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Vom Allerinnersten

Meditationen

von Samuel Widmer Nicolet (Autor:in)
192 Seiten

Zusammenfassung

Man vergisst es manchmal fast vor lauter Auseinandersetzung mit den Konflikten, die zwischen den Menschen zu lösen sind, vor allen Wundern aber auch, die sich erschliessen, wenn man der Entfaltung des Gesunden im Strang des Gemeinsamen folgt: Es gibt noch das Allertiefste, das Allerhöchste, das Allerinnerste, das, was man nur im Alleinsein, in der tiefen meditativen Erschliessung seines Innern findet, nämlich die Möglichkeit, dass sich unser Wesen ausdehnt, ausdehnt über alle Grenzen hinaus, dass wir erwachen für das Ganze, dass nicht nur unser Herz, sondern auch unser Kopf sich öffnet und alles, alles umfasst im einen grossen Mitgefühl, dass sich unser Bewusstsein ausfaltet und den ganzen Kosmos umspannt, das All, das Eine, und Liebe und Stille ist, jenseits oder inseits von allem.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Selbsterkenntnis

Selbsterkenntnis beginnt mit dem ersten Schritt, mit dem Lauschen und Schauen, mit dem Lauschen und Schauen nach innen, mit Achtsamkeit und Gewahrsein von Augenblick zu Augenblick.

Dabei geht es darum, die Mauer der Anpassung, der Pseudo-Harmonie und Konditionierung, hinter der sich das wahre Wesen der Menschen in der Regel verschanzt hat, wieder aufzubrechen und diese innere Wirklichkeit dem Erleben wieder zugänglich zu machen. Jeder von uns wird nicht darum herumkommen, diesen Weg abzuschreiten und dieses innere Gebäude der Verlogenheit, der Pseudo-Sicherheit und Gewohnheit ganz genau zu verstehen, so dass es allmählich in sich zusammenfallen kann.

Die Wächter an der Eingangspforte, die Angst vor der Wahrheit und der Widerstand, der Trotz gegen sie, sind als Erstes zu überwinden, bevor sich dem ernsthaften Sucher die erste Schicht seiner wirklichen Persönlichkeit unter der Kruste einer verfälschenden Sozialisation zeigt: die Schicht der abwehrenden Gefühle. Neid, Hass und Eifersucht, Geiz, Gier und Herrschsucht und viele andere Gefühle und Zustände, die unser innerstes Geheimnis vor uns verschliessen, sind zuerst zu würdigen, zu integrieren. Eine chaotische Welt zeigt sich dem willig Lernenden, beängstigend und doch bestens bekannt. Ist sie doch die Welt, in der wir auch im Äusseren als Folge unserer Vermeidungsstrategien meist miteinander leben. Wirklicher ist sie als die Schöntuerei der Anpassungsschicht, aber noch weit entfernt von der nicht hinterfragbaren, einen Wirklichkeit des Allerinnersten, von der der Sucher an dieser Station auf dem Weg noch kaum etwas ahnt.

Bleibt er beharrlich in seiner Sehnsucht, durch all die Wirrnis durchdringen zu wollen, und lässt er sich durch die zu überwindenden Hindernisse nicht einschüchtern, wird er schliesslich hinter all dem abwehrenden Gehabe als Essenz davon seinem Eigenwillen begegnen, den er als den Verantwortlichen dafür entlarvt und dem er nun absterben lernt.

Dieses Sterben bezwingt schliesslich den Wächter am Eingang zur nächsten, bereits viel wirklicheren Schicht der abgewehrten Gefühle, die nun gewissenhaft erforscht sein will. Hier warten die wahren Gefühle: Schmerz, Verlassensein, Einsamkeit, Ohnmacht, Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein. Diese Zustände begleiten uns noch lange, nachdem wir längst eingesehen haben, dass es besser und notwendig ist, für ein glückliches Leben seinen Eigenwillen mit dem Willen des Ganzen gleichzuschalten. Sie sind der Reibungseffekt, der entsteht in diesem Lernprozess, solange wir noch unbeholfen sind und stolpern. Sie erinnern uns daran, dass wir noch nicht ganz geöffnet sind für das eine Herz, uns noch nicht makellos der Führung der inneren Kraft überlassen haben. Wir sind noch nicht leer geworden von allem Eigendünkel und aller Reaktion auf das, was das Leben bringt. Die Leere des Innersten ist noch nicht ganz genommen.

Nur ein wahlloses, ehrliches und exaktes Beobachten all dieser inneren Bewegungen wird uns schliesslich ankommen lassen im Allerinnersten, das durch den Vorhang dieser abgewehrten Gefühle immer noch verschleiert wird.

Die abgewehrten Gefühle kann man auch die grossen Gefühle nennen. Sie stehen der letztlichen Wahrheit über uns schon sehr nahe, obwohl auch sie noch Artefakte, geboren aus Uneinsichtigkeit und Ungenauigkeit im Untersuchen des Innern sind. Erst wenn wir gelernt haben, uns ganz zu ergeben, alles, was ist, zu nehmen und zu betrachten, so wie es ist, erst wenn auch der letzte Widerstand gegen Wirklichkeit, die letzte Angst vor Wahrheit aus uns verschwunden ist, lüftet sich der Vorhang und das Innerste beginnt durchzuleuchten.

Im Allerinnersten gibt es keine eigentlichen Gefühle mehr, auf jeden Fall keine kleinen und keine grossen, keine abwehrenden und keine abgewehrten. Die Zustände oder Facetten des Allerinnersten, die wir in diesem Buch behandeln wollen, kann man allenfalls als die erhabenen Gefühle bezeichnen. Aber eigentlich sind sie keine Gefühle, liegen jenseits von dem, was Gedanke und Gefühl erreichen und berühren können.

Am Ende der Reise der Selbsterkenntnis ist es denn auch vor allem das Denken, das bis in seine feinsten und filigransten Ausstülpungen noch verstanden sein will, bis es sich auflöst beziehungsweise stillsteht im Verstehen seiner selbst. Der Denker erkennt an diesem Punkt, dass er mit dem Instrument des Denkens das Ziel seiner Sehnsucht zu erreichen versuchte, dies aber nie gelingen kann, da kein Gedanke und kein Gefühl je diesen ersehnten Raum betreten wird. Im Gegenteil muss alles Suchen enden, damit wir ankommen können. Im Erkennen dieser Tatsache lernt das Denken und all die Gefühle, zum Beispiel die Sehnsucht, die es hervorgebracht hat, zu schweigen, so dass sich das Tor auftun kann, das genau durch seine unablässige Aktivität verschlossen gehalten wurde.

Über den Weg der Selbsterkenntnis mit all seinen zu überwindenden Schwierigkeiten haben wir über die Jahre hinweg schon genug geredet und geschrieben. Dieses Buch soll ganz und gar dem innersten Geheimnis gewidmet sein, dem Allerinnersten in uns, dem, was sich dem treuen Selbsterforscher schliesslich offenbart. Es handelt damit von dem, wovon man eigentlich gar nicht reden kann, von dem, was man mit Worten nicht fassen kann.

Und doch, es zu versuchen, ist eitel Freude!

Lauschen und Schauen bilden den ersten Schritt auf dem Weg der Selbsterkenntnis, und auch den letzten. Den einzigen, der immer wieder zu tun ist: Ehrliches, beharrliches und gewissenhaftes Hinschauen. Der Weg der Selbsterkenntnis endet in der Auflösung des Selbst, der Entlarvung des Ich als Illusion. Er enthüllt uns unser wirkliches Wesen, das Allerinnerste, und führt damit über in den Pfad der Meditation.

Meditation ist das Erleben und Ergründen dieses innersten, nie ganz begreifbaren Raumes, ein Floaten in der Stille von Erhabenheit zu Erhabenheit. Zu Lauschen und zu Schauen bleibt auch im Zustand der Meditation der einzige Schritt, der immer wieder zu tun ist. Lauschen und Schauen stehen am Anfang von allem und gleichzeitig sind sie das, was schliesslich von allem, wenn es durch diesen Prozess der Reinigung gegangen ist, übrig bleibt. Lauschen und Schauen sind bereits Aspekte, Qualitäten des Allerinnersten. Dass wir bereit sind, ihnen am Anfang und immer wieder zu folgen, führt uns schliesslich hinein in den Kern unseres Seins.

Das Allerinnerste

Man vergisst es manchmal fast vor lauter Auseinandersetzung mit den Konflikten, die zwischen den Menschen zu lösen sind, vor allen Wundern aber auch, die sich erschliessen, wenn man der Entfaltung des Gesunden im Strang des Gemeinsamen folgt:

Es gibt noch das Allertiefste, das Allerhöchste, das Allerinnerste, das, was man nur im Alleinsein, in der tiefen meditativen Erschliessung seines Innern findet, nämlich die Möglichkeit, dass sich unser Wesen ausdehnt, ausdehnt über alle Grenzen hinaus, dass wir erwachen für das Ganze, dass nicht nur unser Herz, sondern auch unser Kopf sich öffnet und alles, alles umfasst im einen grossen Mitgefühl, dass sich unser Bewusstsein ausfaltet und den ganzen Kosmos umspannt, das All, das Eine, und Liebe und Stille ist, jenseits oder inseits von allem.

Voraussetzung, um in diesen Zustand aufgenommen zu werden, ist es, allen Energien, speziell natürlich auch der sexuellen, wenn sie aufkommen, stillzuhalten, sie nicht in Gedanken und Bilder zu lenken, sondern sie ohne Zwang und Druck einfach in sich stehen zu lassen, sie sein zu lassen, so dass die Energie davon aufsteigen kann. Alle Gefühle, die das mit sich bringt, sind natürlich dabei auch still zu würdigen, bis sich schliesslich das Ganze zeigt. Wenn wir in diese tieferen Schichten der Meditation eintauchen wollen, geht es wie zuvor im Prozess der Selbsterkenntnis weiterhin darum, alle Gefühle einzuschliessen. Hier geht es aber nicht mehr um die abwehrenden und abgewehrten, sondern gewissermassen um die erhabenen Gefühle, diejenigen, die sich um das eine Gefühl, das Gefühl der alles umfassenden Einheit herumgruppieren. Das Einschliessen der ersteren hat dazu geführt, ganz zu werden, eine gesunde, kraftvolle Egozentrik zu haben, eine erwachte Herzpersönlichkeit zu sein, die alle menschlichen Gefühle umfassen kann. Nun geht es darum, wenigstens zeitweise ins Göttliche, wenn man es so nennen will, vorzustossen, in welchem man lernt, das Ganze zu umspannen. Auch dies verursacht wieder „Gefühle“, etwas, was man fühlt. Man geht durch vielerlei Zustände, bis alles Platz hat in einem und nur noch das eine Gefühl übrig bleibt. All diese Zustände wird man allmählich ergründen.

Meine persönlichen Gefühle, meine Gedanken, meine körperlichen Sensationen, das bin nicht wirklich ich. Sie sind nur die Oberflächenbewegung in mir, nur Objekte, die in meiner Aufmerksamkeit ruhen. Die Geräusche um mich herum, das, was ich sehe, was von aussen auf mich eindringt, ist nicht die letzte Wirklichkeit. Es sind nur Geschehnisse, welche meine Wahrnehmung umfängt. Mein ganzes Bewusstsein, alles, was mein Bewusstsein hält, bin ich nur beschränkt, es ist nicht meine tiefste Wahrheit. Was ich vor allem bin, ist Wahrnehmung, dasjenige in mir, das dies alles wahrnimmt, das, was schaut, was lauscht, was fühlt.

Wer ist dieser Seher? Dieser stumme Zeuge? Was ist Wahrnehmung?

Wenn ich meine Aufmerksamkeit darauf zu richten beginne, wenn ich sie auf sich selbst zurücklenke, werde ich es erkennen.

Bin ich in der Tiefe dieser endlos weite, stille Raum, diese Leere, diese Ausdehnung, welche Wahrnehmung ist? Bin ich diese Freiheit, die alles umfasst?

Die Identifikation des Sehers mit dem Gesehenen schafft die Bindung, die mir alle Freiheit nimmt. Dinge, Erscheinungen, Objekte kommen und gehen. Nicht so der stille Zeuge. Er kann nicht gesehen werden, nicht lokalisiert werden, er erscheint nicht im Raum, beweist sich nicht in der Zeit. Er ist immer schon da, unveränderlich, jenseits von Tod und Geburt, jenseits von allem, der grosse Geist, das stille Wissen. Er tritt nie in den Strom der Zeit ein, des Raumes, den Strom von Geburt und Tod. All das kommt und geht. Nicht so meine innerste Wirklichkeit. Weil ich aber zuinnerst leer bin, gehe ich dann noch darüber hinaus und finde mich in jeder Form, in jedem Du in einem inneren Einssein. Die Dualität ist darin in ihrem Ursprung wieder überwunden.

Zuerst kommt das Aufsteigen in die Einheit, das ist der Pfad der Weisheit. Und danach kommt wieder das Heruntersteigen in die Form, das ist der Weg des Mitgefühls. Beides gehört zusammen. Die Weisheit sieht, dass das Viele eins ist, das Mitgefühl umgekehrt erkennt, dass das Eine identisch ist mit dem Vielen. Das eine Herz, der eine Geist, das ist die Vereinigung von beidem.

Der Säugling, der noch nicht ausdifferenziert ist, noch nicht erwacht ist, ist aufgelöst im Ganzen. Der Prozess der Meditation und Selbsterkenntnis führt nicht wieder dahin zurück; das wäre Regression, ein Rückschritt. Der Prozess des Erwachens, des Wachsens führt zu einer neuen Schau. Das Ganze löst sich in mir auf. Ich selbst, bewusst und willentlich, löse das Ganze in mir auf. Das hat etwas Gewaltiges, etwas Beängstigendes auch, aber auch etwas äusserst Erhabenes, etwas Schönes und etwas sehr Einfaches. Ich beziehungsweise meine Energie dehnt sich aus, bis sie das Ganze umfassen kann. Man kann auch sagen, ich löse mich auf, bis nur noch das Ganze bleibt, aber in einem bewusst angestrebten, selbst verantworteten Prozess. Ich verantworte das Ganze. Ich gehe dahin, wo nichts mehr ist ausser mir.

Das ist nicht der primäre Narzissmus des Säuglings, der nicht unterscheiden kann zwischen sich und der Welt. Es ist auch kein Grössenwahnsinn. Es ist Transnarzissmus, ein Überschreiten aller Grenzen, bis die tiefste aller Wahrheiten über mich sichtbar wird. Da ist nichts mehr ausser mir. Ich bin das All, der Kosmos, Gott, das Ganze, die grosse Leere und alle Form, die immer wieder daraus geboren wird. Das ist Weihnachten.

Als Peak-Erlebnis, als Gipfelerfahrung kann vielleicht jeder in besonderen Momenten für einen Augenblick da hineinkatapultiert werden. Aber um ein definitives Erwachen zu finden, muss man die Stufen davor erklimmen, und das bedeutet Selbsterkenntnis und dadurch vor allem die Überwindung des Selbst, die Überwindung der Ich-Bezogenheit zugunsten einer Du-Bezogenheit. Das heisst, lösen der Dreiecksproblematik, des menschlichen Problems überhaupt im eigenen Herzen. Darum ist es immer wieder notwendig, in all die Auseinandersetzungen und Konflikte in Beziehungen einzusteigen, die Enge davon anzunehmen, obwohl wir uns dann, wie eingangs gesagt, leicht darin verfangen und verlieren; vergessen, worum es eigentlich ging. Immer wieder identifizieren wir uns mit den Inhalten des Bewusstseins, mit dem Gerangel zwischen uns Menschen, mit den Gedanken, Gefühlen und körperlichen Sensationen in uns und müssen dies dann im Prozess der Selbsterkenntnis wieder überwinden.

Dieser allertiefste Zustand, das Erreichen des Grundes allen Seins in sich, die höchste uns mögliche Bewusstseinsstufe, die immer nur sehr wenige Menschen zu berühren vermögen, diese Einheit mit allem, der Urgrund, wie er von allen Mystikern immer wieder besungen wurde, ist identisch mit dem, was Castanedas Don Juan die Stimmung des Kriegers nennt, also mit etwas letztlich ganz Simplem und im Alltag Brauchbarem, mit dieser Stimmung, die ein Krieger im Verlauf eines Lebens in sich errichten kann, die ihn jenseits von allem stellt, ausserhalb von allem, über alles, die ihn alles ertragen, mit Würde und Gelassenheit durchstehen lässt und die er immer wieder in sich zu errichten versteht. Es ist das Schwerste überhaupt, sagt Don Juan, diese Stimmung in sich zu erzeugen. Dies ist aber auch der Zustand, von dem wir ständig reden, den wir mit Krishnamurti zusammen mit „ohne Reaktion sein“ bezeichnen, der Zustand, der allem Gefühl stillhalten kann und darum die Essenz von allem berührt. Es ist auch der Zustand, der – obwohl Einzelne ihn immer schon verwirklichen können – in der zweiten Halbzeit der Evolution angestrebt werden wird. In der ersten wurde die Egozentrik ausgebildet und halbwegs die erwachte Herzpersönlichkeit, in der zweiten geht es um das Finden dieser grossen, inneren Einheit, die sich dann in einem überwältigenden Mitgefühl in alle Form ergiesst. Das wäre dann die neue Geschichte. Die Aufgabe darin ist die Überwindung der Dreiecksproblematik, die Auflösung des Inzesttabus.

Stille

Auf dem Weg der Selbsterkenntnis wird man immer stiller. Die stille Beobachtung der eigenen Gedanken und Gefühle beruhigt diese allmählich. Selbsterkenntnis ist der Prozess, in dem man seine Pferde zügeln lernt. Man lernt, nicht länger seinen eigenen Kräften ausgeliefert zu sein, sondern ihnen stillzuhalten, sie zu befehligen, statt ihnen unterworfen zu sein, bis man schliesslich ein Gefühl innerer Leere erreicht. Das ist aber noch nicht die eigentliche Stille. Es ist das Fundament dafür, die Vorbereitung, die Empfänglichkeit, die man schafft, dass die wirkliche Stille uns dann berühren kann. Schliesslich hat man ein stilles Gehirn, man kann die Gedanken mehr oder weniger nach Belieben einschalten oder abschalten. Es denkt einen nicht mehr wild und chaotisch, sondern man denkt, wenn man will und es etwas zu denken gibt. Auch die Emotionen, die inneren Reaktionen auf alles, die Aggression, die Lust, der Ehrgeiz, die Gier und Machtansprüche, all diese Kräfte hat man in sich geeinigt unter ein gewisses Mass an Selbstkontrolle, von innerer Disziplin, die aber nichts mit Unterdrückung zu tun hat.

In diesem Zustand der inneren Leere zieht es einen auch oft in die Natur hinaus, mit der man sich verbindet, aus der man Stille schöpft. Sie hilft einem, den unsteten Geist immer wieder zu stillen, die widersprüchlichen Kräfte in sich wieder zu einen zu einer einzigen, ausgerichteten Kraft der Absicht. Die Natur schenkt uns Stille, denn alles Sein, alle Natur ist Stille, ruht in Stille.

All das ist die Vorbereitung. All das gehört zum Prozess der Selbsterkenntnis, der das Fundament legt für Meditation. Meditation ist dann etwas, was man nicht tun kann, was man nicht suchen kann. Sie kommt zu einem gewissermassen von aussen; so, wie die Liebe von innen heraus aus einem hervorbricht und sich in die Welt verströmt, bricht die Stille als andere Facette des einen, strahlenden Diamanten in einen ein. Es ist die Unermesslichkeit, die man darin spürt, die einen nahezu erschlägt, wenn man ganz geöffnet und still ist, den inneren Dialog anhalten lernt. Sie senkt sich in einen herab wie eine Gnade, manchmal. Man kann sie nicht rufen, nicht einladen. Sie kommt, wann sie will.

Still zu sein, mit sich selbst still zu sein, seinen Gefühlen stillzuhalten muss zuerst einmal nicht ein angenehmer Zustand sein. Die Existenz kümmert sich nicht in erster Linie darum, ob etwas angenehm oder unangenehm ist. Es ist unser Ego, dem dies leider so wichtig ist. Damit schafft es das vielleicht grösste Problem, mit dem wir Menschen zu ringen haben. Still zu sein mit sich selbst kann zuerst schiere Unerträglichkeit sein. Dann vor allem, wenn wir uns selbst, unserer Wirklichkeit lange und konsequent aus dem Weg gegangen sind. Die Konfrontation mit sich selbst, die dann zuerst stattfindet, kann äusserst schmerzhaft sein. Man spürt gewissermassen die Entzugssymptome, verursacht durch das jahrelange Ausweichen.

Stillsein ist auch nicht Isolation. Man dreht darin nicht um sich selbst und ist damit still. Stillsein ist immer ein Zusammen-still-Sein, ein Geöffnetsein für das Ganze, ein In-Beziehung-Stehen mit allem und jedem. Man bietet seine Stille dem Ganzen an, ohne Zwang, freiwillig. Darin ist jedes Autoritätsproblem mit dem Still-sein-Müssen aufgehoben.

Wenn im Prozess der Selbsterkenntnis schliesslich alles von einem abblättert, was man nicht wirklich ist, wenn die Identifikation mit dem Selbst gebrochen ist, wenn man sich nicht länger identifiziert mit dem Körper und seinen Bedürfnissen, sondern ihn genauso wie die Gedanken, Gefühle und Stimmungen und auch die Objekte der Welt wahrnimmt als flüchtige Form, die aus dem Innersten, dem einzig Unvergänglichen und daher in der Tiefe Wirklichen auftaucht, dann hat man Stille gefunden, diesen glatten See in der Tiefe von allem, der immer gleich ist, unbewegt, unbeeindruckt. Man schaut aus diesem Urgrund und erkennt in allem diese Essenz, und das Herz ist voller Liebe und Mitgefühl für alles, was sich aus diesem Einen als Form erhebt, nur um wieder da hinein zurückzufallen. Das Gehirn und das ganze Sein ist darin durchflutet von dieser Stille, vom einen Duft.

Stille ist die Unermesslichkeit da draussen, welche ein stilles Gehirn empfangen und in die es eintreten kann. Dies ist eine Voraussetzung, um träumen oder fliegen zu können. Träumen ist die Kunst, über die Verbindung des Herzens über Raum und Zeit hinweg zueinander zu fliegen.

Stille ist Wahrnehmung, ist Liebe, ist Mitgefühl, ist das Innerste, ist stummes Gewahrsein, ist das Heilige, ist der stille Zeuge von allem, ist der Urgrund, das nicht mehr Hinterfragbare, ist das Unermessliche, ist Ekstase, ist Nüchternheit, ist Wachheit, ist das, was keinen Anfang und kein Ende hat, das Todlose, ist das eine Herz, der eine Geist, ist Leere, ist das grosse Nichts, ist das, woraus alles kommt, ist der Ort und die Kraft der Schöpfung, ist die Intelligenz des Ganzen, das Tao, ist das, was nicht erklärt, nicht erfasst, nicht verstanden werden kann, ist das Einfache. Stille kann nicht erlangt werden, sie ist. Wer für sie erwacht, kennt Gnade. Stille ist Frieden, ist Unendlichkeit, ist Weisheit, ist das Tiefste, ist Glück, ist Meditation. Stille ist da, wenn alles wegblättert, was nicht Stille ist, was sich von ihr ausgrenzt. Stille ist da, wenn Anhaftung an das Begrenzte aufhört, wenn Bindung an den Teil schwindet. Stille ist Das. Stille ist Ewigkeit. Stille ist der eine Duft. Stille ist Stille.

Liebe

Der Prozess der Selbsterkenntnis führt zum Entdecken der Liebe im eigenen Herzen. Das ist vielleicht das Wichtigste überhaupt. Im Innersten des Herzens beginnt ein Quell zu sprudeln, der unversiegbar ist und der aus dem Nichts zu kommen scheint. Der innerste Kern in uns drin, in allem drin ist vor allem auch Liebe.

Immer wieder erstaunt es, dass noch nicht Allgemeingut ist, was Liebe nicht ist, denn die Liebe lässt sich nur schwer fassen, viel leichter lässt sie sich negativ definieren dadurch, dass wir alles abstreichen, was sie nicht ist.

In der Auseinandersetzung mit den Angriffen auf unsere Arbeit, denen wir oft ausgesetzt waren, mussten wir immer wieder erkennen, dass man uns missverstanden hat, weil man meinte, wir meinten das Übliche, was Menschen darunter verstehen, wenn wir von Liebe redeten, nämlich Sex, Abhängigkeit, Besitzdenken, Eifersucht. Aber all das hat mit Liebe nichts zu tun. Liebe ist das, was übrig bleibt, wenn dies alles im Prozess der Selbsterkenntnis verstanden ist und darum von einem abfällt.

Liebe ist der innerste Kern in uns. Das Heiligtum, das, was wir wirklich und in der Tiefe sind.

Was soll man noch sagen über die Liebe, alles ist über sie gesagt, und trotzdem wohnt sie nicht unter den Menschen. Ich dachte, jeder hätte es begriffen inzwischen. Aber immer wieder muss man es aufzeigen, was die Liebe nicht ist. Sie ist nicht Abhängigkeit, nicht Eifersucht, nicht Besitzdenken. Aber was ist sie dann? Und wie erlangt man sie?

Zuerst öffnet einen Selbsterkenntnis, die Beschäftigung mit sich selbst für den Fluss der Liebe. Aber ab einem gewissen Punkt ist es umgekehrt: Die Beschäftigung mit uns selbst macht uns zu. Was uns öffnet ist dann, das Du zu berühren, uns zu kümmern, uns zu verschenken, uns vom Du durchdringen zu lassen. Das ist dann die tägliche Übung der Überwindung des Selbst, ein Leben lang.

Etwas plakativ könnte man sagen: Lieben ist die Fähigkeit, zu dritt, zu vielt zu lieben. Das, was üblicherweise als Liebe bezeichnet wird, die Liebe zu zweit, ist eher die Art von Liebe, die in Wirklichkeit Eifersucht und Besitzdenken ist, die Art von Liebe, die lieber etwas dagegen hat, dass die anderen beiden im Dreieck sich auch lieben, als selbst zu lieben.

Früher glaubte ich immer, die Menschen seien nicht dreiecksfähig, weil es verboten ist, sie müssten entsprechend befreit werden. Das ist auch tatsächlich ein Teil des Problems. Aber in Wirklichkeit ist es vor allem die andere Tatsache, dass die meisten Menschen gar nicht zu dritt lieben wollen, sie wollen nicht teilen und Rücksicht nehmen, sie wollen nicht gestört werden. Sie wollen den anderen für sich allein, jeden, den sie treffen, für sich allein. Liebe, könnte man sagen, ist die Bereitschaft, sich aufs Teilen einzulassen, aufs Rücksichtnehmen, aufs Berücksichtigen, dass der andere, die anderen dieselben Bedürfnisse haben.

Das, was dem Fluss der Liebe im Weg steht, ist der Widerstand des Selbst. Dieses kann man nicht einfach loslassen. Niemand tut das freiwillig. Das hält nicht. Vielmehr ist es so, dass man an seinem eigenen Nicht-Wollen verzweifelt, weil man sich ihm stellt, es sieht. Weil man es nicht verdrängt, sondern beharrlich mit dieser Tatsache bleibt, bis es schliesslich zu einem Zusammenbruch kommt in einem drin. Der Boden fällt gewissermassen raus. Der Widerstand bricht auf seinem Höhepunkt zusammen, nicht Ich habe ihn aufgegeben. Darum ist schliesslich seine Kraft, meine ganze Kraft in der Liebe enthalten.

Ein weiterer Aspekt der Liebe ist zum Beispiel, dass sie den anderen den Freundschaftsdienst nicht schuldig bleibt. Das heisst, sie ist fähig, Schmerz zuzufügen, da wo es notwendig ist. Sie trägt den anderen zwar in diesem Schmerz, sie leidet mit ihm im Mitgefühl, aber sie vermeidet nicht, dem anderen die schwierigen Gefühle in der Beziehung zuzumuten, die daraus resultieren, dass dieser falsche Bilder hat, die korrigiert werden müssen. Die Gefühle zuzumuten, an denen der andere wachsen kann.

Liebe ist Mitgefühl, oder zumindest eine Vorstufe davon. Mitgefühl ist kein nettes Gefühl zum anderen hin, sondern ein Einssein mit ihm; die Fähigkeit, energetisch, gefühlsmässig seinen Schmerz, sein Leid, seine Angst, sein ganzes Sein mitzufühlen. Mitgefühl ist Liebe, die sich mit dem Schmerz über unsere Tragik gepaart hat, eine Leidenschaft, die für Wahrheit und Wirklichkeit geht und nicht locker lässt, bevor alles, alles wirklich gut ist. Die bereit ist zu tragen und zu transformieren, bis nur noch das Gute bleibt.

Lieben heisst, aus dem Herzen heraus zu leben, aus dem Herzen zu schauen, vom Herzen her in Beziehung zu stehen. Der Quell im Herzen wird genährt von unten, von der Kraft der Erde, die durch Becken und Bauch ins Herz hochsteigt und weiter in den Kopf und darüber hinaus. Das ist der eine Fluss, der das Herz stärkt. Der andere kommt von oben, vom Himmel, vom Unermesslichen. Er fliesst in ein stilles Gehirn ein und senkt sich ins Herz hinunter, in den Bauch und das Becken, und verbindet sich schliesslich wieder mit der Erde. Aus diesen beiden Flüssen ergeben sich zwei Kreisläufe; der Fluss von unten teilt sich über dem Kopf wie ein Springbrunnen, umfliesst den Körper, eine Schutzhülle bildend, und sammelt sich im Boden unter den Füssen, um verstärkt durch die Kraft der Erde wieder neu emporzusteigen. Genauso öffnet sich der Fluss von oben unter den Füssen wie ein Springbrunnen und umfängt den Körper von unten aufsteigend, bis er sich über dem Kopf wieder sammelt und vereinigt mit der Kraft des Himmels wieder ins Gehirn und ins Herz hineinströmt. Wahrnehmung kann diese Energiehülle dehnen, bis ins Unendliche dehnen, und derart einen Schutz um andere, um ein Geschehen, um einen Ort bilden und letztlich die ganze Erde, den ganzen Kosmos bewusst umfassen.

Das Wichtigste ist aber der Fluss vom Herzen zu den andern. Der Strom der Erde und der Strom vom Himmel treffen im Herzen aufeinander und bringen dieses zum Überfliessen. Die Herzenergie fliesst in den Kreis hinein, den alles Sein, alle Menschen und Wesen bilden, den Kreis, in dem wir gehalten sind und einander halten. Sie fliesst aber auch direkt zu jedem Du, bildet eine Verstrebung im Kreis mit jedem Du, in der wir zueinander reisen können über Raum und Zeit hinweg, einander fühlen können, ohne physisch verbunden zu sein. Zu lieben heisst, für diesen Fluss erwacht zu sein, ihn nicht nur zu geniessen, wenn er da ist, sondern sich um ihn zu kümmern, darum besorgt zu sein, dass er nicht behindert wird, eingeschränkt wird durch Bilder, durch Ängste und Widerstände, durch Verweigerung. Zu lieben heisst, den Fluss zu sehen, der alles und alle verbindet, und ihn zu verantworten.

Wirklichkeit

Wirklichkeit hat kein Gegenteil. Sie ist. Sie ist einfach. Sie kennt keine Dualität, wie wir ihr in unserer Entfremdung von Wirklichkeit unaufhörlich unterworfen sind. Alles, was nicht wirklich ist, muss enden, damit Wirklichkeit in Erscheinung treten kann. Alles, was Wirklichkeit verschleiert, muss in der Flamme der Wahrnehmung verbrennen. Das Unwirkliche wird niemals zum Wirklichen werden, Hass nie zu Liebe, Geiz nie zu Grosszügigkeit. Im Sehen des Hasses liegt sein Ende. Im Erkennen des Geizes wird das Neue geboren, das für sich alleine steht.

Aber wenn man, weil wir dazu neigen, Wirklichkeit im Gegensatz zu etwas sehen will, dann würde ich sie als Gegenpol zu Vergnügen verstehen, zu unserer inhärenten und fast nicht überwindbaren Tendenz, dem Vergnügen folgen zu wollen. Das klingt vielleicht zuerst paradox, unerwartet. Aber wenn man es im Prozess der Selbsterkenntnis genauer betrachtet, erschliessen sich einem die Zusammenhänge.

Dem Vergnügen einen vorrangigen Platz zu geben in seinem Leben setzt einen unter Stress. Man ist getrieben. Ständig ist man hinter etwas her, versucht etwas durchzusetzen, was nicht wirklich da ist im Moment. Bereits dies verhindert ein ruhiges Betrachten von dem, was wirklich ist. Wirklichkeit geht dadurch verloren. Man ist verblendet. Man schafft Illusion. Darüber hinaus zieht der Hang zum Vergnüglichen aber unweigerlich Angst und Frustration nach sich, weil man nie erhält, was man eigentlich möchte. Es entsteht dadurch eine neue Wirklichkeit, eine trübe und traurige. Die ursprüngliche Wirklichkeit wird verschleiert, kommt uns abhanden. Tiefe geht verloren, man schafft eine oberflächliche, seichte, illusionäre Wirklichkeit, in der das Denken und das Getriebensein, Ehrgeiz, Konkurrenz, Neid und Eifersucht, alles, was daraus kommt, eine grosse Rolle spielen. Bald ist man verloren in Verwirrung, Chaos, Konflikt und Illusion. Darunter liegt natürlich nach wie vor das eigentlich Wirkliche. Aber man sieht nicht mehr, man hört nicht mehr, man spürt nicht mehr. Und das Vergnügen, das man suchte, ist natürlich längst kein Vergnügen mehr, sondern Abhängigkeit, Sucht, Leid und Festhalten, ein endloser Kampf um etwas, was nicht gelingen will.

Vergnügen oder vielleicht besser Lust, Glück, die schönen Dinge, all das gehört zum Leben. Es auszuschliessen würde das Problem nicht lösen. Viele Religionen, viele religiöse Wege, die sich der Askese verpflichtet haben, haben dies versucht. Ihre Anhänger haben dabei lediglich die Schönheit eingebüsst und sich verstrickt in unlösbaren Widersprüchen. Eine wichtige Frage, die sich daher stellt, ist: Wo haben denn Lust und Freude ihren Platz im Leben, und wo und wie werden sie zu einer verderblichen Gefahr?

Lust, sexueller Appetit, die ganzen körperlichen Bedürfnisse und die Freude, sie zu befriedigen, sind Bestandteil unserer Wirklichkeit, ein schöner Bestandteil unserer Wirklichkeit. Darum wollen wir diese Dinge immer wieder haben. An der Lust selbst ist nichts falsch. Sie taucht in der Wirklichkeit ganz von selbst auf bei bestimmten Gelegenheiten, wenn der Hunger gross ist, wenn das Schicksal mit seiner Unausweichlichkeit sie bringen will. Wenn die richtigen Dinge oder Menschen aufeinander treffen. Man kann nichts dazu tun, man muss nichts dazu tun. Es geschieht von selbst. Und es bringt Schönheit in unser Leben. Dem zu folgen wäre kein Problem. Es ist ein unschuldiger Prozess, der nur Bereicherung bringt. Aber wir sind clever, glauben uns zumindest clever. Bald verlieren wir die Unschuld und meinen, etwas dazu tun zu können, dazu tun zu müssen, um die Wiederholung der Lust zu garantieren, um sie möglichst oft herbeizuzwingen. Natürlich geht das nicht. Im Gegenteil. Man entfernt sich damit von Wirklichkeit, von dem, was ist, von dem, was aus jedem gegebenen Augenblick ganz von selbst erblühen will. Cleverness ist ein Prozess des Denkens, das Denken bemächtigt sich der Lust, will sie organisieren, zwingen, nach den Wünschen des Ego, des Selbst modellieren. Es will erinnerte Lust reproduzieren, erinnerte Freude wieder herbeizaubern, das Gestern wiederholen. Sobald sich das Denken einmischt, geht die Unschuld verloren. Aber die Cleverness, unser Wollen, der Eigenwille, unser Denken sind nicht wirklich intelligent. Sie merken gar nicht, dass durch die Einmischung gar nicht eine Vermehrung von Lust und Glück zustande kommt, sondern Angst, nicht zu bekommen, nicht genug zu bekommen, Stress, es doch zu zwingen versuchen zu müssen und so weiter. Konflikt mit Wirklichkeit kommt dadurch zur Hintertüre herein.

Intelligenz und Einsicht gehen immer wieder zurück zum Wirklichen. Sie sehen, dass das Wirkliche am meisten Lust und Freude anbietet, dass diese nicht durch irgendwelche Tricks angereichert werden können. Sie sehen auch, dass Lust und Freude zum Nicht-Kontrollierbaren, Nicht-Machbaren gehören, dass sie kommen und gehen, wie sie wollen, dass man geduldig auf sie warten muss und die Zeiten, in denen sie uns nicht besuchen, willig als Zeiten der Abstinenz, des Verzichts, die auch ihren Platz, ihre Zeit und ihren Sinn in der Wirklichkeit haben, akzeptieren muss.

Lust, Freude, Glück, das, was wir am liebsten haben, gehören zum Allerinnersten, sie unterstehen nicht unserem Wollen. Sie müssen daher gepaart bleiben mit den anderen Qualitäten dieses Allerinnersten, mit Geduld, Unschuld, Einsicht, Intelligenz und Liebe. Sonst verderben sie, verlieren ihren Glanz, verkommen zum Vergnügen, diesem Abglanz von Glück und Freude, den das Denken schafft, ohne zu merken, dass der eigentliche Duft schon längst verloren gegangen ist.

Wirklichkeit ist. Sie kann nicht gemacht werden. Sie bringt in eigener Regie das, was sie für gut hält. Sie ist die Autorität, die Intelligenz des Ganzen in Aktion. Sie bringt uns Lust und Freude, wenn diese uns gut tun, und sie bringt uns den Verzicht, die Entsagung, wenn wir uns mit diesen Aspekten des Allerinnersten und seiner Wirklichkeit auseinander setzen sollen. Zu gehorchen, sich ihr zu stellen, zeugt von Reife.

Wirklichkeit ist das Allerinnerste, das wir im Prozess der Selbsterkenntnis allmählich erschliessen. Wirklichkeit ist die Summe der Aspekte des Allerinnersten, wie sie sich im Raum und in der Zeit manifestieren. Wirklichkeit ist gegeben. Sie ist absolut. Wir können sie nicht wirklich verändern. Wir können uns ihr nur stellen, ihr folgen, wohin sie uns führen will, oder sie mit unserem Wollen und Denken verschleiern.

Das Mittelmässige folgt dem Vergnügen, das Ernsthafte der Wirklichkeit. Das eine ist ein Prozess in Schönheit und Würde, das andere ein Prozess des Leids.

Weisheit

Auf dem Weg der Selbsterkenntnis trifft man, sofern man ehrlich und ernsthaft vorgeht, irgendwann auf das Innerste, auf das Eine. Dieses Eine ist wie ein allseits geschliffener Diamant mit unzähligen Facetten. Jede dieser Facetten spiegelt einen anderen Aspekt, eine andere Eigenschaft oder Qualität dieses immerselben Einen. Weisheit ist zum Beispiel ein solcher Aspekt. Jede solche Facette hängt direkt mit anderen zusammen und ist über diese letztlich mit allen untrennbar verbunden. Man kann zum Beispiel nicht von Weisheit reden, ohne gleichzeitig an Nüchternheit, an Ehrlichkeit und Wahrheit zu denken. Aber auch Demut, Stille und Weitsicht stehen ihr nahe, oder auch Humor, Gelassenheit und Abgeklärtheit.

Weisheit hat mit Übersicht zu tun. Sie erkennt die grossen Zusammenhänge, sieht das Weite. Nicht weil sie das Kleine, das Nahe, das Alltägliche übersehen würde, sondern weil sie es so gründlich berücksichtigt und gewürdigt hat, dass sie darüber hinausgehen kann.

Weisheit gehört zum Alter, so wie die Weitsichtigkeit zum alternden Auge. Nicht dass das Alter von selbst Weisheit hervorbringen würde. Im Gegenteil sind Alte oft stumpf und versandet, aber es braucht doch Augen, die viel gesehen haben, einen Geist, der alles ergründet hat, um Weisheit zu finden. Und doch ist es nicht die Erfahrung, auf die sich die Weisheit stützt. Im Gegenteil hat sie alles Wissen, alle angehäufte Kenntnis überwunden, hinter sich gelassen und sich ganz einer ursprünglichen Unschuld wieder geöffnet. Sie schöpft aus dem Augenblick, der ausserhalb der Zeit steht und deshalb der Ewigkeit angehört. Wahrscheinlich müsste man daher eher von Reife als von Alter reden.

Wenn ich persönlich keine Brille oder keine Linsen tragen würde, könnte ich schon lange nicht mehr lesen und schreiben. Ich hätte über alles nur noch eine vage Übersicht, könnte nur noch das Ferne einigermassen deutlich sehen. Vielleicht wäre es natürlich, wenn man älter wird, auf diese Weise zu leben. Alles würde viel langsamer werden, man müsste mir vorlesen, was ich wissen muss, und für mich aufschreiben, was ich festzuhalten habe. Um die kleinen Dinge könnte ich mich nicht mehr selbst kümmern. Keine Hektik hätte darin Platz, viel Geduld wäre notwendig, Eigenschaften, die ebenfalls mit der Weisheit eng verwandt sind. Ähnlich ist es mit dem alternden Geist, wenn er weise wird und nicht in stumpfer Gewohnheit verkommt. Es ist nicht mehr seine Art, sich ums Detail zu kümmern, um Kleinigkeiten zu streiten, er lässt das Schnelle hinter sich. Er sieht bereits den Tod in der Ferne. Das macht ihn gelassen, und er wendet sich deshalb den grossen Bewegungen des Lebens zu. Die kleinen Dinge überlässt er der Jugend, zieht sich davon zurück. Er erkennt die Schicksalslinien und schaltet sein Wollen mit ihnen gleich.

Weisheit geht mit der Intelligenz des Ganzen. Nicht mit der Klugheit, das ist etwas ganz anderes. Kürzlich hat mich jemand in einer Situation beraten. Seine Ratschläge waren durchwegs klug, aber sie waren nicht weise. Klugheit passt sich an, richtet sich nach dem jeweilig wechselnden Wind, denkt in Kategorien von Vorteil und Nachteil. Weisheit ist oft überhaupt nicht klug. Sie passt sich nicht an. Sie macht keine Kompromisse, sie rechnet nicht. Sie ist einfach wahr, ob es Vorteile oder Nachteile bringt. Sie kann sich das auch leisten, weil sie unabhängig ist. Wer den Tod und alle Möglichkeiten einschliesst, ist unabhängig und braucht nichts zu fürchten. Intelligenz ist eine andere Facette des einen Diamanten, den man in seinem Innersten, im Innersten von allem finden kann. Sie ist eine unpersönliche Intelligenz. Sie hängt mit dem Erkennen der grundsätzlichen Ordnung im Universum zusammen. Weisheit erkennt diese Ordnung und hält sich an sie. Weisheit will in keiner Weise mehr ausbrechen aus dem, was ist. Sie ergibt sich der Wirklichkeit, dem, was gegeben ist. Sie berücksichtigt alle Gesichtspunkte und findet daher immer wieder überraschende und paradoxe Lösungen in verfahrenen Situationen.

Mit dem Eigenwillen ist die Weisheit wenig befreundet. Sie geht mit ihm um, wo er sich aufdrängt, aber selbst hält sie sich an die Ordnung und den Willen des Ganzen. Sie folgt gefügig den Schicksalskräften und versucht alles, was in ihre Obhut gegeben ist, entsprechend zu lenken. Damit bringt sie Harmonie hervor, wirkt ausgleichend und bewirkt Gerechtigkeit.

Weisheit hat nicht nur eine Übersicht über das, was im Raum geschieht, sondern auch über das, was in der Zeit geschieht. Sie erkennt die Geschichte hinter dem Aktuellen und erahnt seine mögliche Entwicklung in der Zukunft. Das macht sie losgelöst, wenig gebunden an die Hitzigkeit der Aktualität. Wie dem weitsichtigen, alternden Auge ist ihr die Aktualität vage und verschwommen geworden, umso deutlicher wird ihr das Eingebettetsein dieser Aktualität in die langsamen Bewegungen der grossen Ganzheit. Weisheit braucht wie ein gereifter Konzernleiter den scharfen Blick aufs einzelne Ereignis, aufs einzelne Detail des Betriebs, der ihm untersteht, nicht mehr. Darum hat er sich in seinem Leben früher so intensiv gekümmert, dass er es wieder vergessen kann. Es ist Teil seines Wesens geworden. Darum kümmern sich längst andere, ihm unterstellte Kräfte, auf die er sich verlassen kann. Ein junges Auge würde ihn nur zu sehr verwickeln und verbrauchen im letztlich Unbedeutenden. Er kann es sich leisten, ohne Brille zu leben. Er kann sich gelassen zurücklehnen, braucht über die Kleinigkeiten nicht mehr Bescheid zu wissen. Seine Kräfte sind auf den grossen Zusammenhalt ausgerichtet. Eigentlich weiss und kann er nichts mehr. Er ist wie der alte Baum geworden in der schönen Geschichte, die man sich von Lao Tse erzählt, der im Einzelnen zu nichts mehr zu gebrauchen ist, aber gerade darum vielen Schatten gibt, gerade darum geeignet ist, das Ganze zu schützen, zu bewahren, zusammenzuhalten und zu tragen.

Lao Tse war unterwegs mit seinen Schülern. Sie kamen an einer Gruppe von Holzfällern vorbei, die gerade einen Wald umgehauen hatten. Nur einen einzigen, riesigen, uralten Baum hatten sie stehen lassen. Lao Tse erkundigte sich, warum sie all die Bäume gefällt hätten und bekam die Auskunft, dass das Holz benötigt würde, weil man es für verschiedene Dinge brauche: zum Bauen, zum Anfertigen von Möbeln und anderen Dingen. Lao Tse fragte weiter, warum man denn den alten Baum nicht gefällt hätte, und die Antwort war, dass er zu nichts zu gebrauchen sei.

„Seid wie dieser Baum“, riet Lao Tse daraufhin seinen Schülern, „zu nichts zu gebrauchen! Dann werdet ihr vielen Schatten geben.“

Weisheit weiss, dass das Leben uns letztlich trägt. Sie vertraut in die Kräfte des Lebens, ergibt sich ihnen vertrauensvoll. Sie kennt keine Angst mehr und keine Unruhe, keinen Widerstand und keine Ungeduld. Leichtfüssig und leichten und heiteren Herzens folgt sie der Entfaltung des Unausweichlichen und unterstützt dessen unergründliche Absicht. Weisheit hat mit Reife zu tun. Sie ist die Krone der Würde in einem Leben, das zu einer voll erwachten Rundheit herangereift ist. Darum findet man sie dort, wo das Alter nicht nur Alter ist, sondern zu Reife geführt hat.

Ein wichtiger Schritt in der Selbsterkenntnis besteht darin, seine Eigenverantwortung zu sehen, zu entdecken, dass nicht nur und nicht so sehr das Verhalten der anderen, meiner Erzieher zum Beispiel, meinen Lebensweg bestimmt hat, sondern vielmehr meine eigenen Entscheidungen. Und zwar vor allem die frühen, quasi unbewussten, die ich zwischen dem ersten und fünften Lebensjahr gefällt habe. Jeder Mensch entscheidet in dieser Lebensphase darüber, wie er sich in Bezug auf das Gemeinsame im Wesentlichen verhalten will, ob er sich lieber vertrotzt dagegen oder zur Verfügung stellt, ob er ein Egoist sein oder lieber für die anderen leben will, ob er ein „Z‘Leid-Wärchi“, einer, der den anderen zu Leide lebt, werden will oder ein Feigling oder ein Unentschiedener, ob er es vorzieht, einer zu sein, der immer das Gegenteil machen muss oder ob er sich lieber mutig und eigenständig einsetzt für die Belange des Mitgefühls. Bei den meisten Menschen ist diese Entscheidung definitiv. Sie kommen nie mehr darauf zurück. Sie verfestigt sich in ihnen zu definitiven Mustern des Widerstands, die sie nie hinterfragen. Sie haben entschieden, blöde Kerle zu sein, unangenehme Menschen.

Auf dem Weg der Selbsterkenntnis macht man sich diese Entscheidungen bewusst und damit zugänglich für eine Revision. Nur ganz wenige verändern ihr Leben später total, indem sie tatsächlich neue, bessere Entscheidungen fällen und die alten rauswerfen, sofern sie erkennen, dass sie in den ersten Jahren ihres Lebens falsch entschieden haben. Weder in der Kindheit, noch bei der Revisionsarbeit ist das Verhalten der Umgebung (Erzieher, Psychotherapeuten, Mitmenschen) wirklich massgebend. Es kann helfen, fördern et cetera oder andererseits auch brechen, unterdrücken und so weiter. Aber im Wesentlichen fällt jeder diese Entscheidungen allein, in absolut eigener Verantwortung. Niemand weiss, warum einer „richtig“ entscheidet als Kind und viele andere falsch. Es scheint eine grundsätzliche Reife oder Weisheit zu sein, die jemand schon mitbringt. Günstige Bedingungen mögen ihm dabei zusätzlich helfen. Der Kontakt zum innersten Kern, zur Facette der Weisheit in diesem Innersten ist im einen schon früh sichtbar und im anderen nicht.

Demut

Wenn man das Allerinnerste erforscht auf dem Weg der Selbsterkenntnis, fasziniert einen immer wieder der hologrammartige Charakter dieses allseits geschliffenen, leuchtenden Diamanten. Man kann durch irgendeine Facette eintreten, durch Liebe oder Stille vielleicht, und stösst dabei unweigerlich auf all die anderen wie Wahrheit, Glück oder Einsicht, die immer mit aufleuchten. Manchmal erscheint einem die eine Facette als die allerwichtigste, grundlegendste, die alle anderen enthält oder bedingt, dann wieder die andere. Das Wunder daran ist, dass dies für jede gilt. Woher immer man schaut, man sieht immer gleich den tiefsten Grund, auf dem sich alles andere zu begründen scheint.

So auch bei der Demut, einer „besonders wichtigen“ Eigenschaft des Allerinnersten, des weiten Himmels, der sich dem beharrlichen Sucher schliesslich öffnet. Aber eben: Das Prädikat „besonders wichtig“ ist irreführend. Es stimmt nicht wirklich. Alle Aspekte des innersten Einen, seien es Ehrfurcht, Tiefe oder Ergebenheit oder auch Kraft, Heilung und Mühelosigkeit oder was auch immer stehen gleichwertig nebeneinander. Man erkennt, das man im Innersten vor allem auch über gleichwertiges Miteinander lernen kann. Etwas, worum sich Menschen immer wieder vergeblich mühen, was sie herbeizuzwingen versuchen und doch nie finden. Denn Gleichwertigkeit ist nicht gegeben, solange das Innerste nicht allgegenwärtig aus einem Herzen oder Geist durchschimmert, solange er noch gefangen ist in Konditionierung, in Halbheiten, in den Niederungen der abgewehrten und abwehrenden Gefühle. Gleichwertigkeit setzt vor allem dies voraus, dass die Qualität, die ein Geist, ein Herz vertritt, alle anderen Qualitäten mitumschliesst, sich auf ihnen begründet und gleichzeitig ihr Grund ist. Darüber kann man im Allerinnersten lernen. Da findet man die grosse Leere, das grosse Nichts, und es ist gleichzeitig Stille und Mitgefühl. Da entdeckt man Würde oder Ehrlichkeit, und sie scheinen einem alle anderen Aspekte, wie zum Beispiel Gelassenheit oder Schönheit, erst hervorzubringen.

Oder eben Demut: Manchmal sieht man sie vielleicht als Beiprodukt von Weisheit und Glück, und dann wieder erkennt man sie als deren eigentliche Grundlage.

In einer liebenden Gemeinschaft vertritt jeder Einzelne einen bestimmten Aspekt dieses Allerinnersten, zu dem er besonders berufen, der ihm besonders geschenkt ist. Der eine steht vielleicht für die Stille, die andere vor allem für die Freude, ein Dritter zum Beispiel für Nüchternheit und eine Vierte lebt in erster Linie die Wachheit. Und so weiter ... Und jeder und jedem wird es vorkommen, als hätte gerade der andere das allerwichtigste Geschenk, auf dem sich das seine erst begründen kann. Und jeder und jede wird auch erkennen, dass seine Gabe zuweilen die allerwichtigste wird, die alle anderen zusammenfasst und zu einer Einheit beschliesst. Und darin werden sich alle gleichwertig fühlen können in aller Verschiedenheit, und darum wird kein Konflikt unter ihnen sein. Nicht Ehrgeiz und Konkurrenz wird sie beherrschen, sondern jeder wird den anderen würdigen und schätzen können und sich selbst geschätzt fühlen.

Die Demut spielt darin eine „besondere“ Rolle (in Anführungszeichen natürlich). Glück und Weisheit können sich in einem Menschen nur zeigen, wenn er sie kennt. Sie ist aber nicht falsche Bescheidenheit, hinter der sich die eigene, nicht offen eingestandene Wichtigkeit versteckt, auch nicht Gleichmacherei, die es vermeiden will, schwierige aber notwendige Auseinandersetzungen mit Macht und Autorität auf sich zu ziehen. Demut ist eine königliche Haltung, die sich wie alles im Innersten auf einer Ergebenheit gegenüber Wirklichkeit begründet, die aufgehört hat, mittels eines beschränkten Eigenwillens eine beschränkte Wirklichkeitssicht den Fakten des Lebens überstülpen zu wollen, die uneingeschränkt bereit ist, sich der Autorität des Wirklichen zu beugen, ihr zum Recht und zum Durchbruch zu verhelfen und darin nichts Eigenes verteidigen muss. Demut ist es, die gerade die Gleichheit in allem erkennt, das aus dem Innersten kommt. Demut ist es aber auch, die mit Würde und ohne jeden falschen Stolz das, was nicht gleichwertig ist, konfrontieren kann, die sich nicht scheut, jedes Autoritätsproblem, das hinter der Nicht-Akzeptanz gegenüber Wirklichkeit besteht, hervorzuholen. Denn alles, was aus dem Innersten kommt, ist sich seiner Nichtigkeit bewusst und hat darum Anteil an der Erhabenheit des grossen Nichts. Was aber nicht aus dem Innersten kommt, ist tatsächlich minderwertig, fühlt sich auch zu Recht minderwertig, wie jeder, der nicht liebt zum Beispiel, erlebt sich aber als wichtig, neigt zur Selbstüberschätzung und sieht seine Bedeutungslosigkeit nicht.

Demut sieht die wirklichen Zusammenhänge, erahnt die grossen Zusammenhänge. Sie hat die Arroganz und den Grössenwahn der Beschränktheit vollkommen hinter sich gelassen, erlebt sich als Staub vor dem grossen Einen und beugt sich willig und wahllos vor seiner Ordnung und seinen Gesetzen, die sie immer deutlicher zu erkennen beginnt.

Glück und Glücksfähigkeit

Ist Glück nicht auch eine der unzähligen Ausstülpungen des allerinnersten, grossen Einen, das wir auf dem Weg der Selbsterkenntnis in uns herausschälen?

Zuinnerst in uns, zuinnerst in allem, in aller Form finden wir nichts, eine grosse Leere. Und dieses gewaltige Nichts kennt all diese erhabenen Qualitäten wie Liebe, Stille, Weisheit und Frieden, die gelegentlich aufleuchten. Das Nichts schillert, so wie eine glatte Wasserfläche in allen Farben des Regenbogens schillert, wenn das Licht darauf fällt. Und eine dieser Farben im Nichts ist das Glück, die Freude, die stille Ekstase. All diese Eigenschaften des Innersten, des grossen, einen, ungreifbaren Nichts sind unpersönliche Eigenschaften. Sie gehören mir nicht. Ich befehlige sie nicht. Sie überkommen mich manchmal, wenn ich völlig geöffnet bin, wenn ich sie nicht suche. Und ich teile sie immer mit dem Ganzen.

Glück geht mit Schönheit zusammen. Glück kommt daraus, Schönheit zu entdecken. Schönheit zu sehen ist Glück. Schönheit kommt daraus zu sein mit dem, was ist. Das, was ist, ganz und gar wahrgenommen und gewürdigt, ohne jede Abwehr, ohne jeden Widerspruch, ohne Beurteilung, ohne Schmälerung ist immer schön. In seiner Wahrheit ist es voller Schönheit. Zu sehen, was ist, was wirklich ist, beinhaltet Schlichtheit und Einfachheit. Auf die Dinge und Geschehnisse einfach zu schauen lässt ihre Schönheit aufleuchten. Alles Existierende ist voller Schönheit. Der Tod genauso wie das Elend. Die Natur genauso wie die Werke der Menschen. Und sie zeigt sich dem Auge, das sehen kann, dem Ohr, das hören kann. Schauen, ohne dass sich etwas dazwischenschiebt, unmittelbar; hören, ohne einen Einwand gegen das Gehörte. Mit Liebe zu schauen, aus der Liebe heraus zu schauen, lässt einen Schönheit erkennen. Aus Liebe zu schauen, ist Glück. Zu lieben, das ist glücklich sein. Glück kann man nicht machen. Man kann es nicht wollen. Wie alles, was wir im Allerinnersten finden, ist es uns nur geliehen. Es ist wie alles, das keinen weiteren Grund hat, zwar unsere tiefste Natur, aber gleichzeitig teilen wir diese mit allem Seienden. Sie ist nicht unser persönlicher Besitz. Paradoxerweise gehört uns das, was wir nur oberflächlich sind, nicht wirklich in der Tiefe sind, unsere kleinen und grossen Gefühle, die normalerweise die Erhabenheit des inneren Sanktums verschleiern, viel mehr. Das Innerste entzieht sich unserem Zugriff. Wir können es nicht haben, wir können es nur sein.

Man kann das Glück nicht einladen, genauso wenig wie die Stille und die Liebe. Sie gehorchen ihrem eigenen Gesetz, einer universellen Ordnung, nicht unserem Willen. Sie kommen und gehen, wie sie wollen, sind abhängig von der jeweiligen Zeitqualität, die zum Mysterium des Seins gehört. Was wir aber können ist, uns für das Glück bereithalten, für die Liebe, die Stille und alle anderen Facetten des innersten Diamanten bereithalten. Wir können uns um unsere Glücksfähigkeit kümmern. Das ist einerseits wie alles im Bereich der Selbsterkenntnis äussert einfach und andererseits vielleicht das Schwierigste, was es überhaupt gibt. Um glücksfähig zu sein, muss ich mich leerhalten von allen Verwicklungen, damit das Glück mich berühren kann, in mich einfliessen kann, wenn es kommt.

Wer bin ich, wenn ich ohne Widerstand, ohne gutzuheissen oder abzulehnen, sondern einfach, mit dem sein kann, was ist? Wenn ich mich Wirklichkeit nie entziehe, nie fliehe in Träume und Gedanken, sondern ganz und gar gegenwärtig lebe mit allen Energien, die den jeweiligen Augenblick ausmachen? In diesem Zustand bin ich wahllos offen. Alle kleinen und grossen Gefühle, alle Abwehr ist darin überwunden, so dass, wenn das Glück dann vorbeizieht wie ein einmaliger Duft, ich diesen wahrnehmen kann, bereit bin dafür. Das ist eine ganz simple Aufgabe. Aber meist brauche ich ein ganzes Leben, um sie makellos und meisterhaft zu lösen. Sofern ich mich ihr überhaupt stelle.

Glück kommt aus der Ergebenheit in die Tatsache, keine Wahl mehr zu haben. Paradoxerweise ist ein Leben, das keinen Ausweg mehr kennt, in dem man keine Kündigungsmöglichkeiten mehr hat, nicht ein Leben voller Enge und Unausweichlichkeit. Das ist es nur zuerst, nur solange man sich sträubt gegen eine solche Vereinnahmung. Sobald man sich ergeben kann, sich hingeben kann, erhebt sich gerade aus der grössten Ausweglosigkeit das Glück. Ein Leben, das nur noch den Tod als letzten Ausweg kennt und das mit ganzer Hingabe gelebt wird, ist erst ein glückliches und reiches Leben. Und das Mass der darin genommenen Enge und Unausweichlichkeit bestimmt die Weite des Himmels, in der der Geist schliesslich frei fliegen kann. Hingabe und Ergebenheit begleiten das Glück. Wo sie zu finden sind, taucht das Glück gerne auf.

Ein für das Glück bereiter Mensch lebt mit allem Sein und allem Leben als mit einem Mysterium, einem letztlich nicht verstehbaren Wunder. Für ihn ist alles immer neu, alles, was er betrachtet, ist voller Schönheit, alle Muster der Gewohnheit sind in ihm zusammengebrochen. Er kennt nur Unmittelbarkeit, ein immer und immer wieder Neu-Begreifen, Neu-Erfassen, Neu-Entdecken. Glück ist die Empfindung von Schönheit, die das Lieben mit sich bringt.

Gelassenheit

Im Innersten, im grossen Einen findet man auch die Gelassenheit. Ein Zustand, ein Gefühl, das sehr mit Geduld und Ausgeglichenheit zusammengeht. Gelassenheit kommt daraus, dass man mit allem sein kann, so wie es ist, dass man alles sein lassen kann, so wie es ist. Alle Facetten des Allerinnersten hängen von dieser einfachen Fähigkeit, die so schwer zu erringen ist, ab: sein zu können mit dem, was ist; ohne Reaktion auf die Fakten und Phänomene der Welt und auch des innern Mysteriums schauen zu können; wirklich lauschen zu können, wirklich schauen zu können, unmittelbar, ohne dass sich irgendeine Voreingenommenheit, irgendein Urteil, ein Vorurteil dazwischenschiebt.

Diese reaktionslose Haltung erschafft das Innerste nicht. Dieses ist unabhängig von irgendetwas immer da. Und sein Hervorbrechen empfindet man immer als Gnade, als unverdientes Geschenk. Aber die Haltung der Reaktionslosigkeit schafft die Voraussetzung, die Durchlässigkeit, dass das Geschenk überhaupt kommen kann.

Alles ist von diesem Zustand der Gelassenheit aus gesehen gleich­–gültig, es hat die gleiche Gültigkeit, das heisst, es spielt alles keine Rolle, es ist gleichgültig, wie es gerade ist, oder es spielt alles die gleiche Rolle, alles ist gleichwertig, gleichbedeutend. Gelassenheit ist ein Zustand ohne Angst. Die Angst ist darin vollkommen zu einem Ende gekommen. Nichts kann einen mehr aus der Ruhe bringen. Man hat das Innerste gefunden, das Wesentlichste, und man weiss und vertraut darauf, dass nichts und niemand es einem wieder nehmen kann oder dass man es auf jeden Fall immer wieder finden wird. Man hat Stille gefunden und ruht darin. Alles andere ist daneben nicht von allzu grosser Bedeutung. Die Angst ist überwunden, weil sie vorweggenommen ist.

Gelassenheit kommt daraus, dass man alle Möglichkeiten einschliessen kann, alle möglichen Entwicklungen der Zukunft voraussehen und als eventuelles Schicksal akzeptieren kann. Das Schlimmste, was einem geschehen kann, ist bereits passiert und man konnte damit fertig werden, darum braucht man keine Angst mehr zu haben. Man ist bereits gestorben, ins Innerste hineingestorben, ins Nichts, hat Tod und Vernichtung als letztliches Schicksal angenommen, nichts kann einen mehr schrecken. Man weiss, dass das Leben einen hinsetzen kann, wohin immer es will, man wird jedes Schicksal mit Freude willkommen heissen können, aus jedem Leben etwas Schönes gestalten können. Es spielt keine Rolle mehr, ob ich Ich oder Du bin. Alles ist gleich–gültig. Alles ist wunderbares Leben, wert, mit Leidenschaft und Intensität gelebt zu werden. In der Gelassenheit ist eine totale Bejahung des Lebens beschlossen, eine Würdigung des Mysteriums, in dem wir zu Hause sind. Die Integration von allem Negativen hat zu einer grundsätzlichen Positivität geführt.

„Geduld ist die Essenz der Liebe“, behauptet Krishnamurti. Geduld, das heisst still sein können mit allem, so wie es ist, mit den Fakten, mit den Phänomenen sein zu können, ohne sie verändern zu wollen, verändern zu müssen. Nicht, dass man alles gutheissen würde, all die Ungerechtigkeit und Bosheit in der Welt nicht sehen würde. Nicht, dass man nicht beharrlich darauf hinwirken würde, dass eine grundsätzliche Wandlung, eine tiefe, innere Revolution die Menschheit erfassen sollte. Aber die Gelassenheit weiss, dass diese notwendige Veränderung nicht aus Revolution, aus Widerstand und Auflehnung kommen wird, sondern aus Akzeptanz, aus Stillwerden mit dem Gegebenen, aus dem Annehmen der Gefühle, die darin liegen, aus dem Sehen der Fakten. Deshalb ergibt Gelassenheit sich, ohne sich wirklich zu ergeben, deshalb beugt sie sich, ohne sich wirklich zu beugen.

Dies führt zu einer inneren Ausgeglichenheit, die ausgleichend wirkt in allen Lebenssituationen, beruhigend, in die Ruhe führend. Alle Gereiztheit, die daraus kommt, dass man es anders haben möchte, alle Aggression, aller Zorn, der damit zusammenhängt, dass man es nicht nehmen will, wie es ist, kommen darin schnell wieder zur Ruhe. Alle Angst und Paranoia, die damit zusammenhängen, dass gewisse Möglichkeiten, gewisse mögliche Entwicklungen in einer bestimmten Situation ausgeschlossen werden, fallen in sich zusammen. Aller Stress, der sich darauf begründet, dass unbedingt ein ganz bestimmtes Ergebnis erzielt werden muss, ein ganz bestimmtes Ziel erreicht werden soll, fällt von einem ab, weil alles sich entwickeln darf, wie das Leben es offenbar will. Ein Mensch, der Gelassenheit ausstrahlt, wirkt auch beruhigend auf seine Umgebung, auf seine Mitmenschen, wo immer er ist. Und darin liegt die wirkliche Wandlung, die so von Nöten ist unter uns Menschen.

Die Gelassenheit kann alles aushalten. Das heisst nicht, dass es immer leicht ist, nie ein Problem ist. Die Leichtigkeit darin kommt mehr aus der Gewissheit, dass man alles tragen, alles ertragen kann, dass es nichts gibt, kein Gefühl gibt, das nicht zumutbar ist, das man nicht schon durchlebt hat. Gelassenheit ist Leichtigkeit. Eine Willigkeit, die den Zeichen des Lebens willig folgt. Gelassenheit kommt daraus, dass man schon alles kennt. Man ist nicht länger an Erfahrungen interessiert, weil man bereits alle Erfahrungen hinter sich hat. Die Gelassenheit sieht die Langeweile des Immerselben in allen Mustern, Gewohnheiten und Neurosen. Sie wendet sich daher dem Unbekannten zu, dem einzigen, was immer neu ist. Sie lebt mit dem Tod, der die Liebe bringt, mit der beständigen Zerstörung von allem Hergebrachten, weil sich daraus das Einzige erhebt, was immer frisch, immer lebendig, immer unverbraucht ist, die Liebe. Die Gelassenheit öffnet der Liebe das Tor, bereitet ihr den Weg, legt ihr einen Blumenteppich aus. Sie ist die Gärtnerin im Garten der Liebe. Unter ihrer Hand gedeihen die schönsten Blumen, blühen die unglaublichsten Blüten. In der Gelassenheit liegt die Vollendung des Menschen, seine Reife, etwas, was über das Menschliche hinausführt.

Schönheit

Das Auge allein kann es nicht sehen. Das Ohr allein kann es nicht hören. Es muss aus der Stille schauen, aus der Stille lauschen, aus der Mitte der Dinge heraus, aus dem Herz der Dinge heraus. Aus der Mitte von allem, aus dem Auge Gottes muss es schauen. Dann sieht es nur Schönheit. Dann ist alles, was es sieht und erlauscht, wesentlich, sinnvoll, heilig. Das Auge allein kann es nicht sehen. Das Ohr allein kann es nicht hören. Aus der Stille muss das Lauschen kommen und das Schauen. Und Stille findet sich da, wo diese zwei Kräfte sich treffen, die eine, die sich nicht zufrieden geben kann, nicht im Essentiellen zu wurzeln, nicht im Wesentlichen zu Hause zu sein, nicht von tiefem Sinn durchflutet zu sein, und die andere, die daraus kommt, dass Einsicht da ist in die Tatsache, dass ich nichts dazutun kann.

Schönheit ist das Fluten der Gegenwärtigkeit, das Fluten der Wirklichkeit durch Herz, Auge und Gehirn.

Schönheit um der Schönheit willen ist nicht schön, sondern künstlich. Alles, was Herz hat, was von der Liebe in die Welt geboren wird, hat Schönheit. Schöne Musik zum Beispiel, bei der man es darauf angelegt hat, etwas besonders Schönes zu schaffen, ist nicht schön. Sie wirkt gekünstelt, übertrieben. Ein Lied, das um der Liebe willen gesungen wird, um die Liebe auszudrücken, ist ganz von selbst von Schönheit begleitet. Schönheit ist ein Nebeneffekt von allem, was aus dem Herzen kommt, was aus der Liebe kommt.

Schönheit liegt im Auge des Betrachters, sagt man auch. Das stimmt bedingt. Es kommt darauf an, wie man es versteht. Das Auge muss gereinigt sein von aller Konditionierung, von aller Vergangenheit. Es darf nicht mit dem Blick des „Kennen wir schon“ schauen, es darf nicht wiedererkennen, sondern es muss sich auf die Kunst verstehen, allem und jedem immer wieder neu zu begegnen, wie zum ersten Mal. Dann sieht es Schönheit, weil in allem Schönheit liegt, im Sterben genauso wie im Geborenwerden, im Frühling genauso wie im Herbst. Alle Natur, alles Sein ist Schönheit, wenn es voller Gegenwärtigkeit empfangen wird. Aller Lärm, alle Geräusche, alle Laute sind Musik, wenn sie ohne Voreingenommenheit erlauscht werden. Auf diese Weise wahrnehmen zu können bedeutet, leer zu sein, eine leere Wahrnehmung geworden zu sein. Das bedeutet, im Prozess der Selbsterkenntnis so weit gegangen zu sein, dass das Gehirn still geworden ist. So dass es nicht länger eine mechanisch produzierende Gedankenmaschine ist, sondern ein hochsensibles, waches, empfängliches Wahrnehmungsorgan. Das eigentliche Ohr ist das gereinigte Gehirn, das eigentliche Ohr muss das leergefegte Gehirn sein. Ein grossartiges, pulsierendes Sinnesorgan, das sich in jede Richtung des Jetzt ausstreckt, das ungefiltert von Gegenwart durchflutet wird.

Der Prozess der Selbsterkenntnis löscht im ernsthaften Sucher allmählich jeden Impuls, aus dem mechanischen Teil, dem computerähnlichen Anteil des Gehirns zu reagieren. Alle Gefühle, die abwehrenden und die abgewehrten sind genommen, so tief angenommen, dass sie transzendiert worden sind, transzendiert in den Raum des Erhabenen hinein.

Schönheit ist eine Facette des Erhabenen, des Allerinnersten, das uns der Prozess der Selbsterkenntnis schliesslich offenbart. Schönheit ist ein Gefühl, ein erhabenes Gefühl, wie sie im Allerinnersten vorherrschen. Das Auge fühlt Schönheit, das Ohr fühlt die Schönheit des Klangs, das Herz ist ergriffen vom Gefühl der Schönheit, das Gehirn ist durchdrungen vom einen Gefühl. Darum kann ein Auge, das nicht fühlen kann, ein Ohr, das verschlossen ist und darum nicht fühlen kann, ein Herz oder Gehirn, das verhärtet ist und sich darum nicht in Gefühl auflösen kann, Schönheit nicht sehen. Es sieht nur seine eigene Langeweile, die Stumpfheit der Gewohnheit, in der es sich verfangen hat.

Schönheit ist etwas ausserordentlich Wichtiges. Mit Schönheit leben zu können, ist für uns essentiell. Schönheit geht mit Sinn zusammen, einer anderen Qualität des Allerinnersten. Schönheit zu empfangen heisst, sie zu fühlen, den Sinn in allem, der nicht weiter hinterfragt werden muss, weil er fraglos einfach offensichtlich ist in der Schönheit. Ohne Schönheit macht nichts Sinn. Darum ist der Mensch ununterbrochen hinter Schönheit her, darum verherrlicht er die Schönheit, setzt sie gleich mit Gewinn und Vermögen. All die schönen Werke der Menschen, Kunst, Schmuck etc., mögen Schönheit ausstrahlen, aber was nützt diese, wenn sie in Museen verstaubt, sich in Tresoren verstecken muss, wenn kein wacher, unschuldiger Geist da ist, der sie zu würdigen weiss. Schöne Musik mag wunderbar klingen, aber was hilft ihre Schönheit, wenn sie das Herz nicht erreichen kann? Und oft ist die Schönheit, die von Menschenhand geschaffen wurde, gar nicht schön, sie ist übertrieben, gekünstelt, gestylt, weil ein Ich dahinter steht, das sich hervortun will, ein Selbst, das selbst leuchten möchte. Schönheit ist aber nur da, wo das Selbst abwesend ist. Das Auge, das Ohr, das Herz und das Gehirn sind unschuldig und leer, so dass Schönheit sie erreichen kann, wenn sie frei sind vom Selbst, nicht verdorben sind von den Ränken des Ego. Darum braucht das Auge, das Schönheit sehen kann, keine Kunstwerke, keinen Reichtum, keinen Schmuck, auch wenn es die Schönheit in dem, was Menschen geschaffen haben, durchaus sehen kann. Aber vor allem ergibt es sich der Schönheit im Gewöhnlichen, im Einfachen, im Alltäglichen. Es sieht sie überall, ununterbrochen. Es sieht sie, weil es sieht. Schönheit liegt in einem Auge, das wirklich sehen kann, in einem Ohr, das sich auf die Kunst des Lauschens versteht. Schönheit ist überall. Es gibt nur Schönheit. Der Unschuld ist alles unglaubliches Mysterium und darum Schönheit. Dieser Zustand ist das, was Castanedas Don Juan mysteriös als das Sehen der Zauberer beschrieben hat. Etwas ganz Simples, etwas äusserst Einfaches. Aber gleichzeitig ausserordentlich schwer, es zu erlangen, eine grosse Kunst. Schönheit zu sehen in allem von Augenblick zu Augenblick, ist Lebenskunst. Zu sehen ist dasselbe, wie zu fühlen. Zu sehen im Sinne Don Juans, heisst, die Welt als Gefühl wahrnehmen zu können, mit den Augen, den Ohren, dem Herzen, dem Gehirn fühlen zu können. Schönheit zu sehen, ist ein grosses Glück. Es ist ein liebendes Herz, das sehen kann, das Schönheit sehen kann. Schönheit geht mit den anderen Qualitäten des Allerinnersten wie Liebe, Glück, Wachheit und Sinn zusammen.

Schönheit liegt im Regentropfen, der auf der Blume glitzert, liegt im tanzenden Schatten an der Wand, liegt im Lichtstrahl, der durch dichte Blätter dringt. Schönheit zeigt sich im modernden Apfel am Strassenrand, auf dem vergilbten Stoff, der den Sessel überzieht, auf dem gefleckten Holz des Tisches, den die Zeichen der Zeit gezeichnet haben. Schönheit ist die Natur des Seins. Sie ist das Allerinnerste und gleichzeitig das Offensichtliche. Offensichtlich für das Auge, das aus dem Allerinnersten schaut.

Die Essenz zu fühlen, das Allerinnerste in allem zu sehen, das ist Schönheit.

Losgelöstheit

Sich verloren zu fühlen erachten wir normalerweise als ein sehr schwieriges, unerwünschtes Gefühl. Wir rechnen es zu den abgewehrten Gefühlen, zu denen, die wir normalerweise sofort unterdrücken, wenn sie in uns aufkommen wollen, weil wir sie als unerträglich, als nicht zumutbar erleben. Aber wie alle abgewehrten Gefühle ist es tatsächlich ein Eingang, ein Tor zum Allerinnersten, zum Geheimnis der Geheimnisse, das tief im Innersten von uns, im Innersten von allem verborgen liegt. Verlorensein erleben wir nur deshalb als negatives Gefühl, weil wir ständig in der Vergangenheit verhangen sind. Wir verbinden damit sofort schreckliche Bilder von Erfahrungen, die wir früher gemacht haben, die andere gehabt haben oder die uns geschehen könnten, Erfahrungen von Verlorensein im menschlichen Bereich. Leider drängt es sich in unserer Welt, so wie wir sie zusammen für uns gestalten, auch auf, Ausgeliefertsein als etwas Schreckliches zu sehen. Überall, wo Unausweichlichkeit auftritt, ist sie unerträglich, weil wir uns nicht darauf verstehen, unsere Heimat darin einzurichten. Es braucht einen unschuldigen Geist, der sich gereinigt hat von aller Vergangenheit, der persönlichen und der kollektiven, der nochmals neu auf alles schauen kann, um Verlorensein als ein Geschenk zu erleben.

In diesem Zustand zeigt sich Verlorensein nicht als ein Herausgefallensein aus dem menschlich Haltgebenden, wie man es vielleicht als Kind, als Verletzter, als Verarmter oder als Verfolgter erlebt hat, sondern als ein Verlorensein an das Geliebte, ans Ganze, an die Schönheit der Natur, an einen lieblichen Morgen, an die Weite des Himmels, an die Grösse des Kosmos. Verlorensein an die Musik, welche die Erde macht, an die Stille der Nacht ist ein Aufgehobensein, ein Losgelöstsein auch vom menschlichen Elend, ein Draussen- oder Darüberstehen, das keine Einsamkeit und kein Leid mehr kennt. Nur in gegenseitiger Liebe kann man sich ein Abhängigsein, ein Hingegebensein aneinander leisten, in dem man nicht verloren geht, nicht verkommt im Süchtigsein.

Losgelöstsein ist ein seliger Zustand, eine Qualität des allerinnersten, einen Gefühls. Man ist darin losgelöst von aller Gebundenheit an das Kleine und Enge, das der menschliche Alltag kennt, herausgelöst aus allem Konflikt, aus aller Verstrickung, die unser Leben normalerweise ausmacht. Alles Gerangel um Besitzen und Besessenwerden ist darin in den Hintergrund gerückt, unbedeutend geworden. Losgelöstsein kann nur ein globaler Geist empfinden, ein universeller Geist, ein Geist, der aufgehört hat, in Kategorien von Mein und Dein zu denken. Mein Land, dein Land, meine Frau, dein Mann. Die Erde ist in einem solchen Bewusstsein wieder ein Ganzes, nicht etwas Zerbrochenes, Zersplittertes, wie sie vom Geist der Mittelmässigkeit erlebt wird. Dieser enge Geist der Beschränkung kämpft ununterbrochen um die Teile, in die er das Ganze, das tatsächlich Unteilbare aufgegliedert hat. Die Politiker, die diesen Geist repräsentieren, behaupten mit ihrer Kriegsmaschinerie beharrlich diese Teilung. Nie sieht der enge Geist die Welt als ein Ganzes. Er hat keinen Zugang zu einem globalen Denken, Fühlen, Mitfühlen. Nie sieht oder empfängt er die ungeheuerliche Möglichkeit, keine Nationalitäten zu kennen, keine Trennung, nie nimmt er seine eigene Hässlichkeit wahr, die Hässlichkeit der Macht, die durch seine Exponenten, die Machthabenden, die Politiker, vertreten wird. Die Hässlichkeit von Position, von Wichtigkeit, von Uniformen und militärischen Dekorationen. Er ist erfüllt von seinen kleinen Wünschen und Ambitionen, von seinem Stammesdenken gegenüber dem Leben.

Ein universeller Geist ist nicht wie der enge Geist etwas Bestimmtem verpflichtet, einem Ideal, einer Ideologie. Er geht über die Grenze von Rasse, Kultur und Religion, wie sie die Menschen kennen, hinaus. Ein losgelöster Geist ist ein einfacher Geist. Er sieht unmittelbar, ist in keiner Weise verhangen in vorgefertigten Mustern. Er antwortet unmittelbar auf jede Herausforderung, immer neu, immer jung. Er ist ein Gast auf der Erde, ein Gast, da wo er zu Hause ist, ein Gast unter denen, die er liebt und die ihn lieben; immer und überall ist er ein Gast. Er sieht die Schönheit darin, ein Gast zu sein, sich durch diesen Zustand von allem Besitz, von allem Besitzdenken, von allen ungerechtfertigten Ansprüchen innerlich zu trennen.

Ein losgelöster Geist schwebt über allem. Er ist nicht länger verstrickt im Unsinn der Menschen. Er kämpft nicht mehr gegen Ungerechtigkeit und Dummheit, er leidet nicht einmal mehr darunter. Das Traurigsein hat aufgehört. Es ist, wie wenn er die Menschen und ihr Tun von weitem betrachten würde; nicht aus Distanz, sondern mit viel Mitgefühl. Er ist nicht getrennt davon, er ist eins damit. Aber er ist darüber hinausgegangen, umfasst das alles, aber noch viel mehr. In seiner Losgelöstheit wundert er sich über das Menschliche und schwebt selbst im Wunder, im Mysterium des Ganzen, dem er immer und immer wieder im Materiellen eine Verankerung schafft.

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ISBN (ePUB)
9783752136029
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Meditation Selbsterkenntnis Philosophie

Autor

  • Samuel Widmer Nicolet (Autor:in)

Samuel Widmer Nicolet (24.12.1948 – 18.1.2017) war ein Schweizer Arzt, Psychiater, Psychotherapeut und Autor. Er war Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie (FMH), tätig in eigener Praxis und lebte sowie arbeitete in der Nähe von Solothurn in der Schweiz. Die Erkenntnisse aus seiner intensiven Forschung zu Selbsterkenntnis, Psycholyse, Tantra und Spiritualität hat er in zahlreichen Publikationen ausgedrückt.
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Titel: Vom Allerinnersten