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Halbwesen: Licht im Schatten

von Lena Muskat (Autor:in)
306 Seiten

Zusammenfassung

Die Ereignisse von Sailesta ziehen Konsequenzen nach sich. Die gewohnte Routine will sich nicht wieder einstellen. Während Alec aufgrund seiner verätzten Hand zur Untätigkeit verdammt ist, verfolgen Tyler die Geschehnisse bis in seine Träume. Noch dazu wächst der Unmut gegenüber den Supervisors. Nicht nachvollziehbare Versetzungen und Hinweise auf Experimente mit Halbwesen schüren den Verdacht, dass die mächtigen Entscheidungsträger eigene Ziele verfolgen – ohne Rücksicht auf Verluste.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Epilog

Danksagung

DIE AUTORIN

Hybrid Verlag …

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1

 

Hass.

Dieses Gefühl beherrschte ihn, kontrollierte ihn, verseuchte seinen Verstand bis in den letzten Winkel. Hass auf Alec, der vor ihm floh, anstatt zu kämpfen. Tyler riss seinen schwächlichen Partner von der Wand und schleuderte ihn durch die morsche Decke, wo er reglos auf den Latten liegen blieb. Dank seiner neuen – dämonischen – Fähigkeiten stand er nur den Bruchteil einer Sekunde später über ihm. Er vergrub seine Hand in Alecs Schopf und rammte ihn gegen das verwitterte Holz. Blut spritzte. Schwarze Haare und Hautfetzen blieben an überstehenden Nägeln wie Konfetti hängen.

Sein Freund stöhnte. Doch Tyler kannte keine Gnade. Er wollte ihn tot sehen. Ein Feigling verdiente keine andere Strafe. Von Macht erfüllt, packte er den Schwächling am Rücken, riss ihn in die Luft und schmetterte ihn mit aller Kraft zurück auf den Boden. Die morschen Latten gaben mit einem Krachen nach. Sein Partner stürzte in die Tiefe. Hinein in ein dunkles Loch, aus dem es kein Entkommen gab.

Die Szene veränderte sich. Blaue Augen, so dunkel wie der Pazifik selbst, sahen ihn jetzt aufmunternd an und gaben ihm das Gefühl, alles richtig zu machen. Anna warf sich an seine Brust. Der süße Geruch nach Honig, Pfefferminz und Bittermandel stieg ihm in die Nase. Sie hauchte Küsse auf seinen Hals, seine Mundwinkel und weiter zu seinen Lippen. Jeder Einzelne so sanft wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. Er spürte Annas ruhige Atmung, ihren warmen Körper an seinem. Schmeckte den bitteren Geschmack auf seiner Zunge, der von ihren Dämonen ausging. Tief atmend genoss er jede Berührung. Behutsam fuhr er ihre Rundungen nach, fühlte die samtene Haut unter seinen Fingern. Anna lehnte sich vor und flüsterte etwas in sein Ohr, doch er verstand ihre Sprache nicht.

Wieder wechselte das Bild. Die blonde Frau verschwand aus seinen Armen, stattdessen hielt er jetzt ein nachtschwarzes Schwert in Händen. Instinktiv kannte er seinen nächsten Schritt. Mit erhobener Klinge ging er auf seinen Mentor los, parierte einen Angriff und rammte ihm das Schwert durch die Brust. Der Stahl glitt mit schabendem Geräusch über Knochen, verfehlte aber das Herz. Ein Hauch zu weit oben. Ben fiel vor ihm auf die Knie, das Schwert noch im Oberkörper steckend, den Blick schwer atmend auf ihn geheftet. Seine braunen Augen spiegelten Mitleid und Verachtung zu gleichen Teilen. Rasselnd holte der Halbengel Luft, während sein Shirt rötlich glitzerte.

»Du bist ein Mörder, Tyler.« Bens Stimme klang träge. »Du hast uns verraten.« Elend langsam zog der Akademieleiter die Klinge aus seinem Leib. Glitzerndes Blut verteilte sich wie Lack über den Boden, als er aufstand und in seine Richtung taumelte. Erschrocken wich Tyler zurück.

»Du bist ein Verräter«, wiederholte sein Opfer. »Und Mörder.« Mit jedem Schritt schwappte mehr Blut aus der Wunde und hinterließ rote Pfützen. »Du hast mich getötet.« Er packte Tylers Hand und schob sie tief in die Stichwunde. »Und du hast Alec ermordet.«

»Nein!« Warmes Blut tropfte glitzernd zu Boden, als er die Hand aus dem Griff riss und zurück stolperte. »Ich würde euch nie etwas antun!«

Bens Blick verlor an Intensität. Roter Lebenssaft lief ihm aus Mund und Nase, sogar aus den Augen, als würde er weinen, doch es schien ihn nicht zu kümmern. Er redete einfach weiter, auch wenn seine Vorwürfe längst unverständlich waren.

Unsichtbare Hände zerrten Tyler rücklings zu Boden, wo sie ihn festnagelten. Enttäuscht blickte Ben auf ihn hinab. Neben ihm ein leichenblasser Alec. Dahinter tauchten Mike und Sophia, Sebastian und Annika auf, als hätte jemand einen Scheinwerfer über ihnen angeschaltet. Blut tropfte herab, direkt in seinen Mund, sodass er würgen musste.

»Mörder«, klagten sie ihn wie aus einem Mund an. »Verräter.«

Der Halbengel schüttelte den Kopf. »Nein! Bitte! Ich wollte das nicht.«

Eine rote Welle wuchs über ihn hinaus. Zähflüssig wie Sirup, und nach Eisen stinkend. Tyler schloss die Augen, wissend, dass er der Welle nicht entkommen konnte. Jemand schrie. Und als der Schrei anschwoll, zuckte er heftig zusammen.

In die Höhe fahrend, riss er die Augen auf und verstummte. Keuchend saß er auf dem Bett in seinem Zimmer. Schweiß kühlte sein Gesicht, das T-Shirt klebte an seiner Brust, genau wie die dunklen Haare an Stirn und Nacken. Tyler brauchte einen Moment, um Abstand von seinem Albtraum zu gewinnen. Die Erinnerungen krallten sich in sein Gedächtnis, als besäßen sie Widerhaken und ließen die Bilder nur langsam verblassen. Der Gedanke, dass er in der Akademie lag, in Sicherheit und als vollständiger Halbengel, half ihm, die Distanz zu seinen Träumen zu vergrößern.

Zitternd schlug er die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Vor dem Fenster herrschte die Nacht. Kein gutes Zeichen. Automatisch griff er nach seinem Handy und aktivierte den Bildschirm. Das Display zeigte 4:23 Uhr.

In dem Wissen, dass ihn nichts Besseres erwartete, wenn er wieder die Augen schloss, stand er auf, warf ein paar lockere Klamotten über und marschierte aus dem Zimmer. Sofort stieg ihm ein inzwischen vertrauter Geruch in die Nase. Der kalte Luftzug verriet ihm, wo er suchen musste. Die Hände in den Hosentaschen vergraben, wandte er sich nach links und folgte dem dunklen Flur bis ans Ende. Die Tür des dort angebauten Balkons stand sperrangelweit offen. Blauer Zigarettendunst drang ins Gebäude. Hinter der Nebelwand stand eine dunkle Gestalt, die Hände auf der Balustrade abgestützt, den Blick in den Garten gerichtet.

Tyler seufzte innerlich, bevor er nach draußen trat.

»Wenn du keine Lust hast, dich nochmal gegen Mikes Vorwurf wehren zu müssen, du würdest im Gebäude rauchen, dann musst du die Balkontür schließen«, raunte er leise und zog die gläserne Tür hinter sich zu. »Der ganze Flur stinkt.«

Alec antwortete nicht. Demonstrativ nahm er einen weiteren Zug, inhalierte den Rauch tief in die Lunge, bevor er langsam ausatmete.

Mit dem Rücken ans Geländer gelehnt, musterte der müde Halbengel seinen Partner verstohlen. Die tief ins Gesicht gezogene Kapuze seines Hoodies, verstärkte die dunklen Ringe unter den Augen. Auch die Wangenknochen traten spitz hervor. Jeder Atemzug zeichnete kleine Wolken in die Aprilnacht. Und obwohl die Temperaturen um den Nullpunkt lagen, verzichtete der Halbdämon auf Schuhe, geschweige denn auf Socken.

»Es ist halb fünf. Warum bist du wach?«

Statt gleich zu antworten, legte Alec die Zigarette erneut an die Lippen, während die rechte Hand in der Fronttasche seines Hoodies ruhte. Tyler versuchte, nicht zu genau hinzuschauen und schluckte seine Gewissensbisse runter. Erst nach zwei weiteren Zügen ließ sich Alec zu einer Aussage hinreißen. »Wir besitzen einen überdurchschnittlichen Hörsinn. Was glaubst du wohl?«

Scham zwang Tyler für einen kurzen Moment die Augen zu schließen. Jede Nacht verfolgten ihn Albträume. Immer die selben Bilder. Immer wachte er schreiend auf. Tees, die Mike für ihn besorgt hatte und eigentlich schlaffördernd wirken sollten, halfen nicht. Gleiches galt für Schlaftabletten. Seinen Träumen konnte er nicht entfliehen. Dass ihre Zimmer direkt nebeneinander lagen, machte es nicht besser.

»Jetzt hast du die Chance.« Er nickte in Richtung Gebäude. »Ich bleib sowieso wach.«

Erfolglos versuchte sein Partner, ein Gähnen zu unterdrücken. »Ich hätte übrigens einen neuen Vorschlag für dich.« Die Worte brachte er so undeutlich hervor, dass Tyler mehr raten musste, was er von ihm wollte.

»Ist der besser als der letzte? Im Keller zu schlafen ist nämlich keine Option.«

Alec zuckte unbekümmert mit den Schultern. »Ich versteh dein Problem nicht. Vielleicht ein bisschen kalt, ja, aber deutlich besser schallgeschützt.« Seine Stimme klang monoton, genervt und müde zugleich. Er sah ihn nicht einmal an. »Nein, viel angenehmer.« Es folgte eine weitere Zwangspause für einen Zug an der Zigarette. »Kipp mal ’ne halbe Flasche Whiskey. Dann schläft es sich besser.«

»Ach, nur eine halbe Flasche?«

»Du bist nichts gewöhnt.« Der Halbdämon drückte den braunen Stummel auf der Balustrade aus und schnipste ihn in den Garten. »Wenn du nicht die ganze Nacht kotzen willst, fang mit ’ner Halben an.«

Damit wandte er sich ab und ließ ihn stehen. Tyler erhaschte einen Blick in dessen Züge und hoffte, ein angedeutetes Lächeln oder Augenzwinkern zu entdecken. In den halb geschlossenen Augen und den fest aufeinander gepressten Lippen erkannte er lediglich müde Klarheit statt Hinweise auf einen Scherz. Mit hängenden Schultern, die Hände in der Tasche des Hoodies vergraben, schlug Alec den Weg zu seinem Zimmer ein. Die Balkontür ließ er auch diesmal offen.

Tyler atmete geräuschvoll aus. Wenn es doch nur so einfach wäre. Sich maßlos betrinken, bis die Umwelt zum Karussell mutierte, Schwindel die Oberhand gewann und die negativen Gefühle und Erinnerungen an Wert verloren. Doch Alkohol wahrte nur den Schein und log einem eine falsche Welt vor. Vergessen hielt er für den falschen Weg. Alles, was in den letzten Wochen geschehen war, die Ereignisse von Sailesta, der blutige Kampf gegen seine Freunde und Annas Einfluss auf ihn, durfte nicht in Vergessenheit geraten. Wie immer legte die Vergangenheit den Grundstein für die Zukunft.

Ich frag mich, was die noch für uns bereit hält.

 

🗡

 

»Wo ist Alec?« Bens Frage galt Tyler.

Gleichzeitig zu dem angedeuteten Schulterzucken, hob dieser beide Augenbrauen. »Schätze oben.«

Selten hatte der jüngere Halbengel seinen Mentor und ersten Leiter der Akademie so angespannt erlebt, wie in den letzten Wochen. Auch jetzt schwang ein genervter, fast verärgerter Ton in seiner Stimme mit. Die kritische Furche zwischen seinen Augen begleitete ihn seit jeher. Ein ehrliches Lachen vermisste er schon seit Tagen.

»Du hast ihm gesagt, dass wir uns um zehn treffen, richtig?« Diesmal richtete Ben die Frage an Mike.

Dieser hielt mitten in der Bewegung inne, die Kaffeetasse nur wenige Zentimeter von seinen Lippen entfernt. »Ja, hab ich.« Der Halbdämon nahm einen kräftigen Schluck, den Blick unverwandt auf sein Gegenüber gerichtet. »Gib ihm noch fünf Minuten. Du weißt doch, wie er ist.«

Die Antwort schien Ben noch weniger zufriedenzustellen. Genervt verdrehte er die Augen.

Tyler warf Mike einen fragenden Blick zu, der ihn jedoch nicht erwiderte. Stattdessen sah er stumm in den Kaffee zwischen seinen Händen. Anspannung lag in der Luft des Esszimmers. Egal, in welches Gesicht er sah, überall zeichneten sich Nervosität, Ungeduld und Ärger ab. Sophia drehte unentwegt eine ihrer dunklen Locken um den Finger, während ihre Augen glasig wirkten. Sebastian und Annika, das sekundäre Team der Akademie, gingen die letzten Begegnungen mit den Dämonen durch, verbreiteten dabei aber einen seltsam erschöpften Eindruck. Seit Sailesta hatten sie ausnahmslos jeden Einsatz übernommen, um dem primären Team die Zeit zu geben, die sie brauchten, um wieder einsatzklar zu werden.

»Soll ich ihn holen?« Jakes bernsteinfarbene Augen funkelten vor Ehrfurcht. Der jüngere Halbengel eiferte Alec nach und nahm sich, zum Leidwesen der anderen, zu oft ein Beispiel an ihm. Besonders jetzt in der Pubertät entdeckten sie immer öfter Charakterzüge des streitlustigen Halbdämons in ihm.

Tyler holte bereits Luft für eine Antwort, als Jenna ihren Bruder am Arm festhielt. »Das ist nicht deine Aufgabe.« Die brünette Fünfzehnjährige ließ von ihm ab und stützte gelangweilt den Kopf in eine Hand.

Die Einzige, die die Vollversammlung der Akademie scheinbar kalt ließ, war die zwölfjährige Lilly. Sie verwickelte Daniel, das neueste Mitglied der Akademie, in eine angeregte Diskussion über Dantes Inferno und die neun Kreise der Hölle. Harte Kost für ein so junges Mädchen. Aber die hochintelligente Halbdämonin traf man nur selten ohne ein Buch in ihrer Hand an. Nahezu täglich saß sie in der Bibliothek und erweiterte ihr Wissensspektrum. In Daniel, der seit neuestem den Unterricht für die drei Jüngsten abhielt, fand sie einen würdigen Gesprächspartner.

Gerade als Ben erneut auf die Uhr sah und etwas Unverständliches murrte, betrat auch Alec das Esszimmer. Anders als vor einigen Stunden, trug er diesmal Schuhe. Die Rechte wie gewohnt in der Tasche des Pullovers vergraben, versetzte er der Tür einen Schubs.

»Hast du dein Handy verloren?«, fragte der erste Akademieleiter.

Statt etwas zu erwidern, nahm der Halbdämon zu seiner Linken Platz und zog das Handy aus der Hosentasche. Demonstrativ hielt er es auf Augenhöhe. »Nicht, dass ich wüsste.«

Ben sah ihn noch einen Moment aus schmalen Augen an, verzichtete aber auf eine Zurechtweisung. »Nun, da der Herr es auch einrichten konnte, muss ich euch über ein paar Neuigkeiten informieren.« Die Gespräche der anderen verstummten bei der anschwellenden Lautstärke. Erwartungsvoll wandten sich die zehn Mitglieder der Akademie ihrem Leiter zu. Tyler spürte sein Herz um ein paar Schläge beschleunigen. Irgendetwas an der Spannung in den Muskeln seines einstigen Mentors verriet ihm, dass es keine guten Neuigkeiten waren. Nervös drückte er den Rücken weiter durch.

»Die Ereignisse von Sailesta von vor zwei Wochen haben Konsequenzen für uns. Die Supervisor sind der Meinung, dass die Akademie dort wieder aufgebaut werden muss. Da wir hier in der Leitungsposition zu dritt sind, wird Sophia abgezogen und beauftragt, den neuen Standort von Sailesta einzurichten und zu betreuen.«

»Was?« Hilfesuchend schaute Jenna zu dem einzigen anderen weiblichen Halbengel. Sophia reagierte nicht auf die Nachricht, stattdessen umklammerte sie den Henkel ihrer Tasse. Die Information erhielt sie vermutlich nicht zum ersten Mal. »Du gehst weg?«

Schnell sprach Ben weiter. »Die Supervisor verlangen dort außerdem ein Team, das die anfallenden Übergriffe der Dämonen unterbindet und bekämpft.«

Tyler sah zurück zu seinem Mentor. Unfreiwillig öffnete er den Mund vor Entsetzen, als eine Ahnung in seinem Kopf Gestalt annahm.

»Deshalb werden Annika und Sebastian ebenfalls nach Sailesta versetzt.«

Auch die Zwei hörten das offensichtlich nicht zum ersten Mal. Wortlos akzeptierte das sekundäre Team die Nachricht. Während Annika den Blick starr auf ihren Schoß gerichtet hielt, zog Sebastian die Augenbrauen enger zusammen und kaute auf seiner Lippe herum.

»Was soll das?« Abwechselnd sah Jake zwischen Sophia und Ben hin und her. »Das können sie doch nicht einfach bestimmen.«

»Sie können und sie haben bereits entschieden.« Die nüchterne Klarheit in Bens Worten verriet die Sinnlosigkeit eines Widerspruchs. »Die Drei werden noch heute abreisen

Diesmal regte sich der halbe Tisch. Einsprüche kamen von allen Seiten über die Ungerechtigkeit dieser Entscheidung, selbst Alec verkündete einen lauten Fluch und hieß die Supervisor alles Mögliche.

Sofia hob abwehrend die Hände, und es kehrte wieder etwas Ruhe ein. »Es bringt nichts, darüber zu diskutieren. Die Entscheidung ist längst gefallen.« Das gezwungene Lächeln trat nur widerwillig in ihre Züge. »Seht es als eine Art Beförderung für mich.«

»Beförderung?«, spottete Alec neben Tyler und lehnte sich nach vorne. »Das ist eine Strafe.« Sein Kopf flog zu Ben. »Sie hat nichts getan, um das zu verdienen. Du kannst das nicht einfach so zulassen.«

»Du überschätzt meinen Einfluss, Alec.« Der Leiter faltete die Finger ineinander. »Wir müssen uns fügen.«

»Tss, solche Arschlöcher!«

»Aber was ist mit den Dämonen hier?« Abwertend wedelte Daniel vom anderen Ende der Tafel mit der Hand. »Wer bekämpft die, wenn Annika und Sebastian in Sailesta sind?«

»Na, Tyler und ich.« Mit festem Blick fixierte Alec den blonden Halbdämon. Die Abneigung über seine Frage schwappte förmlich über den Tisch und schien fast greifbar.

»Meinst du, das geht schon wieder?« Überrascht sah Tyler ihn an. »Du hast gesagt –«

»Klar geht das.« Ihre Blicken trafen aufeinander. In den Augen des aufgebrachten Halbdämons waberte ein träges Meer aus Quecksilber. Und der Tonfall seiner Äußerung machte klar, dass er keine Diskussion duldete. Tyler beschloss, es für den Moment dabei zu belassen und nicht weiter in ihn vorzudringen. Um ehrlich zu sein, freute er sich sogar darauf, wieder einmal auf Dämonenjagd gehen zu können. So lange untätig rumzusitzen, zehrte auch an seinen Nerven und stellte ihn auf eine härtere Geduldsprobe als erwartet.

Ben räusperte sich und wartete kurz, bis ihn alle ansahen. »Die Supervisor haben eine andere Lösung. Sie haben uns einen Halbengel von außerhalb zugeteilt.«

»Ohne Partner?« Unwillig schüttelte Lilly den Kopf, so dass ihre langen Haare von einer auf die andere Seite schwangen. »Dann bringt das ja nichts. Die Halbengel sind hier sowieso schon in der Überzahl.«

»Ich werde mit ihm kämpfen.«

Alle schauten zu Mike. Dieser hielt den Kopf leicht schräg und lächelte schwach. Zumindest verzog er die unverbrannte Seite wenige Millimeter nach oben. Doch das Lächeln erreichte seine Augen nicht. Er wirkte eher wie jemand, der seine Niederlage akzeptiert hatte.

»Was heißt, du wirst mit ihm kämpfen?« Tyler sah zu Ben und zog die Augenbrauen hoch. »Was ist mit …?« Er traute sich nicht, seine Frage auszusprechen.

Der ältere Halbengel atmete langsam ein. Als er sprach, ruhte sein Blick auf seinem langjährigen Partner. »Mike ist nicht länger zweiter Leiter der Akademie. Er wurde von seinem Amt enthoben und erhält einen neuen Partner, mit dem er auf Außeneinsätze muss.«

Stille Fassungslosigkeit zeichnete sich auf den Gesichtern rundum ab, nur um im nächsten Moment von lautem Ärger abgelöst zu werden. Jake warf aufgebracht die Arme in die Luft. »Sind die bescheuert?«

»Das können sie nicht machen!« Seine Schwester protestierte nur halbherzig, dennoch zeigte alles an ihrer Haltung Ablehnung.

Auch Sebastian schüttelte verärgert den Kopf. »Reicht es nicht, dass wir gehen?«

Die Supervisor erhielten ein Dutzend neuer Namen, einer beleidigender als der andere. Ein Fluch nach dem anderen fegte lautstark über den Tisch. Ben hob abwehrend die Hände und versuchte, die aufgebrachte Menge zu beruhigen, doch auch Tyler musste seiner Wut Luft machen und blockte die Worte des Akademieleiters ab. »Was haben wir getan, dass sie uns so auseinander nehmen?«

»Ihr habt überhaupt nichts getan.« Wie immer die Ruhe in Person, strahlten Mikes Worte auch diesmal Sachlichkeit und Vernunft aus. Tyler merkte jedes Mal aufs Neue, wie sehr er diese Eigenschaft an dem elegant gekleideten Halbdämon schätzte. Beschwichtigend hallte seine unaufdringliche, aber dennoch Autorität gebietende Stimme durch den Raum. »Beruhigt euch, dann kann ich es erklären. Alec, Jake, setzt euch wieder hin.«

Mit grimmigem Blick gab ersterer seine Stellung auf, ließ sich zurück auf den Stuhl fallen und zog sein Feuerzeug hervor, das er kontinuierlich durch die Finger der linken Hand knetete. Jake tat es ihm gleich.

»Ich bin selbst schuld«, gestand Mike schließlich ein und zupfte seine graue Weste zurecht. »Ich habe mit dem Blut der Halbdämonen experimentiert und damit wissentlich gegen das Gesetz verstoßen. Den Supervisor blieb keine andere Wahl, als mich zu degradieren.«

»Aber das hast du doch nur getan, um mich zu retten.« Daniel presste die Lippen fest aufeinander. Die Kiefermuskeln traten deutlich hervor. »Weil ich mich von Anna hab überrumpeln lassen.«

»Du brauchst dir nicht die Schuld dafür zu geben. Es war meine Entscheidung.« Mike sah in die Runde. »Ach, und bevor der Rest auch noch damit anfängt: Keiner von euch ist Schuld an dieser Situation, verstanden?« Ein ausgestreckter Zeigefinger deutete auf seinen einstigen Schützling. »Nicht du, weil du Daniel mitnehmen wolltest.« Der Finger wanderte weiter zu Tyler. »Und auch nicht du, weil Anna dich beeinflusst hat.«

Leicht gesagt.

Gerade deswegen nagte ein unnachgiebiges Gefühl der Schuld an ihm. Wie konnte es auch anders sein. Seine Schwäche gegenüber Anna und ihren Dämonen hatte diese Lawine an Katastrophen ausgelöst.

»Wir werden Sophia, soweit es uns möglich ist, weiterhin unterstützen.« Ben sah sie nacheinander an. »Und auch den neuen Halbengel willkommen heißen und ihm keine Steine in den Weg legen.«

Wie schwer seinem Mentor die eigenen Worte fallen mussten. Tyler wollte sich nicht einmal vorstellen, wie es wäre, mit jemand anderem als dem rauchenden, temperamentvollen Halbdämon an seiner Seite gegen die Dämonen anzutreten. Fünfzehn Jahre kämpften Ben und Mike bereits zusammen und leiteten die Akademie seit mindestens acht. Dass jetzt beides nicht mehr zählte, musste ein sehr harter Schlag für beide sein.

»Dann noch etwas zu Daniel.«

»Wie viele schlechte Nachrichten hast du noch?«, brachte Alec zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und klang angriffslustig. Aus dem Augenwinkel bemerkte Tyler, wie sein Freund das Feuerzeug so fest in der Hand eingeschlossen hielt, dass die Knöchel weiß hervor traten. Er kaute auf etwas Unsichtbarem herum, das Gesicht eine einzige verkrampfte Maske. Ein ihm wohlbekanntes Verhaltensmuster.

Der Akademieleiter warf ihm einen Seitenblick zu, überlegt ganz offensichtlich, ob er etwas dazu sagen wollte, doch Mike kam ihm zuvor.

»Bring deine Dämonen unter Kontrolle, Alec.« Die großflächige Brandnarbe verstärkte den funkelnden Ausdruck in seinen unebenen Zügen. In den braunen Augen lag keinerlei Verständnis und Ruhe mehr, sondern bitterer Ernst. »Das ist der falsche Moment, zu genau hinzuhören.«

Alle Blicke galten Alec. Laut schnaubend blähte er die Nasenlöcher. Für einen kurzen Moment spannte er alle Muskeln an. Automatisch reagierte Tyler auf die winzige Veränderung seines Partners und stellte die Füße fest auf den Boden. Doch auch diesmal behielt sein bester Freund die Oberhand. Beleidigt verschränkte er die Arme vor der Brust und knallte mit dem Rücken gegen die Lehne. In einer anderen Situation hätte Tyler laut losgelacht, denn er sah aus wie ein bockiges Kind. Fehlte nur noch die vorgeschobene Unterlippe. Doch er wusste genau, dass Alec im Moment seine ganze Konzentration aufbringen musste, die verlockenden Stimmen in seinem Kopf zum Schweigen zu bringen.

»Was ist mit Daniel?« Lilly lenkte das Interesse mit ihrer Frage zurück zum eigentlichen Thema. Die junge Halbdämonin wirkte nicht so selbstbewusst wie sonst. Unruhig wanderten ihre Augen zwischen den drei Ältesten hin und her.

»Daniel darf an unserer Akademie bleiben, wird aber nicht als vollständiges Halbwesen anerkannt«, löste Ben die Anspannung auf.

»Was heißt das?«, warf Jenna ein.

»Das heißt, dass er beispielsweise keinen Kampfpartner erhalten wird und nicht freigegeben ist für die Dämonenjagd.« Ben zwang sich zu einem Lächeln. »Aber er darf euch weiterhin unterrichten, solange er die Vorgaben des Unterrichtsplans einhält.« Sein Blick ruhte nun auf dem Barkeeper. »Dazu kommt leider, dass er nicht auf die Gehaltsliste gesetzt wurde. Mike und ich haben bereits besprochen, auf einen Teil unseres Geldes zu verzichten, damit du ein Einkommen besitzt. Jetzt, wo du deine Bar aufgegeben hast.«

Der blonde Mann öffnete kopfschüttelnd den Mund, aber Ben hob abwehrend eine Hand. »Keine Widerrede. Wir sind dir sehr dankbar für alles, was du getan hast. Wenn die Supervisor dich schon nicht als vollständiges Halbwesen anerkennen, dann tun wir das. Und da gehört nun mal ein Entgelt dazu.«

Verblüfft sah Daniel die zwei Männer vom anderen Ende der Tafel aus an. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

Mike schenkte ihm ein Lächeln. »Machen wir gerne.«

»Das war’s?« Alecs raue Stimme ließ das aufkeimende positive Gefühl in ihm versickern, als hätte jemand den Stöpsel gezogen. Er stand auf und stützte eine Hand auf die Tischplatte. »Daniel darf bleiben und schon ist alles gut?« Mit der Rechten, über der er einen schwarzen Lederhandschuh trug, deutete er auf Sophia. »Die drei werden regelrecht nach Sailesta verbannt und es ist in Ordnung für euch? Die Supervisor bestrafen die Falschen und reißen diese Akademie auseinander.« Seine Hand wanderte weiter zu ihrem sekundären Team. »Was ist, wenn sie dort nicht zurecht kommen? Wenn Annika und Sebastian Hilfe brauchen? Es gibt kein Backup-Team.«

»Alec –«

Aggressiv schüttelte sein Freund die Hand von seinem Arm und fuhr zu ihm herum. »Was ist?« Das silberne Meer seiner Iris tobte, während die breite Ader am Hals wild auf und ab hüpfte. »Siehst du das etwa anders?«

»Ich finde, du solltest mehr Rücksicht nehmen.« Tyler nickte auf die andere Seite des Tisches. Annika hielt den Kopf gesenkt und versuchte, mit ihren langen dunklen Haaren das Gesicht zu verdecken. Ihr Kinn kräuselte sich ungewollt. Eine glitzernde Träne tropfte in ihren Schoß. Sebastian tastete nach der Hand seiner Partnerin, während Sophia der Tischplatte äußerst viel Aufmerksamkeit schenkte.

Alec sah in die Runde und schloss den Mund. Seine Schultern bebten in Rage. Mit einem unverständlichen Ausruf, der an ein wütendes Brüllen erinnerte, stapfte er um seinen Stuhl herum, riss die Tür auf und schmetterte sie hinter sich mit brachialer Wucht ins Schloss.

Niemand am Tisch machte Anstalten, ihm zu folgen. Eine gespenstische Stille lag über den Raum, lediglich unterbrochen von einem verhaltenen Schniefen von Annika.

»Arschloch«, ergriff Sebastian das Wort und exte sein Glas Wasser, bevor noch weitere Beleidigungen über seine Lippen sprudelten.

Leider konnte Tyler ihm in diesem Punkt nur zustimmen, sprach es aber nicht auch noch laut aus.

Sophia seufzte laut und lächelte gezwungen. »Passt mir bloß auf diesen Idioten auf.« Sie legte den Kopf in den Nacken und betupfte den unteren Wimpernkranz, damit ihr dezentes Make-up nicht verwischte.

»Aber klar.« Mike zog ein seidenes Taschentuch aus der Innentasche seiner Weste und reichte es ihr. »Der kriegt sich schon wieder ein, wie immer.«

Diesmal konnte sie nicht verhindern, dass weitere Tränen den Eyeliner auf die Probe stellten und einen Weg Richtung Erde suchten. Auch Tyler spürte einen unangenehmen Kloß auf seine Kehle drücken. Unvorstellbar, wie das Leben hier ohne die gute Seele dieser Akademie funktionieren sollte. Sie war wie eine große Schwester für ihn und er wusste genau, dass Alec ähnlich empfand. Was auch seinen heftigen Wutausbruch erklärte.

»Okay.« Sophia schob ihren Stuhl zurück und sah ihre zwei Begleiter an. »Wir sollten aufbrechen. Je eher wir dort ankommen, desto besser.«

»Warte, ihr geht sofort?« Jenna sprang auf. »Könnt ihr nicht … erst morgen fahren?« Ihre Stimme zitterte unüberhörbar. Auch ihre Augen glänzten.

»Müsst ihr nicht noch packen?« Jake sah die Drei abwechselnd an.

»Wir wissen das schon seit gestern und haben alles vorbereitet.« Sebastian sah zum Fenster. »Die Autos stehen gepackt draußen.«

»Dann wollen wir euch nicht länger aufhalten«, unterband der Akademieleiter weitere Versuche, sie vom Gehen abzuhalten.

Auch Tyler hätte gerne mehr Zeit mit Sophia und den anderen gehabt, doch vermutlich war es für die Drei am leichtesten, den Abschied nicht noch länger hinaus zu zögern. Der Reihe nach umarmten die Halbwesen einander, wünschten jedem viel Glück und forderten sich gegenseitig auf, vorsichtig zu sein. Als seine große Schwester ihn in eine enge Umarmung zog, spürte er ihren warmen Atem am Ohr.

»Lasst euch nicht durch das Erlebte auseinanderbringen.« Sie flüsterte so leise, dass wirklich nur er sie hören konnte. »Habt Geduld miteinander und lasst die Wunden heilen.«

Tyler legte die Arme um ihren Oberkörper und drückte sie noch ein Stück fester an sich. Genoss den vertrauten Geruch nach Passionsfrucht und Rose von ihrem Shampoo und versuchte, den Moment mit allen Sinnen abzuspeichern. Er wusste, dass sie nicht nur die körperlichen Wunden meinte.

»Zweifel nicht an Alec«, hauchte sie zitternd und er konnte hören, wie schwer es ihr fiel, gegen ihre Emotionen anzukämpfen. »Gemeinsam seid ihr so viel stärker.« Damit löste die neue Akademieleiterin von Sailesta die Umarmung auf, küsste ihn sanft auf die Stirn und wandte sich mit feuchten Wangen ab.


2

 

Mit weniger Vorsicht als notwendig balancierte Alec das Kunai durch die Finger seiner linken Hand. Flink aber gezielt, schob er es von einem zum Nächsten, nutzte den Ring am Ende des Schafts, um das kleine Messer zu kontrollieren, als die Klinge plötzlich ins Rutschen geriet. Automatisch griff er zu, spürte, wie das scharfe Metall in die Haut ritzte, und ließ sie reflexartig fallen. Scheppernd traf das Kunai auf den Hallenboden.

Seufzend legte der Halbdämon den Kopf zurück. In Daumen und Mittelfinger spürte er ein leichtes Brennen.

Seit Wochen trainierte er und versuchte krampfhaft, seine Feinmotorik zu verbessern. Vielleicht etwas zu verbissen. Seine Ungeduld bezahlte er mit hunderten feiner Schnitte an der Linken. Nichts im Vergleich zu seiner Rechten, die er seit Sailesta kaum noch benutzte. Nicht, weil er es nicht wollte, doch ihm fehlte nahezu jegliches Gefühl darin. Etwas zu greifen und festzuhalten, versuchte er schon gar nicht mehr.

Frustriert wischte Alec die Finger an seinem T-Shirt ab. Gleichzeitig trat er mit der Schuhspitze auf die Klinge, kickte mit dem anderen Fuß dagegen, sodass die Waffe wie ein kleiner Propeller in Richtung Zielscheibe flog. Doch sie gewann keinen Auftrieb und klatschte einen halben Meter unterhalb der Ringe gegen die Wand.

»Das war ja erbärmlich.« Mit einem frechen Grinsen im Gesicht betrat sein Partner die Halle, passend gekleidet fürs Training. Wie immer auf die Minute genau.

Alec hob eine Augenbraue und warf ihm ein zweites Kunai vor die Füße. »Mach’s besser.«

»Na schön.«

Der Halbengel trat wie er zuvor auf die Spitze des Messers, dessen Ende dadurch wenige Zentimeter vom Hallenboden abhob, und kickte dagegen. Weniger schlingernd als seines, traf es den untersten Ring der Zielscheibe. Aber auch dieses Kunai blieb nicht stecken, sondern fiel zu Boden.

»Und du nennst meinen Versuch erbärmlich.«

Tyler legte den Kopf schief. »Also, so war das jetzt nicht geplant.«

Amüsiert schnaubend begann Alec die Messer vom Boden aufzusammeln. »Immerhin hat der Dämon jetzt blaue Flecken an den Schienbeinen.«

»Sofern er Schienbeine besitzt«, gab sein Freund mit einem erhobenen Finger zu bedenken.

Beim Aufrichten sprang ihm etwas ins Auge. Misstrauisch deutete der Halbdämon auf seine Hüfte. »Wieso hast du Isza nicht zum Training mitgebracht?«

»Weil ich schon viel zu lange keine andere Waffe mehr in den Händen hatte.« Tyler fuhr sich durch die haselnussbraunen Haare und sah ihn flüchtig an. »Du kämpfst mit einer neuen Klinge, warum ich nicht auch? In Übung bleiben

Skeptisch tauschte Alec die Kunai gegen ein kurzgehaltenes Katana. Die Alternativwaffe, seit dem Verlust der Dolche in der anderen Dimension. Im Gegensatz zu ihm, war Mister Korrekt hier, nicht auf eine andere Klinge angewiesen. Allein der schäbige Versuch dieser Ausrede, in Übung bleiben zu wollen, stärkte ihn mit Trotz. »Wenn du meinst.« Ohne auf seinen Freund zu warten, ging er zum Angriff über.

»Hey!« Tyler sprang hektisch zur Seite, wich der herannahenden Klinge aus, gleichzeitig riss er das Kurzschwert hoch. Die Vibration, als die zwei Waffen aufeinander trafen, wanderte unangenehm bis in seine Schulter. Alec drängte ihn rückwärts. Einen Schlag nach dem anderen musste sein Partner abwehren. Der Halbdämon nutzte seine Geschwindigkeit, wirbelte herum, zielte auf Arme und Beine und ließ ein ganzes Feuerwerk an Angriffen explodieren. Doch sein bester Freund parierte jeden Angriff mit Bravour, holte selbst zum Gegenschlag aus und gewann allmählich die Oberhand. Nach nicht einmal drei Minuten fand sich der Halbdämon in der Defensive wieder.

Verdammt. Nicht jetzt schon.

Dieser kurze Gedanke reichte aus, um seine Konzentration zu stören. Tyler schlug von innen gegen das Katana, drehte sich ein und stand nun mit dem Rücken zu ihm. Alec spürte die Spitze des Kurzschwertes an seiner Flanke und erstarrte mitten in der Bewegung.

»Eins, null.«

Das triumphierende Lächeln in Tylers Worten entfachte neuen Ehrgeiz in ihm. »Ja, ja, nicht labern. Weiter.«

Die nächste Stunde schaffte es Alec kein einziges Mal, seinen Partner zu entwaffnen oder zu besiegen. Wie so oft seit neuestem. Beim achtzehnten Versuch gewannen statt ihm selbst seine Dämonenstimmen an Lautstärke. Frust und Ärger nährten sie und ließ die mühsam errichtete Wand in seinen Gedanken wie spröder Mörtel bröckeln. Statt sich zu wehren, nutzte er das Geschenk des Energieschubs. Mit einer Reihe schnell aufeinanderfolgender Hiebe drängte er Tyler zurück. Hastig riss der das Kurzschwert hoch und verzog in der nächsten Sekunde das Gesicht zu einer schmerzverzerrten Grimasse. Klirrend fiel die Klinge zu Boden.

Endlich.

Siegessicher senkte er das Katana ein Stück, als Tylers Faust plötzlich auf sein Gesicht zuhielt. Überrascht zuckte er zurück. Sein Partner setzte ihm nach, hob im Vorwärtsgehen das Schwert vom Boden auf und zielte auf Alecs schwächere, rechte Seite. Noch in der Rückwärtsbewegung geriet er ins Straucheln und riss reflexartig die taube Hand hoch, um sein Gleichgewicht wieder zu finden. Genau in den Weg, den die Klinge nehmen würde.

»Alec!«

Heiß brannte die dämonische Energie einen Weg durch seinen Körper, verlieh ihm die Kraft, die er brauchte. Ein rettender Sprung nach hinten, den kein normaler Mensch bewerkstelligen konnte, bewahrte ihn vor größerem Schaden. Keuchend stand er in fünf Metern Abstand zu seinem Partner. »Wieso zielst du ausgerechnet auf meine rechte Seite?« Schweiß tropfte von seiner Stirn, lief an den Schläfen entlang und verklebte sein Shirt mit der Haut. »Willst du so dringend gewinnen?«

Unbeeindruckt von dem Vorwurf deutete Mister Korrekt mit dem Schwert auf seine verbundene Hand. »Nein, du sollst lernen, deine schwache Seite zu verteidigen.«

»Und das soll ich lernen, indem du mir fast den Arm abhackst?«

»Dir den Arm abhacken?« Kopfschüttelnd steckte Tyler das Schwert zurück in die Scheide. »Auch ein Dämon wird deinen Schwachpunkt erkennen und seinen Angriff danach ausrichten.« Offenbar wartete der Halbengel auf eine Reaktion, doch Alec presste nur die Kiefer aufeinander und schwieg. War es wirklich so offensichtlich? »Mal davon abgesehen, hättest du mir zuerst die Finger abgehackt.«

Der Halbdämon linste in Richtung Tylers Finger, die er langsam beugte und wieder streckte. Ein roter Strich zog sich quer über alle vier Mittelglieder der Führhand. »Du hättest dein Schwert einfach liegen lassen und deine Niederlage akzeptieren sollen.«

»Erwartest du das auch von den Dämonen?« Schnaubend löste sein Partner das Schwert von der Hüfte und rutschte an der Wand zu Boden. »Ich brauch ’ne Pause.«

Unbewusst rieb der Halbengel über eine Stelle in der Mitte des Brustkorbes. Genau dort war Isza in ihn eingedrungen. Da ihm die Verletzung keine Probleme bereitete, musste er keine Rücksicht auf ihn nehmen und hatte den Umstand ausgenutzt, dass Mike nicht länger Akademieleiter war, und sich direkt nach der Versammlung bei Ben wieder fit für den Einsatz gemeldet.

»Hast du was von Sophia gehört?« Alec versuchte, auf ein anderes Thema zu kommen. Er musste den Frust über den verlorenen Kampf abschütteln und die Stimmen zurück hinter die Mauer in seinem Kopf drängen.

Tyler nickte und hielt ihm seine Wasserflasche hin. »Ich habe mit Sebastian telefoniert. Seit sie angekommen sind, bannen sie mindestens einmal am Tag einen Dämon. Außerdem haben sie schon zwei neue Halbwesen aufgenommen.«

»Innerhalb von nur drei Tagen?« Der Halbdämon setzte sich neben ihn auf den Boden und nahm die Flasche entgegen. Nur in der Ellenbeuge eingeklemmt, gelang es ihm, den Verschluss zu lösen. Was gäbe er für zwei gesunde Hände. Den musternden Blick seines Partners ignorierte er. »Etwas ungewöhnlich, oder nicht?«

»Ja, aber am seltsamsten finde ich, dass es erwachsene Menschen sind.«

»Du meinst, so wie wir?«

Tyler lächelte schwach. »Ob du erwachsen bist? Kommt ganz darauf an, wen du fragst.«

»Gut, dass ich nicht frage.« Alecs Mundwinkel zuckten und lenkten ihn weiterhin von dem aufkommenden Ziehen in seiner Hand ab. »Wie erwachsen sind sie denn nun?«

Sein Partner zwickte sich in den Nasenrücken und kniff die Augen zusammen. »Ich glaube zweiunddreißig und der andere neunundzwanzig. Beides Halbdämonen.«

Alec hielt mitten in der Bewegung inne, die Flasche nur wenige Zentimeter von seinen spröden Lippen entfernt. Eher selten berührten Engel oder Dämonen einen Erwachsenen. Sie waren entweder psychisch so instabil, dass die Dämonen sie als Nahrungsquelle aussuchten oder so stabil, dass sie den Höllenkreaturen keinerlei Angriffsfläche boten. Noch seltener berührten Engel einen Erwachsenen. Dazu kam, dass diese Menschen sich meist ein geregeltes Leben aufgebaut hatten und nun von vorne beginnen mussten. Ein Jugendlicher konnte viel schneller und leichter an das veränderte Leben anknüpfen. Nur wenige, so spät berührte Menschen, nutzten den Neuanfang als Halbwesen.

»Das ist wirklich seltsam.« Alec zog das kühle Wasser mit großen Schlucken in sich hinein und spülte endgültig den Ärger seine Kehle hinab. Die Dämonenstimmen verhallten zu einem schwachen Rauschen, das er gut ignorieren konnte. »Bin mal gespannt, was die Supervisor dazu sagen. Fängt ja nicht gerade gut an.«

Nicht die Berührung von zwei Erwachsenen war das Problem, sondern zwei neue Halbwesen in so kurzer Zeit. Es offenbarte das hohe dämonische Potenzial in Sailesta, das dringend eingedämmt werden musste. Ob Annika und Sebastian das allerdings so schnell gelang, blieb fraglich.

Sein Partner holte Luft, um etwas zu sagen, kam aber nicht mehr dazu. Im selben Moment öffnete jemand die Tür zur Trainingshalle. Ein hochgewachsener Mann mit blonden Haaren, in Jeans und Lederjacke gekleidet, suchte den Raum ab. Erst als er sie an der Wand entdeckte, hellte sich seine Miene auf.

»Na, ihr Faulpelze?«, rief Daniel zur Begrüßung und kam mit langen Schritten auf sie zu. »Alec, ich hab was für dich. Hier, fang.«

Etwas Silbernes flog in hohem Bogen auf sie zu. Hastig ließ er die Flasche in seinen Schoß fallen und riss die linke Hand hoch, ehe das Flugobjekt auf die Wand traf. Seine Autoschlüssel.

»Dein Wagen steht draußen vor der Tür, ist vollgetankt und fährt sich übrigens wunderbar.« Ein breites Grinsen untermalte die Schwärmerei für den Sportwagen. »Die haben tolle Arbeit geleistet.«

»Will ich auch meinen bei dem Preis, den sie für den Umbau auf Automatik verlangen.« Das Lächeln steckte an. Schneller, als Alec es verhindern konnte, zog es ihm die Mundwinkel auseinander. »Klingt, als ob du Spaß gehabt hättest.«

Der weder als Mensch, noch als richtiges Halbwesen anerkannte Mann zuckte lediglich mit den Schultern. »Naja, wann kann ich schon mal dreihundertsiebzig Pferde ausführen?«

»Es sind dreihundertneunzig.«

Allein bei der Nennung der Zahl atmete der Autophobiker neben ihm unruhig durch und kratzte nervös über die Naht der Schwertscheide.

»Und übrigens, wer ist hier eigentlich faul?« Alec erlaubte seinem neuen Freund, ihn auf die Beine zu ziehen. »Während du in der Weltgeschichte rumgefahren bist, haben wir trainiert.«

»Das könnt ihr später noch.« Das Grinsen des ehemaligen Barkeepers verflog. »Ben will, dass ihr den neuen Halbengel kennenlernt.«

Mit einem verhaltenen Seufzer kam Tyler ebenfalls auf die Beine. »Und, wie ist er so?«

Daniel strich ein paar verirrte blonde Strähnen über die Stirn zurück nach hinten. »Naja, wie soll ich es sagen?« Die dunkelgrünen Augen sahen abwechselnd zwischen den beiden Partnern hin und her. »Mike musste losfahren und ihn in der Stadt abholen. Angeblich hatte er die Adresse vergessen.«

Der Typ schien selten dämlich zu sein. Nur wer den genauen Standort der Akademie kannte, konnte sie auch finden.

»Am besten, ihr macht euch selbst ein Bild«, sagte Daniel und winkte ab. »Kommt mit.«

»Jetzt gleich? Was ist mit einer Dusche? Und ’ner Kippe?«

Seinen halbherzigen Protest ignorierten beide Halbwesen gekonnt. Stattdessen führte sie der neu erstarkte Halbdämon in den Gemeinschaftsraum.

Wieso hat das keine zehn Minuten Zeit?

Noch immer mit seinen mürrischen Gedanken beschäftigt, kollidierte Alec plötzlich mit dem nassgeschwitzten Rücken seines Partners, der auf der Türschwelle verharrte, als hätte er darauf Wurzeln geschlagen. Mit den passenden Worten schon auf der Zunge, wollte er ihn gerade anfahren, als er Bens gereizte Stimme vernahm. » … unsere Entscheidung und die sollte von niemandem angezweifelt werden.«

Alec ließ den Arm, mit dem er Mister Korrekt boxen wollte, in eine neutrale Haltung sinken. Verwundert trat er neben ihn. Als erstes entdeckte er Mike, der ihnen gegenüber im Sessel saß. Die Beine übereinandergeschlagen, trommelte er mit den Fingern auf die Armlehne, die andere Hand lag über seinen Lippen. Sie erhielten ein kurzes Nicken zur Begrüßung, bevor er seine Aufmerksamkeit zurück auf das Gespräch lenkte. Alec folgte seinem Blick. Als einziges, angespanntes Nervenbündel stand Ben mitten im Raum. Er hielt die Arme vor der Brust verschränkt. Das Hemd spannte über Schulter und Rücken. Die Kiefer presste er fest aufeinander. Mit den Augenbrauen tief ins Gesicht gezogen, schaute er auf einen jungen, deutlich kleineren Mann herab.

Alec schätzte ihn in etwa auf Daniels Alter. Das an den Seiten kurz rasierte, hellbraune Haar, erinnerte an einen Straßenköter. Nur nicht so zottelig. Aus passenden, erdbraunen Augen hielt er dem Akademieleiter unbeeindruckt stand. Für Ungewöhnlich befand er das Outfit des Neuen, denn er trug einen schwarzen Anzug mit diagonal gestreifter Krawatte. Über dem Rand des weißen Hemdkragens entdeckte er die schattierten Überreste eines Tattoos und in seiner Hand ein Breitschwert, sicher verpackt in einer ledernen Hülle.

Ohne ihn überhaupt näher kennen gelernt zu haben, fand Alec ihn spontan unsympathisch. Seine Haltung. Die ganze Art und Weise, wie er dem Akademieleiter gegenüber auftrat. Mit diesem frechen, fast arroganten Ausdruck in den Augen.

»Ich zweifle eure Entscheidung nicht an. Nicht so, wie die Supervisor«, meldete sich der Neuzugang mit ungewöhnlich hoher Stimme zu Wort. »Aber ihr müsst doch zugeben, es war riskant.«

»Natürlich.« Mike löste die Hand vom Kinn. »Das bestreitet ja auch niemand.«

Bevor er weiter reden konnte, kam Daniel ihm zuvor. »Ich lebe ja noch.« Er deutete ein Kopfschütteln an. »Ich kann nicht glauben, dass ihr immer noch darüber diskutiert. Ich fühl mich schon wie die immer wiederkehrende Schlagzeile.«

Niemand wollte darauf antworten. Stattdessen musterten sie einander stumm. Daniels Einfluss beeindruckte Alec. Sogar auf ihn reichte dieser, denn er schwieg, obwohl ihm schon etwas auf der Zunge lag. Selbst Tyler setzte an, etwas zu erwidern, sagte aber nichts. Vermutlich war die Situation aus der Sicht des ehemaligen Baarkepers tatsächlich nicht mehr der Rede wert, doch jeder wusste, dass Mikes Entscheidung weitreichende Folgen für die Welt der Halbwesen mit sich brachte. Eine Halbseite wieder neu zu erwecken, stellte ein Novum dar. Was das für die Zukunft bedeutete, vor allem für ebenfalls vom Verlust ihrer Halbseite betroffene Menschen, ließ sich kaum absehen.

»Jaxon, darf ich vorstellen«, durchbrach der degradierte Akademieleiter schließlich die angespannte Stille und deutete in ihre Richtung. »Das hier sind Alec Crae und Tyler Kennarhall.«

Mit einem freundlichen Lächeln kam Jaxon auf sie zu, die Hand zur Begrüßung ausgestreckt. Natürlich schüttelte Mister Korrekt sie der Höflichkeit willen.

»Freut mich euch kennen zu lernen.« Der Neue wandte sich jetzt an ihn. »Ich hab schon viel von euch gehört.«

»Tatsächlich?« Alec zog eine Augenbraue hoch und ignorierte die Begrüßung. »Was hört man denn so über uns?«

Wenig gekränkt ließ Jaxon die Hand sinken. Sein Blick ruhte auf Tyler. »Na, inzwischen hat wohl jeder von dem Halbwesen gehört, das von einem Erzengel berührt wurde.« Die erdfarbenen Augen trafen nun in seine, die Stimme einen Tick dunkler als noch zuvor. »Und von seinem Partner, der sich auf seine Dämonenseite einlässt und keine Regeln kennt.«

Neben ihm klappte Tylers Unterkiefer nach unten. Vage nahm Alec Ben im Hintergrund wahr, der fassungslos den Kopf schüttelte und Mike, dessen Blick er nur zu deutlich spürte, als könnte er ihn dadurch vor einer Dummheit bewahren.

Als ob.

»Wow. Was bist du denn für ein Arschloch?«

»Alec«, mahnte Mike wie aufs Stichwort, doch er zuckte nur mit den Schultern und reckte das Kinn höher.

»Was denn? Er sagt selbst, ich halte mich nicht an Regeln, warum also die der Höflichkeit beachten?«

»Ich wollte nicht unhöflich sein.« Jaxon setzte eine Unschuldsmiene auf, die er ihm aber nicht abkaufte.

»Das hättest du dir vielleicht vorher überlegen müssen.« Aus der Stimme seines Partners hörte er dieselbe Missachtung sprechen, die auch er empfand.

»Okay.« Daniel klatschte in die Hände. »Bevor ihr euch die Köpfe einschlagt, mach ich mich aus dem Staub. Ich bin im Unterricht. Wenn jemand blutet, könnt ihr mich ja wieder holen.« Mit einem angedeuteten Kopfschütteln zum Abschied, tat er das einzige, das Alec im Moment auch wollte. Sich dieser Situation entziehen.

»Unterricht?« Mit einem fragenden Blick schaute Jaxon den Akademieleiter an.

»Für unsere drei Jüngsten.«

Keiner ließ den Neuankömmling aus den Augen. Mit wachsamem Blick beobachteten sie jede kleinste Regung seiner Mimik und Gestik, musterten ihn von oben bis unten.

»Wie viele Halbwesen leben denn in dieser Akademie?«, fragte der Anzugträger weiter.

»Mit dir eingeschlossen, jetzt neun.«

»Und wie viele einsatzfähige Teams?«

»Zwei.«

Sofort schüttelte Jaxon den Kopf. »Das sind zu wenig.«

Mit knirschenden Zähnen schob sich Tyler an dem Neuling vorbei, verzichtete aber auf eine Aussage. Anders als Alec. »Bis vor kurzem waren wir auch noch elf und hatten drei Teams.« Im Vorbeigehen rempelte er den Halbengel an, so dass der ungeschickt zur Seite stolperte. »Aber wie du mitbekommen hast, ist uns da eben was dazwischen gekommen.« Pure Verachtung flutete den Raum, als er neben seinem Partner auf die Armlehne des Sessels sank. Leise flüsternd, so dass die Übrigen es trotz ihrer feinen Sinne unmöglich verstehen konnten, lehnte er sich zu ihm hinab. »Ich muss hier raus. Mal schauen, ob uns ein Dämon hilft.«

Er sah noch, wie Tyler die Augen aufriss, ehe er seine eigenen schloss und tief in sein Inneres hörte. Der Halbdämon wusste, dass es ihm nicht gefallen würde, aber er musste einfach hier raus. Weg von dem Geschwätz des Neuen, fliehen vor der Situation, vor der Veränderung. Und er wusste, dass sein bester Freund dankbar mitgehen würde.

Alec lenkte seine Konzentration auf das summende Rauschen in seinem Kopf. Hörte genauer hin. Akzeptierte die Schreie der Opfer und erlaubte dem vielstimmigen Zischen und Kreischen an Lautstärke zu gewinnen. Aus den undefinierbaren Geräuschen wuchsen Laute. Worte. Mehrfach hörte er seinen Namen. Eine weibliche Stimme rief in seinen Gedanken nach ihm, doch er war erfahren genug, die Stimme zu ignorieren, die ihn verleiten wollte, die falsche Macht der Dämonen anzunehmen. Sich daran zu stärken und ihnen die Kontrolle zu überlassen. In all dem Durcheinander aus Worten, Stöhnen und Fauchen hörte er endlich genau das, was er brauchte. Ein Saarka-Dämon, der johlend seinen Plan verkündete.

»Alec?«

Eine Berührung am Oberschenkel holte ihn aus dem Stimmengewirr. Der Halbdämon riss die Augen auf und löste die verkrampften Züge. Es konnte keine Minute vergangen sein, die Stimmung hatte kaum an Spannung verloren. Seinen Partner ignorierend sprang er auf.

»Ein Saarka. In Kentan.« Ben, Mike und der neue Halbengel sahen ihn verwundert an. »Tyler und ich gehen. Gibst du uns den Auftrag?«

Bewusst hielt er den Blick fest auf den Akademieleiter gerichtet und gestattete keinen Ausflug in Mikes Richtung. Dennoch spürte er dessen wortlose Anklage.

»Woher weißt du das?« Jaxon musterte ihn so durchdringend, als kenne er sein Geheimnis schon.

Alec hoffte, die Antwort auf einen anderen Tag verschieben zu können. »Können wir gehen?«

Ben sah zu seinem ehemaligen Partner. »Mike, checkst du bitte die Karte?«

Schweigend stand dieser auf, einen letzten Blick auf seinen ehemaligen Schützling, der weiterhin versuchte, ihn zu ignorieren, und verließ den Gemeinschaftsraum.

»Eine Dämonenkarte?«, hakte Jaxon nach. »Ich dachte, es obliegt dem Leiter, sie zu analysieren.«

Geduldig legte Ben die Fingerspitzen aneinander. »Mike ist zwar offiziell als Akademieleiter nicht mehr tätig, aber er nimmt seine Aufgaben hier weiterhin wahr.«

Erneut trat dieser missbilligende, arrogante Ausdruck in Jaxons Augen. Mit der Stirn in Falten gezogen, legte er den Kopf leicht schräg. »Das ist glaube ich nicht im Sinne der Super–«

»Eine Dämonenkarte analysieren kann jeder.« Genervt verschränkte Alec die Arme vor der Brust. »Wie du gemerkt hast, sind wir eine recht kleine Akademie. Hier teilen wir uns die Aufgaben. Besser, du gewöhnst dich gleich daran.«

Jaxon wich seinem durchdringenden Blick aus und brachte keine weiteren Einwände hervor.

»Wie groß war die Akademie, aus der du kommst?« Jeder, der Tyler besser kannte, bemerkte den angespannten Ton in seiner höflichen Frage.

»Wir hatten neun einsatzfähige Teams, mit insgesamt fünfundzwanzig Mitgliedern.«

Die Verblüffung stand allen ins Gesicht geschrieben. Es gab kaum Akademien mit einer derart guten Besetzung. Das musste tatsächlich eine Umstellung für Jaxon sein. Zum ersten Mal konnte sich Alec in den Neuen hineinversetzen, was er nur für einen Sekundenbruchteil duldete. Vermutlich anders als in seiner alten Akademie, herrschte hier ein familiäres Klima. Bis vor anderthalb Jahren hatten sie die meisten minderjährigen Halbwesen auf dem Kontinent beherbergt. Innerhalb von nur zwei Wochen waren Jenna mit Jake und schließlich auch Lilly zu ihnen gestoßen. Sebastian und Annika waren zu diesem Zeitpunkt ebenfalls noch nicht volljährig gewesen. Die Division achtete bei der Verteilung oft auf ein familiäres Verhältnis, das helfen sollte, die jungen, oft traumatisierten Kinder in ihrer Jugend zu unterstützen und zu erziehen.

»Alec hat Recht«, bestätigte Mike, als er kurz darauf zurück in den Raum trat. »Ein Saarka.«

Ben nickte den beiden zu. »Ihr habt den Auftrag.«

Hinter ihm kam Tyler auf die Füße und marschierte an ihm vorbei. »Ich brauch noch fünf Minuten.«

Gerade, als er seinem Partner folgen wollte, trat ihm sein ehemaliger Mentor in den Weg, einen kleinen Zettel in der Hand. Die Adresse. Hastig griff er mit der Linken danach, doch der vernarbte Mann gab weder das Papier, noch den Weg frei, sondern zwang ihn, den Blick zu erwidern.

Alec kannte ihn lang genug, um zu wissen, was ihn erwartete. Dennoch traf ihn die unausgesprochene Anklage härter als vermutet. Ein unangenehmer Druck meldete sich aus seinem Magen. Die Dämonenstimmen schwollen an, wie eine herannahende Welle. Nur mit Mühe unterdrückte er ein Zucken.

Mike hielt die Lippen zu einer dünnen Linie gepresst, die Augen verengt, die Stirn von tiefen Sorgenfalten durchzogen. Die verbrannte Haut auf seiner rechten Wange ließ ihn noch grimmiger erscheinen. Mit Wut und Ärger hätte der Halbdämon gut umgehen können. Es akzeptieren. Doch aus der braunen Iris seines Mentors funkelte Enttäuschung. Was aber noch viel schlimmer war: Verrat.

Ohne den Blick von ihm abzuwenden, ließ Mike endlich das kleine Stück Papier los und Alec machte, dass er aus dem Raum kam. Außer Reichweite von der Wahrheit, die ihm wortlos hinterher hallte und vor der er alle Sinne verschloss.


3

 

Allmählich verblassten die pochenden Schmerzen in Alecs Handfläche. Die vor der Abfahrt eingeworfene Tablette entfaltete endlich ihre volle Wirkung. Zwar verursachte die als Nebenwirkung eine hartnäckige Übelkeit und sein Kopf fühlte sich irgendwie schwammig an. Aber das nahm er gerne in Kauf, wenn er dafür eine Zeit lang keine Schmerzen ertragen musste. Und diese Zeit brauchte er auch. Tyler zuliebe fuhr er langsamer als gewohnt, dadurch würde er wohl eine halbe Stunde bis nach Kentan brauchen. Es lag am äußersten Rand ihres ursprünglichen Einsatzgebietes. Die Grenzen verschwammen durch die massive Unterbesetzung ineinander. Aus irgendeinem Grund liefen Bens bisherige Anfragen nach Unterstützung ins Leere.

Und wenn sie nochmal so einen Idioten wie Jaxon schicken, dann will ich lieber keine Hilfe.

Der Halbdämon lenkte seine Konzentration zurück auf die Straße, überholte zwei Fahrzeuge, bevor er den Wagen wieder in den Verkehr einreihte. Der Umbau fiel nur an wenigen Stellen auf. Anstelle des Schalthebels lagen nun ihre Waffen in der Mittelkonsole. Der Hebel für die Automatikschaltung war am Lenkrad angebracht, hinter einer Schaltwippe. Beides konnte er problemlos mit Links bedienen. Auch sein Fahrstil blieb unverändert, da er schon immer einhändig gefahren war. Reine Bequemlichkeit.

»Die da vorne müsste es sein«, durchbrach Alec die Stille und deutete auf eine Bankfiliale, mitten im Ort der Fünftausend-Seelen-Gemeinde.

Er erhielt keine Antwort. Ein Seitenblick genügte, um zu erkennen, wie unwohl sich Tyler fühlte. Soweit wie möglich im Beifahrersitz versunken, erwürgte er mit der einen Hand Isza, die andere umklammerte den Türgriff so fest, dass die Finger blutleer wirkten. Den Blick hielt er starr auf seine Füße gerichtet. Alec wusste, dass er seine Atmung in einen entspannten Rhythmus zwang, um die Panik nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. Immerhin regnete es heute nicht. Nasse Straßen verstärkten seine Phobie in der Regel.

Mit einer fließenden Bewegung parkte er den Wagen am Straßenrand. Mit dem neuen Schwert in der Hand folgte er seinem bereits ausgestiegenen Partner. Sofort kitzelte die Aura des Saarka seine Sinne und bestätigte ihren Einsatz. Ein Kribbeln, irgendwo in seinem Hinterkopf, bescherte ihm einen eisigen Schauer. Auch das Flüstern der Dämonenstimmen gewann an Lautstärke.

Alec klickte das Katana in die Ösen des Gurtes auf seinem Rücken ein. Anschließend zog er die blauschimmernde Klinge, mit deren Macht er sich, genau wie der Halbengel neben ihm, vor den Blicken der Menschen schützte. Innerlich grinsend atmete er tief ein. Es tat so gut, endlich wieder ein Stück Normalität zu erleben. Eine Waffe in der Hand, ein Dämon in der Nähe. Was wollte man mehr?

Gemeinsam betraten sie die Bank genau in dem Moment, als ein älterer Mann mit Hut die Filiale verließ. Immerhin mussten sie keinen Gedanken daran verschwenden, wie sie als unsichtbare Halbwesen die Automatikglastüre überlisten sollten.

In der lichtdurchfluteten Aula herrschte Stille, obwohl drei Kunden darauf warteten, an die Reihe zu kommen. Die beiden Bankangestellten sprachen an den Schaltern mit zwei anderen Frauen. Einer zahlte gerade eine hohe Summe Bargeld aus und zählte der Kundin vor, ein dickes Bündel noch in der Hand.

»Wo ist er?«, hauchte Tyler ihm zu.

Statt zu antworten schüttelte Alec den Kopf. Er spürte ihn, aber die Aura erfüllte den gesamten Raum und ließ sich daher nur schwer lokalisieren. Allein die Richtung genauer zu benennen, fiel ihm schwer. Auf jeden Schritt bedacht, umrundete er die Wartenden, um ihnen ins Gesicht sehen zu können. Weder die Frau mit dem noblen Hosenanzug, noch der Mann mit dem Aktenkoffer und dem nervösen Blick zeigten Anzeichen für die Anwesenheit eines Dämons.

Es ist doch nicht etwa der Junge?

Noch bevor er dem Heranwachsenden in die Augen sehen konnte, gewann ein Klicken seine Aufmerksamkeit. Ein simples Geräusch, das seinen Körper in den Kampfmodus versetzte. Mit rasendem Herzen fuhr er zu dem Geräusch herum.

Mitten im Eingang stand der ältere Mann mit Hut, der nur Sekunden zuvor die Filiale verlassen hatte. Die graue Hautfarbe ähnelte der seiner Haarspitzen, die Skleren schimmerten weinrot. Für mehr Analysearbeit blieb ihm keine Zeit. Der Senior richtete den Revolver geradewegs in seine Richtung, als könnte er ihn sehen und drückte den Abzug bereits nach hinten. Ein gefährliches Lächeln umspielte die gelben Zähne des Mannes.

Der Halbdämon zögerte nicht, stieß den Teenager zur Seite, hetzte weiter zu dem Kofferträger und schubste ihn ebenfalls aus der Schusslinie.

Etwas Heißes explodierte irgendwo in Alecs rechter Schulter. Fast gleichzeitig holte der Schall ihn ein. Instinktiv duckte er sich, versuchte den Schmerz, der bis in seinen Nacken vordrang, nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. Schreie füllten den Raum. So laut, dass sie selbst das Dröhnen in seinen Ohren und die Stimmen in seinem Kopf übertönten. Ein weiteres Geräusch, schleifendes Metall, ließ ihn aufschauen.

Die weißschimmernde Klinge seines Partners blitzte kurz auf, bevor er sie quer durch die Brust des Rentners schlug. Der Saarka fiel nach hinten durch die Tür, ohne, dass die sich öffnete oder zu Bruch ging, und landete auf dem Gehweg. Alec biss die Zähne zusammen, drückte die Knie durch und setzte dem Dämon nach. Das Wesen glich einer Mischung aus Krokodil und Anakonda, allerdings mit sechs Spinnenbeinen und einer schuppigen Haut, die so orange wie der Sonnenuntergang glänzte.

Wie in den letzten Wochen unzählige Male geübt, schwang der Halbdämon die neue Waffe über den Kopf und ließ sie auf den Saarka herab sausen. Der riesige Schädel zuckte nach vorne, nutzte seine offene Kampfhaltung und attackierte ihn mit weit aufgerissenem Maul, bereit, eine Reihe gelber Zähne in seinem Arm zu versenken. Sofort brach Alec den Angriff ab, wirbelte herum, als eines der sechs Beine gegen sein Knie donnerte und ihn ins Taumeln brachte. Automatisch stützte er die freie Hand auf dem vorbeischießenden Kopf des Dämons ab, um sein Gleichgewicht zurück zu gewinnen.

Ein reißender Schmerz lähmte seinen kompletten Arm. Kraftlos gab der rechte Ellbogen nach. Unfähig, seine Balance zu halten, fiel er mit seinem ganzen Gewicht auf die Höllenkreatur. Die Wunden in seiner Handfläche rissen auf. Tränen verschleierten die Sicht. Unter ihm bäumte sich der Dämon auf und bockte ihn wie ein Mustang herunter. Über die Schulter abrollend, kam der Halbdämon sofort wieder auf die Beine. Zähneknirschend nahm er die unbrauchbare Hand auf den Rücken, um der Gewohnheit zu widerstehen, stürzte vor, täuschte einen Schlag auf die linke Seite des Saarka an, bevor er die Klinge drehte und geradewegs zuschlug. Das Katana glitt durch Haut und Fleisch und blieb in der Mitte des Torsos stecken. Augenblicklich begann es zu pulsieren, zog die Kraft in den Stahl hinein, wie ein gefräßiges Krokodil. Fauchend schrumpfte der Dämon, biss um sich, schlug mit den vielen Beinen in jede Richtung aus, bevor er endgültig seine Struktur verlor und in sich zusammen fiel. Die Klinge saugte ihn aus und hinterließ nichts von ihm und seiner Aura.

Vor Anstrengung und Schmerz keuchend, rührte sich Alec keinen Zentimeter von der Stelle. Es schien, als lähmte das Ziehen und Brennen seinen gesamten Körper. Er wollte nur sitzen. Halt finden. Jetzt. Und wenn es sein musste, direkt hier auf der Straße.

Gerade, als er sein Vorhaben in die Tat umsetzen wollte, griff ihm jemand unter den linken Arm und zog ihn davon. »Komm mit«, raunte Tyler. »Setz dich ins Auto.«

Am liebsten hätte er ihn gefragt, ob er seit neuestem seine Gedanken lesen konnte, doch er ließ ihn einfach machen. Übelkeit wühlte durch seine Eingeweide und er fürchtete, wenn er auch nur ein Wort sagte, könnte er für nichts garantieren. Mühsam steckte er das Katana zurück auf den Rücken und entriegelte den Wagen, gleichzeitig entfernte ihm sein Partner die Schwerthülle. Zittrig vom abflauenden Adrenalinspiegel rutschte er auf den Fahrersitz. Tyler schloss seine Tür und saß kaum eine Sekunde später neben ihm.

»Ist es ein Durchschuss?« Der Halbengel wartete keine Antwort auf die sachliche Frage ab, sondern riss an seiner Jacke herum. Er streifte sie über die Schulter und zerrte an dem T-Shirt. Reißender Stoff. Kurz darauf ein erleichtertes Seufzen. »Du verdammter Glückspilz. Nur ein Streifschuss über dem Schlüsselbein.«

»Ich Glücklicher.«

Seinen Sarkasmus ignorierend, fingerte sein Partner weiter an der Wunde herum. Durch den Rückspiegel erhaschte Alec einen Blick darauf. Ein länglicher Krater zog sich über den Knochen nach oben und verlor dort an Tiefe. Die Ränder wirkten verbrannt und geschwollen, doch immerhin blutete die Wunde kaum. Lediglich ein dünnes Rinnsal trat am unteren Ende aus und verschwand irgendwo zwischen den Tattoos unter seinem T-Shirt.

Ein spitzer Schrei hallte durch Alecs Gedanken. Die Stimmen in seinem Kopf hatten nicht wie sonst nach einem Kampf an Lautstärke verloren. Ungewollt lauschte er den Dämonen, während er das Brennen in Schulter und Hand stumm ertrug. Zwischen dem Stöhnen der Opfer drangen auch klar verständliche Worte an sein Ohr.

Wir brauchen das Kind. Wenn wir weiter warten -

Ein Donnergrollen übertönte die Stimme, gefolgt von noch lauterem Gelächter, das so schrill klang, dass er unwillkürlich zusammenzuckte.

»Tut mir leid.« Die Stimme seines besten Freundes, der offenbar glaubte, er sei vor Schmerz zusammengezuckt, half ihm zurück ins Hier und Jetzt. Unsanft schüttelte Alec ihn ab und startete den Motor.

»Was –?«

»Wir müssen hier weg. Die Polizei wird jeden Moment hier auftauchen und den ganzen Bereich absperren.«

»Kannst du überhaupt fahren?«

»Willst du etwa?«, blaffte der Halbdämon zurück. Keine Antwort. »Die rechte Seite war auch vorher schon kaputt, es macht also keinen Unterschied.« Ob es wirklich keinen machte, konnte er nicht mit Sicherheit sagen. Schwindelattacken plagten ihn und verstärkten die Übelkeit, die die elektrisierenden Schmerzen in seiner Hand bereits verursachten. Eine feuchte Wärme durchzog den Handschuh. Die Dämonenstimmen in seinem Kopf drängten heftiger, flüsterten ihm Anweisungen zu, boten ihm ihre Stärke an, mit immer verlockenderen Angeboten. Sie sprachen von der endlosen Macht, die sie in ihm entfesseln konnten und mit der er wie ein Gott unter seinesgleichen herrschen könnte. In der Hoffnung, Ablenkung von den Stimmen zu finden, suchte er nach einem unverfänglichen Gesprächsthema, kaum dass er auf die Schnellstraße auffuhr. »Ich habe mich noch gar nicht bedankt.«

»Wofür?«

»Na, viel hat nicht gefehlt und der Typ hätte mich glatt erschossen.«

Tyler drückte die flache Hand gegen sein Ohr. »Ich hasse Schusswaffen. Selbst wir sind zu langsam, um den Kugeln auszuweichen. Außerdem riskierst du jedes Mal einen Hörschaden.« Er warf ihm einen flüchtigen Blick von der Seite zu. »Klingen dir auch so die Ohren wie mir?«

»Ja.« Aber nicht wegen des Schusses, sondern wegen der Rufe der Dämonen und der Schreie ihrer Opfer. Sein Selbsthass erleichterte ihnen zusätzlich den Eintritt zu seinem Geist und so langsam musste er aufpassen, dass er ihnen nicht die Kontrolle überließ. Doch der seit Wochen anhaltende Kampf zehrte an seinen Kräften, die mit jeder weiteren Minute abnahmen.

Als die Akademie nach knapp zwanzig Minuten in Sicht kam, brauchte Alec nicht nach unten sehen, um zu wissen, dass seine Jeans bis auf die Haut mit Blut durchtränkt war. Genau an der Stelle, an der seine Hand lag. Spätestens jetzt konnte er Mister Korrekt nichts mehr vormachen. Kaum aus dem Auto gestiegen, hörte er den Halbengel scharf einatmen.

»Alec, deine Hand!«

»Ich weiß.« Unbeirrt betrat der Halbdämon die Akademie.

»Was ist passiert?«

»Hast du es nicht gesehen?«

»Nein, ich war mit dem Täter beschäftigt.«

Deshalb hat er mir also noch keinen Vortrag gehalten.

»Sag mir endlich, was passiert ist?«

»Unwichtig.«

»Du tropfst.«

»Ist mir egal!«

Es dauerte einen Moment, bis Alec realisierte, dass sein Partner stehen geblieben war. Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte er, einfach weiter zu laufen, ihn zu ignorieren und stehen zu lassen, so wie schon hunderte Male zuvor. Aber Tyler konnte nichts für diese Situation. Der Halbdämon besann sich eines Besseren.

»Was ist los?« Voller Unverständnis schüttelte sein Freund den Kopf, als sie einander wieder ansahen. »Wieso reagierst du so aggressiv?«

Ihm taten bereits die Zähne weh, so fest presste Alec die Kiefer aufeinander. Wut und Frust konnte er kaum noch unterdrücken und die Mauer aus Selbstbeherrschung bekam tiefe Risse. »Es war alles umsonst«, sagte er so leise, dass es einem Flüstern gleich kam. »Alles.«

»Was meinst du?« Sein Partner verkürzte den Abstand zwischen ihnen.

Alec hob die blutgetränkte Rechte auf Augenhöhe. »Seit Wochen kann ich nichts mit dieser Hand anfangen. Wenn sie nicht wehtut, ist sie gefühllos. Ich habe nichts angefasst, was die Wundheilung beeinträchtigt hätte. Aber die ganzen Schmerzen waren umsonst. Alles schonen, alles noch so gut darauf aufpassen, für’n Arsch!« Seine Stimme übertönte inzwischen die Dämonen in seinem Kopf. »Ich habe einmal das Gleichgewicht verloren. Und das Ergebnis ist das hier.« Mehrere ölige Blutstropfen landeten vor Tylers Füßen, als er die Hand höher riss. »Ich bin es so leid! Wie lang soll das noch so weiter gehen? Damit bin ich wertlos im Kampf!«

Schweiß rann ihm über die Schläfen. Die nagenden Schmerzen seiner verätzten Rechten wanderten bis in die Schulter. Sie zogen in Kopf und Brustkorb, erschwerten ihm das Atmen und Denken. Die Stimmen rückten wieder in den Vordergrund. Unerklärliche Wut pulsierte schlagartig durch seine Adern. Jede negative Erfahrung der letzten Wochen, jeder winzige Fehltritt der anderen, tauchte vor seinem inneren Auge auf und schürten die unnatürlichen Gefühle wie ein loderndes Feuer.

Er ist ein Schwächling. Außerdem hat er dich und Ben fast getötet, deine Familie und Freunde in Lebensgefahr gebracht und –

Nein! Das ist nicht wahr! Alec fasste sich an die Stirn. Die Dämonen verantworteten seinen heftigen Stimmungswechsel und er hatte alle Mühe, ihnen standzuhalten. Noch mehr setzte ihm die Tatsache zu, dass er falsch lag. Anders als behauptet, schien er nicht in der Lage zu sein, weitere Einsätze zu bewältigen. Und diese Wahrheit verursachte weitaus heftigere Schmerzen als seine Verletzungen.

»Alec?« Tyler schaute ihn mit einer Mischung aus Mitleid und Resignation an. Suchend blickte er ihm in die Augen. »Deine –«

»Ich will es nicht hören!« Als sein Partner noch einmal den Mund öffnete, ließ er ihn endgültig stehen.

»Alec …«

»Halt dich fern von mir!«

Noch einmal rief der Halbengel seinen Namen, doch er hielt nicht mehr an. Er wollte nur noch weg von ihm. Tyler sollte es nicht hören. Die Dämonen standen kurz davor, den Kampf zu gewinnen und was sie ihn zwangen zu sagen, könnte erheblichen Schaden anrichten. Ohne genauen Plan lief er die Treppe hoch, weiter in Richtung Trainingshalle. Den Ort, an dem er Mike vermutete, der sich auf seinen neuen Kampfpartner einstellen musste.

Du bist nicht stark genug, hallte eine lachende Dämonenstimme durch seinen Kopf. Du bist der wahre Schwächling, du dreckiger Lügner.

Alec biss in seine Wange. Die Dämonen hatten recht. So wie alle. Er konnte nicht kämpfen. Seine Hand war völlig nutzlos. Er war nutzlos.

»Mike?« Die migräneähnlichen Kopfschmerzen trübten sein Blickfeld. Alles wirkte verschwommen.

»Er ist nicht –« Daniel hielt mitten im Satz inne. Von den Stimmen gefoltert, glaubte er zu erkennen, dass der Blonde ein Schwert in der Hand hielt, bevor schrilles Gelächter ihn zwang, die Augen zu schließen.

»Alec?« Der Halbdämon spürte eine Berührung am Oberarm. »Was ist passiert? Du blutest.«

»Wo ist Mike?« Seine Stimme zitterte unüberhörbar. »Ich brauche ihn.«

»Jake, geh und hol Mike. Er müsste im Büro sein.« Jemand rannte aus der Halle. »Ihr zwei holt Verbandsmaterial von der Krankenstation.« Zwei weitere Paar Schuhe eilten davon.

Jetzt geh endlich auf unser Angebot ein, forderten die Dämonen in seinem Kopf, doch nichts lag ihm ferner. Niemals wieder durfte er ihnen die Kontrolle überlassen. Verbissen presste er die Kiefer aufeinander. Komm schon, Junge …

»Setz dich.« Sanft drückte Daniel ihn auf den Hallenboden. Der Halbdämon ließ ihn einfach machen. »Wie kann ich dir helfen? Was kann ich tun?«

Na los, leih dir unsere Macht, zischte es in seinem Kopf. Du musst nur Ja sagen und all deine Schmerzen sind weg.

Alec schüttelte den Kopf. Die Stimmen zerrten an seinen letzten Kräften. Nur noch wenige Versuche …

Daniel umfasste seine Oberarme. »Alec, was ist mit Tyler? Wo ist er?«

»Unten. Es geht ihm gut.«

»Soll ich ihn holen?«

Ja, dann können wir ihn in Stücke reißen!

»Nein«, brachte er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor und öffnete die Augen für einen kurzen Moment. Der einstige Barkeeper wirkte bleich, seine grünen Augen, die seinem besten Freund so ähnlich sahen, huschten unruhig hin und her und musterten ihn. Das grelle Licht der Neonröhren verstärkte das Hämmern in seinem Kopf, so dass er den Blick stattdessen auf den blutigen Handschuh richtete. »Ich verlier die Kontrolle. Ich kann fast nicht mehr.«

Daniel begriff sofort. »Du weißt, dass du sie nicht brauchst. Lös dich von den negativen Gedanken. Das ist genau das, was sie wollen. Hilf ihnen nicht dabei. Zeig ihnen, dass du stärker bist.«

Bist du wirklich stärker?

Mühsam versuchte er, Daniels Worte in die Tat umzusetzen, rief sich Tyler ins Gedächtnis, sah, wie sie gemeinsam trainierten, miteinander lachten und die Dämonen zurückschlugen. Doch immer wieder blitzten die grausamen Wünsche der Dämonen nach Blut und Leid auf, die jeden Augenblick drohten, zu seinen zu werden.

»Alec?« Eine andere vertraute Stimme veranlasste ihn, den Blick zu heben.

Obwohl er spätestens jetzt mit einer Zurechtweisung rechnete, löste der Anblick der erhabenen Narbe seines Mentors eine Welle der Erleichterung aus. Statt Ärger über seine eigenmächtige Entscheidung, überwog Sorge in den Zügen des älteren Halbdämons, der vor ihm kniete und fest in die Augen sah, als suchte er darin nach den typischen Anzeichen.

»Mike, ich kann nicht mehr.«

»Er sagt, er verliert die Kontrolle«, ergänzte Daniel.

Wieso kämpfst du noch? Gib endlich auf. Nur so kannst du beweisen, was in dir steckt.

»Gib mir das Serum. Bitte!« Es kam einem Flehen gleich. »Ich will, dass es endlich aufhört.«

Seine Freunde tauschten Blicke aus. Dann griff Mike in seine Weste und zog eine Phiole mit der milchigen, rötlich schimmernden Flüssigkeit hervor, um die er noch niemals freiwillig gebeten hatte.

Kaum schmeckte er die modrige Flüssigkeit auf seiner Zunge, verloren die tobenden Stimmen an Lautstärke. Die Anweisungen mutierten zu unverständlichen, schwammigen Worten, die keinen Sinn ergaben. Auch die Schreie der Opfer verhallten im Nirgendwo der Dunkelheit, bis nur noch Stille in seinem Geist herrschte.

Schwer atmend lehnte Alec den Kopf gegen die Wand und schloss die Augen. Um ihn herum herrschte zum ersten Mal seit Wochen wieder absolute Stille. Niemand sagte auch nur ein Wort. Seine Gedanken gehörten ihm allein. Was für eine Befreiung.

Ohne die Augen zu öffnen, griff er blind nach vorne, bekam Mikes seidenes Hemd zu fassen und hielt sich krampfhaft daran fest. »Danke.«


4

 

Minutenlang stand Tyler regungslos im Flur, unschlüssig, ob er seinem besten Freund hinterher gehen sollte oder nicht. Der innere Kampf gegen die Dämonen hatte sich bis in seine Züge übertragen und gezeigt, wie sehr er mit den Stimmen um die Kontrolle über seinen Körper kämpfte. Dennoch verstand er nicht, wieso sein Partner, im wahrsten Sinne des Wortes, vor ihm floh. Die Erinnerung an das tobende Silber in den Augen des Halbdämons veranlasste ihn schließlich, dessen Aufforderung, ihm fernzubleiben, zu ignorieren und der Blutspur zu folgen.

Den größer werdenden Abständen zwischen den dunkelroten Tropfen nach zu urteilen, musste es Alec sehr eilig gehabt haben. Eine deutliche Richtungsabweichung nach links und rechts der Punkte ließ vermuten, dass etwas seinen Gleichgewichtssinn beeinträchtigte. Besonders deutlich zu sehen im Treppenbereich. An der Tür zur Trainingshalle endete die Spur fürs Erste. Die jüngsten Halbwesen dieser Akademie, die Geschwister Jenna und Jake und die hochintelligente Lilly, standen dicht aneinander gedrängt davor und schauten hinein. Wie schon so oft, bemerkte ihn die zwölfjährige Halbdämonin als erste und drehte sich zu ihm um.

»Alec ist da drin«, bestätigte Lilly seine Vermutung. »Er ist verletzt.«

Tyler nickte und erzwang ein trauriges Lächeln. »Ich weiß.« Dabei mied er den Blick in die Halle. »Würdet ihr drei mir einen Gefallen tun?«

Auch die Geschwister sahen ihn jetzt an. »Ja klar, welchenEin erwartungsvolles Glitzern trat in Jakes bernsteinfarbene Augen. Offenbar hoffte der Dreizehnjährige auf etwas Bedeutendes, doch er musste den jungen Halbengel enttäuschen.

»Bitte geht. Alec würde nicht wollen, dass ihr ihn so seht. Keiner von euch würde das, wenn ihr gerade an seiner Stelle wärt.«

»Können wir etwas für ihn tun?« Jennas hellbraune Haare flossen wie ein Fadenvorhang über ihre Schultern hinweg, als sie niedergeschlagen zurück in die Halle blickte. »Irgendetwas?«

Langsam nickte Tyler. »Ja, sprecht ihn nicht drauf an, wenn ihr ihn das nächste Mal seht.« Er streckte eine Hand nach Lilly aus, die ihm wortlos das Sammelsurium an Kompressen und Binden überreichte.

»Das heißt, der restliche Unterricht fällt aus?« Die traurige Stimme des jungen Halbengels verriet, dass er die Antwort bereits kannte.

»Ich fürchte ja. Tut mir leid.«

Anders als Jake, schien es den Mädchen nichts auszumachen, dass sie ihre Zeit nun außerhalb der Halle verbringen mussten. Doch die Drei waren inzwischen an ungewöhnliche Vorkommnisse innerhalb dieser Mauern gewöhnt und fügten sich widerstandslos.

Mitleid erfüllte Tyler. Seit einiger Zeit unterbrachen ständig neue Probleme die Ausbildung der Dreien. Die noch bis vor Kurzem gewohnten Strukturen fielen nach und nach wie ein Kartenhaus zusammen. Ihre Ausbildung und nicht zuletzt ihre Entwicklung litt unter dem immer wiederkehrenden Chaos. Besonders jetzt, in diesem schwierigen Alter, prägten Umwelteinflüssen ihren Charakter und formten sie für die Zukunft. Allmählich mussten sie aufpassen, dass ihnen die Drei nicht entglitten.

Erst nachdem die jungen Halbwesen mit teils hängenden Schultern um die nächste Ecke bogen, stellte sich der Halbengel so in die Tür, dass er einen Blick auf seinen Partner werfen konnte.

Mike kniete vor ihm und hielt ihn mit Daniels Hilfe aufrecht an der Wand. Alec selbst schloss gerade die Augen, sein Kopf rollte auf eine Schulter, als sei er zu schwach, ihn selbst zu tragen. Noch immer atmete er deutlich zu schnell, wenn auch nicht mehr so angestrengt wie im Flur. Während er Mikes Hemd mit der linken fest umklammert hielt, ruhte die rechte in dessen Ellenbeuge und färbte das blaue Seidenhemd dunkel.

»Alec, ist schon in Ordnung.« Daniel nickte ihm aufmunternd zu, auch wenn der ihn nicht sehen konnte. »Du hast sie nicht gewinnen lassen.«

»Entspann dich«, ergänzte Mike betont langsam. »Du musst nicht weiter kämpfen.«

Der Versuch, den Kopf zu heben, misslang seinem Freund. Kraftlos fiel er nur auf die andere Seite. »Du hattest recht, Mike.«

»Das ist jetzt egal.«

Sein Partner deutete ein Kopfschütteln an. »Ich konnte einfach nicht mehr.« Er klang ungewöhnlich heiser und atemlos, als hätte er einen Hundertmetersprint laut schreiend ins Ziel gerettet. »Es tut mir leid.«

»Das muss es nicht. Du hast alles richtig gemacht.«

Diesmal entgegnete Alec nichts. Seine rechte Hand fiel aus Mikes Ellenbeuge. Ungewollt öffnete er die Finger und rutschte ein Stück an der Wand hinunter. Der ältere Halbdämon fasste ihm in den Nacken und lenkte den schlaffen Körper, bis dieser kraftlos auf der Seite zum Liegen kam.

»Ist er bewusstlos?« Die Nervosität brachte Daniels Stimme ins Wanken.

Alles versteifte sich in Tyler, als er seinen Partner regungslos am Boden liegen sah. Zögerlich betrat er die Halle, blieb aber nach zwei Schritten stehen. Erneut kam die Frage in ihm auf, ob der geschwächte Halbdämon ihn überhaupt in der Nähe haben wollte.

»Nicht richtig.« Mike legte zwei Finger an Alecs Hals. »Das Serum ist Schwerstarbeit für seinen Körper und schwächt ihn. Normalerweise schläft er danach stundenlang.« Der Halbdämon verengte die Augen. »Aber normalerweise schafft er es auch bis in sein Bett.«

Tyler begriff, dass Daniel zum ersten Mal miterlebte, was das Serum anstellte. Es musste erschreckend für ihn sein. Es unterdrückte die dämonische Halbseite für mehrere Stunden. Vollständig. Dadurch verlor Alec den Kontakt in die Dämonenwelt, aber auch die geschärften Sinne und seine Heilfähigkeiten.

»Er blutet auch an der Schulter«, bemerkte Daniel.

Mikes Hand wanderte weiter. Mühelos verbreiterte er den Riss im T-Shirt, während Alec unter ihm inzwischen ruhig ein- und ausatmete.

»Das ist ein Streifschuss!« Ruckartig drückte der Mediziner der Akademie den Rücken durch. »Verdammt, wo ist Tyler?«

»Ich bin hier.«

Mit einem flauen Gefühl im Magen trat er näher. Mikes anklagender Blick verunsicherte ihn. Er sprach es nicht aus, aber obwohl er die Situation noch nicht kannte, fühlte Tyler, wie er ihn für Alecs Zustand verantwortlich machte. Erneut erhielt der Halbengel den Eindruck, dass der ehemalige Akademieleiter ihm seit dem Vorfall mit Anna mehr misstraute als noch zuvor. Eigentlich konnte er ihm kaum einen Vorwurf dafür machen. Dennoch tat es weh.

»Was ist passiert?«

»Der Typ hat eine Waffe gezogen und abgedrückt.« Er zuckte mit den Schultern und legte das Verbandsmaterial neben den Verletzten auf den Hallenboden. »Ich konnte ihm nur noch den Arm hochschlagen.«

Stählerne Härte lag in den dunklen Augen des Halbdämons. »Und seine Hand?«

Sein Blick fiel auf den durchnässten Lederhandschuh. »Das weiß ich nicht genau. Er meinte nur, er hätte das Gleichgewicht verloren.«

Mikes Züge verloren an Strenge. Der unausgesprochene Vorwurf blieb auch einer und verblasste hinter einer Maske aus Erkenntnis und Resignation. Ohne ein weiteres Wort begann der Mediziner mit seiner Arbeit und verband die inzwischen wieder blutende Schusswunde.

»Hast du auch was abgekriegt?« Daniel scannte ihn von oben nach unten.

Tyler bemerkte die zunehmende Anspannung in Mikes Schultern, der sich nicht für seinen Gesundheitszustand interessiert hatte. Obwohl er auch jetzt noch ein feines Klingen in den Ohren vernahm, und einen minimalen Druck hinter den Trommelfellen spürte, schüttelte er den Kopf. »Nein.«

Schweigend beobachtete er, wie der degradierte Akademieleiter die verletzte Hand seines Partners in Augenschein nahm. Vorsichtig zog er den blutigen Handschuh von Alecs Fingern und ließ ihn mit einem Platschen zu Boden fallen, was einen roten Fleck hinterließ, als hätte jemand eine überdimensionierte Fliege erschlagen. Der eigentlich weiße Verband war durchgehend blutig verfärbt. Mike wählte den leichten Weg. Statt die einzelnen Bahnen abzuwickeln, zog er eine Schere aus der Innentasche seiner Weste und schnitt sie der Länge nach auf. Als er die feuchten Kompressen von den Wunden zog, verzerrte sein Partner das Gesicht. Unwillkürlich zog er die Hand zurück. Ein leises Stöhnen drang aus seinem Mund.

Daniel hockte an seiner Seite, um den Arm zu fixieren. »Er hat Schmerzen.«

»Die hat er immer.« Unbeeindruckt löste Mike die letzten Schichten. »Das Serum erzeugt einen künstlichen Schlaf und müsste es erträglich für ihn machen. Zumindest wird er sich später nicht daran erinnern.«

Tyler überraschte die unterkühlte Reaktion. Mike wirkte genervt, ja sogar verärgert. Doch ihm blieb keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Alecs Handfläche forderte seine ganze Aufmerksamkeit.

Anders als erwartet, erkannte er keine Veränderungen im Vergleich zum letzten Mal. Und das lag mehrere Wochen zurück. Die gesamte Innenhand bestand aus einer einzigen offenen Wunde. Die Handfalten konnte man nur erahnen. Kleine Muskeln und Sehnen schimmerten stattdessen hell durch das Rot hindurch. An einer Stelle glaubte der Halbengel sogar, den Knochen zu sehen. Auch an den Fingern war jede einzelne Wunde wieder offen, Blasen aufgerissen und beiseite geschoben. Die Haut glänzte bis weit übers Handgelenk hinaus entzündlich rot, genau wie die Fingerspitzen.

Wie konnte er damit nur kämpfen? Warum hat er Ben gesagt, er sei wieder einsatzklar?

Mike atmete schnaubend aus. »So ein Mist.« Ohne Rücksicht presste er eine Reihe frischer Kompressen so stark auf die Hand, dass Alec vor Schmerz stöhnte. »Er hat ein Gefäß erwischt. Ich brauche Nahtmaterial.« Daniel erhielt einen strengen Blick von ihm. »Drück hier drauf. Egal, ob er Schmerzen hat.«

Der Blonde übernahm und hielt die Kompressen fest. »Willst du ihn nicht auf der Krankenstation haben?«

»Nein.« Der vernarbte Halbdämon wischte mit dem Handrücken übers Gesicht, verbarg für einen kurzen Moment den Mix aus Frust und Enttäuschung und atmete lange aus. »Er wird nur sauer, wenn er schon wieder dort aufwacht. Lass ihn einfach hier liegen.«

Tyler stand weiterhin reglos über seinem Partner. Hab ich mich getäuscht? Hätte ich viel früher nach seiner Hand sehen müssen? Oder die Anzeichen ernster nehmen sollen? Offenbar standen die Fragen ihm ins Gesicht geschrieben, dennoch beantwortete Mike eine andere unausgesprochene Frage.

»Es ist nicht so schlimm. Ich muss das Gefäß lediglich umstechen.«

»Nicht so schlimm?«, polterte Tyler drauflos. »Alecs Hand ist ein Scherbenhaufen. Er hat mir erzählt, dass die Wunde zu achtzig Prozent verheilt sei.«

Mike schloss für einen kurzen Moment die Augen und zeigte ihm, dass er Bescheid wusste, erwiderte aber nichts.

»Wie konntest du nur zulassen, dass er auf Dämonenjagd geht? Sieh dir seine Hand an! Was soll jetzt aus ihm werden?«

Anstatt zu antworten, starrte Mike an ihm vorbei in Richtung Halleneingang und ignorierte seine Vorwürfe. Ein fragender Ausdruck lag in seinem Blick. Verwundert und verärgert über die Ablenkung, schaute sich Tyler um.

Jaxon stand in der Tür. Inzwischen trug er statt Anzug eine dunkle Trainingshose und T-Shirt, was seine tätowierten Arme entblößte. Anders als bei seinem besten Freund, prangten hier unter anderem Bilder der heiligen Jungfrau Maria und Jesus am Kreuz auf seiner Haut. Der neue Halbengel vergrub die Hände tief in den Hosentaschen, den Blick grimmig auf die Szene in der Halle gerichtet. Das von oben einfallende Licht ließ ihn ungewöhnlich blass erschienen, sodass die Haut Pergament glich.

Warum musste der jetzt auftauchen? Er sollte seinen Kampfpartner nicht so sehen. Blutig, menschlich und am Ende seiner Kräfte.

»Jaxon, tut mir leid, wir müssen unser Training verschieben.« Mike ging mit langen Schritten zu dem Neuen und ignorierte die im Raum stehenden Vorwürfe. »Ich muss mich erst um Alec kümmern.«

Dieser nickte langsam. »Ich bin der Blutspur gefolgt.« Er klang nicht bei der Sache, sondern irgendwie verunsichert. Bei genauerem Hinhören bemerkte Tyler ein Zittern in seiner Stimme. »Ich wollte mal nach dem Rechten sehen.«

»Danke, aber es ist alles okay. Gib mir eine halbe Stunde.« Mike deutete an ihm vorbei auf den Flur. »Du kannst dir gerne einen Kaffee holen. Ich treffe dich später in der Küche

Wieder nickte Jaxon, den Blick starr auf Alec gerichtet. »Gut. Kein Problem. Ich … ähm … tut mir leid, ich bin kein Fan von Blut.« Als hätte nur er den Startschuss für ein Rennen gehört, verschwand er schnellen Schrittes.

Ein Halbengel, der kein Blut sehen kann? Vollidiot.

Mike warf zwar einen flüchtigen Blick zurück in ihre Richtung, verließ dann aber ebenfalls die Halle.

Tyler atmete langsam aus, als er neben seinem Partner auf dem Hallenboden Platz nahm. Nichts deutete mehr auf seine Qualen hin. Gleichmäßig atmete der Halbdämon ein und aus, unwissend, dass er nun das Ausmaß seiner Verletzung kannte. Ein schockierendes Bild. Als er Alec so daliegen sah, schwitzend, fiebrig vom Serum und vor Erschöpfung schlafend, traf ihn eine bittere Erkenntnis. Sie waren nicht soweit. Und Tyler erlaubte der Frage in seinen Gedanken Gestalt anzunehmen, ob der Halbdämon jemals wieder an seiner Seite kämpfen konnte. Die Schuld und Verantwortung für das Schicksal seines Partners lag bei ihm. Genau wie die Schmerzen und seelischen Qualen, die er seinetwegen litt.

»Hör auf.«

Überrascht hob der Halbengel den Kopf und schaute in Daniels grimmiges Gesicht. »Was meinst du?«

»Du machst dir Vorwürfe für das, was Alec passiert ist.«

»Woher willst du das wissen?«

»Du bist genauso schlecht darin wie er, deine Gefühle hinter einer Maske zu verbergen. Dein Blick spricht Bände.« Schweigend schaute er zu, wie die weißen Kompressen unter Daniels Hand allmählich einen roten Farbton annahmen. »Alec hat sich bewusst dafür entschieden, dich zu retten. Koste es, was es wolle. Auch auf die Gefahr hin, dass ihm etwas zustoßen könnte.« Der blonde Halbdämon durchbohrte ihn mit seinem Blick. »Aber als du um den Tod gebettelt hast, wollte und konnte er dich nicht zurücklassen. Es ist also nicht deine Schuld. Es war seine Entscheidung.«

Tyler schüttelte den Kopf. »Wenn ich nicht schwach gewesen wäre –«

»Genau so darfst du nicht denken«, unterbrach Daniel ihn. »Du hast einen Fehler gemacht, ja, aber das ist menschlich. Menschen machen Fehler. Und bevor du jetzt mit dem Argument kommst, dass du ein Halbwesen bist, dann weißt du genauso gut wie ich, dass unsere menschliche Seite immer über unsere Halbseite dominiert. Dein Punkt zählt also nicht.«

»Wenn du in meiner Situation wärst, würdest du anders denken.«

»Ich war in deiner Situation, falls du vergessen hast, was mir passiert ist.«

Nein, das hatte er nicht. Er wusste von Daniels Verwandlung zum Mensch. Die Geschichte erschütterte ihn noch heute, wenn er daran dachte. So etwas konnte man nicht vergessen. Dennoch änderte das nicht seine Meinung.

»Das kann man nicht vergleichen. Alec war meinetwegen gezwungen zu Handeln.«

»Vivien auch. Zumindest hat sie so empfunden und das reichte ihr als Grund. Was glaubst du, was ich mir für Vorwürfe gemacht habe? Hätte ich nicht an ihr gezweifelt, sondern darauf vertraut, dass sie ihr Gleichgewicht wieder findet, wäre ich ihrem Schwert nie zu nahe gekommen und sie hätte keinen Grund gehabt, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Ich fühlte mich als Tollpatsch und als Mörder. Und vor allem schuldig.«

Statt zu antworten beobachtete Tyler, wie Daniel die Hand seines Partners auf seinen Oberschenkel bettete und den Druck auf die Kompressen verstärkte. Unwillkürlich zuckte der schlafende Halbdämon zurück, aber der blonde Mann ließ nicht von ihm ab. Beruhigend legte Tyler eine Hand auf die Schulter seines Freundes. Egal wie verärgert er war, er wollte ihm irgendwie helfen und wünschte, er könnte ihm die Schmerzen abnehmen. Nach wenigen Sekunden entspannte Alec seine Muskeln wieder und atmete ruhig weiter.

»Er macht dir keine Vorwürfe, also hör auf, dir selbst welche zu machen.« Ein zaghaftes Lächeln kräuselte die Haut in Augennähe. »Leg den Ballast ab. Es lebt sich leichter, wenn du deinen Fehler akzeptierst und aufhörst, darüber nachzugrübeln.«

Wenn Alec doch nur mein einziger Fehler wäre.

Bevor er Daniel ein weiteres Mal widersprechen konnte, kehrte Mike in die Halle zurück, bewaffnet mit einem Nahtset und noch mehr Verbandsmaterial. Tyler erwartete endlich eine Reaktion von dem einstigen Akademieleiter, doch für ihn hatte die verletzte Hand seines Schützlings Vorrang. Unbewusst wehrte sich der allerdings gegen die Behandlung. Unter Stöhnen zog er so oft die Hand weg, dass Daniel sich schließlich auf seinen Unterarm kniete.

»Kannst du ihm nicht etwas geben?« Es kostete Tyler überraschend viel Kraft, um die linke Hand seines Partners festzuhalten, damit er Mike nicht in die Quere kam.

Doch der Mediziner schüttelte kaum merklich den Kopf, den Blick auf seine Arbeit konzentriert, die Stimme beinahe monoton. »Wenn ich ihm ständig Schmerzmittel in den hohen Dosen verabreiche, wie ich es bereits tue, wird er abhängig. Alec weiß das.« Mike fand das Gefäß irgendwo in dem glänzenden Spiegel aus Blut und umstach es. Nach einer intensiven Säuberung begann er mit dem neuen Verband.

»Wie lange?« Von ihm abrückend, strich Daniel ein paar blonde Strähnen zurück.

»Was, wie lange?«

»Wie lange wird es dauern, bis Alecs Hand wieder verheilt ist?«

Mehrere Sekunden vergingen, bevor Mike zu einer Antwort ansetzte. »Das kann ich nicht sagen. Es hat allein drei Wochen gedauert, um überhaupt einen Fortschritt erkennen zu können. Der ist jetzt wiederum zunichte. Es heilt extrem langsam.«

Drei Wochen, um überhaupt einen Fortschritt erkennen zu können? Alec, du verdammter Lügner.

Jetzt, da der schlafende Halbdämon seine Befreiungsversuche aufgab, ließ Daniel von ihm ab. »Naja, was schätzt du?«

Mike hielt mitten in der Bewegung inne. Sein flüchtiger Blick galt zunächst Tyler. Darin lag eine Mischung aus Ernst und Trauer, aber auch Resignation. Der Halbengel schaute auf Alec hinab und schloss die Augen. Seine Finger bohrten tiefer in die Schulter seines Partners, als der Mediziner Luft holte, um die Frage zu beantworten.

»Ich schätze neun bis zwölf Monate.« Noch mit geschlossenen Augen, hörte er Daniel vor Entsetzen keuchen und konnte es selbst nur schwer unterdrücken. So etwas in der Art hatte er erwartet, trotzdem traf ihn Mikes Aussage wie ein Hammerschlag. Sein Magen krampfte schmerzhaft. Als hätte er einen Block Eis geschluckt, nur dass der nicht schmelzen und kleiner werden wollte. Stattdessen verbreitete er eine unnatürliche Kälte in seinem Körper. Aber Alecs Mentor setzte noch einen drauf. »Neun bis zwölf Monate mit der Voraussetzung, dass es zu keinen weiteren Zwischenfällen kommt. Sonst noch länger.«

Obwohl er saß, glaubte Tyler den Boden unter sich zu verlieren. Ohne Zwischenfälle neun bis zwölf Monate? Um keinen Zwischenfall zu provozieren, würden sie Alec nicht mehr auf Einsätze schicken, doch das kam einer Bestrafung gleich. Für den notorischen Raser gab es nichts Wichtigeres als die Dämonenjagd. Auf ihr baute er seine Existenz, machte alles abhängig davon, sah nur darin einen Sinn im Leben. Wenn er dieser Aufgabe nicht nachgehen konnte, würden Depression und Frust die Oberhand gewinnen und

Er dachte den Gedanken nicht zu Ende. Zwar bot ein Leben als Halbwesen genügend andere Aufgaben, doch er konnte sich nicht vorstellen, dass sein Partner in dieser Zeit etwas anderes machen würde, wie zum Beispiel Unterricht geben. Das kam vielleicht einmal im Schaltjahr vor.

»Tyler.«

Als er die Augen endlich öffnete, schaute er direkt in das narbige Gesicht und traurige Augen.

»Ich wusste bis heute Morgen nicht, dass Alec gegenüber Ben behauptet hat, er sei einsatzklar«, begann Mike und legte die frisch verbundene Hand des schlafenden Halbdämons auf dem Boden ab. »Er hat mich übergangen. Und das sogar mit Recht. Ich bin nicht der Akademieleiter.«

Noch immer hielt Tyler die Linke seines Partners, die andere bohrte er in dessen Schulter. Innerlich verfluchte er ihn für sein Vorgehen. Wolltest du so dringend wieder raus? So sehr, dass du deinen Mentor hintergehst?

»Wieso hast du Ben nicht über den wahren Zustand von Alecs Hand aufgeklärt?« Seine Stimme zitterte vor Wut und er schaffte es nur mit Mühe, nicht laut zu werden.

»Er hat mich von Anfang an gebeten, es nicht zu tun. Alec ist alt genug.« Wieder fand diese unnachgiebige Härte einen Weg in Mikes Züge. »Ich kann nicht mein Leben lang die Hand über ihn halten, selbst wenn ich es wollte.«

»Das wird ihn umbringen.« Die Vorstellung, den Halbdämon aufgrund dieses Ereignisses endgültig zu verlieren, überwältigte ihn fast. »Das ist sein Lebensinhalt. Er wird nichts anderes machen wollen.«

»Er wird daran wachsen müssen. Lernen, dass es noch andere Dinge in diesem Leben gibt, als sein eigenes aufs Spiel zu setzen.« Ohne weitere Diskussion zuzulassen, stand Mike auf und deutete mit zwei blutigen Pinzetten auf seinen einstigen Schützling. »Bleibst du hier?«

Zögerlich schaute er zurück auf seinen Partner. Alecs Züge wirkten völlig entspannt, er atmete gleichmäßig ein und aus. Nichts erinnerte an seine Qualen. Erst wollte er hierbleiben, aber bis der Halbdämon aufwachte, würden mindestens fünf Stunden vergehen. Niedergeschlagen ließ er seine Hand los und kam ebenfalls auf die Beine. »Ich bring ihm eine Decke.«

»Tyler –«

»Ich will nicht weiter drüber reden.« Ohne ihn noch einmal anzusehen, schob er sich an ihm vorbei. »Schaut lieber nach Jake und den anderen.«

Damit verließ er die Halle und schlug den Weg zu seinem Zimmer ein. Dort riss er eine dunkelblaue Fleecedecke aus dem Schrank und wollte den Raum schon wieder verlassen, als er innehielt, die Hand bereits am Türknauf.

Eine unbändige Wut überkam ihn. Auf einfach alles und jeden. Wieso musste sein bester Freund in Sailesta Isza anfassen? Natürlich kannte er die Antwort. Egal, wie er es auch drehte und wendete. Er selbst war der Grund. Das änderte allerdings nichts an Alecs Hang, die Wahrheit über seinen Gesundheitszustand zu missachten. Noch dazu kam der Verrat an Mike, der ihn scheinbar auch noch ins offene Messer hatte rennen lassen. War denn niemandem außer ihm klar, dass sie den sowieso schon suizidgefährdeten Halbdämon damit endgültig verlieren könnten?

Ohne nachzudenken, gab Tyler seinem Frust ein Ventil und holte aus. Ein dumpfer Schmerz wanderte bis in seinen Ellbogen, seine Finger verloren an Sensibilität und als er die Faust von der Wand löste, sah er vier kleine Blutflecken daran glitzern.


5

 

Zuerst nahm Alec die Kälte wahr. Er spürte seine eisige Nasenspitze, die bei jedem Atemzug schmerzte und es nicht mehr schaffte, die Luft ausreichend zu erwärmen. Innerlich zitterte er. Ein feines Brennen durchzog die Muskeln im Nacken. Nur zwei Sekunden später wuchs es zu einem unerträglichen Schmerz heran und zwang ihn auf den Rücken, dabei ertastete er den steinernen Untergrund, auf dem er lag. Verwirrt öffnete er die Augen.

Sofort erkannte er die hohe Decke der Trainingshalle mit den freiliegenden Querbalken im Dachgewölbe. Roch erst jetzt den alten Holzboden, aber auch eine feine Note nach Schweiß, Desinfektionsmittel und Blut. Langsam setzte er sich auf, wobei eine blaue Decke in seinem Schoß zusammenfiel. Jeder Muskel seines Körpers ächzte und fühlte sich an, als hätte er viel zu intensiv trainiert. Allmählich kehrte die Erinnerung zurück, warum er in der Halle und nicht in seinem Bett lag.

Immerhin mal nicht die Krankenstation.

Ein dumpfes Hämmern pulsierte durch seine rechte Hand. In ordentlichen Bahnen schlang sich ein neuer Verband um jeden einzelnen Finger, bis weit übers Handgelenk hinaus. Leider ohne neuen Lederhandschuh. Der alte lag in der Nähe seiner Füße, steif und unbrauchbar durch das getrocknete Blut. Daneben entdeckte er eine kleine, durchsichtige Plastikdose mit einer einzelnen, ovalen Tablette darin.

Alec zog die Beine in den Schneidersitz und holte sein Handy hervor. Viertel vor Zehn. Ich hab sechs Stunden geschlafen? Mürrisch steckte er das Handy weg und massierte seinen verspannten Nacken. Kein Wunder, warum mir alles weh tut.

Sechs Stunden. Das bedeutete, es würden mindestens sechs weitere vergehen, bis er wieder über die volle Kraft seiner Halbseite verfügte. Zwar spürte er bereits jetzt schon einige Veränderungen, wie die verbesserte Sicht und den feiner werdenden Geruchssinn. Dankbarerweise schwiegen die Dämonenstimmen in seinem Kopf. Was für eine Erleichterung. Endlich gehörten seine Gedanken mal nur ihm und donnerten nicht als Teil eines dröhnenden Stimmengewirrs gegen seinen Schädel. So knapp wie vor wenigen Stunden, war er dem Kontrollverlust seit Sailesta nicht mehr gekommen. Bruchstückhaft erinnerte er sich noch an die Schreie und die Stimmen, doch das eigentlich Gesprochene fehlte ihm. Alec konnte spüren, dass die Lösung irgendwo in seinem Kopf lungerte. Doch gerade als er glaubte, es wieder zu wissen, entglitt ihm der Gedanke und verwirbelte in dem Strudel mit anderen Erinnerungen. Ähnlich wie ein Traum. Je stärker man versuchte, sich an das Geträumte zu erinnern, desto mehr vergaß man es.

Der Halbdämon streckte die steifen Glieder, spannte die Muskeln aufs Maximale und kam auf die Beine. Noch immer herrschte diese unnatürliche Müdigkeit in ihm, aber er sehnte sich nach sauberen Klamotten und besonders nach einer Dusche. Oder zumindest das, was er derzeit als solche verstand. Seine Hand sollte nicht mit Wasser in Berührung kommen, daher blieb es seit einiger Zeit bei einer Katzenwäsche. Mit einem lauten Gähnen verließ er die Halle, deren Licht schlagartig erlosch, und schlurfte zu seinem Zimmer. Dort warf er seine dreckigen Kleider achtlos auf den Boden und betrat das Bad. Einhändig dauerte alles so viel länger und stellte ihn jeden Tag aufs Neue auf eine Geduldsprobe. Erst nach fünfzehn Minuten am Waschbecken gelang es ihm, seine Haut von all dem getrocknetem Blut und Schweiß zu befreien. Gleiches galt für die Haare.

Gerade als er nach dem obersten T-Shirt vom Stapel griff, hörte er selbst mit seinen schlechten Sinnen einen gedämpften Schrei durch die Wand. Tyler. Kurz herrschte Stille, abgelöst von einem Stöhnen, das wiederum zu panischen Ausrufen nach ihm und Anna wuchs, bis er sich für eine Weile beruhigte.

Boah, das gebe ich mir jetzt aber nicht.

Ohne den nächsten Schrei abzuwarten, schob Alec seine Sachen in die Taschen und stapfte aus dem Zimmer.

Wenn der nicht bald in den Keller umzieht, mach ich es.

Hunger trieb in vorwärts. Gleichzeitig wollte er eine rauchen. Bereits mit einem Glimmstängel zwischen den Lippen schlug er den Weg zur Küche ein. Als er jedoch am Büro neben der Eingangstür vorbei kam, vernahm er eine gereizte Stimme. Mike. Der seinen Namen nannte. Automatisch verlangsamte der Halbdämon seine Schritte. Die Tür stand eine Handbreit offen, ein dünner Lichtstrahl fiel auf den dunklen Flur.

»Es wäre unverantwortlich.«

Aufgrund des drängenden Tonfalls blieb er endgültig stehen.

»Wie stellst du dir das vor? Ohne Alec und Tyler gibt es kein einsatzfähiges Team.« Ben klang aufgebracht. »Wir wären handlungsunfähig.«

»Du weißt selbst, dass das nicht stimmt. Jaxon und ich werden die Einsätze übernehmen.«

»Ja klar, dafür bin ich doch da.«

Der Arsch ist auch da drin? Super. Genau das brauchte er. Einen Idioten wie den dabei zu haben, während sie über ihn sprachen.

»Ich weiß, Jaxon.« Ben seufzte. »Ich hatte nur gehofft, euch ein bisschen mehr Zeit zu geben, statt gleich in den Kampf zu schicken.« Kurze Stille. »Mike weiß das.«

»Es gibt nun mal keinen anderen Weg!« Ein dumpfer Schlag folgte Mikes Ausruf.

»Kommt mal wieder runter.«

Daniel also auch? Die Lästerrunde wird ja immer größer. Genervt verdrehte er die Augen.

»Daniel, versteh mich jetzt nicht falsch, aber das ist eine Sache zwischen mir und Mike.«

»Wir sind derzeit aber kein Team«, meldete sich der Mediziner ungewohnt aggressiv zu Wort. »Sondern Jaxon und ich. Und wir werden die Dämonen zurückschlagen.« Eine kurze Pause. »Fakt ist, dass du Alec nicht mehr auf Einsätze schicken darfst.«

Was? Sein Magen krampfte schmerzhaft. Fassungslos nahm er die Zigarette aus dem Mund und suchte Halt an der Wand neben der Tür.

»Mike hat Recht.« Der Vollidiot setzte noch einen drauf. »Er sollte nicht mehr auf Einsätze. Du musst ihn melden.«

Wichser!

»Wenn ich ihn zurückhalte, wird er daran zerbrechen.«

»Tust du es nicht, ist es nur eine Frage der Zeit, bis er seine Hand nie wieder benutzen kann«, widersprach Mike nachdrücklich. »Daran zerbrechen wird er erst, wenn es zu spät ist.« Einen Moment sagte keiner etwas und als der Halbdämon endlich weitersprach, klang seine Stimme ruhiger. »Du bist der Akademieleiter. Ich kann das nicht für dich übernehmen. Du musst die Supervisor informieren und ein zweites Team anfordern, sonst werden die Dämonen unsere Schwäche ausnutzen und uns überrennen

Noch einmal setzte Ben zu einer Möglichkeit an und klang seltsam verzweifelt. »Kannst du ihn nicht von den Schmerzen befreien?«

»Wie oft noch?« Sein Mentor schnaubte frustriert. »Du solltest es besser wissen. Schmerzfreiheit ist nicht die Lösung. Alec erhält die Höchstdosis an Schmerzmittel. Noch mehr und er wird abhängig. Wir sind sowieso nah an der Grenze. Seine einzige Chance auf Heilung ist einsatzfreie Zeit, damit er nicht gezwungen ist, Druck auf seine Handfläche auszuüben.« Etwas raschelte. »Was ihm heute passiert ist, kann jederzeit wieder passieren, aber er hat bessere Chancen, wenn wir ihn vom Außeneinsatz abziehen.«

»Was ist mit Tyler?« Daniels Frage klang ohne Vorwurf, dennoch reagierte Mike schnippisch.

»Was soll mit ihm sein?«

»Wenn du Alec zurückhältst, tust du das automatisch mit Tyler. Willst du ihm wirklich einen neuen Partner zumuten?«

Ein lautloses Keuchen entkam seiner Kehle. Die Vorstellung, er würde durch irgendeinen dahergelaufenen Halbdämon ersetzt werden, brachte ihn fast um den Verstand. Sein Kopf dröhnte. Übelkeit drängte in den Vordergrund. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand heftig in den Bauch geboxt.

»Ob Tyler einen neuen Partner bekommt, liegt nicht in meiner Hand. Und auch nicht in Bens. Es obliegt den Supervisor, das zu entscheiden.«

Alec schloss die Augen und dachte mit Unbehagen zurück. In Sailesta war er das erste Mal auf einen der Supervisor getroffen. Lauren Jenzetta. Schon damals hatte er den Eindruck gehabt, sie konnte ihn nicht leiden. Generell beschlich ihn das Gefühl, die Akademie rutschte seither in ein schlechtes Bild. Erst Sophia, dann Mike, als Sahnehaube Jaxon. Er wollte gar nicht wissen, was ihnen sonst noch alles einfiel, um sie indirekt zu bestrafen.

»Glaubst du, das ist der richtige Weg?« Daniels Frage holte ihn aus seinen Gedanken.

Mike atmete geräuschvoll aus. »Ich glaube, dass es Alecs letzte Chance auf Heilung ist.«

»Wie lange würdest du ihn sperren?«, fragte Ben und klang, als ob er dem Rat seines Freundes tatsächlich nachgeben würde.

Tief einatmend wappnete sich der Halbdämon für Mikes Antwort. Unwillkürlich zerdrückte er die Zigarette in seiner Linken. Nur mit Mühe widerstand er dem Drang, die Rechte ebenfalls zur Faust zu ballen, um Ablenkung durch die Schmerzen zu finden. Sein Herz hämmerte in der Brust, so unbeirrt, dass er den Puls am Hals fühlen konnte und damit den letzten Rest Müdigkeit vertrieb.

»Ein Jahr.«

Die angehaltene Luft entwich so rasch seiner Lunge, dass es einem lauten Keuchen glich. Hinter der Tür kratzten Stuhlbeine über den Boden. Schnelle Schritte folgten. Im nächsten Moment standen Jaxon, Daniel, Mike und Ben im Flur.

»Alec …« Mehr brachte der Akademieleiter nicht heraus. Es schien, als wüsste er nicht so recht, was er sagen sollte. Stattdessen rieb er über die kurzen Haare im Nacken.

Mit einer flüchtigen Bewegung deutete Mike in Richtung Decke und kam seinem Freund zu Hilfe. »Ich dachte, du wärst noch in der Halle und schläfst.«

Es dauerte einen Moment, bis Alec den ersten Schock verarbeitet hatte. Langsam hob er den Kopf höher, seine Stimme gestärkt mit Trotz. »Tja, bin ich wohl nicht.«

»Wie fühlst du dich?«

Die rhetorische Frage des Mediziners entlockte ihm ein Schnauben. »Ist doch egal. Es wird nichts an eurer Entscheidung ändern.«

»Alec, lass uns in Ruhe darüber reden«, meinte Ben ernst. »Morgen. Wenn du ausgeschlafen und wieder ein vollwertiges Halbwesen bist.«

»Was sollte das für ein Unterschied machen?« Grimmig zog er die Augenbrauen tiefer ins Gesicht. »Ob ihr mich jetzt bestraft oder morgen, kommt aufs Selbe raus.«

Sein einstiger Mentor tat einen Schritt auf ihn zu. Alec wich nach hinten aus. Überrascht hielt Mike inne. Für einen Sekundenbruchteil sah der Mediziner so aus, als ob der geschwächte Halbdämon ihn physisch verletzt hätte. Aber er wollte keine körperliche Nähe, kein Verständnis oder irgendetwas anderes. Alles, was er im Moment wollte war, sich verhört zu haben.

»Niemand will dich bestrafen.« Mike legte so viel Ruhe und Verständnis in seine Stimme, dass es ihn fast zur Weißglut brachte. »Dass du dich zurückhältst ist nötig, wenn du deine Gesundheit nicht gänzlich aufs Spiel setzen willst.«

»Meine Gesundheit ist mir scheißegal!«

»Mir aber nicht.« Mike fixierte ihn mit einem so autoritären Blick, dass Alec alles an Willenskraft aufbringen musste, nicht wegzuschauen.

»Hör zu, ich versteh dich. Du suchst nach Normalität, willst wieder auf Dämonenjagd und das alles so ist wie früher.« Er atmete hörbar ein. »Aber wenn du jetzt nicht geduldig bist, deiner Hand nicht die Ruhe und Zeit gibst, die sie braucht, dann wirst du nie wieder einen Außeneinsatz bewältigen können.«

Jaxon sah sie abwechselnd an. »Ihr verhandelt jetzt aber nicht wirklich darüber, ob er doch in den Einsatz kann, oder

»Du Drecksack hältst dich da raus, verstanden?« Mit einem drohenden Schritt in seine Richtung unterstrich Alec die Worte.

Unbeeindruckt blieb der Halbengel stehen. »Ich weiß, wovon ich rede –«

»Jaxon, bitte.« Mike fuhr zu seinem neuen Partner herum, mit offensichtlichen Problemen, den richtigen Ton zu treffen. »Lass uns das hier regeln.«

»Ja, verpiss dich!«

Unsicher schaute der Neue zwischen ihnen hin und her, kratzte über den Bart am Kinn und nickte schließlich. »Na schön.« Als bedrohten sie ihn mit einer Waffe, hob er beide Hände und zeigte die Handflächen. »Ich gehe.« Wortlos, aber mit einem verachtenden Blick, stolzierte er an ihnen vorbei in Richtung Treppe.

»Nochmal.« Mike griff den Faden wieder auf, kaum dass Jaxon außer Hörweite war. »Du musst dich schonen.«

Alec presste die Kiefer so fest aufeinander, dass sein ganzes Gesicht schmerzte. Nichts davon wollte er hören. »Es ist mein Leben und ich sollte selbst entscheiden dürfen, was ich tue.«

»Du vergisst etwas Entscheidendes.« Ben verschränkte die Arme vor der Brust. »Du hast einen Eid geschworen: Die Gemeinschaft der Halbwesen zu unterstützen, sie nicht zu gefährden oder ihr zu schaden. Als Halbwesen einer Akademie unterstehst du deren Leitern. Widersetzt du dich ihren Anweisungen, verstößt du automatisch gegen deinen Schwur und wirst im schlimmsten Fall der Division wegen Eidbruch gemeldet.«

»Drohst du mir?«

»Nein, ich lass dir die Wahl.«

Alec bemerkte, wie Mike den Blick zu Boden richtete. Offenbar passte ihm die Lage genauso wenig. Daniel hielt sich bewusst im Hintergrund.

Als der leitende Halbengel weitersprach, schwang ein warnender Ton in seiner Stimme, der ihn allerdings nur noch wütender machte. »Ich sperre dich bis auf Weiteres für die Dämonenjagd. Entweder du hältst dich freiwillig daran oder ich werde Maßnahmen ergreifen, die dich dazu zwingen.«

»Das ist die Wahl?« Seine Stimme donnerte durch den Gang. »Freiwillig oder unter Zwang? Tolle Wahl.«

»Es gibt im Moment keine andere Möglichkeit.«

»Doch, die gibt es. Aber ihr wollt keine andere zulassen.«

»Alec.« Daniel stimmte versöhnliche Töne an. »Betrachte es mal nicht als Strafe, sondern als Chance. Auch für Tyler. Stell dir mal vor, was passieren würde, wenn du draußen plötzlich nicht mehr kämpfen kannst – aus welchen Gründen auch immer. Du könntest den Dämon nicht bannen und dein Partner müsste hilflos daneben stehen. Du bringst ihn mit deiner Haltung in genauso große Gefahr wie dich selbst. Tyler wird dadurch einer doppelten Belastung ausgesetzt.« Daniel legte den Kopf leicht schräg. »Und nur weil er dir das nicht sagt, heißt das nicht, dass es nicht so ist.«

Diesmal entgegnete er nichts, wissend, dass er auf verlorenem Posten stand. Kein Argument der Welt würde etwas an Bens Entscheidung ändern. Nicht heute. Sprachlos senkte er den Blick. In ihm tobte ein Sturm unterschiedlichster Gefühle. Wut türmte sich über Fassungslosigkeit und begrub die Logik und das Verständnis darunter. Sofort nahmen dutzende Fragen in seinen Gedanken Gestalt an. Wenn ich nicht auf Dämonenjagd gehe, was soll ich dann hier machen? Was wird aus Ty? Werde ich einfach ersetzt? Was, wenn er mit seinem neuen Partner besser harmoniert als mit mir? Schon jetzt keimte Eifersucht in ihm auf.

Alec setzte sich in Bewegung. Er wollte weg von hier. Einfach vergessen. Wollte nicht mit dieser Situation konfrontiert sein. Nicht jetzt. Vor der Haupttür packte er seine Jacke und kramte nach seinem Autoschlüssel in der Hosentasche.

»Wo willst du hin?« Mikes Stimme drang hinter ihm an seine Ohren.

Obwohl seine Sinne noch nicht zu alter Stärke gefunden hatten, wusste er auch ohne einen Blick zurück, dass die drei unmittelbar hinter ihm standen.

»Weg.« Seine karge Antwort klang gereizt. Gut so. Sie sollten ruhig hören, was er von ihrem Vorschlag hielt.

»Du solltest hier bleiben und dich ausschlafen. Deinem Körper die Zeit geben, die er braucht, um deine Halbseite wieder aufzubauen.«

»Lass mich in Ruhe.« Er riss die Tür auf, kam aber nicht weit.

Mühelos drückte Mike sie wieder ins Schloss. »Du bist derzeit nicht in der Lage, Auto zu fahren.«

»Dann lauf ich eben.«

»Und was, wenn du unterwegs –«

»Komm mit, Alec.« Seufzend pflückte Daniel seine Jacke vom Haken, packte ihn unterm Arm und zog ihn unter den strengen Blicken der anderen davon. »Wir gehen einen Trinken.«

»Daniel –«

»Schon gut, ich pass auf ihn auf«, rang der einstige Barkeeper Bens Einwand nieder.

»Das Serum –«

»Das kann er mir alles selbst erklären.«

Ohne sich weitere Widerworte anzuhören, klaute Daniel ihm die Fahrzeugschlüssel aus der Hand, schob ihn in die kalte Nachtluft und ließ zwei verdutzte Halbwesen zurück.

 

🗡

 

»Das is’ alles.« Alec kippte den restlichen Inhalt in seinen Mund und knallte das Whiskey-Glas auf den Tisch. »Mehr gibt’s darüber nicht zu sagen.« Und zu sehr viel mehr, glaubte er auch nicht in der Lage zu sein. Seine Zunge brachte die Worte nicht mehr ganz so flüssig über die Lippen. Schon vor einiger Zeit hatte sich ein ihm bekanntes Karussell in Gang gesetzt und drehte ihn sanft mal in eine und wieder in die andere Richtung.

Daniel schien das nicht zu stören. Mit dem Kinn in eine Hand gestützt, fuhr er den Rand seines Colaglases nach.

»Schon beeindruckend, welches Händchen Mike für Chemie und Medizin hat«, sagte er nach einer Weile. »Eine Schande. Er wäre bestimmt ein guter Arzt geworden.«

Enthemmt durch den Alkohol schlug Alec mit der flachen Hand auf die Tischplatte. »Bestimmt!«

»Brüll doch nicht so!« Hektisch griff Daniel nach seinem schwankenden Glas. »Mann, bist du anstrengend, wenn du betrunken bist.«

Dass er überhaupt noch wach war, fand der Halbdämon viel interessanter. Offenbar hatten die sechs Stunden Schlaf in der Trainingshalle für eine Weile gereicht. »Bist doch selber schuld«, lallte er schließlich und lehnte sich nah zu ihm hin. »Du hast eingeladen auf einen Drink.«

»Richtig.« Daniel hob eine Augenbraue. »Auf einen. Nicht auf acht doppelte Whiskey.«

Breit grinsend nickte er. »Ich sag Danke, bevor du’s dir anders überlegst.« Diesmal antwortete sein Freund nicht, stattdessen kehrte dieser nachdenkliche Ausdruck zurück in seine Züge. Seine ansteckende Stimmung vertrieb das Lächeln von Alecs Lippen.

Mürrisch sah er ihn an. »Was is?«

»Ich denk nach.«

»Solltest du nicht machen.« Jedes Wort verlangte höchste Konzentration. »Macht so hässliche Falten im Gesicht.«

Schulterzuckend sah er ihn an. »Einer muss ja überlegen, wie es in Zukunft weitergeht.«

Wie auf Kommando begann ein Wirbel an negativen Vorstellungen in Alec zu kreisen. Er wollte nicht darüber grübeln. Das war doch der eigentliche Grund gewesen, in eine Bar zu gehen und sich dort zu betrinken. Um zu vergessen. Um keine Gedanken an die Zukunft verschwenden zu müssen. Nicht mal im Ansatz wollte er wissen, wie es weiter gehen sollte, wenn er ein Jahr lang nicht auf Dämonenjagd gehen konnte. Fest entschlossen, den ehemaligen Barkeeper zu ignorieren, bestellte er ein neuntes Glas Whiskey bei dem vorbeilaufenden Kellner. Dennoch hörte er einen seiner Vorschläge. »Ist denn Unterricht keine Möglichkeit für dich? Wenigstens die Waffenkunde?«

»Ich will nich’s davon hören.«

Doch sein blonder Freund ignorierte ihn genauso gut wie er ihn und redete einfach weiter. Bis der herbe Alkohol wieder vor ihm stand, erreichte sein Unmut über das Thema einen neuen Höchststand, sodass er schon darüber nachdachte, zu gehen. Abwehrend hob er die linke Hand. »Daniel, echt jetzt? «

»Schon klar, aber was hältst du denn von meinem Vorschlag?«

»Ich bin nich’ bescheuert«, betonte Alec sehr langsam, um auch ja kein Wort zu verdrehen. Drohend richtete er sich weiter auf. »Ich bin vielleicht voll, aber deswegen nich’ redseliger.«

»Wir sollten –«

Verärgert exte er das Glas und kam wankend auf die Füße. »Vergiss es. Ich geh.«

»Warte, das war nicht meine Absicht.«

»Pech.« Die halbe Bar nahm kreisend an Fahrt auf, während er versuchte, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen und dabei nicht zu oft an die Tische der wenigen, verbliebenen Gäste zu stoßen. Je näher er dem Ausgang kam, desto mehr schwankte alles. Er spürte einen unangenehmen Druck im Bauch und wusste, dass er dringend an die Luft musste.

»Schon gut, warte.« Etwas hinderte ihn am Weitergehen. Als er sich stolpernd umdrehte, sah er seinen Fahrer, der ihn am Arm festhielt. »Ich muss noch zahlen.«

Alec schluckte. »Und ich muss gleich kotzen.«

Leicht panisch riss Daniel die Augen auf und rief etwas über die Schulter zurück. Mit verstärktem Griff um seinen Arm, lenkte er ihn schnellen Schrittes nach draußen. Eine eisige Kälte empfing ihn. Zwei tiefe Atemzüge nehmend, erlaubte er dem stärkeren Halbwesen, ihn an eine Wand zu lehnen.

»Geht’s dir gut?«

»Klar.«

»Dann warte hier.« Daniel verschwand in der Bar.

Für wenige Momente klärte die frische Luft seinen Verstand, doch schon nach wenigen Sekunden ging es ihm schlechter als zuvor. Es schien, als würde der Sauerstoff die Wirkung des Alkohols verstärken. Auf seinen Lidern lastete schlagartig viel mehr Gewicht als noch in der Bar. Seine Muskeln zitterten leicht. Auch das Karussell drehte schneller. Er schluckte ein paar Mal in dem Versuch, der Übelkeit Herr zu werden, die immer stärker in den Vordergrund drängte. Nach Ablenkung suchend, fummelte er in seiner Jackentasche nach den Zigaretten. Betrunken und einhändig dauerte es nochmal länger als sonst, bis er sie zwischen seine Lippen stecken konnte. Er fischte weiter nach dem alten Feuerzeug, das klackernd aus seiner Hand rutschte. Träge griff er nach dem silbernen Glitzern am Boden, da gewann der Schwindel die Oberhand. Alec taumelte gegen die Wand, verlor die Zigarette aus dem Mund und landete auf dem Asphalt. Mühsam schob er sich zurück in eine sitzende Position.

Shit.

Der letzte derartige Zustand war schon eine Weile her. Dazu kam, dass der menschliche Körper deutlich weniger vertrug. Doch seine dämonische Seite machte keine Anstalten, sich bemerkbar zu machen. Kein Wunder, wenn er literweise Gift in seinen Organismus schüttete.

»Bitte, das dürft ihr nicht.«

Die flehende Stimme einer Frau ließ ihn aufschauen. Schon den ganzen Abend hatte sie in ihrer Nähe gesessen, und, genau wie jetzt, nervös mit ihren schwarzen Locken gespielt. Vermutlich stand ihr erstes Glas Wein noch immer halbvoll auf dem Tisch. Jetzt hielt sie ein Handy dicht an ihr Ohr und zitterte am ganzen Leib, die glasigen Augen weit aufgerissen.

»Ich bitte euch, lasst sie in Ruhe. Sie ist unschuldig.«

Alec hob Zigarette und Feuerzeug vom Boden auf, steckte den Glimmstängel wieder zwischen die Lippen und entzündete ihn. Mit dem nächsten Zug sah er erneut zu der Frau. Irgendetwas erregte seine Aufmerksamkeit an ihr. Ein Art Schimmern umgab sie. Könnte sie ein Halbengel sein? Oder war er einfach nur hackedicht? Nachdenklich legte er den Kopf schief. Doch der Perspektivenwechsel hielt nur den dritten Gang des Karussells bereit.

»Ich brauche mehr Zeit.« Die Schwarzhaarige ging ein paar Schritte, fuhr dann aber hektisch herum. »Das geht nicht so einfach.« Kurze Stille. »Ihr versteht das nicht.«

Meine Güte, was macht die denn für ein Theater am Telefon? Ist ja schrecklich.

»In Ordnung.« Sie nickte eifrig, auch wenn ihr Gesprächspartner sie nicht sehen konnte. »Ja. Natürlich. Ich finde das Kind.«

Als hätte ihm jemand in den Magen geschlagen, kehrte der Druck in seine Eingeweide zurück. Er würgte. In Wellen förderte sein Körper den Whiskey wieder zu Tage. Die braune Flüssigkeit sammelte sich in einer widerlich stinkenden Pfütze neben ihm, zusammen mit der Zigarette und ein paar Nacho-Resten. Seine einzige Mahlzeit heute. Atemlos wandte er den Blick ab, suchte Halt an der kühlen Wand in seinem Rücken. Die Frau sah er nirgends mehr.

»Oh Mann, Alec, echt jetzt?«, hörte er Daniels Stimme, spürte dessen warme Berührung an der Schulter und sah zu dem blonden Mann, der vor ihm hockte. Ein mitleidiges Lächeln umspielte seine Mundwinkel, eine Augenbraue hochgezogen. »Weißt du, wie teuer dein Whiskey war?«


6

 

»Hey Lilly, warum bist du nicht im Unterricht?«

Überrascht blieb die junge Halbdämonin in der Tür stehen und schien zu überlegen, ob Tylers Frage wirklich eine Antwort brauchte, trat dann aber doch in die Küche. »Die anderen lernen gerade Prozent- und Wahrscheinlichkeitsberechnung. Das kann ich schon. Daniel meinte, ich kann mich solange anderweitig beschäftigen.«

»Das ist Stoff aus der achten Klasse.« Zumindest glaubte der Halbengel, es ungefähr ihn diesem Zeitraum gelernt zu haben. »Das kannst du schon?«

Zu mehr als einem Nicken ließ sich das kleine Genie nicht hinreißen.

»Na, dann kannst du mir ja hier helfen.« Er deutete auf die Kisten hinter ihm und öffnete gerade die zweite der wöchentlichen Lebensmittellieferung. »Einfach in die entsprechenden Fächer einräumen.«

Lilly band die langen Haare zu einem Pferdeschwanz zurück und öffnete bereitwillig die dritte und letzte Kiste. Jeden Dienstag erhielten sie die Lebensmittel, die sie in der Woche zuvor bestellt hatten. Früher hatte Sophia diese Aufgabe übernommen und er es für selbstverständlich gehalten, dass die zwei mannshohen Kühlschränke und etliche Oberschränke stets aus allen Nähten platzten. Inzwischen wechselten sie sich damit ab. Und da er wegen Alecs Sperre ebenfalls zum Abwarten gezwungen war, kam ihm die Ablenkung gerade recht.

»Iihh, wer hat denn Pilze gewollt?« Angewidert schob Lilly sie in die hinterste Ecke des Gemüseregals. »Warum haben wir generell so viel Gemüse?«

»Auch wir müssen uns gesund ernähren«, meinte Tyler und verstaute drei Dutzend Packungen Milch im untersten Regalfach.

»Es ist erwiesen, dass man auch ohne Gemüse auf eine ausgewogene Ernährung kommt. Man muss lediglich auf ausreichende Vitaminzufuhr achten.«

»Mag ja sein, aber im Fleisch stecken nun mal nicht genügend Vitamine.«

Diesmal kicherte die junge Halbdämonin und begann damit, Äpfel zu einer Pyramide aufzustapeln. Auch die Bananen und mehrere Kiwis ordnete sie symmetrisch an.

»Das muss nicht so ordentlich sein.« Er deutete ein Kopfschütteln an. »Sobald Jake in der Küche war, ist sowieso alles wieder durcheinander.«

Aber das Mädchen mit den dunkelblonden Haaren ignorierte seine Aussage und machte ungehindert weiter. »Hast du immer noch Albträume?«

Überrumpelt von dem unerwarteten Thema, hielt er inne. Mit zwei Paletten Joghurt im Arm sah er sie an. »Wieso fragst du mich das?«

»Weil ich dich hab schreien hören.« Ihr durchdringender Blick aus den blauen Augen verriet ihm, dass das nicht zum ersten Mal der Fall war. »Also?«

Tyler musste sich kurz besinnen, dass er gerade ein Gespräch mit einer Zwölfjährigen führte. Einer hochintelligenten Zwölfjährigen. Ihr konnte er also nichts vormachen. »Ja, hab ich, aber das sollte dich nicht beschäftigen.« Beschämt räumte er den Joghurt in den Kühlschrank. »Tut mir leid, dass du mich gehört hast.«

»Ich habe auch Albträume«, berichtete sie nüchtern. »Nicht jede Nacht. Aber wenn, dann muss ich mich nur fragen, ob ich wirklich wach bin oder schlafe. Ich weiß, wenn ich träume. Es braucht ein bisschen Übung, aber es funktioniert.« Lilly schenkte ihm ein wissendes Lächeln. »Das nennt man luzides Träumen und ist erlernbar.«

Tyler knabberte an seiner Unterlippe. Noch nie hatte er diese Möglichkeit in Betracht gezogen. Was auch daran lag, dass es lange dauerte, um luzides Träumen zu erlernen. Bis er das beherrschte, hoffte er so auf Besserung. »Schön, dass du eine Lösung für dich gefunden hast.« Schwach lächelnd wandte er sich wieder den Lebensmitteln zu. »Ich werde darüber nachdenken.«

Nachdem nun Obst und Gemüse feinsäuberlich, wie in einem Feinkostladen, sortiert war, verschloss Lilly den Deckel und hockte sich auf die massive Holzkiste. Ganz nebenbei standen auch alle Gewürze jetzt in alphabetischer Reihenfolge im Regal. »Was machst du mit Alec?« Tyler spürte ihren durchdringenden Blick in seinem Rücken. »Ich meine, wie lange wird es dauern, bis die Sperre aufgehoben wird?«

»Das kommt ganz auf ihn selbst an«, entgegnete er kopfschüttelnd und hoffte, dass der Frust nicht allzu deutlich hörbar war. »Wie diszipliniert er ist und ob ihm nicht doch noch ein Wunder widerfährt.«

Automatisch fiel ihm die letzte Woche ein. Dank Alecs Ausflug mit Daniel in die Bar, in der er sich bis zur Besinnungslosigkeit hatte volllaufen lassen, hatte es fast vierundzwanzig Stunden bis zur vollständigen Wiederherstellung seiner Halbseite gedauert. Nachdem kurz darauf eine Dämonenaura Form angenommen hatte, Jaxon und Mike aber bereits in der entgegengesetzten Richtung zu Gange gewesen waren, hatte Alec versucht, die Sperre zu umgehen, woraufhin Ben ihm das Katana abgenommen hatte. Ihr Streitgespräch war durch die gesamte Akademie gehallt, so dass jeder davon wusste. Ein zusätzliches Hindernis bereitete ihnen Jaxon, der darauf bestand, ihn bei den Supervisor zu melden, um die Sperrung offiziell zu machen. Den Schritt wollte Ben vermutlich als allerletztes Mittel einsetzen. Tyler hoffte nun auf die Vernunft seines Partners.

»Berührt ein Halbwesen eine gegensätzliche Waffe, entstehen Verätzungen, richtig?«

Die Antwort kannte sie. Warum also die Frage? Mit dem Kopf in eine Hand gestützt, sprach Lilly weiter. »Verätzungen bei Menschen entstehen durch Unfälle mit Säuren oder Laugen. Der jeweilige Stoff muss neutralisiert werden, damit er sich nicht weiter durch das Gewebe frisst.« Das kleine Genie schaute erwartungsvoll zu ihm auf. »Kann man die Energie von Isza in Alecs Hand nicht neutralisieren

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783967410679
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Supervisor Freunde Fürst Halbwesen Experiment Kind Verlust Engel Dämon Fantasy düster dark

Autor

  • Lena Muskat (Autor:in)

Lena Muskat ist 1990 geboren. Nach zwei medizinischen Ausbildungen und Arbeitsplätzen in Leonberg, Ludwigsburg und Ulm ist sie derzeit im Schwarzwald zuhause, wo sie als Notfallsanitäterin, u.a. auch in der Luftrettung arbeitet. Inzwischen verheiratet, wächst die kleine Familie. Zwischen Job und Familienalltag findet sie aber auch weiterhin die Zeit zum Schreiben um ihrer Fantasie, mit Hilfe von Kaffee, freien Lauf zu lassen.
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Titel: Halbwesen: Licht im Schatten