrheit gesagt hatte und Nathan sie für seine eigene Rache gegen die Gargoyles missbrauchte? Was wenn sie sich in ihm getäuscht hatte, so wie in Dan? Und was wenn Dan einfach nur Bullshit redet, um mich zu verunsichern? Was ist, wenn er lügt, damit er mich um seinen Finger wickeln kann? Es ist ja nicht so, als hätte er kein Motiv. Nathan hat mir bisher keinen einzigen Grund gegeben, ihm nicht zu vertrauen. Wenn es darauf ankam, war er immer für mich da.

Trotzdem wollten die Zweifel in ihr nicht zur Gänze weichen. Ob Dan es nun böswillig bezweckt hatte oder nicht, er hatte Erfolg damit gehabt, ihren Argwohn zu wecken. Die Frage blieb, wer von den beiden Männern mit ihr spielte.

Ihr Atem stockte und es schmerzte, über den Druck in ihrem Hals hinweg zu atmen.

Grace rollte mit den Schultern, um ihre verkrampfte Muskulatur zu lockern. Die Schmerzen in ihren Gliedern lenkten sie ab. Unruhig rutschte sie auf dem harten Boden herum, wollte eine bequemere Position finden und gab schließlich erfolglos auf.

Als die Tür zur Küche aufging, zuckte sie erschrocken zusammen.

„Kann man das Gulasch schon essen?“, fragte Will, derweil er sich über den Topf am Herd beugte.

„Lass es dir schmecken“, würgte sie hervor und hoffte, er würde schnell wieder gehen.

Doch statt sich einen Teller zu nehmen, setzte er sich ihr gegenüber auf den Boden. Ihre Beine berührten sich, weswegen sie prompt ein Stück wegrutschte.

„Wärst du Teil meines Rudels –“

„Hätte ich es trotzdem getan, egal, wie die Strafe ausfällt“, unterbrach sie ihn hitzig, weil sie keine Nerven für seine Predigt hatte.

„Hättest du gewusst, dass du zu mir kommen kannst, damit du nicht ohne Deckung ins offene Feuer laufen musst“, fuhr er unbeirrt fort.

„Ja? Du willst mir ernsthaft weismachen, dass du mich hättest gehen lassen? Ohne stundenlang mit mir zu diskutieren und Nathan damit weiter zu gefährden?“ Ihre Stimme troff über vor Sarkasmus.

„Hältst du mich für unterbelichtet?“, fragte er gereizt. „Als könnte ich weder den Ernst der Lage erfassen noch die Notwendigkeit deiner Handlungen, ohne dass du es mir vorher erklären musst?“

Sie setzte zu einer Erwiderung an und klappte den Mund kommentarlos wieder zu. Die Idee, dass er ihre Entscheidungen ohne weiteres verstand, war ihr tatsächlich nicht gekommen. Also zuckte sie nur die Schultern.

„Ich vertraue dir nicht“, murrte sie schließlich und weigerte sich, ihn anzusehen.

„Deswegen sagte ich: ‚Wärst du Teil meines Rudels’, und habe dir nicht vorgehalten, dass dein mangelndes Vertrauen dein Leben in Gefahr gebracht hat“, antwortete er mit einem süffisanten Grinsen im Gesicht.

Sie mochte nicht, wie er ihr unterstellte, sie sei ein unnötiges Risiko eingegangen. Vor allem, weil sie weit größere Risiken auf sich genommen hätte, um Nathans Leben zu retten. Bleibt nur die Frage, ob es verschwendete Liebesmüh war, dachte sie bitter.

„Machst du dir noch Vorwürfe, weil du in Erwägung gezogen hast wegzulaufen?“, wollte Will nach einer kurzen Pause wissen.

Jäh sah sie zu ihm hinüber und biss die Zähne zusammen, um sich eine heftige Bemerkung zu verkneifen. Was weiß er schon? Gar nichts.

„Du hättest ihn damit weggelockt“, fuhr er fort.

Danke, das weiß ich selbst.

„Du hättest ihnen zwar gegeben, was sie von Anfang an wollten, aber du hättest die Gargoyles weggelockt.“

„Was nützt mir mein Leben, wenn ich nicht die beschützen kann, die mir wichtig sind?“, schoss sie heftiger zurück als beabsichtigt. Ich hab ja nicht mal mein eigenes Leben im Griff, wie soll ich da andere beschützen können? Ich bin nur eine Schachfigur, ein verdammtes Bauernopfer, dass keine Ahnung hat, wie der große Plan aussieht.

„Hast du nie Schach gespielt?“

Ihre Augen verengten sich. Hatte sie ihre Gedanken laut ausgesprochen?

„Die guten Spieler können weit über zehn Züge vorausdenken. Du schaffst kaum zwei.“

„Danke, Will. Reib es mir nur unter die Nase. Ich fühl mich noch nicht beschissen genug.

„MacClaine wäre dir gefolgt, hätte dich geschnappt, wäre zurückgekommen und hätte da weitergemacht, wo er aufgehört hat.“

„Ich bin aber nicht weggelaufen“, fauchte Grace und ballte die Hände zu Fäusten, weil ihr Pokerface sie schon vor Stunden verlassen hatte.

„Gut, dass du das einsiehst“, konterte er ironisch. „Jetzt wo wir das geklärt haben, sag mir, wieso du nicht bei Nate bist.“

Ihre Fäuste öffneten sich und ihr Blick glitt zu Boden. „Rack ist wütend auf mich.“ Und ich weiß nicht, ob ich Nathan unter die Augen treten kann. Ich bin die Geheimnisse und Lügen so leid.

Einen Moment lang antwortete Will nicht, sondern schien etwas abzuwägen. „Das erscheint mir gerechtfertigt“, sagte er schließlich und ihre Wölfin knurrte drohend in ihrem Kopf. „Um mich deiner und seiner Meinung ungefragt anzuschließen, verbiete ich dir bis auf Weiteres, Nate zu sehen. Du darfst ab sofort bei Bethany im Zimmer schlafen. Ihr kommt sicher gut miteinander aus“, fügte Will hinzu und stand in einer fließenden Bewegung auf.

Es dauerte ein, zwei Sekunden, bevor Grace einfiel, dass Bethany ausgerechnet diejenige gewesen war, die sich vor ihr an Nathan rangemacht hatte. Sprachlos sah sie Will nach, bevor sie sich aufrappelte, um ihm nachzugehen.

Sie setzte gerade zu einer Erwiderung an, als ihr Luca ins Auge fiel, die auf der anderen Seite der Küchentür stand.

„Hätten sie dich nur erwischt, dann wärst du jetzt tot und alle anderen wären außer Gefahr“, schnaubte Luca, die Arme vor der Brust verschränkt.

Geschockt klappte Grace der Mund auf.

„Das ist es doch, was du denkst, oder? Wie wäre es also, wenn du aufhörst, dich in Selbstmitleid zu suhlen, und anfängst zu respektieren, was andere bereit sind, für dich zu opfern“, knurrte Luca, bevor sie auf dem Absatz kehrtmachte und aus ihrem Sichtfeld verschwand.

Kaum hatte Grace sich wieder gefangen, fand sie sich allein.

 

***

 

Sie hatte noch immer keine Möglichkeit zu duschen gehabt, da Bethany ‚beschäftigt’ war, wie Grace feststellen durfte, nachdem sie endlich ihr Zimmer gefunden hatte.

Der Typ, der Beth gerade nagelte, hatte angeboten, Grace in die Dusche zu begleiten. Selbstverständlich ohne in seinen Bewegungen innezuhalten. Keiner von beiden hat auch nur einen Funken Anstand im Leib, dachte Grace mit einer Mischung aus Ekel, morbider Faszination und Ungeduld. Letztendlich zog sie es vor, draußen vor der Tür zu warten.

Warum zum Teufel höre ich überhaupt auf Will?

Sie war immer noch barfuß, ihr Hightech-Stoff nicht völlig trocken, und sie fröstelte in ihrer Aufmachung.

Mit hochrotem Kopf stand sie vor Bethanys Zimmer und versuchte, die Geräusche, die herausdrangen, zu ignorieren. Stattdessen konzentrierte sie sich auf das, was Luca gesagt hatte.

Bin ich undankbar? Natürlich bin ich froh, dass mir so viele Wölfe helfen wollen, aber das heißt ja nicht, dass mir die möglichen Konsequenzen daraus gefallen müssen. Nathan ist dafür das beste Beispiel. Gerade Luca müsste das doch verstehen. Und natürlich respektiere ich die Opfer, die andere bereit sind, für mich zu bringen. Was wäre ich für ein Mensch - Wolf, Gargoyle, was auch immer -, wenn es nicht so wäre? Deswegen suhle ich mich noch lange nicht in Selbstmitleid. Ein schlechtes Gewissen wird doch noch erlaubt sein, wenn der Mann, den ich li–

Abrupt riss sie sich aus ihrem inneren Monolog und schob den Gedanken gewaltsam beiseite. Sie würde den Teufel tun und jetzt darüber nachdenken. Okay, ich habe mich selbst bemitleidet, aber nach allem, was passiert war, wird das ja wohl noch erlaubt sein.

Unfreiwillig fragte sie sich, ob es Nathan endlich besser ging und wer es ihr sagen würde, sollte er aufwachen. Unter normalen Umständen würde sie nie daran zweifeln, dass Rack es ihr mitteilen würde. Aber es waren keine normalen Umstände. Rack war wütend. Nur den Grund dafür konnte sie beim besten Willen nicht benennen. Ihr Bruder litt, soweit sie wusste, nicht unter Stimmungsschwankungen. Sie hätte Marie fragen können, aber das erschien ihr übertrieben. So als würde sie Racks Vertrauen missbrauchen, von dem Sicherheitsrisiko einmal abgesehen. Dann war er eben etwas durch den Wind. Grace wusste, wie sich das anfühlte. Aber wenn ich einen Fehler gemacht habe, warum sagt er es mir nicht einfach? So wie sonst auch.

Vielleicht lag es auch an Dans Auftauchen. Will hatte doch so etwas angedeutet. Und vielleicht klammerte sie sich einfach nur an Strohhalme, um der Wahrheit nicht ins Auge sehen zu müssen. Ist Rack wütend, weil Dan angeschossen wurde? Weil Nathan meinetwegen verletzt wurde? Weil er glaubt, ich wäre wirklich weggelaufen?

Sie hatte keine Ahnung. Wahrscheinlich sollte sie mit Rack in Ruhe darüber reden. Die Kluft zwischen ihnen machte sie wahnsinnig, aber die Möglichkeit, dass sie einen Fehler gemacht hatte, den sie nicht wieder geradebiegen konnte, hielt sie davon ab, zu ihm zu gehen.

Immer noch hörte sie Bethanys Stöhnen aus dem Zimmer und hatte schließlich die Nase voll, zu warten. Sie konnte weder zu Rack noch zu Nathan, also beschloss sie, Luca zu finden, um mit ihr zu reden.

Grace folgte ihrer Nase und fand Luca im Trainingsraum, in T-Shirt und Jogginghose, wie sie gerade Sit-ups machte.

„Luca, kann ich mit dir reden?“, fragte sie, ehe sie der Mut verließ.

„Bitchst du mich jetzt an wegen dem, was ich gesagt habe?“, schoss Luca zurück, ohne ihre Übungen zu unterbrechen.

„Nein, ich –“

„Sieh mal, alle fassen dich mit Samthandschuhen an, als wärst du aus Glas, und das stinkt mir. Dann hast du eben eine schlimme Vergangenheit, komm drüber weg“, unterbrach Luca sie. „Du bist echt nicht die Einzige auf der Welt, die Probleme hat.“

Grace ignorierte die Seitenhiebe nur zähneknirschend. „Ist alles in Ordnung?“, wollte sie wissen, nachdem ihr aufgegangen war, was Luca gesagt hatte. Für einen Moment vergaß sie ihre eigenen Sorgen.

„Nein“, schnaufte Luca, die immer noch unbeirrt Sit-ups machte.

Grace bezweifelte, dass sie so viele hintereinander geschafft hätte. Selbst mit Racks Training war sie höchstens halb so fit, wie Luca auf sie wirkte.

„Ich meine abgesehen davon, dass Nathan fast –“ Ihre Stimme versagte. „Abgesehen vom Offensichtlichen.“

Luca knurrte, setzte sich auf und kam in einer geschmeidigen Bewegung in die Hocke. „Tu mir einen Gefallen und kümmere dich um deinen eigenen Kram.“

„Scheinbar kann ich das nicht“, antwortete Grace und ging ebenfalls mit leicht gespreizten Beinen in die Hocke. Gespielt gelassen stützte sie ihre Arme auf ihren Oberschenkeln ab und ließ die Hände baumeln.

Luca schob ihr Zungenpiercing zwischen die Zähne und sah weg. Dann stieß sie lautstark die Luft aus. „Ich bin schuld.“

Blinzelnd starrte Grace sie an, weil das überhaupt keinen Sinn ergab. Sie hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit einem Schuldeingeständnis von Luca. Es entsprach ihr überhaupt nicht. „Schuld woran?“

„Daran, dass Nate verletzt wurde“, knurrte Luca ungeduldig.

„Ich kann dir nicht folgen.“ Wenn jemand daran Schuld trug, dann sie selbst. Sie hätte besser aufpassen müssen, und wäre sie nur halb die Kämpferin, die Luca war, wäre ihm nie etwas passiert. Von den Umständen, die zu dem Angriff geführt hatten, einmal abgesehen.

„Hast du dich nicht gefragt, wie die Gargoyles Jones’ Basis so schnell finden konnten?“

„Doch.“ Was hat das mit Lucas Schuldgefühlen zu tun? Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, während sich eine Idee in ihrem Hinterkopf zu formen begann. „Du würdest Nathan nie in Gefahr bringen“, widersprach sie langsam – sich selbst und auch Luca.

„Nicht absichtlich jedenfalls“, schnaufte Luca.

„Was soll das heißen?“

„Jones hat einen Sender entdeckt.“

Grace verkniff sich ein ungeduldiges Knurren, weil Luca sich jedes Detail einzeln aus der Nase ziehen ließ. „Einen Sender? Wo?“

„In mir“, zischte Luca und stand in einer fahrigen Bewegung auf.

„In dir? Aber woher hast du –“

„Ich weiß es nicht“, unterbrach Luca sie erneut unwirsch, ehe sie sich auf ein Reck schwang.

Grace dachte einen Moment lang darüber nach. „Es kann nicht lange her sein. Dass Jake im Dorf aufgetaucht ist, weil du einen Sender trägst, halte ich für unwahrscheinlich. Wer hätte dich chippen sollen? Und wozu? Vorausgesetzt, die Gargoyles haben es auf mich abgesehen, und seien wir ehrlich, das ist am wahrscheinlichsten, hätten sie zu dem Zeitpunkt noch nicht wissen können, dass wir zu Will wollen“, überlegte sie laut. „Also kann es nur in Hialeah passiert sein oder auf dem Weg dorthin.“

Luca sprang bei einem Unterschwung am Reck zu Boden. „In Hialeah waren wir die ganze Zeit zusammen, es gab keinen Grund, mich auszusondern, und auch keine Gelegenheit.“

Grace bekam eine Gänsehaut, als ihr etwas einfiel. „Brian und … wie hieß er noch?“ Die Begegnung in Schottland, während sie auf dem Weg zum Flughafen gewesen waren, hatte genug Gelegenheit geboten.

„Fred. Verdammt“, fluchte Luca. „Du hast recht.“

„Ich muss zu Will. Was ist, wenn ich auch gechippt wurde?“, sprach sie ihre eigenen Gedanken laut aus und war bereits halb zur Tür raus, bevor Luca sie einholte.

„Warte mal“, stoppte Luca sie und hielt sie am Arm zurück. „Wenn sie dich gechippt hätten, hätten sie doch schon gewusst, dass du hier bist. Es hätte keinen Grund für ihre Erpressungsversuche gegeben, sie hätten uns einfach gestürmt.“

Erleichtert atmete Grace auf. „Du hast recht.“

Luca schnalzte mit der Zunge. „Ich weiß.“

„Komm mit“, verlangte Grace und zog Luca am Arm mit sich.

„Hey, warte mal, wohin gehen wir?“ Luca streifte ihre Hand ab.

„Zu Will natürlich.“

„Warum?“

„Er ist das Problem“, sagte Grace.

„Was?“

„Er ist das Problem“, wiederholte Grace ungeduldig. Luca ist so unruhig, weil Will wütend ist, dass sie den Standort seiner Basis verraten hat. Aber das war nicht ihre Schuld, und das müssen wir ihm einfach klarmachen. Vielleicht fand sie endlich einen Draht zu Luca. Der Gedanke stimmte sie regelrecht fröhlich.

„Du weißt, wie verrückt du dich anhörst?“

Jep. „Vertrau mir.“

„Sagte das kleine Mädchen zum bösen Wolf.“

„So böse bist du gar nicht“, widersprach Grace ihr mit einem schmunzelnden Seitenblick.

„Irgendwas stimmt mit dir nicht“, brummte Luca, folgte ihr aber.

 

***

 

„Will!“

Besagter blieb bei ihrem Ruf stehen, drehte sich zu ihnen um und seine Augenbrauen wanderten überrascht nach oben.

„Ich habe keine Zeit. Du kannst nicht bei Luca schlafen, es bleibt bei Bethany“, begann er sofort.

„Darum geht es nicht. Auf dem Weg nach Stornoway haben uns zwei Gargoyles angegriffen. Einer von ihnen hat Luca aus meinem Sichtfeld geschleppt. Er, Fred, muss sie dabei gechippt haben.“

Zuerst sagte Will gar nichts, dann sah er zu Luca rüber und etwas blitzte in seinen Augen auf, das Grace nicht zu deuten wusste.

„Warum bist du hier?“, erkundigte er sich bei Luca.

Grace runzelte über den Themenwechsel die Stirn. War das mit dem Sender nicht gerade wichtiger?

„Was hat das jetzt damit zu tun?“, wollte Luca wissen.

„Beantworte die Frage“, befahl Will seidenweich und Grace’ Nackenhaare stellten sich dabei auf. Sie hasste es, wenn er diesen Ton an den Tag legte.

Luca knirschte mit den Zähnen und verschränkte defensiv die Arme vor der Brust.

„Ist dir bewusst, dass dich Grace gerade vor mir verteidigt, während du dich darum bemüht hast, ihre Beziehung zu Nate zu manipulieren?“

Grace zuckte zusammen, ihr Blick flog zu Luca. Der trotzige Ausdruck in deren Gesicht sprach Bände, obwohl sie stumm blieb.

„Wovon redet er?“, fragte Grace sie tonlos. Ihr Kopf war wie leer gefegt. „Stimmt das?“, bohrte sie scharf nach, nachdem Luca immer noch nichts sagte.

„Ja“, knurrte Luca schließlich widerwillig.

Grace klappte bereits den Mund auf, bevor sie sich anders entschied. Was für einen Unterschied macht das schon? Es spielt überhaupt keine Rolle, wieso. Luca hat sich ihre Meinung über mich längst gebildet, der Grund dafür ist nur noch nebensächlich. Enttäuscht presste sie die Lippen aufeinander. Sie hatte gewusst, dass Luca sie nicht mochte. Das hatte sie Grace immerhin von Anfang an spüren lassen. Aber sie hatte es für Eifersucht gehalten, als Vertrauensproblem und auch als Lucas Versuch, Nathan zu beschützen. Für das typisch territoriale Verhalten eines Wolfes.

Unversehens drehte sie sich zu Will. „Was hat sie getan?“

„Sie hat Bethany und Lana auf Nate angesetzt. Sie hat ihren Schwur, nie mehr hierherzukommen, gebrochen, um sicherzustellen, dass ich ihr die Arbeit abnehme, dich und Nate auseinander zu bringen“, antwortete dieser seelenruhig, als würde er ihr mit seinen Worten nicht völlig den Atem nehmen.

Grace schluckte die bitteren Gefühle, die in ihr hochstiegen, mühsam herunter. Dann fiel ihr noch etwas anderes ein. „Während die Gargoyles hier waren, warum bist du mir von der Seite gewichen?“, fragte sie an Luca gewandt. „Ich dachte zuerst, es wäre, weil du erkannt hast, dass ich ruhig genug bin, um die Situation zu bewältigen, aber das ist absoluter Unsinn, nicht wahr? Du hättest Nathans Sicherheit nie mir überlassen. Du bist zu ihm gegangen und hast mich Dan allein konfrontieren lassen, damit er eine Chance hat, mich gefangen zu nehmen oder zu töten. Habe ich recht?“ Wütend stieß sie Luca gegen die Schulter, weil diese nicht antwortete. „Ist es nicht so?“

„Du bist ein riesiger Haufen Schwierigkeiten in einer niedlichen Verpackung, und was mich betrifft, kann ich nachvollziehen, wieso die Gargoyles dich im Mittelpunkt einer Prophezeiung sehen, die deinen Tod verlangt“, knurrte Luca.

Grace starrte einen Moment länger in Lucas eisige Augen, zwang sich, ihren Ärger herunterzuschlucken. Anstatt handgreiflich zu werden, wie ihre Wölfin es zähnefletschend von ihr verlangte, ließ sie Luca stehen.

Schäumend vor Wut marschierte sie zurück zu Nathans Zimmer. Wie hatte sie nur glauben können, ihre Differenzen mit Luca beseitigen zu können? Luca war eine Frau, die sich nicht einfach zurücklehnte, wenn sie ein Problem sah. Es war naiv gewesen, zu glauben, Luca würde schweigend zusehen, wenn sie so offensichtlich ein Problem mit Grace hatte. Warum überraschte es sie dann so? Warum fühlte es sich wie ein Verrat an? War sie wirklich so schrecklich, dass Luca ihren Schwur brach, nur um sie loszuwerden? Zu wissen, dass Luca sie nicht mochte, war eine Sache, aber dass sie andere dazu anstiften würde, einen Keil zwischen Nathan und sie zu treiben, damit hatte Grace beim besten Willen nicht gerechnet. Die Erkenntnis brannte sich durch ihre Eingeweide. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Ich fasse es nicht, dass ich ihr gerade noch helfen wollte, mit Will ins Reine zu kommen. Wie kam ich nur auf die Idee, vielleicht mit ihr Freundschaft schließen zu können? Mit Luca! Die mir von Anfang an nichts als Abneigung entgegengebracht hat, obwohl ich ihr nie etwas getan habe!

Grace hatte keine Lust mehr auf dieses Theater. Auch wenn sie viel zu geladen war, um sich vernünftig mit Rack auseinanderzusetzen, würde sie sich keine Sekunde länger von Nathan fernhalten. Eigentlich hatte sie ihm Freiraum geben wollen, doch langsam wurde ihr klar, dass das weder sie noch Rack weiterbringen würde. Sie waren beide erwachsen, sollten sich also auch so verhalten können.

Energisch klopfte sie an die Tür zu Nathans Zimmer und ging, ohne auf eine Antwort zu warten, hinein.

Ihr Blick glitt automatisch an Rack vorbei zu Nathan und ein Teil ihrer Wut legte sich umgehend. Er war nicht mehr so blass wie zuvor und schien ruhiger zu atmen. Sein Verband war entweder ganz frisch, oder die Blutung hatte endlich aufgehört.

„Es wirkt“, gab Rack Auskunft, während er ihrem Blick folgte.

„Gut“, murmelte sie, ohne ihre Augen von Nathan nehmen zu können.

Rack war es, der sie weiter in den Raum zog, um sie dann an der Schulter nach unten zu drücken, bis sie sich auf Nathans Bett setzte.

„Warte“, bat Grace leise und hielt Rack am T-Shirt fest, bevor sich dieser abwandte. Ihr eigener Ärger verpuffte und wurde von Sorge abgelöst. „Was ist los?“, fragte sie, weil der tote Ausdruck in seinen Augen nichts mit Wut zu tun hatte.

„Wir reden später“, versprach Rack, löste ihre Finger von seinem Shirt und ließ sie allein, bevor sie protestieren konnte.

Seufzend wandte sie sich erneut Nathan zu. So vorsichtig wie möglich strich sie ihm die Haare aus dem Gesicht und genoss das Gefühl seiner Haut unter ihren Fingern.

Dans Worte kehrten ungebeten in ihre Gedanken zurück. „Sein richtiger Name ist Nathaniel. Er ist Alexander Frasers Bastardsohn. Liliane ist seine Halbschwester. Du solltest dich daher fragen, ob er dich nicht für seine eigene Vendetta gegen die Gargoyles missbraucht.“

Dann ist Nathan eben nur eine Kurzform seines Namens. Was kümmert mich das? Dann hatte er ihr eben nicht erzählt, wer seine Halbschwester war. Was soll’s, sagte sie sich stur, auch wenn Zweifel an ihr nagten. War ihre Menschenkenntnis wirklich so schlecht, dass sie nicht sehen konnte, was vor ihren Augen geschah? Dan, Luca und jetzt vielleicht auch Nathan. War sie so egozentrisch, so vertieft in ihre eigenen Dramen, dass sie die Wahrheit nicht mehr erkennen konnte?

Sie sollte erleichtert sein, dass es Nathan besser ging, stattdessen war sie noch niedergeschlagener. Was sollte sie tun, wenn er wach wurde? Ihn direkt konfrontieren? Warten, bis er sich in seinen potentiellen Lügen verstrickte?

Hat er überhaupt gelogen?, fragte eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf. Sollte sie ihm nicht wenigstens die Gelegenheit geben, ihr die Wahrheit zu sagen?

Ihre Kopfhaut juckte und erinnerte sie daran, dass sie noch immer nicht geduscht hatte.

Erst als das heiße Wasser über ihren Kopf lief und all den Schmutz von ihr wusch, ließ sie die Tränen zu. Sie presste eine Hand vor den Mund, um keinen Laut von sich zu geben, während sie ihren Emotionen freien Lauf ließ.

Nachdem sie sich wieder einigermaßen im Griff hatte, trocknete sie sich ab und setzte sich in Jogginghose und einem von Nathans T-Shirts neben sein Bett.

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 2

 

Nathan

 

„Junge!“

Nathan bewegte keinen Muskel, um von seinem Platz im Garten aufzustehen. Er lag im Gras und starrte in den Himmel, während seine Mutter Blumen einpflanzte. Der Tag war warm und sonnig. Es hätte wundervoll sein können, wenn die Dinge anders gestanden hätten.

„Dein Vater ruft dich“, tadelte seine Mutter ihn.

„Und ich ziehe es vor, ihn zu ignorieren“, antwortete er so ruhig wie möglich, obwohl es ihn bereits aufregte, seine Stimme zu hören.

„Nathaniel, du weißt, dass du es damit nur schlimmer machst“, sagte sie. Ihre Stimme verfiel in einen ängstlichen Ton.

Er wusste das. Er wusste, dass er es schlimmer machte. Aber er wollte nicht immer angerannt kommen, wenn sein Vater nach ihm rief. Nate war nicht sein verdammter Schoßhund.

„Wir sollten nicht aufstehen und zu ihm laufen oder ihn fragen, wie hoch wir springen dürfen, wenn er ruft.“

„Alles, was du tust und nicht tust in deinem Leben, hat Konsequenzen, Nathaniel. Du solltest über diese Konsequenzen nachdenken, bevor du etwas unternimmst.“ Seine Mutter seufzte schwer und sah ihn mit traurigen Augen an. Obwohl sie in einem tiefen Blau strahlten, wirkten sie zu verbraucht und ausgezehrt für ihr Alter. Sie war immer noch jung und schön. Selbst mit der Fessel um ihren Hals. Selbst mit ihren zusammengesunkenen Schultern. Ihr ebenholzfarbenes Haar glänzte und fiel bis zur Taille herunter. Er war froh, dass wenigstens seine Haare und Augenfarbe denen seiner Mutter entsprachen und nicht denen seines Vaters. Zumindest würden sie das, wenn Alexander ihn nicht zwingen würde, seinen Kopf zu rasieren. Jeden einzelnen Tag.

Alexander wusste, wie lächerlich und verletzlich es ihn aussehen ließ, wenn er sich in seinen Wolf verwandelte. Es war seine Art, ihn zu kontrollieren, denn er war der einzige nicht gefesselte Wolf hier. Und obwohl ihm das Freiheiten gab, fühlte er sich kein bisschen privilegiert, sondern genauso angekettet, wie seine Mutter es war.

„Ich will nicht, dass er dich schlägt. Ich will nicht, dass er dir weh tut“, flüsterte seine Mutter und blinzelte ihre Tränen weg.

Sein Widerstand legte sich. Er hasste es, wenn seine Mutter weinte. Es machte ihn krank. Und es machte ihn noch kränker, zu wissen, dass sein Vater die wahre Ursache dieser Tränen war.

Innerlich seufzend akzeptierte er sein Schicksal, stand auf, küsste sie zum Abschied und ging zu seinem Vater. Dass sie eine unterschiedliche Auffassung von ‚warten lassen‘ hatten, änderte nichts am Ergebnis. Er nahm die Schläge hin, ohne einen Ton von sich zu geben. Es würde seine Mutter nur aufregen, wenn sie ihn hörte. Später konnte er sich verwandeln und die Spuren auf seinem Körper verschwinden lassen.

Nachdem Alexander fertig war, zerrte er ihn am Nacken zum Verlies. Bei jedem Schritt fiel Nathaniels Herz eine Stufe tiefer. Eine kalte Hand quetschte sein Herz, wenn er nur daran dachte, was es bedeutete, zum Kerker zu gehen.

Sofern sein Vater über sein Geheimnis Bescheid wusste, würden die Dinge sehr schnell sehr hässlich werden.

Nathaniel war immer noch dünn und nicht so groß wie sein Vater, aber wenn er musste, würde er ihn bekämpfen.

„Was ist das, du Stück Scheiße?“, fragte Alexander und stieß ihn die Treppen zu den Zellen hinunter.

Er landete sanft auf seinen Fußballen, nur um Alexander zu zeigen, dass er ihn nicht herumschubsen konnte, wie er wollte.

Kaum dass er sich aufrichtete, gefror das Blut in seinen Adern.

Azrael lag eingerollt in der Ecke einer Zelle und beobachtete ihn mit leuchtenden, gelben Augen.

„Das ist eine Chimäre“, antwortete er mechanisch. Zeig ihm keine Emotionen. Sei ruhig, bleib ruhig. Sei wie das Wasser, um jedes Hindernis fließend.

„Ich weiß, was es ist, du Spatzenhirn. Was ich wissen will, ist, wie es hierhergekommen ist“, wütete Alexander und verpasste ihm einen Schlag auf den Kopf, während er die Treppen herunterkam.

Azrael war noch immer sehr jung für eine Chimäre und sogar dünner als er selbst, weil es so schwer war, ihm Futter zu bringen.

„Woher soll ich das wissen? Hat jemand die Tür offen gelassen?“, fragte er und sah von Azrael zu seinem Vater.

„Stell dich nicht dumm, Junge! Ich weiß, dass du in den letzten Monaten um das Verließ herumgeschlichen bist.“

„Ich schleiche nicht herum“, schnaubte er mit gespielter Tapferkeit.

„Hast du es gefüttert?“

Weil er Alexander nicht antwortete, schlug dieser ihm diesmal ins Gesicht. Nathan spuckte Blut und richtete sich wieder auf.

„Natürlich nicht. Ich sehe es zum ersten Mal“, log er und starrte seinen Vater finster an. Azrael ist kein ‚Es’.

„Ist das so? Nun, dann wirst du ja kein Problem damit haben, es loszuwerden, nicht wahr?“

Mühsam schluckte er den Kloß in seinem Hals herunter und zuckte mit den Schultern. „Nein, ich habe kein Problem damit. Aber sind die nicht angeblich giftig für uns?“

„Für einen Bastard wie dich ist das sicher kein Problem“, spottete Alexander.

Nathaniel wusste nicht, was er tun sollte. Er wollte Azrael ganz sicher nicht verletzen, er war kein Ding. Nur weil Azrael ein Dämon war, hieß das nicht, dass er böse war. Er hatte Nathaniel noch nie verletzt, und es war so unglaublich falsch, auf so vielen Ebenen, Azraels Freundlichkeit mit Gewalt zurückzuzahlen.

„Was ist los, Junge? Zu verängstigt, um einen kleinen Dämon zu töten?“

„Ich sehe keinen Grund, etwas zu töten, das so hilflos ist“, antwortete er, obwohl er wusste, dass er sein eigenes Grab damit nur tiefer schaufelte.

„Oh, du siehst keinen Grund. Das verstehe ich vollkommen, du Armer. Ich habe vergessen, dass du ein hirnloses, nutzloses Stück Scheiße bist. Was denkst du, wird passieren, wenn die Chimäre ausgewachsen ist? Was glaubst du, wird passieren, wenn Fleisch nicht mehr ausreicht und es Blut braucht, um zu überleben? Das Blut deiner Mutter zum Beispiel?“

Es war eine Drohung und leider keine leere. Azrael würde nie jemandem etwas tun. Nathaniel war sich dessen sicher, aber er konnte nicht mit seinem Vater streiten. Denn wenn er es tat, würde Alexander wahrscheinlich das Blut seiner Mutter an Azrael verfüttern, nur um seinen Worten Wahrheit zu verleihen.

Aber bevor er mit einer Antwort herhalten konnte, zog sein Vater ein Messer aus seinem Gürtel.

„Du hast zwei Möglichkeiten, Junge. Entweder du tötest es oder ich übernehme das für dich“, sagte Alexander und bot ihm das Messer an.

Wenn er es selbst tat, würde etwas in ihm dabei zerbrechen. Aber wenn er es seinen Vater tun ließ, würde er die Prozedur für Tage hinauszögern und ihn zwingen zuzusehen. Nur damit er seine Lektion lernte. Konnte er Azrael töten? War das nicht die gnädigere Variante? Er unterdrückte den Schauer, der über seinen Rücken zu laufen drohte, und griff nach dem Messer.

„Gute Wahl“, stellte Alexander fest.

Am liebsten hätte er ihm die Kehle rausgeschnitten.

Stattdessen kniete er sich in die Zelle und streckte seine freie Hand in Azraels Richtung. Seine Chimäre warf einen misstrauischen Blick zu seinem Vater, bevor er auf Nathans Schoß kroch.

Nathaniel war kalt bis auf die Knochen, während er Azrael mit einer Hand streichelte. Tief holte er Luft und hätte am liebsten die Augen vor dem verschlossen, was er gleich würde tun müssen. Blicklos starrte er auf die zierliche Form Azraels. Dann stieß er mit seinem Messer zu, direkt ins Herz. Azrael jaulte, quiekte und versuchte, sich verzweifelt freizukämpfen.

Blut sprudelte heiß über Nathaniels Hand, als Azrael sich in seine Hände verbiss, bis diese von dem Gift völlig gefühllos waren.

Aber es war bereits zu spät. Um sein Leiden nicht länger hinauszuzögern, drehte er das Messer, bevor er es herauszog.

Azrael tat einen letzten röchelnden Atemzug, während Nathaniels ganzer Körper langsam paralysierte. Sein Vater wand ihm das Messer aus tauben Fingern und ließ ihn dort zurück.

Wahrscheinlich hoffte er, dass Nathaniel an dem Gift starb.

Stattdessen lag er dort für Stunden, nicht in der Lage, einen einzigen Muskel zu bewegen, getränkt in Azraels Blut.

 

Nate erwachte ruckartig aus seinem Traum. Sein Herz schlug viel zu schnell. Sein Atem ging in rauen Stößen. Einen Moment lang glaubte er fast, Azraels Blut auf seinen Fingern zu spüren. Er zwang sich, seine Atmung zu kontrollieren, während er den Traum verdrängte und die Erinnerungen, die damit einhergingen.

Erst als sein Herz nicht mehr schmerzhaft gegen seine Rippen schlug, bemerkte er, dass Grace neben dem Kopfende des Bettes saß und schlief.

Sie war in sich zusammengesunken, das Handy noch in der Hand auf ihrem Schoß, schien aber unverletzt. Erleichterung machte sich in ihm breit.

„Hey“, krächzte er heiser und streckte den Arm aus, um sie zu wecken.

Blinzelnd kam sie zu sich und zuckte heftig zusammen, bevor sie ihre Orientierung wiederfand. „Du bist wach“, entfuhr es ihr. Ihr Handy fiel klappernd zu Boden, als sie sich aufrichtete und seine Stirn berührte. „Wie geht es dir? Willst du etwas trinken?“

Er nickte stumm, und sie hechtete ins Bad, um ihm ein Glas Wasser zu bringen. Vorsichtig hielt sie seinen Kopf hoch und half ihm beim Trinken.

„Danke.“ Stumm musterte er sie. „Du siehst furchtbar aus.“

Sie lachte erstickt und fuhr sich durch die Haare. Ihm entging das Zittern in ihren Händen nicht.

„Geht es dir gut?“, fragte er und versuchte, sich aufzusetzen. An der Leichtigkeit, mit der sie ihn zurück ins Bett drückte, erkannte er erst, wie schwach er war.

„Mir geht es gut“, versicherte sie ihm, wenn auch unglaubwürdig, und griff vorsichtig nach seiner Hand. „Und dir?“

„Ich fühle mich, als hätte ich drei Tage lang durchgesoffen und mir den Kater des Jahrtausends angelacht. Kopfschmerzen inklusive“, gab er mit einem gequälten Grinsen zu und schloss die Augen.

„Versuch, noch etwas zu schlafen. Ich bin hier, wenn du etwas brauchst.“

 

***

 

Als er das nächste Mal wach wurde, schlief Grace immer noch in derselben gekrümmten Haltung am Kopfende seines Bettes.

Langsam, um sie nicht zu wecken, schwang er die Beine aus dem Bett und wartete, bis die Welt aufhörte, sich zu drehen.

Seine Kopfschmerzen waren immer noch da, seine Zunge fühlte sich geschwollen an, und ihm war schlecht, aber es war bei Weitem nicht mehr so schlimm wie zuvor.

Er musste ein Geräusch gemacht haben, denn Grace’ Oberkörper schoss plötzlich neben ihm hoch, und ihre Köpfe verfehlten sich nur um Haaresbreite. Sobald sie ihn wahrnahm, stand sie hektisch auf.

„Hey“, wiederholte er sich lahm und sah zu ihr hoch, beobachtete, wie ihre Augen die Farbe wechselten.

„Wie geht es dir?“, fragte sie auch diesmal und versetzte ihn damit in ein seltsames Gefühl von Déjà-vu. „Soll ich dir etwas zu essen holen? Musst du aufs Klo? Ich kann dir helfen aufzustehen“, bot sie gehetzt an.

„Alles in Ordnung, aber Essen klingt gut.“ Seine Stimme klang wie Schmirgelpapier, doch sie nickte eifrig. Es muss mich schlimmer erwischt haben, als ich dachte, wenn sie so aus dem Häuschen ist.

Grace klopfte seine Polster aus und schlichtete sie hinter ihm auf, damit er sich zurücklehnen konnte. Ihr Verhalten beunruhigte ihn und seinen Wolf. Er konnte nur nicht mit Sicherheit bestimmen, woran es lag. Die Blicke, die sie ihm zuwarf, waren gleichzeitig besorgt und verhalten. In einem Moment wirkte sie, als würde sie ihn am liebsten anfassen, nur um sich im nächsten von ihm zurückzuziehen. Erst als sie zur Tür ging, schien sie sich etwas gefasst zu haben, doch anstatt sich davon beruhigen zu lassen, stellten sich seine Nackenhaare auf. Ihr Gesicht war entspannt, aber distanziert. Sie hatte ihre Maske aufgesetzt, erkannte er wenig begeistert.

Er nutzte die Zeit und schaffte es aufs Klo und zurück, bevor Grace mit einem Teller Gulasch zurückkam, auch wenn er danach schweißgebadet und außer Atem war.

Beim Geruch des Essens lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Die ganze Zeit über sagte sie kein Wort, sondern sah ihm einfach nur zu. Sein Magen verkrampfte sich. Ob vom Essen oder ihrem Verhalten konnte er nicht sagen.

Sobald er fertig war, stellte Grace den Teller vor die Tür und kratzte nervös ihre Narbe. Jetzt, wo er gegessen hatte, fühlte er sich nicht mehr ganz so erschlagen, dafür umso müder.

„Ich sollte Luca Bescheid sagen, sie wird dich sehen wollen“, murmelte Grace und machte Anstalten aufzustehen.

Ihr Gesichtsausdruck war zu gelassen, zu entspannt, ihr Ton zu gleichmütig für ihre fast defensive Körperhaltung.

„Was ist los?“, wollte er wissen, bevor sie es zur Tür schaffte.

„Gar nichts.“

Sie hat schon besser gelogen, stellte er missmutig fest. Sie griff nach ihrer Narbe, ertappte sich dabei und ließ die Hand wieder sinken.

„Was ist passiert?“, hakte er nach. Nate versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, was sich genau ereignet hatte, aber die Erinnerungen kamen nur schleppend. Grace hatte mit ihm gegen den Gargoyle gekämpft. Bilder tauchten vor seinem geistigen Auge auf, wie der Gargoyle Grace von sich geworfen hatte und auf ihn losgegangen war. Seine Krallen hatten Nate unterhalb seiner Rippen erwischt, dann war der Schmerz gekommen, und kurz darauf hatte sich ein taubes Gefühl in ihm ausgebreitet. Er war mitten im Kampf paralysiert zu Boden gegangen. Sein Wolf knurrte, da ihnen beiden klar wurde, dass sie vergiftet worden waren. Es war eine Weile her, seit er Chimärengift ausgesetzt worden war, und seine Gedanken glitten automatisch zu Azrael, bevor er die Erinnerungen gewaltsam beiseiteschob.

„Du siehst so aus, wie ich mich fühle“, kommentierte er erneut ihr Aussehen. Mit blassem Gesicht starrte sie ihn aus geröteten Augen an. Scheiße, hat sie geweint? Meinetwegen?

Grace seufzte über seine Bemerkung und rieb sich die Lider. „Schlaf noch etwas. Ich befürchte, die Ruhe wird nicht lange anhalten“, wich sie ihm aus.

Zu erschöpft, um noch auf Antworten zu beharren, ließ er es dabei bewenden. „Das Bett ist groß genug für zwei.“ Er rutschte demonstrativ zur Seite und ignorierte das Ziehen in seiner Wunde.

Sie sah für eine gefühlte Ewigkeit auf das Bett, anscheinend darauf bedacht, ihn nicht anzusehen. War sie nur seiner Verletzung wegen durch den Wind? Warum wirkte sie dann nicht erleichtert? Schließlich ließ sie sich mit einem Seufzen auf dem Bett nieder und kroch vorsichtig zu ihm unter die Decke. Ihm fielen vor Müdigkeit ein paarmal die Lider zu, bis ihm klar wurde, dass sie ihn lediglich schweigend anstarrte und wohl nicht vorhatte, zu schlafen.

„Was?“

„Was was?“, fragte sie zurück, und ihre Mundwinkel verzogen sich spöttisch.

„Schlaf. Ich löse mich schon nicht in Luft auf, nur weil du die Augen zumachst“, brummte er müde.

„Chimärengift ist nur für Gargoyles tödlich“, ergriff sie plötzlich das Wort, nachdem er fast eingeschlafen gewesen war.

Sofort schlug er die Augen auf. „Ich bin auch nicht tot“, sagte er vorsichtig.

„Rack hat dir ein Gegengift verabreicht.“ Sie sah ihn prüfend an, abwartend. Ihm gefiel nicht, in welche Richtung dieses Gespräch ging.

„Und wo hatte er es her?“ Natürlich wusste er genau, worauf sie hinauswollte, aber er musste es wenigstens versuchen, von sich abzulenken.

Seufzend setzte sie sich auf und sah zu ihm herunter. „Von mir.“

„Und woher hattest du es?“, fragte er und drehte sich auf den Rücken, um den Druck von seiner Wunde zu nehmen, die schmerzhaft pochte.

„Dan hat es mir gegeben.“

Das verschlug ihm die Sprache. Jetzt war er es, der sich hinsetzte, viel zu ruckartig. Zischend entwich die Luft aus seiner Lunge, während er versuchte, durch den Schmerz zu atmen. „Du hast dich mit MacClaine getroffen?“, würgte er hervor und hätte gern genug Luft übrig gehabt, um wütender zu klingen.

Sie presste die Lippen fest zusammen, nickte aber.

„Weiß Will davon? Oder Rack?“

„Sie wissen es jetzt. Ich konnte nicht riskieren, dass sie mich aufhalten.“

„Was?“ Er brüllte die Frage, und es kümmerte ihn nicht, wer ihn dabei hörte, oder welche Schmerzen er sich selbst damit verursachte. „Du hast dich allein mit MacClaine getroffen? Ohne irgendjemandem Bescheid zu geben? Derselbe MacClaine, der dich umbringen will? Bist du verrückt?“ Dass sie vor ihm zurückwich und erneut aufstand, machte ihn nur noch rasender.

„Charlie hat mir geholfen“, antwortete sie in einem Ton, als wäre das eine völlig ausreichende Erklärung.

Ich werde Charlie den beschissenen Hals umdrehen.

„Du wärst gestorben, wenn ich nicht –“

„Was wollte er als Gegenleistung?“, unterbrach er sie unwirsch und konnte das Knurren nicht aus seiner Stimme halten, obwohl er sich die größte Mühe gab.

„Es gab keine Gegenleistung.“

„Bullshit! Es gibt immer eine Gegenleistung. Gargoyles krümmen keinen Finger, ohne eine Gegenleistung einzufordern. MacClaine hat dir das Gegengift nicht aus der Güte seines Herzens heraus gegeben.“

Er konnte sehen, wie Grace um Beherrschung rang, ihre Hände ballten sich zu Fäusten, aber alles in ihm gefror bei dem Gedanken daran, dass sie sich MacClaine allein gestellt hatte. Noch dazu, weil sie sich ihm geradezu auf dem Silbertablett präsentiert hatte.

„Es gab keine Gegenleistung“, beharrte sie stur.

„Du willst mir ernsthaft weismachen, dass Daniel MacClaine dir einfach so das Gegengift gegeben hat, nur weil du ihn darum gebeten hast?“

Ihre Augen verengten sich, aber ihre Stimme klang herausfordernd sanft. „Ich hatte gute Argumente.“

Ihm gefiel die Richtung nicht, in die seine Gedanken bei dieser Antwort gingen. Sein Blick glitt an ihrem Körper entlang, als würde das allein reichen, um festzustellen, was vorgefallen war. „Was für Argumente?“, fragte er leise und konnte nicht verhindern, dass seine Stimme drohend klang. Ich bringe MacClaine um, wenn er sie angefasst hat.

„Ich –“ Sie brach ab, sah von ihm weg, wurde rot im Gesicht. „Ich habe gedroht, Markus umzubringen. Ihn und seine ganze Familie, sollte er mir das Gegengift nicht geben.“

„Und das hat er dir geglaubt?“

Ihr Blick richtete sich wieder auf ihn, der Mund war zu einer schmalen Linie zusammengepresst. „Offensichtlich hat er das“, antwortete sie mit einem bedeutenden Nicken zu seiner Wunde.

„Wie zum Teufel hast du es geschafft, dass er dir das abnimmt?“

„Ich hab ihm erzählt, dass ich Jake getötet habe. Dass ich ihn abgestochen habe wie ein Schwein. Und dass ich Schlimmeres mit Markus machen würde, sollte er mich reinlegen“, fauchte sie und verschränkte die Arme defensiv vor der Brust.

Einen Moment lang blieb ihm die Luft weg, dann warf Nate den Kopf nach hinten und fing an, lauthals zu lachen. Glucksend und unter Schmerzen ließ er sich zurück aufs Bett fallen.

„Das ist nicht witzig“, knurrte Grace und ihre Augen schossen Blitze.

„Doch“, würgte er hervor. „Doch, das ist es.“

„Hör auf zu lachen“, zischte sie.

„Entschuldige.“ Erstickt bemühte er sich, seinen Lachanfall herunterzuschlucken. Seine Wunde pochte, aber noch immer grinste er von einem Ohr zum anderen.

Doch bei ihrer nächsten Frage gefror ihm das Lächeln auf den Lippen.

„Wissen Will und Rack, dass du zur Hälfte Gargoyle bist?“

Er bezweifelte, dass es ihm gelang, seinen Schock glaubwürdig zu überspielen. Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, und er konnte die Herausforderung in ihrem Gesicht sehen. Die Herausforderung, sie anzulügen, ihr irgendeine Geschichte aufzutischen. Er hätte es tun sollen. Es wäre sicherer. Nicht nur für mich, sondern auch für Lilly. Aber er brachte es nicht über die Lippen.

Schon gar nicht, nachdem Grace ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um das Gegengift für ihn zu besorgen. Sie hatte ihm den Arsch gerettet, er schuldete ihr die Wahrheit, und trotzdem erstickte er fast daran. Vorsichtig setzte er sich wieder auf.

„Nein“, sagte er und wollte es dabei belassen, um nicht mehr zu verraten als unbedingt notwendig.

„Du wirst es mir nicht sagen, oder?“

Der Zug um ihren Mund, das halbe Lächeln, das so bitter auf ihren Lippen lag, ließ ihn innerlich zusammenzucken.

Sie testet mich, und ich versage kläglich, dachte er verkrampft.

„Außer denen, die mich oder Alexander Fraser damals kannten, weiß niemand, dass Liliane und ich verwandt sind. Nicht einmal sie“, presste er schließlich hervor, auch wenn alles in ihm sich dagegen wehrte.

Sie schien die Information besser aufzunehmen, als er erwartet hatte, und das machte ihn misstrauisch.

„Du wusstest es schon“, stellte er trocken fest.

„Dan hat es mir gesagt.“ Sie fuhr sich durch die Haare. „Aber ich wollte es von dir hören.“

Er würde MacClaine umbringen, wiederholte er stumm in seinem Kopf. „Was hat er noch gesagt?“

„Dass du mich nur benutzt, um deine Rachegelüste an den Gargoyles zu stillen“, sagte sie mit einem kalten Lächeln, den Blick unverwandt auf ihn gerichtet.

„Und du glaubst ihm“, zischte er und ignorierte den Stich in seiner Brust.

„Nein, nicht wirklich“, widersprach sie seufzend. „Aber es wirft für mich die Frage auf, warum dein Hass auf die Gargoyles so groß ist. Wenn Alexander Fraser dein Vater war, der ach so berühmte König aller Gargoyles, müsstest du ein ziemlich luxuriöses Leben gehabt haben, ohne Kummer und Sorgen. Du warst in einer Position von Macht, solange er lebte. Müsstest es immer noch sein.“

Nate fletschte die Zähne und schnaubte abfällig. „Die einzige ‚Position von Macht‘, die es unter den Gargoyles je gab, ist die des Anführers, und das war Alexander selbst. Jeder, der seine Stellung als solcher gefährdete, wurde unschädlich gemacht.“

„Außer dir.“

Er konnte nicht sagen, dass ihm ihr Scharfsinn in diesem Moment gefiel. Schon gar nicht die Unterstellungen, die sie ihm machte. Er sollte es ihr nicht verübeln, nicht nach allem, was sie mit den MacClaines durchgemacht hatte, aber ihr Misstrauen brannte dennoch ein Loch durch ihn hindurch. Er wollte dieses Gespräch nicht führen. „Wenn du wirklich glaubst, dass ich dich als Vorwand brauche, um gegen die Gargoyles vorzugehen, bist du nicht nur dumm, sondern auch naiv“, erklärte er bitter und wusste, dass er seine Verteidigung gerade mit einem Angriff aufbaute. Einen Angriff, den er im selben Augenblick bereute, weil sich ihr Mund zu einem schmalen Strich verzog. Dann wurde ihr Gesicht neutral, sie nickte fast hoheitsvoll und ging Richtung Tür. Scheiße.

„Warte.“ Er hielt sie am Arm zurück, obwohl ihm die Bewegung erneut Schmerzen verursachte.

Ihr Blick glitt teilnahmslos von seiner Hand zu ihm. „Lass es gut sein, Nate.“

Dass sie seinen Namen zum ersten Mal, seit er sie kannte, abkürzte, versetzte ihm einen weiteren Stich, der viel schlimmer war als der Schmerz, der von seiner Verletzung ausging. Das Brennen in seiner Brust verstärkte sich. Sein Wolf begann, sich gegen ihn aufzulehnen.

„Setz dich“, verlangte er zwischen zusammengebissenen Zähnen.

„Wieso? Weil du es so sagst?“, fragte sie trocken zurück.

„Weil die Wunde aufreißen könnte, wenn ich dir hinterherlaufen muss.“ Innerlich verzog er das Gesicht bei seinem manipulativen Versuch, sie zum Bleiben zu bringen. Er hatte das Risiko nicht eingehen wollen, dass sie eine Bitte abschlug. Grace zog ihre Hand weg und setzte sich ans Fußende des Bettes. Mühsam lehnte er sich wieder zurück, um den Druck von seiner Wunde zu nehmen.

„Ich höre.“

Das war seine letzte Chance, ihr irgendetwas zu erklären, und er wollte es nicht versauen.

„Er hat meine Mutter versklavt, da war sie praktisch noch ein Kind, und hat an ihr die Prototypen der Halsbänder getestet, die er später für die Versklavung der ganzen Rasse missbraucht hat.“ Nate knirschte mit den Zähnen. „Für ihn war ich stets nur eines: ein Bastard. Aber ich war sein Bastard, und Gargoyle-Kinder waren ungefähr so rar wie Schnee im Sommer. Er wollte einen Erben, und solange er den nicht in reinblütiger Form bekam, war ich als Platzhalter gerade gut genug.“

Nate blieb angespannt, während er auf eine Reaktion von ihr wartete.

„Alexander, dein Vater war es, der Azrael umgebracht hat, nicht wahr?“

Die Frage überrumpelte ihn, bis ihm einfiel, dass er ihr von Azraels Tod erzählt hatte. Habe ich im Schlaf gesprochen?, fragte er sich. Erneut musste er sich zwingen, ihr zu antworten. „Nein, das war ich.“

„Weil er es verlangt hat.“ Sie sagte es mehr wie eine Feststellung denn eine Frage.

„Ja“, stimmte er widerwillig zu.

Nickend rieb sie sich mit den Handballen über die Augen.

„Danke, dass du es mir erzählt hast“, flüsterte sie. Plötzlich wirkte sie, als hätte sein Geständnis sie aller Kraft beraubt.

Er wollte ihren Dank nicht, er fühlte sich falsch an.

Dass sie es dabei beließ und nicht noch mehr Fragen stellte, beunruhigte ihn und auch seinen Wolf. War das nicht der Moment, in dem Frauen schrien und wüteten, weil man ihnen etwas verheimlicht hatte?

Stattdessen dankte sie ihm, nachdem sie ihn quasi überführt und er ihr erzählt hatte, was sie sowieso schon wusste. Hätte sie ihm nicht zumindest vorwerfen müssen, dass er ihr eine so wichtige Information vorenthielt?

Als sie aufstehen wollte, langte er erneut nach ihrem Handgelenk, um sie zu stoppen.

Blinzelnd sah sie auf seine Hand, und er lockerte seinen Griff. Erschrocken fiel ihm auf, wie fest er zugepackt hatte.

„Ich will nur aufs Klo“, sagte sie und zeigte mit dem Daumen über die Schulter.

Innerlich fluchend, weil er überreagierte, ließ er sie los. Für einen Moment lang hatte er geglaubt, sie würde einfach gehen, und fast so etwas wie Panik bekommen.

„Versuch zu schlafen“, bat sie.

Zuerst dachte er, dass die Anspannung in ihm zu groß war, doch dann holte ihn die Erschöpfung ein, und ihm fielen die Augen zu.

 

Jones

 

„Warum hast du mich verpfiffen?“

Will stand mit Luca in einem der Verhörräume. Es hatte gedauert, bevor sie schließlich das Schweigen der letzten Minuten zwischen ihnen brach.

„Vorsicht, Luca. Vergiss nicht, mit wem du sprichst“, warnte er leise.

„Als würde ich das jemals vergessen“, schnaubte Luca abfällig. „Was sollte das?“

„Was hast du wirklich gegen Grace?“, fragte er, anstatt auf ihre Frage einzugehen.

„Oh, bitte, lass die Spielchen. Sie schiebt die Mitleidsnummer seit dem ersten Tag, macht einen auf kleines, verletzliches Mädchen –“

„Und das kann jemand wie du natürlich nicht akzeptieren. Wo die Tour bei dir doch nie funktioniert hat“, spottete Will.

„Weißt du was? Es ist mir egal, was du sagst. Nate wäre nie in Gefahr geraten, wenn sie nicht wäre!“

„Sie hat sich allein mit MacClaine getroffen, um ein Gegengift für Nate zu holen. Hinter meinem Rücken. Wäre sie nur auf Mitleid aus, wäre sie vorher zu mir gekommen, meinst du nicht?“

„Warum verteidigst du sie? Wann bist du so verdammt weich geworden?“

„Wann bist du so eiskalt geworden?“, konterte er.

„Ich bin, wozu du mich gemacht hast“, zischte sie.

„Schieb nur weiterhin die Schuld für deine Probleme allen anderen zu, das bringt dich sicher weiter.“

„Verdammt noch mal, bin ich wirklich die Einzige, die sieht, was für ein rückgratloser Feigling sie ist?“ Ihre Arme gestikulierten fast wild für Lucas Verhältnisse.

„Der Feigling, der dich nicht im Stich gelassen hat, derweil die Gargoyles dich in ihren Klauen hatten? Nein, Luca. Der einzige Feigling hier bist du, weil du dich weigerst, über deinen verletzten Stolz hinwegzusehen. Du hast gedacht, du würdest die einzige Konstante in Nates Leben bleiben, und hast Angst, dass er dich für sie zurücklässt. Aber selbst wenn es so weit kommt, wäre es immer noch Nates Entscheidung, nicht die von Grace. Grace ist nicht das Problem, und ich bin es auch nicht. Hast du dir überlegt, was passiert, wenn Nate herausfindet, was du getan hast? Wie er darauf reagieren wird, dass eine der wenigen Personen, die er als Familie erachtet, ihn verraten hat?“

„Fick dich, Jones. Was weißt du schon?“, knurrte Luca.

„Ah, es tut weh, die Wahrheit aus dem Mund eines anderen zu hören, nicht wahr?“

Luca wandte sich abrupt von ihm ab und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Luca, wenn du noch einmal hinter meinem Rücken agierst, wird es nicht Nate sein, um den du dir Sorgen machen musst.“

Sie straffte die Schultern, bevor sie antwortete. „Wie üblich misst du mit zweierlei Maß. Nachdem Grace abgehauen ist, ohne dir etwas zu sagen, was waren da die Konsequenzen?“

„Sie tat es zum Wohle eines anderen.“

„Ich doch auch“, schrie sie und fuhr zu ihm herum.

Will riss der Geduldsfaden. „Hör auf, dich selbst zu belügen! Du hast es nur für dich selbst getan. Nicht für Nate und ganz sicher nicht für Grace!“

„Nate ist aufgewacht“, erklang es in seinem Headset. „Rack ist auf dem Weg zu dir.“

„Danke, Charlie“, antwortete er, ohne Luca aus den Augen zu lassen. „Luca, wenn du mich jetzt entschuldigen würdest.“

Sie fletschte die Zähne in einer drohenden Geste, die er nicht erwiderte.

Eigentlich sollte sie es besser wissen, als mich herauszufordern, dachte er innerlich seufzend.

Während er wartete, setzte er sich in einen der Stühle und kratzte sich nachdenklich den Bart.

Er hatte sich schon gefragt, wann Rack ihn endlich aufsuchen würde.

 

Rack

 

„Du wolltest mich sprechen?“, forderte Jones ihn auf, weil Rack nicht gleich etwas sagte.

„Sie ist nicht hier“, kommentierte er das Offensichtliche.

„Hast du das erwartet?“

„Nein.“ Aber gehofft. „War sie –“ Er räusperte sich, bevor er Jones in die Augen sah. Nach all der Zeit, nach all den Jahren, und er konnte immer noch nicht darüber sprechen. „War sie hier?“

„Nein“, antwortete Jones ernst. „Als sie auch Wochen danach nicht hier ankam, habe ich sie angerufen.“

Alles in ihm zog sich schmerzhaft zusammen. Er hatte Joyce versprochen, sich nicht nach ihr zu erkundigen, aber es fiel ihm von Sekunde zu Sekunde, die er hier verbrachte, schwerer, sich daran zu halten. Was wäre schon dabei? Sie würde es wahrscheinlich nie erfahren, meinte die Stimme in seinem Hinterkopf, die ihn seine Ehre vergessen ließ. Mehr als ein Jahrzehnt hatte er sich an sein Versprechen gehalten, nur um jetzt schwach zu werden.

Rack fühlte sich schuldig und zum ersten Mal seit Ewigkeiten auch hoffnungsvoll. Vielleicht könnte er die Vergangenheit wieder ruhen lassen, wenn er erfuhr, dass es ihr gut ging.

„Hast du sie erreicht?“, fragte er das Unverfänglichste, das ihm einfiel, und wünschte sich gleichzeitig, dass Jones ihm mehr als nur Häppchen zuwerfen würde. Ihm war eiskalt und viel zu heiß, während selbst sein Wolf in erwartungsvollem Schweigen auf Jones’ Antwort wartete.

„Nein.“ Jones machte eine theatralische Pause, die Rack das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Weswegen ich versucht habe, ihren Aufenthaltsort herauszufinden.“

Rack musste sich auf die Zunge beißen, um Jones nicht zu schütteln und Antworten zu verlangen. Seine Ungeduld würde ihm nichts einbringen, sondern vielmehr das Gegenteil bewirken. Zwischen ihnen breitete sich Schweigen aus, während beide darauf warteten, dass der jeweils andere etwas sagte.

„Ihr Handy war noch immer in England, aber von Joyce fehlte jede Spur“, gab Jones nach.

Es war eine Sache, dass seine Frau nicht bei seiner Familie geblieben war, als er damals mit Dan aufgebrochen war. Aber eine gänzlich andere, dass sie ihr altes Rudel und damit auch Jones nicht kontaktiert hatte. Er war fest davon überzeugt gewesen, dass sie zu Jones zurückgekommen war. Eigentlich war er nicht wegen Grace hergekommen, sondern hatte Jones’ Anruf als Vorwand missbraucht, um endlich seinen Hintern in den Flieger zu setzen. Seitdem saß er wie auf glühenden Kohlen, und auch wenn er schnell begriffen hatte, dass Joyce nicht hier war, blieb die Hoffnung. Die Hoffnung, ihren Duft in einem der Gänge zu riechen, ihr Gesicht endlich wiederzusehen, und sei es nur für wenige Sekunden.

Selbst nachdem er sie hier nicht aufgefunden hatte, war er noch davon ausgegangen, dass sie einfach in Apalachicola bei den anderen Familien von Jones’ Rudel untergekommen war. Nicht hier, aber in greifbarer Nähe. Er hatte auf einen Zufall gehofft, der sie zusammenführte. Auf das Schicksal. Auf irgendetwas.

„Rack, ich habe sie, seit du sie vor fast zwanzig Jahren mitgenommen hast, nicht mehr gesehen.“

Nein. Nein, das kann nicht sein. Er schüttelte automatisch den Kopf, während die Mauer um sein Herz Risse bekam.

„Hast du nach ihr gesucht?“, wollte er wissen, derweil sein Wolf schmerzhaft an seinen Nerven zerrte. Er wollte raus. Jetzt sofort. Und er wollte nach Joyce suchen. Etwas, das er ihm nicht gestatten konnte, egal, wie sehr sie es beide wollten.

„Erfolglos.“

Rack spürte förmlich, wie das schwarze Loch in seinem Herzen größer wurde und ihn von innen heraus zerfraß. „Du lügst“, brauste er auf, als er sich nicht mehr zurückhalten konnte. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, und er fletschte die Zähne, die nicht mehr vollständig menschlich waren.

„Ich wünschte, es wäre so.“

„Du lügst“, wiederholte Rack wie ein Mantra und trat einen Schritt auf ihn zu. „Sie war hier. Du hast mit ihr gesprochen, und sie hat dir verboten, mir die Wahrheit zu sagen!“ Er wusste, wie verrückt er klang. Wusste, dass er sich an Strohhalme klammerte, die es nicht gab, und konnte dennoch nicht aufhören.

„Ich mag skrupellos sein, aber in dieser Sache würde ich dich nicht anlügen, Rack. Wenn sie hier gewesen wäre, würde ich es dir sagen. Wenn ich wüsste, wo sie steckt, würde ich es dir sagen, selbst wenn ich dir ihren Aufenthaltsort nicht verraten würde.“

Rack ließ einen frustrierten Schrei los, der in ein Brüllen überging und zu einem Knurren wurde, als sein Wolf sich abrupt aus ihm hervorzwang. Rabiat schüttelte er die Kleidung ab und rannte hinaus.

 

 

 

 

 

 

Kapitel 3

 

Grace

 

Grace hatte sich gerade auf die Suche nach Luca gemacht, als sie das Heulen hörte.

Ihr Kopf fuhr automatisch herum, in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, und noch bevor sie wusste, was geschah, hatte sie sich in Bewegung gesetzt.

Ihre Wölfin drängte sie zur Eile, also rannte sie durch die Gänge, bis sie an den Wachen vorbei war und plötzlich im Freien stand.

Die schwüle Hitze, die ihr entgegenschlug, raubte ihr für einen Moment den Atem, dann sah sie sich hektisch um und folgte der viel zu offensichtlichen Spur, die Rack hinterlassen hatte.

Etwas schnitt in ihre bloße Fußsohle und ließ sie zischend Luft holen. Frustriert erkannte sie, dass sie nicht richtig gekleidet war, um durch den Sumpf zu laufen. Mit einem prüfenden Blick über die Schulter zog sie sich aus und verwandelte sich in ihre Wölfin. Dann rannte sie weiter und tat ihr Bestes, um aufzuholen.

Sein Verhalten beunruhigte sie. Rack war nicht der Typ, der einen Wutausbruch hatte und dann Reißaus nahm. Das war viel mehr ihr Ding, aber nicht seins. Was konnte ihn nur so aufgeregt haben? Gerade jetzt. Hatte Will etwas zu ihm gesagt? Ging es ihm schon länger so, und sie hatte es einfach nicht bemerkt? War sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt?

Racks Geruch wurde stärker, bis sie ihn schließlich sehen konnte. Sie heulte auf, um ihn auf sich aufmerksam zu machen.

Erleichtert sah sie, dass er stehen blieb und sich zu ihr umdrehte. Doch etwas an seiner Körperhaltung ließ sie innehalten, anstatt den Abstand zwischen ihnen zu verringern.

Rack?

Er antwortete nicht, sondern zog die Lefzen hoch und knurrte. Es war kein verspieltes Knurren, kein freundliches Schnaufen, sondern pure Drohung.

Grace senkte den Kopf und winselte leise, um ihn nicht noch mehr aufzuregen.

Rack, was ist los?

Auch diesmal antwortete er ihr nicht, bewegte sich nur auf sanften Pfoten auf sie zu. Alle ihre Instinkte schrien sie an zurückzuweichen, doch sie brachte es nicht fertig. Das war ihr Bruder, der da vor ihr stand, nicht irgendein gefährliches Raubtier. Natürlich wusste sie, dass er das sein konnte. Aber nicht zu ihr. Niemals zu ihr.

Verschwinde.

Dass er endlich mit ihr sprach, hätte sie erleichtern sollen, stattdessen schnitt der rasiermesserscharfe Ton eisig durch sie hindurch.

Nein. Sie wusste nicht, was sie sonst hätte sagen sollen. Sie klang nicht trotzig, aber auch nicht sanft, sie stellte nur eine Tatsache fest.

Ich will dich hier nicht haben.

Sein Knurren wurde lauter, während er drohende Schritte auf sie zu machte. Grace ignorierte den Stich, den ihr seine Worte versetzten.

Sag mir, was los ist, und ich gehe. Das war eine schlechte Lüge. Was auch immer Rack dermaßen zusetzte, sie bezweifelte, dass sie einfach gehen könnte. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass es nicht so schlimm war, wie sie befürchtete. Sie konzentrierte sich auf diese Hoffnung, und Rack schien ihre Lüge nicht zu riechen.

Wenn ich reden wollte, wäre ich nicht hier draußen.

Seine Stimme klang vorwurfsvoll und wütend. Er maßregelte sie, versuchte sie einzuschüchtern, damit sie den Schwanz einzog und ging. Zumindest hoffte sie das. Immer noch schritt er langsam auf sie zu, und Grace kam ihm schließlich auf halbem Weg entgegen. Als er nach ihr schnappte, zuckte sie automatisch zurück und machte sich klein.

Hau ab!

Nein. Sie drehte den Kopf, während er begann, sie zu umkreisen, und unterdrückte den Schauer, der ihr über den Rücken laufen wollte, wenn er aus ihrem Sichtfeld verschwand. Schnell drehte sie den Kopf zur anderen Seite, sobald er um sie herumkam.

Ich meine es ernst, Lenara. Geh zurück, bevor ich mich vergesse.

Innerlich zählte sie bis zehn, während ihre Wölfin Rack beobachtete. Es tat weh, den Namen gerade aus seinem Mund zu hören, aber es änderte nichts an ihrem Entschluss, zu bleiben.

Ist es, weil du Dan angeschossen hast? Ein Schuss ins Blaue, aber sie musste versuchen, ihn irgendwie aus der Reserve zu locken.

Racks Wolf schnaubte und rückte ihr immer mehr auf den Pelz, sein Schweif stieß provokant gegen sie, während er seine Runden um sie drehte.

Ist es das, was du glaubst?

Nein, aber ich bin ganz Ohr.

Grace tat alles, um sich nicht von ihm einschüchtern zu lassen, doch es fiel ihr schwer, sich gleichzeitig darauf zu konzentrieren, ihre Gedanken nicht an Rack zu projizieren. Was konnte sie tun, um ihm zu helfen?

Statt einer Antwort schubste er sie mit seinem gesamten Körpergewicht zur Seite, und sie kam taumelnd wieder auf die Pfoten. Gerade noch rechtzeitig wich sie aus, als er nach ihr schnappte. Ein ängstliches Fiepen entwich ihr, bevor sie sich schüttelte und ihren Stand festigte.

Du wirst mich nicht los. Egal, was du tust.

Das werden wir gleich s–

Er brach abrupt ab, weil Grace sich direkt vor seiner Nase in einen Menschen verwandelte und ihre Finger seitlich in seinem Nackenfell vergrub.

„Du leidest“, flüsterte sie gequält und sah in seine eisblauen Wolfsaugen. „Ich hab das Wegstoßen derer, die mir am Nächsten stehen, quasi erfunden. Glaubst du wirklich, dass ich dich alleinlasse? Bitte, sag mir, was los ist.“

Sein Maul öffnete sich bedrohlich, doch Grace sah ihm unverwandt in die Augen. Dann schnaufte er, und sein heißer Atem streifte ihr Gesicht. Sie rümpfte die Nase bei dem Geruch, der ihr entgegenschlug, und hätte schwören können, dass Rack die Augen verdrehte. Er machte ein leise jaulendes Geräusch und legte seinen Kopf auf ihre Schulter. Erleichtert und traurig zugleich schlang sie die Arme um seinen Hals, vergrub ihre Finger in seinem Fell. Als sie die punktierte Narbe wie von einem Biss an seinem Hals ertastete fiel endlich der Groschen.

„Joyce“, entwich ihr der Name, da ihr endlich klar wurde, was ihren Bruder so in Aufregung versetzt hatte. Rack winselte leise, während sie ihn fester an sich drückte. „Es tut mir leid“, entschuldigte sie sich, weil sie nicht früher darauf gekommen war. Sanft strich sie ihm durchs Fell, während sie fieberhaft darüber nachdachte, was sie sagen konnte. „Egal, wo sie ist, ich wette, sie vermisst dich genauso sehr wie du sie.“ Rack schnaufte ungläubig. „Hey, du hast kein Mitspracherecht, solange du dich hinter deinem Wolf versteckst“, neckte sie ihn. „Wenn sie dich – euch – schon aufgegeben hätte und sie wirklich so charakterschwach wäre, hättest du dich doch von vornherein nie in sie verliebt. Egal, wie viel Zeit vergeht, egal, was zwischen euch stand, Dan ist nicht mehr Teil dieser Rechnung. Ich lasse nicht zu, dass er dein Leben versaut, okay? Lass Dan und die Gargoyles meine Sorge sein. Finde Joyce, fangt noch mal von vorn an, und komm mir nicht mit: ‚Dafür ist es zu spät’. Es ist nie zu spät, hörst du? Außerdem, weißt du, was wirklich toll ist? Als Wolf kannst du mir nicht widersprechen und ich kann reden und reden und –“ Sie stoppte grinsend, weil er sich ihr entzog, um sich hinzulegen und seine Pfoten auf die Ohren zu drücken.

Grace verwandelte sich zurück in ihre Wölfin und legte sich neben Rack auf den Boden im Sumpf.

Ich bin hier.

Danke, Große.

 

 

***

 

Als Grace Stunden später wach wurde, war der Platz neben ihr leer. Nachdem Rack und sie nach einiger Zeit zurückgekehrt waren, hatte sie sich zu Nathan schlafen gelegt.

Jetzt war er verschwunden. Hektisch setzte sie sich auf, griff nach dem Lichtschalter und hatte die Decke bereits weggeschoben, da erklang die Klospülung.

Das Herz klopfte ihr immer noch bis zum Hals, während sie sich zurück ins Bett fallen ließ. Erleichtert und beschämt, weil sie schon wieder überreagiert hatte, wischte sie sich mit den Händen übers Gesicht.

Als Nathan ins Zimmer zurücktrat, sah er schon wesentlich besser aus. Er wirkte nicht mehr so blass, sein Verband war unten, und die Wunde schien fast vollständig verheilt. Sie stellte fest, dass er seinen Bart getrimmt hatte, und fragte sich, wie spät es war. Verschlafen sah sie sich nach einer Uhr um.

„Schlaf weiter, es ist mitten in der Nacht“, murmelte Nathan, bevor er über sie hinweg ins Bett kletterte und sich trotz seiner Wunde auf den Bauch fallen ließ.

Er hatte geduscht und war nur mit einer Jogginghose bekleidet, bemerkte sie mit einem Blick auf seine leicht feuchten Haare. Sie ignorierte das unruhige Flattern in ihrem Bauch. Das letzte Gespräch zwischen ihnen hinterließ immer noch einen bitteren Geschmack in ihrem Mund.

Dass er ihr letztendlich erzählt hatte, wer er war, änderte nichts daran, dass sie ihn fast hatte nötigen müssen, damit er den Mund aufmachte. Mochte sein, dass sie nachtragend war, aber dass er sie dumm und naiv genannt hatte, tat immer noch weh. Warum war Dan der Nachfolger für den Thron, wenn Nathan der leibliche Sohn von Alexander Fraser war? Die Übernahme des Throns hätte eine echte Veränderung bewirken können. Er hätte die Gargoyles nach seinen Vorstellungen formen können. Hatte Alexander ihn nicht genau dafür am Leben gelassen? Als Notlösung zwar, aber die ‚Not’ war mit seinem Tod eingetreten. Warum war er dann gegangen? Wenn er Rache an den Gargoyles wollte, warum hatte er sie sich damals nicht genommen, nachdem sein Vater gestorben war?

Verlangte sie zu viel von ihm, weil sie wollte, dass er ihr solche Dinge erzählte? Hatte sie sich letztendlich in ihm getäuscht? Durfte sie überhaupt verletzt sein, wo es doch sein gutes Recht war, Geheimnisse zu haben? Es passte ihr nicht, aber sie musste sich eingestehen, dass sie sich erst seit wenigen Monaten kannten. Konnte sie da wirklich erwarten, dass er ihr sein ganzes Leben unterbreitete?

Verliebe ich mich schon wieder in den Falschen?, fragte sie sich unsicher. Oder sollte sie ihm einfach reinen Wein einschenken und auf die Konsequenzen pfeifen?

„Warum starrst du mich an?“, fragte er brummend, ohne die Augen zu öffnen.

Grace seufzte über ihre eigenen Gedanken, ehe sie das Licht ausschaltete. Es war wohl besser, wenn sie aufhörte, überbordende Erwartungen zu stellen, und ihm nichts von ihren Gefühlen erzählte.

Genervt von sich selbst rieb sie sich über die brennende Stelle in ihrer Brust und knirschte mit den Zähnen. Warum ist dieser Beziehungskram nur so verdammt kompliziert?

Plötzlich beugte Nate sich über sie. „Was ist los?“

„Gar nichts.“ Ich hab auch schon besser gelogen. Grace runzelte missmutig die Stirn, als sie an ihre Auseinandersetzung mit Luca dachte. Sie konnte es ihm nicht erzählen. Aber sollte sie? Was wenn er für Luca Partei ergriff? Oder es nicht tat und Grace dann schuld daran war, dass die beiden nicht mehr miteinander sprachen? Drängte sie sich wirklich zwischen die Freundschaft der zwei? Nein, das tue ich nicht! Habe ich vom ersten Tag an nicht getan, das Ganze ist nur auf Lucas Mist gewachsen, dachte sie trotzig.

„Bullshit!“ Das Wort war härter als sein Tonfall. An ihrem Hals atmete er tief durch die Nase ein.

Als sein warmer Atem über ihre Haut strich, bekam sie eine Gänsehaut. Das ist so was von der falsche Zeitpunkt, um auch nur einen Hauch Erregung zu spüren, sagte sie sich stumm.

„Mein Wolf dreht fast durch, und das tut er nur, wenn mit dir etwas nicht stimmt. Seit ich das erste Mal aufgewacht bin, gehst du über vor Nervosität. Zuerst dachte ich, es wäre wegen meiner Verletzung. Dann, weil du übermüdet bist. Dann wiederum, es läge an MacClaine. Aber alle diese Punkte sind nicht der Grund für deine Nervosität. Also sag mir, was los ist“, bat er eindringlich.

Ich bin enttäuscht, du Riesenhornochse, was gibt es daran nicht zu verstehen?

„Vielleicht spielt dein Wolf nur verrückt, weil er das Gift noch nicht ganz verarbeitet hat“, schlug sie halbherzig vor. Sie wusste, dass er nicht nachgeben würde, wenn sie ihm keinen plausiblen Grund lieferte. Oder ihn ablenken konnte. Sie hatte ihm versprochen, ihn nicht anzulügen. Sie wollte ihn nicht anlügen.

„Spiel keine Spielchen mit mir“, warnte Nathan.

„Ich spiele keine Spielchen! Ich will einfach nicht darüber reden.“ Sie machte eine unsichere Pause. „Okay?“

„Ich dachte, wir wären über diesen Punkt bereits hinaus. Ich weiß, dass etwas nicht in Ordnung ist, und es treibt mich in den Wahnsinn, dass du mir nicht sagen willst, was los ist.“

„Du wolltest auch nicht über gewisse Dinge reden, Nathaniel.Gut gemacht, Grace. Während du darüber nachdenkst, ob du ihm von deinen Gefühlen erzählen sollst, reib ihm seine Fehler unter die Nase. Das hilft bestimmt, damit er sich in dich verliebt. Männer stehen dadrauf.

„Entschuldige. Gib mir einfach noch etwas Zeit“, bat sie seufzend.

Er stimmte in ihr Seufzen ein, bevor er sich neben ihr auf die Seite drehte. „Es gibt nichts zu entschuldigen. Das war nicht fair von mir“, widersprach er ihr dann und legte seine Hand in ihren Nacken.

Ihre Wölfin und sie liebten die besitzergreifende Geste, auch wenn es nichts an dem dumpfen Gefühl in ihrer Brust änderte. Im Gegenteil, der Druck in ihr stieg weiter an. Als wäre ich ein verfluchter Wasserkessel, kurz vorm Explodieren. Warum konnte sie das, was zwischen ihnen war, nicht einfach genießen, ohne alles komplizierter zu machen, als es sowieso schon war?

Sanft küsste er sie auf die Stirn.

„Von mir aber auch nicht. Du bist noch nicht so weit, darüber zu reden“, lenkte sie dann ein, und es war schwer, die Wehmut aus ihrer Stimme zu halten. „Keiner weiß besser, was das bedeutet als ich. Ich hätte nicht sticheln sollen.“

„Ich –“ Er unterbrach sich, schnaubte und rieb sich die Nasenwurzel. „Du hast recht.“

Grace lachte trocken. „Erstick bloß nicht daran.“

„Witzig“, sagte er, aber seine Mundwinkel zuckten. Dann wurde er wieder ernst. „Brauchst du mehr Abstand?“

„Nein!“ Es schoss etwas zu laut aus ihr hinaus, und sie musste sich zwingen, ruhig durchzuatmen. Wenn er nur wüsste, dachte sie. „Nein. Ich brauche und will nicht mehr Abstand“, versicherte sie ihm etwas ruhiger. Alles, aber nur das nicht.

„Okay“, meinte er dann, aber sein Mund blieb zu einem schmalen Strich gepresst. „Liliane weiß nicht, dass ich ihr Bruder bin, und sie wird wahrscheinlich ausflippen, wenn sie es erfährt. Es erschien mir nicht richtig, es jemand anderem zu erzählen, solange sie es nicht weiß. Aufgrund der Umstände gibt es eine Handvoll Leute, die davon wissen. Francois zum Beispiel.“

Ja, lass uns einfach so tun, als wäre es keine Sache des Vertrauens, dachte sie sarkastisch, bevor ihr plötzlich ein Licht aufging. Ruckartig setzte sie sich auf.

„Die Blondine in Hialeah“, entfuhr es ihr laut, und sie dämpfte ihren Ton augenblicklich. „Das ist Liliane? Ihr seht euch überhaupt nicht ähnlich. Ich dachte –“

„Ich weiß“, unterbrach Nathan sie. „Lilly und ich –“ Er stoppte, schüttelte den Kopf. „MacClaines Vater, Franklin, war der beste Freund meines Vaters, daher weiß er es“, erzählte er stattdessen. „Meine Mutter war Alexanders Sklavin und ich sein Bastard. Für ihn war ich nicht mal die Luft wert, die ich atmete, weil ich nicht reinblütig war. MacClaine selbst hat sich einen Dreck darum geschert, wer in seinem Zuhause lebte, starb oder versklavt wurde. Meine Mutter war die erste Wölfin, die sie versklavt hatten, da war sie erst sieben Jahre alt. Stück für Stück haben sie die Wölfe eingesammelt, bis sie dann ein paar Jahre später eine Großaktion gestartet haben, um sie alle in die Finger zu kriegen.“

„Rack hat mir erzählt, es hat sechs Jahre gedauert, bis ihr freikamt.“

„Sie mussten sich die Haut vom Hals schneiden, um das Halsband zu lösen und es dann aufschneiden zu können“, erzählte er ihr. „Eine falsche Bewegung und die Hauptschlagader war durchtrennt, ohne eine Möglichkeit, sich zu verwandeln und die Wunde zu heilen.“

Grace griff sich unwillkürlich an den Hals und erschauerte.

„Und das waren jetzt genug Schauergeschichten für eine Nacht. Versuchen wir, zu schlafen.“

Schlafen? Will er mich verarschen? Er lässt so eine Bombe platzen und erwartet, dass ich dann schlafe? Trotzdem legte sie sich wieder neben Nathan, der, wie sie feststellen musste, ebenfalls mit offenen Augen dalag.

Eigentlich sollte es sie besänftigen, dass er es ihr erzählt hatte. Stattdessen hatte sie eher das Gefühl, dass die Kluft zwischen ihnen immer größer wurde.

Vielleicht, weil er dir nur das Notwendigste erzählt und nur Dinge, die ihn nicht direkt betreffen, flüsterte eine gehässige Stimme in ihrem Hinterkopf.

 

***

 

Grace war noch immer im Halbschlaf, als sie etwas Hartes an ihrem Hintern spürte. Nachdem zu ihrem müden Gehirn durchgesickert war, um was es sich handelte, gab sie ein halb protestierendes Geräusch von sich. Sie hatte die Nacht kaum ein Auge zugemacht, und alles, was sie im ersten Moment wollte, war zu schlafen.

„Warum schläfst du nicht?“, quengelte sie, während sich Nathans Hand unter ihr Shirt auf ihren Bauch legte. Er lachte leise hinter ihr, und seine Lippen pressten sich in ihren Nacken, bevor er sie sanft biss. Ein angenehmer Schauer jagte ihr über den Rücken.

„Warum bist du noch nicht wach?“

„Du solltest dich sowieso nicht so viel bewegen“, versuchte sie es anders, konnte sich das Grinsen aber nicht verkneifen, selbst wenn sie sich weigerte, die Augen zu öffnen. Noch konnte sie wieder einschlafen. Sie musste nur Nathan davon überzeugen, dass es eine gute Idee war. „Deine Wunde ist noch nicht ganz verheilt.“

Statt auf sie zu hören, zog er sie ruckartig näher an sich, küsste die Stelle an ihrem Nacken, bei der sich ihre Zehen einrollten, und schob seine Hand unter ihr Höschen. Sie zog scharf die Luft ein, weil seine Finger sich gegen ihre empfindlichste Stelle drückten und sie mit kreisenden Bewegungen gekonnt überzeugten, dass es viel besser war, munter zu bleiben.

„Ich wüsste da ein paar Dinge, nach denen es mir sofort besser gehen würde …“ Sie konnte sein Lächeln auf ihrer Haut spüren.

Ihre Atmung beschleunigte sich, während sie sich nicht entscheiden konnte, ob sie sich lieber von ihm wegbewegen oder an ihn pressen wollte.

„Bist du schon wach?“, fragte er, schob mühelos einen Finger in sie und brachte sie damit zum Stöhnen.

„Nein“, widersprach sie und drückte ihren Hintern gegen sein Becken, was wiederum ihm ein Stöhnen entlockte.

Plötzlich zog er seine Finger weg, und sie wollte schon protestieren, als er sie auf den Rücken drehte und sich über sie beugte. Ihre Beine machte ihm automatisch Platz, und sie griff in sein Haar, um seinen Kopf zu sich herunter zu ziehen. Pfeif auf den Mundgeruch, beschloss sie und küsste ihn auf den Mund.

Nathans Hände umspannten ihre Hüften, während sich ihre Zungen immer ungeduldiger berührten. Grace schlang die Beine um seine Taille und drückte Nathan mit einem Ruck an sich, der ihn das Gleichgewicht verlieren ließ und ihn auf seine Unterarme beförderte.

Lachend verlagerte er sein Gewicht auf einen Arm, schob eine seiner Hände an ihrem Bauch nach oben und zog ihr Shirt damit Zentimeter um Zentimeter mit sich. „Ungeduldig?“, fragte er mit einem selbstzufriedenen Grinsen.

„Halt die Klappe“, verlangte sie stöhnend und stemmte sich hoch, um sich das Shirt über den Kopf zu ziehen.

Noch bevor sie sich zurückfallen ließ, zog Nate sie mit einem Arm an sich und schloss den Mund um ihre Brust.

„Ahhh“, machte sie und warf den Kopf zurück. Der Sog um ihren Nippel stand plötzlich in direkter Verbindung zu ihrem Schoß und ließ ihr Blut im selben Rhythmus pulsieren.

„Wer A sagt“, murmelte Nathan an ihrer Haut und wiederholte die Prozedur an ihrer anderen Brust, „muss auch B sagen können.“

„Halt endlich die Klappe und fick mich“, knurrte sie und zog seine Jogginghose, so weit es ihr möglich war, nach unten. Ihre Finger schlossen sich um seinen Schwanz und entlockten ihm damit ein unartikuliertes Geräusch.

Die Hand in ihrem Rücken verschwand und drückte sie stattdessen an der Schulter zurück in die Matratze.

„Du wirkst ein bisschen angespannt“, stöhnte Nathan, während sie ihre Finger an ihm auf und ab bewegte. „Ich wollte nur behilflich sein.“ Seine Hände legten sich auf ihre Oberschenkel, die Daumen strichen ihre Innenschenkel entlang, bis er am Saum ihres Slips ankam und sie ihm frustriert die Hüften entgegenhob.

„Bitte, Nathan“, bettelte sie, ihre Finger in seinen Hintern gekrallt, um ihn fester zu spüren. Stattdessen rückte er ein Stück von ihr ab. Sie kam nicht dazu, zu protestieren, denn anstatt ihr das Höschen auszuziehen, zog er den Stoff einfach beiseite und schob sich kurz darauf in sie. Ihr Slip rieb dabei dekadent über ihre empfindliche Haut.

Stöhnend drückte sie sich ihm entgegen, bis er vollständig in ihr versank, und krallte sich dabei an seinem Rücken fest.

„Fuck“, zischte Nathan. Einen Arm stützte er neben ihrem Kopf ab, der andere umspannte ihre Hüfte, bevor er sich zu bewegen begann.

„Das ist Sinn und Zweck der Sache“, keuchte sie und winkelte die Beine stärker an.

„Ich hätte fast vergessen, wie feucht du wirst“, stöhnte er, während sie in einen heftigeren Rhythmus verfielen.

„Du sagst das, als hätten wir seit Wochen keinen Sex gehabt.“ Sie ließ von ihm ab und verkrallte sich in den Laken, damit sie ihn nicht von oben bis unten zerkratzte.

„Fühlt sich jedenfalls so an“, schnaufte er und stieß fester zu. Das Bett knallte lautstark gegen die Wand.

„Warum zum Teufel reden wir?“, fragte sie entgeistert, kurz bevor er seine Finger zwischen sie schob und gegen ihre Klit presste. „Fuck“, wiederholte sie seine Worte und bog die Wirbelsäule durch.

„Sag ich doch“, lachte er erstickt, ohne in seinen Bewegungen innezuhalten oder gar langsamer zu werden. Die Bewegung seiner Hüften zusammen mit seinen Fingern trieben sie in den Wahnsinn.

„Fester“, verlangte sie stöhnend und erschrak fast über ihren fordernden Ton.

Nathan kam ihrer Bitte nur allzu gerne nach. Die Geräusche von nasser Haut wurden nur von dem Krachen des Bettes übertönt, das gegen die Wand schlug. Kaum dass sich ihr Orgasmus ankündigte, blieb ihr fast die Luft weg. Ihre Muskeln spannten sich an, bis Nathan sich über sie beugte, ihr knurrend in den Hals biss und sie mit einem erstickten Schrei kam. Nathan bewegte sich weiter in ihr, zögerte die Wellen, die über ihr zusammenbrachen, hinaus, bis sie völlig außer Atem unter ihm erschlaffte.

Schließlich glitt er aus ihr hinaus und ließ sich neben sie fallen.

„Guten Morgen“, sagte er schließlich und brachte sie damit zum Lachen.

 

***

 

Ein paar Stunden später erschienen sie zum Frühstück. Rack saß bereits an einem Tisch und stocherte gedankenverloren in seinem Essen. Erst nachdem sich Nathan ihm gegenübergesetzt hatte, sah Rack auf.

„Was macht die Verletzung?“, fragte er an Nathan gewandt.

„Bin so gut wie neu.“

Grace warf Rack einen fragenden Blick zu, ohne etwas zu sagen, und obwohl sein Versuch zu lächeln scheiterte, bohrte sie nicht nach. Stattdessen drückte sie ihn kurz, bevor sie sich neben ihn setzte. Rack schob die Teller mit dem servierten Essen zu ihr herüber, und sie griff sich eine der wenigen Toastscheiben, die nicht völlig verbrannt aussahen.

„Es gibt hier nicht zufällig so etwas wie einen Schießstand?“, fragte Grace, während sie ihren Toast mit Butter und Marmelade beschmierte.

„Doch, wieso?“, wollte Nathan wissen, der sich einen Streifen fast schwarzen Speck in den Mund schob.

„Warum wohl? Ich kann nicht schießen.“ Sie wollte auf den nächsten Angriff der Gargoyles besser vorbereitet sein. Vielleicht würde sie sich dann nicht mehr ganz so hilflos fühlen, sobald es ernst wurde.

Er gab ein unzufriedenes Geräusch von sich, das sich ihr irgendwie quer in den Magen legte.

„Bringst du es mir bei?“, bat sie ihn und bekam ein Grunzen zur Antwort.

„Vielleicht.“

Sie biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich auf ihr Frühstück, anstatt sich darüber aufzuregen, dass er nicht sofort zustimmte.

„Nate ist ein mieser Schütze“, murmelte Rack und stand auf.

„Wer hat es dir denn beigebracht?“ Nathan lachte über seine Bemerkung und zeigte ihm den Finger.

„Ich sage nur, wie es ist“, feixte Rack, auch wenn der Zug um seinen Mund viel zu verkrampft wirkte.

„Rede mit Charlie“, rief Grace ihm hinterher, als er ging. Wenn jemand Joyce finden konnte, dann wahrscheinlich sie. Rack drehte sich zwar nicht mehr um, winkte aber zum Abschied.

„Hab mich schon gefragt, wann ihn das alles einholt“, kommentierte Nathan, der Rack ebenso wie sie nachsah.

„Ich hatte keine Ahnung“, gestand Grace ihm etwas beschämt.

„Woher auch? Er redet ja nie darüber. Mach dir keinen Kopf, Munchkin. Joyce ist sein großes Tabu-Thema. Jeder von uns hat eines“, meinte er und zuckte mit den Schultern.

Nachdenklich biss sie in ihren Toast. Und was ist dein großes Tabu-Thema, Nathan?, fragte sie sich, sprach es aber nicht laut aus.

 

Jones

 

„Boss? Wir haben eine Nachricht von Daniel MacClaine bekommen“, meldete Charlie sich über Wills Headset.

„Was will er jetzt schon wieder?“

„Er will wissen, ob Nathan überlebt hat, und hat uns die Login-Daten übermittelt, die uns Zugriff auf die Server in Dog Island geben.“

Überrascht blieb er stehen. „Wirklich? Hat er auch gesagt, warum?“

„Nein.“

„Aber?“, fragte er nach.

„J.J. und ich haben angefangen, uns anzusehen, was sich auf den Überwachungskameras abspielt … Ziemlich viel kranker Mist, Boss.“

„Was verstehst du unter krankem Mist, Charlie?“

„Ich finde keine Worte dafür. Sieh es dir lieber selbst an.“

Seufzend machte er sich auf den Weg zum Kontrollraum.

„Was soll ich mir ansehen?“, fragte er, sobald er die Tür hinter sich zugezogen hatte. Aus purer Gewohnheit griff er nach einer der herumliegenden Fusselrollen, um Charlies Allergie nicht auf den Plan zu rufen.

„Setz dich lieber“, schlug Charlie vor, während J.J. begann, diverse Kameraeinstellungen auf die Bildschirme zu ziehen.

„Was zum Teufel ist das?“, fragte Will leise. „Sind das Federn, die dem Mann da aus der Schläfe wachsen?“

„Der ist noch harmlos“, murmelte J.J.

„Schalt auf ihre Zelle“, verlangte Charlie.

„Sie vögelt immer noch diesen Halbwahnsinnigen“, stellte J.J. fest und schaltete zu einer nackten Rothaarigen, die rittlings auf einem Mann saß, der sich anscheinend zwischen Wolf- und Menschenform nicht entscheiden konnte.

Seine Haut war stellenweise von Fell überzogen, sein Gesicht deformiert. Gerade packte er die Rothaarige an den Hüften, riss sie unter sich und begann, sie brutal zu ‚vögeln’, wie J.J. es genannt hatte. Will hatte einige Wörter dafür parat, aber ‚vögeln’ gehörte nicht dazu.

„Das muss einfach wehtun, so hart, wie er sie mit jedem Stoß in den Boden rammt“, murmelte Charlie jetzt und schüttelte sich.

„Warum genau sehe ich mir irgendeinen kranken Fetischporno an?“

„Es sind Experimente“, erklärte J.J. seufzend. „Sie haben dort unten eine riesige Reproduktionsanlage.“ Er zeigte mit dem Daumen über die Schulter zur Rothaarigen. „Und sie ist ihre oberste Zuchtstute.“

„Das ist die Anlage, in der Grace gemacht wurde?“

„Das vermuten wir zumindest“, stimmte Charlie zu und schloss die Einstellungen wieder.

„Willst du meine Theorie hören?“, fragte J.J. an Will gewandt, der zur Bestätigung nickte. „Ich befürchte, dass die Rothaarige, die wir gesehen haben, 21N – Sin – ist.“

Will kratzte sich nachdenklich den Bart, während er sich von dem Schock erholte. „Wir müssen also auf alle Fälle da hinein.“.“

„Und sei es nur, um den verdammten Laden dichtzumachen“, stimmte Charlie zu.

„Die Frage wird sein, wie wir dort reinkommen“, meinte J.J.

„Wo liegt das Problem?“

Charlie machte eine frustrierte Geste mit der Hand. „Dämonen gehört der Laden, und du kommst nur mit besonderen VIP-Backstage-Pässen da rein.“

„Wir brauchen also einen Dämon, der für unsere Seite spielt“, vervollständigte J.J. ihr Statement.

Will nickte gedankenversunken. „Ich kümmere mich darum. Bis dahin haltet Grace aus der Sache raus.“

„Sollen wir immer noch an der Liste der toten und verschwundenen Mädchen arbeiten? Den Hybriden?“

„Ja, und wenn ihr könnt, versucht rauszufinden, was mit den Mädchen passiert ist, die ‚nur’ verschwunden sind.“

Will kannte nur einen Einzigen, der Verbindungen zu Dämonen hatte, und das war Nate. Er fand ihn, zusammen mit Grace, auf der Couch im Gemeinschaftsraum vor dem Fernseher.

„Wir müssen reden“, eröffnete er ihnen ohne Umschweife und sah dabei Nate an. Ihm entging nicht, dass dieser Grace beruhigend über den Arm rieb, bevor er aufstand.

„Worüber?“

Will warf einen Blick durch den Speisesaal. Sie waren nicht allein, und er konnte sich nicht vorstellen, dass Nate es schätzen würde, hier mit ihm zu reden. Das könnte ihm egal sein, wenn er seine Kooperation nicht gerade bräuchte.

„Gehen wir zu mir, dort sind wir ungestört.“

Nates Gesicht verzog sich zu einem spöttischen Grinsen. „Ich schwinge nicht in deine Richtung, Jones. Aber danke für das Angebot.“

Er verdrehte die Augen und ging, weil er wusste, dass Nate und wahrscheinlich auch Grace ihm folgen würde.

„Was ist so wichtig?“, fragte Grace zögerlich, als sie sich in seinem Wohnzimmer versammelt hatten.

Will sah nur kurz zu ihr herüber, bevor er sich auf Nate konzentrierte. Er wollte nicht, dass ihm irgendeine seiner Reaktionen entging.

„Wir brauchen einen zuverlässigen Kontakt zu einem Dämon.“

Nate reagierte äußerlich überhaupt nicht, zuckte mit keiner Wimper. Aber das verriet Will mindestens genauso viel. Denn jemand, der nicht wusste, was man von ihm wollte, hätte zumindest mit Überraschung reagiert.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752138580
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Urban Fantasy Fantasy Liebesroman Werwölfe Gargoyles Fantasy Romance Romantasy Liebesroman Liebe

Autor

  • Dominique Heidenreich (Autor:in)

Meine Bücher, genau wie ich, haben einen Hang zu Sarkasmus und schwarzem Humor. Trotzdem: Ohne Liebe und Romantik komme ich persönlich genauso wenig aus, wie ohne Happy-End. Ich mag meine Geschichten fernab von Kitsch und tue mein Bestes meinen Protagonistinnen ein Rückgrat zu verpassen, das sie nicht beim ersten Anblick eines Mannes vergessen. Egal ob sie in dieser Welt spielen, einer fantastischen Umgebung oder auf fremden Planeten.
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Titel: Lenara: Die Blutmagie