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Phönixerwachen

von J. T. Sabo (Autor:in)
292 Seiten

Zusammenfassung

Blaue Flammen auf der Haut, Hitze im ganzen Körper und ihr Klassenkamerad Pascal, der mit einem Messer auf sie einsticht. Am nächsten Morgen wacht Lexa im Haus von Pascals Eltern auf. War alles nur Einbildung? Bei der Abifeier zu viel getrunken? Symptome eines Hitzschlags? Als Pascal und seine Eltern ihr erzählen, sie sei ein Phönix, erklärt sie sie für verrückt und haut ab. Am Abend trifft sie sich mit ihrer Clique am Aussichtsturm, um sich einen nahen Kometen anzusehen. Doch stattdessen erwarten sie Wesen, die nicht dieser Welt zu entstammen scheinen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Epilog

Hybrid Verlag …

 

Prolog

 

Vor neun Jahren

 

Reinhold stürmte zur Haustür hinaus. Seine Finger umklammerten die Tageszeitung, während ihm das Herz wie wild in der Brust schlug. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen, die er mit dem Ärmel fortwischte. Was für eine Katastrophe, und er trug eine nicht unwesentliche Mitschuld daran. Warum musste er sich auch dazu überreden lassen, und das entgegen seines Bauchgefühls? Seine Finger schlossen sich fester um das Papier. Was sie zukünftig tun sollten, wusste er nicht. Er kam am Ende der Straße an und bog auf das Grundstück des letzten Hauses ein. Ihr Hauptquartier und das Herzstück der Gemeinschaft. Hier hielten sie ihre Versammlungen ab, trainierten, beratschlagten, planten.

Reinhold passierte den Eingang und hechtete, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, ins Obergeschoss. Ohne anzuklopfen riss er die Tür zum Arbeitszimmer auf und bremste erst vor einem riesigen Schreibtisch ab, auf den er die Zeitung mit einem dumpfen Knall klatschte. »Matthias ist tot!«

Ruckartig hob sein Gegenüber, ein älterer Herr mit weißen Haaren, den Kopf und blickte ihn ungläubig aus blauen Augen an. »Was?«

»Lies selbst.« Dabei zeigte Reinhold mit dem Finger auf die Schlagzeile.

Langsam senkte der Mann hinter dem Schreibtisch den Blick aufs Titelblatt und fing zu lesen an.

 

Grausiger Fund an der Eddersheimer Schleuse

 

Spaziergänger entdeckten gestern Morgen einen im Main treibenden Mann. Der Anblick des Geborgenen schockierte die ausgerückten Rettungskräfte der Freiwilligen Feuerwehr bis ins Mark. Im Brustkorb des etwa vierzigjährigen Mannes klaffte ein faustgroßes Loch. Eine Obduktion ergab, dass das Herz mit Gewalt entfernt wurde. Die Polizei schließt einen Ritualmord nicht aus. Die Identität des Opfers ist bislang unbekannt. Auffällig ist ein Feuermal am linken Handgelenk in Form eines fliegenden Vogels. Sachdienliche Hinweise zur Klärung des Falles können in jeder Polizeidienststelle abgegeben werden.

 

»Mist, verdammter«, murmelte der Alte und senkte die Zeitung.

Reinhold schnaubte. »Das ist mehr als Mist. Es ist eine Katastrophe. Ich hätte ihn nicht wieder gehen lassen dürfen. Was machen wir denn jetzt?«

»Schadensbegrenzung.«

»Wie stellst du dir das vor?«

»Es wird nicht einfach werden. Aber wir müssen unser Möglichstes versuchen. Matthias ist immerhin der letzte seiner Art.«

»Glaubst du, das wüsste ich nicht?« Mit Daumen und Zeigefinger kniff sich Reinhold in die Nasenwurzel. »Gott steh uns bei. Wie sollen wir uns bloß zukünftig gegen die Höllenbiester verteidigen?«

 

Kapitel 1

 

Heute

 

Ich trat vor den mit Ornamenten eingerahmten Standspiegel, der neben dem Kleiderschrank prunkte. Mein Blick glitt skeptisch an dem Bild aufwärts, das sich mir darin präsentierte, bis meine Augen schließlich an der komplizierten Hochsteckfrisur hängen blieben. »Also, ich weiß nicht recht«, brachte ich zögernd hervor und hob eine Hand. »Findest du es nicht zu … übertrieben?« Ich zupfte an einer Haarsträhne, die mein Gesicht kunstvoll umschmeichelte, und kassierte prompt einen Schlag auf die Finger.

Böse blitzte mich Mel aus ihren meergrünen Augen an. »Willst du wohl aufhören, Lexa! Du ruinierst die Frisur. Die hat mich immerhin ganze zwei Stunden gekostet.«

Ich verzog das Gesicht. »Warum kann ich nicht gehen, wie ich gekommen bin?« Sehnsüchtig schielte ich auf den schwarzen Jeansrock und das brombeerfarbige Top, die als Häufchen nachlässig neben dem Futonbett auf dem Boden lagen.

»Weil wir auf eine Abschlussfeier gehen, und da darf man ruhig ein wenig eleganter aussehen«, beantwortete Mel unwirsch meine Frage.

Mein Blick huschte zurück zum Spiegel. Elegant. Ja, das erschien mir wohl das richtige Wort dafür. Was sich aber nicht allein auf die Frisur bezog, vielmehr auf mein ganzes Erscheinungsbild. Mel hatte nämlich nicht nur mein Haar kunstvoll auf dem Kopf drapiert, sondern auch meinem Gesicht einen neuen Anstrich verpasst und mich obendrein in ein eng anliegendes, schwarzes Abendkleid und passende High Heels gesteckt. Mit der Frisur und dem Kleid konnte ich mich anfreunden, damit sah ich gar nicht mal so übel aus. Aber High Heels? Ich verzog die Mundwinkel. Wie ich diese Dinger hasste. Das waren keine Schuhe, sondern Folterinstrumente. Geräuschvoll sog ich die Luft in meine Lungen und schüttelte kaum merklich den Kopf. Warum zum Teufel ließ ich mich ständig von Mel zu etwas überreden, was ich nicht wollte? Erneut hob ich die Hand, um an einer der Haarsträhnen zu zupfen.

»Untersteh dich, Lexa«, fauchte Mel mich sogleich giftig an. »Wenn du mein Kunstwerk ruinierst, spreche ich kein Wort mehr mit dir.«

»Schon gut.« Ich ließ die Hand sinken und drehte mich entschlossen vom Spiegel weg. Ein Abend in diesen Dingern würde mich schon nicht umbringen. Außerdem musste Torben, neben Mel mein engster und bester Freund, jeden Augenblick hier aufschlagen, um uns beide abzuholen. Wie auf Kommando klingelte es da auch schon an der Tür.

»Partytime«, rief Mel übermütig und schnappte sich das mit goldenen Pailletten bestickte Täschchen vom Bett.

Widerstand erschien zwecklos, also seufzte ich ergeben und ließ mich von meiner besten Freundin nach draußen in den Flur bugsieren. Sofort drangen die Stimmen von Mels Vater und Torben zu uns herauf, die sich angeregt über die neuesten Fußballergebnisse unterhielten. Ja klar, worüber auch sonst. Mel und ich schauten uns an und verdrehten die Augen, dann stiegen wir die Stufen nach unten. Kurz bevor wir den letzten Absatz erreichten, verstummte jäh das Gespräch. Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin, drehten sich beide gleichzeitig zu uns um. Bei unserem Anblick weiteten sich ihre Augen. Angespannt verharrten Mel und ich, bis Torben einen anerkennenden Pfiff ausstieß. »Bombastisch«, lautete sein Urteil.

Mel stieß mich leicht mit dem Ellbogen an und grinste triumphierend, bevor sie die restlichen Stufen nach unten schritt. Ich folgte ihr. Im Stillen dankte ich der kleinen Hexe, dass sie bezüglich meines Stylings nicht lockergelassen hatte. Denn selbst Torben, den ich bisher nur in Jogginghosen und einem T-Shirt oder Hoodie gesehen hatte, stand in einem Smoking da. Und sogar sein dunkler Strubbelkopf lag ordentlich gebändigt um sein Gesicht.

»Verdammt noch mal. Wo ist mein kleines Mädchen geblieben?« Herr Schneider blinzelte und starrte Mel und mich abwechselnd fassungslos an, was meiner Freundin ein Kichern entlockte.

»Ach Papa, ich bin doch kein kleines Mädchen mehr.«

»Weiß ich doch«, erwiderte dieser. »Mir ist nur soeben bewusst geworden, was das bedeutet, Herrgott noch mal. Vielleicht sollte ich dich besser begleiten und für alle Fälle einen Baseballschläger mitnehmen.«

»Papa!«

»Schon gut, schon gut.« Mels Vater hob beschwichtigend die Hände und wandte sich an unseren Freund. »Dass du mir ja auf die Mädchen achtest, hörst du?«

»Ehrensache, Herr Schneider. Bei mir sind sie so sicher wie in Abrahams Schoß.« Dabei streckte er Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger der rechten Hand in die Höhe. »Versprochen.«

Der alte Herr nickte. »Das will ich hoffen. Andernfalls ziehe ich dir das Fell über die Ohren. Hast du verstanden, Junge?«

Torben nickte hastig.

»Na dann. Viel Spaß, ihr Drei. Aber übertreibt es nicht.«

»Wir doch nicht«, brachten wir im Chor mit Unschuldsmienen hervor.

Herrn Schneiders Augenbrauen schnellten in die Höhe, während er uns zweifelnd musterte, was uns zu einem Lächeln nötigte. Doch anstatt die Bedenken in seinem Gesicht zu zerstreuen, schienen wir sie mit unserem dämlichen Grinsen nur zu verstärken.

Schnell gab Mel ihrem Vater einen Kuss auf die Wange. »Dass du mir bloß nicht aufbleibst und auf mich wartest. Hörst du? Du kannst ruhig zu Bett gehen.«

Dieser gab ein Brummen von sich. Ob als Zustimmung oder nicht, konnte ich nicht deuten. Torben und ich verabschiedeten uns ebenfalls von ihm und flüchteten aus dem Haus, bevor der alte Herr noch auf irgendwelche dummen Ideen kam. Kichernd stolperten wir zum Gartentor hinaus auf den Gehweg. Beim Anblick von Torbens altem Astra entfuhr mir ein überraschter Laut. Entgegen des sonst verdreckten Rots strahlte der Wagen in einem noch nie da gewesenen Glanz. »Du meine Güte. Sag bloß, du warst mit deiner Müllhalde in der Waschstraße.«

Torben zuckte nonchalant mit den Schultern. »Och, ich dachte, zur Feier des Tages gönne ich meinem Schätzchen eine Schönheitskur. Wenn ich mich herausputzen muss, dann sollte mein Baby das auch. Ich habe sogar den Innenraum aufpoliert und die Polster abgesaugt.«

»Wow. Was sagt man dazu? Das ist der absolute Wahnsinn. Es geschehen tatsächlich noch Zeichen und Wunder. Hätte ich nicht gedacht.«

Ich bekam ein schiefes Grinsen von Torben, während er mir die Tür öffnete. Überraschenderweise lag mal nichts auf dem Rücksitz herum, was ich beiseiteschieben musste, um Platz nehmen zu können. Im Wageninneren roch es nach Cockpitspray und grünem Apfel, anstatt nach Chips und Red Bull. Ungewohnt. Vermutlich würde dieser Zustand nicht lange anhalten.

Fünfzehn Minuten später erreichten wir die Schule. Torben steuerte den Astra in eine der wenigen noch vorhandenen Parklücken und stellte den Motor ab. Ich stieg aus und sog tief die Abendluft in meine Lungen. Sie roch nach dem Gewitter am Nachmittag frisch und nicht mehr so stickig wie den ganzen Tag über. Auch die Temperatur war endlich auf ein angenehmes Maß gesunken. Eigentlich viel zu schade, um den Abend in einem Gebäude zu verbringen. Na ja, ich musste ja nicht lange bleiben. Ich fühlte mich eh nicht sonderlich gut. Torben schob sich, einen Arm um unsere Schultern legend, zwischen Mel und mich. Während wir langsam auf die Aula zusteuerten, musterte mein bester Freund mich aufmerksam von der Seite. Geflissentlich ignorierte ich seinen Blick.

»Was ist los, Sternchen?«, fragte er schließlich. »Seit Tagen bist du auffällig still.«

»Nichts«, antwortete ich ausweichend.

»Wem willst du das erzählen? Ich kenne dich mittlerweile gut genug, um zu sehen, dass da was nicht stimmt. Also, raus mit der Sprache. Onkel Torben kannst du es anvertrauen.«

»Ach, es ist nichts Schlimmes. Ich schlaf einfach schlecht in letzter Zeit, das ist alles. Zukunftsängste, nehme ich an.«

Verdattert blickte Torben mir ins Gesicht. »Zukunftsängste? Warum zum Teufel? Wir haben alle drei einen hervorragenden Studienplatz für das Wintersemester ergattert. Die meisten Vorlesungen werden wir sogar gemeinsam besuchen. Nein Lexa, das kauf ich dir nicht ab. Dich beschäftigt etwas ganz anderes. Na komm schon, spuck es aus!«

»Also, wenn du mich fragst«, mischte sich Mel ein, »liegt es an Pascal.« Sie wackelte anzüglich mit den Augenbrauen.

»An Pascal? Wieso ausgerechnet an diesem Vollpfosten?« Verwirrt sah Torben zwischen Mel und mir hin und her.

»Weil Lexa auf ihn steht.«

Ich tippte mir mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. »So ein Quatsch! Ich steh ganz bestimmt nicht auf Pascal.«

»Das will ich doch hoffen. Und zwar deinetwegen«, knurrte Torben. »Der Kerl ist ein absolutes Arschloch. Auf den solltest du dich besser nicht einlassen.«

Sein Ausbruch überraschte mich, was man mir wohl vom Gesicht ablesen konnte, denn Mel fügte erklärend an: »Torben und Pascal waren mal die besten Freunde, musst du wissen.«

»Tatsächlich?«

Torben nickte übertrieben. »Kaum vorstellbar, nicht? Aber es stimmt. Seit der Krabbelgruppe. Alle nannten sie uns nur die siamesischen Zwillinge, weil wir als unzertrennlich galten. Und dann, ein halbes Jahr nach Pascals zehntem Geburtstag, bumm. Aus. Nichts mehr. Nada. Ohne jede Erklärung wandte er sich von mir ab und ließ mich fallen. Mutierte zum absoluten Eigenbrötler.«

»Hast du ihn mal gefragt, warum er den Kontakt abgebrochen hat?«

»Klar, was denkst du von mir? Mehrmals sogar. Er meinte nur, ich solle mich um meinen eigenen Scheiß kümmern und ihn in Ruhe lassen. Er habe Besseres zu tun, als seine kostbare Zeit mit mir zu vergeuden. Was ich dann auch tat. Seither wechseln wir nicht ein Wort mehr miteinander. Also überleg dir gut, ob du mit so jemandem was zu tun haben möchtest, der dich ohne ersichtlichen Grund einfach wie eine heiße Kartoffel fallen lässt.«

»Will ich doch gar nicht. Der ist mir absolut schnuppe.«

»Besser so, ist gesünder«, meinte Torben und löste die Arme von unseren Schultern, damit er die Tür zur Aula öffnen konnte. »Ladies«, forderte er uns mit einer Verbeugung und einer einladenden Geste auf, einzutreten.

Ich folgte Mel ins Gebäude. Als mein Blick nach rechts glitt, zuckte ich zusammen. Wenn man vom Teufel spricht. Mein Herz beschleunigte seinen Takt und strafte meine zuvor ausgesprochenen Worte Lügen. Mit der Schulter lässig an der Wand lehnend, stand Pascal etwas abseits und beobachtete den Eingang. Er trug nicht wie alle anderen Jungs einen Anzug, sondern seine üblichen Jeans und ein kobaltblaues, enganliegendes T-Shirt, das seinen wohlproportionierten Oberkörper betonte. Dadurch stach er aus der Masse wie ein Paradiesvogel aus einer Gruppe Nonnen. Was ihn aber nicht zu verunsichern schien. Er strahlte derart viel Selbstbewusstsein aus, dass es für zwei reichte. Seine nebelgrauen Augen fixierten mich. Langsam wanderte sein Blick an meiner Gestalt abwärts, nur um kurz darauf wieder an meinem Gesicht haften zu bleiben. Irrte ich mich, oder las ich darin tatsächlich Bewunderung? In meinem Magen stob ein Schwarm Schmetterlinge auf. Es schien das erste Mal, dass er mir Beachtung schenkte. Hitze kroch meinen Hals empor und legte sich brennend auf meine Wangen. Hastig schaute ich weg. Verdammt! Wieso musste ausgerechnet er mich aus der Bahn werfen? Hier liefen genügend süße und obendrein nette Jungs herum. Aber nein, ausgerechnet für den Unnahbarsten von allen schlug mein Herz höher. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, warum dieser dumme Klumpen von einem Muskel nicht einsehen wollte, was mein Verstand mit hundertprozentiger Sicherheit wusste. Nämlich, dass ich niemals auch nur den Hauch einer Chance besaß, Pascal näherzukommen.

Seit ich vor etwas mehr als einem Jahr mit meiner Mutter nach Hofheim in das Haus ihrer verstorbenen Tante gezogen war, hoffte ich vergeblich darauf, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Aber Pascal pflegte mit niemandem Umgang. Freundschaft schien ihm fremd zu sein. Apropos Freunde. Suchend schaute ich mich um und entdeckte weiter hinten im Saal den Rest unserer Clique. Ausgelassen winkten sie uns zu sich. Wir schoben uns durch das Gewühl zu ihnen.

»Na endlich, wir dachten schon, ihr würdet gar nicht mehr kommen.« Jana drückte uns einen Becher Punsch in die Hand.

Ich nippte daran und zog die Nase kraus. »Uh, viel braucht es aber nicht von dem Gesöff, um sich die Lichter auszuknipsen.«

Timo schlang seinen Arm um meine Schultern und zog mich an sich. »Ach was, Sweetheart, du bist nur nichts gewohnt.«

Jana kicherte. »Genau.«

»Nach dem Zweiten siehst du das viel lockerer«, meinte Henning und prostete mir schwungvoll zu.

Etwas zu schwungvoll, was einen Heiterkeitsausbruch bei meinen Freunden auslöste. Ihr Lachen steckte an. »Na dann. Prost.«

 

Kapitel 2

 

Mein Blick schweifte zu der großen Uhr der Aula. Zwei Stunden erst. Ich seufzte. Von der ausgelassenen Stimmung fehlte bei mir inzwischen jede Spur. Am liebsten würde ich den Heimweg antreten, doch das konnte ich meinen Freunden nicht antun. Immerhin handelte es sich um keine alltägliche Party, sondern um einen Meilenstein im Leben eines jeden hier. Also zwang ich mich zu lachen und zu tanzen, damit sie von meiner miesen Verfassung nichts mitbekamen. Ich hielt bis weit nach Mitternacht durch, bis es mir endgültig reichte und ich mir etwas abseits der Tanzfläche ein ruhigeres Plätzchen suchte. Im Stillen verfluchte ich Mel wegen der High Heels. Es juckte mir in den Fingern, sie ihr an den Kopf zu werfen. Ich schlüpfte aus den verhassten Dingern. Als meine malträtierten Füße den kühlen Boden berührten, verspürte ich eine sofortige Linderung des Schmerzes. Ich seufzte. Welch eine Wohltat. Leider konnte ich das von meinem Magen nicht behaupten. Ich brütete wohl etwas aus. Ein leichtes Unwohlsein verspürte ich ja bereits seit Tagen, doch jetzt brodelte es in ihm wie in einem Eintopf, der auf zu hoher Flamme kochte. Außerdem brannten meine Adern fast schlimmer als meine Fußsohlen, aber gleichzeitig schien Eis durch meine Venen zu fließen. Ich schlang die Arme um meinen Brustkorb. Musik und Stimmengewirr schwollen an, bis es in meinen Ohren dröhnte, als stünde ich vor einem Düsenjet. Tief atmete ich durch, doch es brachte nicht wirklich etwas. Ganz im Gegenteil kam ich mir eher wie ein Fisch auf dem Trockenen vor. Fahrig wischte ich mir die Schweißperlen von der Stirn. Ich musste raus hier, und zwar auf der Stelle.

Eine neue Welle der Übelkeit brandete in mir auf. Ich presste eine Hand auf den Magen und krümmte mich.

»Alles in Ordnung mit dir?« Eine Hand legte sich leicht auf meine Schulter.

Ich schaute auf. Neben mir stand einer der beiden Feuerwehrmänner, die Brandwache hielten. Er blickte mich freundlich und besorgt zugleich an. Seine Züge erinnerten mich an jemanden, doch ich konnte beim besten Willen nicht sagen, an wen. Ich schüttelte den Kopf, was die Übelkeit verstärkte. Ein Schwall Magensäure drängte sich meine Speiseröhre hinauf. Ich schluckte und tat einen tiefen Atemzug. Die Besorgnis im Gesicht des Feuerwehrmannes nahm zu.

»Mir ist bloß ein wenig übel. Liegt wohl an der stickigen Luft hier drinnen«, versuchte ich das Ganze herunterzuspielen, in der Hoffnung, er würde sich damit zufriedengeben und mich in Ruhe lassen. Leider tat er mir den Gefallen nicht.

»In Ordnung, dann schaffen wir dich am besten an die frische Luft.« Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf und schaute sich suchend um, dann winkte er jemanden zu sich heran.

Ich folgte seinem Blick. Als ich die Person entdeckte, die sich da durch die Menge zu uns durchkämpfte, stolperte mein Herz und fing dann zu rasen an. O Gott, nein. Nein, nein, nein. Jeden, nur nicht ihn. Warum musste es ausgerechnet er sein? Wie peinlich.

Pascal hielt zwei Schritte vor uns. »Was gibt es?«

»Sei so gut und begleite die junge Dame nach draußen. Ihr geht es nicht gut. Sie braucht dringend frische Luft.«

Pascals spöttischer Blick traf mich und ich wusste ganz genau, was ihm in dem Moment durch den Kopf schoss. Nämlich, dass ich zu tief ins Glas geschaut hatte und jetzt die Quittung dafür kassierte.

»Klar. Kein Problem.«

»Nein, nicht nötig. Es geht schon wieder«, murmelte ich abwehrend.

»Sicherlich. Bis zur nächsten Porzellanschüssel. Mit etwas Glück.« Ein abfälliges Brummen begleitete seine Worte.

»Ich bestehe darauf«, sagte der Feuerwehrmann. In seiner Stimme lag etwas Autoritäres und da ich keine Szene heraufbeschwören wollte, nickte ich ergeben.

»Geht es, oder soll ich dich stützen?«

Alles, nur das nicht. Wo zur Hölle steckte das Loch, in dem ich versinken konnte? In Ermangelung eines solchen würgte ich ein »Geht« hervor. Schade, dass ich mich zu schlapp fühlte, um Pascal das süffisante Grinsen von den Lippen zu wischen. Mit einer arroganten Bewegung hielt er mir dennoch den Arm hin. Ich schüttelte den Kopf.

Pascal zuckte mit den Schultern. »Wie du willst.« Er drehte sich auf dem Absatz um und strebte Richtung Ausgang.

Ich schnappte mir meine Schuhe und folgte ihm auf wackeligen Beinen. Mit jedem Schritt steigerte sich das Brennen in meinen Adern, bis es sich anfühlte, als stünde ich in Flammen. Gleichzeitig badete ich in Eiswasser. Eine Gänsehaut überzog meinen Körper und stellte jedes noch so feine Härchen kerzengerade auf. Pascal hielt mir die Tür auf und ich stolperte nach draußen in die mondhelle Nacht. Groß und fast vollständig rund hing der Erdtrabant am sternenübersäten Himmel. Sein silberweißes Licht erhellte die Dunkelheit, wodurch sich sämtliche Konturen klar und scharf abzeichneten und die Schatten undurchdringlich wie nie wirkten. Trotz der späten Stunde herrschten noch angenehm warme Temperaturen. Dennoch fing ich an, unkontrolliert zu zittern. Ich tat einen tiefen Atemzug, bereute es aber in derselben Sekunde. Die Luft strömte flüssigem Stickstoff gleich in meine Lungen. Ich stöhnte auf vor Schmerz.

»Du musst doch nicht etwa kotzen?«, wollte Pascal wissen.

Seine Stimme klang keineswegs besorgt, eher genervt. Ich gab keine Antwort. Viel zu sehr hielt mich dieses merkwürdige Brennen gefangen, das mittlerweile in immer schnelleren Wellen durch mich hindurch brandete. Wie ein sturmgepeitschter Ozean wütete ein Flammenmeer durch meinen Körper und verschlang mich. Mit aller Macht versuchte ich dagegen anzukämpfen, mich daraus zu befreien, doch es zog mich immer tiefer in sein Pulsieren.

»Lexa?« Pascals Stimme schien von weit her zu kommen.

Ich versuchte, mich auf sie zu konzentrieren, mich an ihr zu orientieren, um nicht vollends abzudriften. Doch schon überrollte mich eine neue Welle. Schlug über mir zusammen und drückte mich tiefer in das Flammenmeer. Es gab kein Entkommen. Meine Umgebung verschwamm in züngelnden Blautönen und ließ meine Welt zu einem winzigen Etwas zusammenschrumpfen. Ein Krächzen entrang sich meiner Kehle und ich schwankte. Pascal trat einen Schritt auf mich zu. Die Hand ein Stück erhoben, als wisse er nicht, ob er mich stützen sollte oder nicht.

»Ich glaube, wir gehen lieber in die Umkleide. Dort kannst du dich ein bisschen auf eine der Bänke legen, bis es dir etwas besser geht, bevor du mir hier noch umkippst. Einverstanden, Lexa?« Diesmal schwang ein Hauch Besorgnis in seinen Worten mit.

Ich wollte etwas sagen oder zumindest nicken, um meine Zustimmung auszudrücken, doch es schien mir unmöglich, auch nur einen Muskel zu rühren. Mein Körper gehorchte mir nicht länger. Immer stärker pulsierte es in meinem Innern. Im selben Rhythmus züngelten jetzt blaue Flammen sichtbar über meine Arme. Erstarben, um gleich darauf noch kräftiger in Erscheinung zu treten. Meine Haut spannte schmerzhaft über meinem Fleisch. Mit jedem Herzschlag baute sich mehr und mehr Druck auf. Ich kam mir vor wie ein Kessel, der unter Dampf stand. Nicht mehr lange und es zerriss mich von innen heraus.

»Ach du Scheiße!«, stieß Pascal aus. Mit großen Augen starrte er mich an. »Das darf nicht wahr sein. Das ist unmöglich.« Seine Hand schnellte nach vorne und packte meinen linken Arm. Hastig riss er mir das schwarze, mit Strasssteinchen besetzte Armband vom Handgelenk.

Ich wollte protestieren, denn ich hasste, was darunter zum Vorschein kam. Ich trug das breite, lederne Band nicht umsonst.

»So ein gottverdammter Mist!« In seiner Stimme schwang Panik, Unglaube und Verärgerung zugleich mit. Er ließ meinen Arm los, nur um kurz darauf ein Butterflymesser in den Fingern zu halten.

Wo zum Teufel kam das derart schnell her? Und wieso führte er überhaupt eins bei sich? Verstieß das nicht gegen das Gesetz? Ich wollte schreien, doch meine Stimmbänder streikten. Ohne Zögern stach er zu. Rammte den kalten Stahl bis zum Schaft in meinen Brustkorb. Stechender Schmerz trat an die Stelle des ungeheuren Drucks. Augenblicklich erstarben die Flammen. Mit einem Ruck zog er das Messer wieder aus meinem Fleisch. Ein roter Strom folgte der Klinge und tränkte den Stoff des Kleides. Fassungslos starrte ich das blutige Messer in Pascals Hand an. Meine Beine versagten den Dienst und ich sackte in mich zusammen. Noch bevor ich den Boden berührte, versank ich im schwarzen Nichts.

 

Kapitel 3

 

Als allererstes drang das Feuer in mein Bewusstsein. Noch immer loderte es in mir wie in einem gottverdammten Hochofen. Lediglich das Pulsieren fehlte. Dafür fraßen sich die Flammen jetzt gleichmäßig durch meinen Körper. Dabei ließen sie keine Zelle aus, steckten jede einzelne Faser meines Seins in Brand und hinterließen nichts als Asche. Schwärze umgab mich. Was höchstwahrscheinlich daran lag, dass ich meine Augen geschlossen hielt. Ich versuchte, sie zu öffnen. Doch es gelang mir nicht, weshalb ich etwas anderes zu bewegen probierte. Erst einen Arm, dann einen Fuß. Nichts. Ich testete es mit einem Finger. Keine Reaktion. Komm schon, wenigstens den kleinen Zeh. Wieder nichts. Ich wollte schreien. Wollte weglaufen. Wollte, dass es endlich aufhörte. Aber nicht ein Muskel gehorchte meinem Befehl. Egal, wie sehr ich mich bemühte, mein Körper versagte mir den Dienst. Ganz allmählich erloschen die Flammen und das Brennen ließ nach. Zeitgleich fing mein Gehörsinn wieder zu funktionieren an. Direkt neben mir atmete jemand. Ich lauschte den gleichmäßigen Zügen. Wer konnte das sein? Mit ziemlicher Sicherheit Ma. Wer auch sonst? Wahrscheinlich überwachte sie meinen Schlaf, wie sie es immer tat, wenn ich krank im Bett lag. Schritte näherten sich und hielten dicht bei mir. Noch jemand? Ich versuchte erneut, meine Augen zu öffnen, doch sie schienen nach wie vor wie zubetoniert.

»Ist sie aufgewacht?«, fragte eine mir unbekannte männliche Stimme.

Ein Mann, bei uns zu Hause? Schwer vorstellbar. Ma zeigte seit Paps Tod kein Interesse an anderen Männern. Aber vielleicht lag ich gar nicht daheim, sondern im Krankenhaus und bei dem Typ handelte es sich um einen Arzt, der sich nach mir erkundigte? Ja, diese Erklärung erschien mir die einzig logische.

»Nein.«

Ich zuckte innerlich zusammen, denn die zweite Stimme kannte ich dafür eindeutig. Allerdings gehörte sie nicht meiner Mutter, sondern Pascal. Aber, was machte er hier an meinem Bett? Ich hielt es für ziemlich unwahrscheinlich, dass er mich besuchen kam, um nach mir zu sehen. Auch wenn wir in dieselbe Klasse gingen, so verkehrten wir dennoch nicht miteinander. Er … O mein Gott! Erinnerungsfetzen blitzten auf. Fahles Mondlicht. Ein Messer, das silbern darin glänzte. Stechender Schmerz in meiner Brust. Pascals undurchdringliche Miene, als er zustieß. Mitten in mein Herz. Was wohl bedeutete, ich lebte nicht mehr. Befand ich mich etwa im Jenseits? Wenn ja, was machte Pascal hier? War ich in der Hölle gelandet? Handelte es sich hier vielleicht um den perfiden Plan des Teufels, mich in den Wahnsinn zu treiben, indem ich bis in alle Ewigkeit die Anwesenheit meines Mörders wahrnahm, ohne ihn zu sehen und ohne mich bewegen zu können? Was konnte ich schon in den neunzehn Jahren meines Lebens Schreckliches verbrochen haben, um das zu verdienen?

»Gib mir Bescheid, sobald sie wieder bei sich ist.«

»Mach ich.«

Der unbekannte Sprecher entfernte sich und ließ mich abermals mit Pascal allein. Nein, bitte, nicht weggehen. Ich wollte nicht mit ihm allein bleiben. Wer wusste schon, was er mir noch antat. Immerhin lag ich völlig schutzlos hier. Ich war Pascal auf Gedeih und Verderb ausgeliefert und ich konnte nichts dagegen ausrichten. Weder konnte ich weglaufen, noch konnte ich mich gegen ihn wehren oder um Hilfe rufen. Mein Herz wummerte schmerzhaft gegen die Rippen. Moment. Wieso besaß ich eigentlich noch einen Herzschlag? Das Ganze erschien mir völlig absurd. Es ergab keinen Sinn. Es sei denn … ja was? Es gab bestimmt eine plausible Erklärung für all das. Etwas, das nicht absolut durchgeknallt klang und obendrein auch noch komplett unmöglich schien. Sie fiel mir bloß im Moment nicht ein.

Denn mal ehrlich, wieso sollte Pascal mich umbringen? Er besaß überhaupt keinen Grund dazu und mal ganz davon abgesehen konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es sich bei Pascal um einen eiskalten Killer handelte. Er mochte vielleicht ein Arschloch sein, wenn man Torbens Worten Glauben schenkte, aber das machte ihn noch lange nicht zum Mörder. Das Ganze mutete eher wie ein böser Albtraum an. Geboren im Fieberwahn. Das war’s. Genau. Ich hatte einen Hitzschlag erlitten, gefolgt von hohem Fieber und Halluzinationen. Das erklärte alles. Meine Übelkeit, das Feuer, das sich durch meinen Körper fraß und gleichzeitig die Kälte. Selbst Pascals Todesstoß, der in Wirklichkeit gar nicht existierte. Ich atmete auf. Schön zu wissen, dass mein Verstand noch normal funktionierte.

Allmählich erstarben auch die letzten Flammen und mit ihnen der Schmerz. Das Gefühl, zu Asche zerfallen zu sein, verging und an dessen Stelle spürte ich wieder meinen Körper. Zeitgleich erhielt ich die Kontrolle über ihn zurück. Ich schlug die Augen auf. Tageslicht erhellte den Raum, leicht gedämpft durch einen halb heruntergelassenen Rollladen. Ich blinzelte, weil mir im ersten Moment das Licht als viel zu grell erschien.

Neben mir erhob sich Pascal und trat ans Bett. »Wie fühlst du dich?« In seiner Stimme schwang echte Besorgnis mit, die sich auch in seinen Augen widerspiegelte.

Ich setzte zu einer Antwort an, doch meine Stimmbänder weigerten sich, einen Ton hervorzubringen. Ich versuchte es erneut. Diesmal gehorchten sie, doch sie rieben aneinander, als würden sie unter einer Schicht Sand begraben liegen und meine Stimme glich eher einem Krächzen. »Ausgedörrt.«

»Warte.« Er half mir, mich aufzusetzen und reichte mir dann ein Glas Wasser.

Gierig trank ich es aus und gab es ihm zurück. »Danke.« Das hörte sich doch schon viel besser an. Neugierig blickte ich mich um. Ich befand mich auf keinen Fall mehr in der Schule, aber auch in keinem Krankenhauszimmer. Der Raum erschien nicht sonderlich groß. Das Bett, in dem ich lag, bestand aus rötlichem Holz. Ebenso die Nachtkonsole und der Kleiderschrank an der gegenüberliegenden Seite. Schnitzereien verzierten die Möbelstücke. Die Wände strahlten in einem zarten Flieder, während Übergardinen und Bettwäsche einen kräftigeren Ton aufwiesen. Ein Sessel mit einem danebenstehenden runden Tischchen und ein Bücherregal vervollständigten die Einrichtung. »Wo bin ich?«

»Bei mir zuhause.«

Ich riss die Augen auf. »Wieso das denn? Ich muss heim.« Hastig schlug ich die Bettdecke zur Seite und schwang die Beine über die Kante.

»Wohoo! Langsam, Lexa. Ich hol meinen Vater. Der wird dir alles erklären.« Eilig verließ Pascal das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Ganz, als sei er auf der Flucht.

Blinzelnd blickte ich auf die geschlossene Tür. Hatte ich vor ein paar Minuten ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, Pascal könnte mich ermordet haben? Lächerlich. Ich stand auf, fest entschlossen, mich von niemandem aufhalten zu lassen. Da blitzte etwas Helles am unteren Rand meines Sichtfeldes auf, weswegen ich meinen Blick nach unten lenkte. Scheiße noch eins. Ich steckte in einem mir unbekannten Nachthemd. In der Aufmachung konnte ich schlecht auf die Straße gehen. Hektisch schaute ich mich um, doch meine eigenen Sachen konnte ich nirgends entdecken. Das Zimmer geriet in Schieflage und der Boden unter meinen Füßen schwankte, als würde ich auf einem krängenden Schiff stehen. Mit zittrigen Beinen ließ ich mich zurück auf die Bettkante plumpsen. Verdammt! Ich hätte mich nicht so hastig bewegen sollen.

Die Tür ging auf, doch anstatt Pascal oder dessen Vater, erschien darin eine Frau. Sie war vollschlank, mittelgroß und strahlte etwas Mütterliches aus. Ihr hellbraunes Haar trug sie modisch kurz geschnitten. Ich fand sie auf Anhieb sympathisch. Über ihrem linken Arm hingen eine Jogginghose und ein T-Shirt. »Hallo Liebes. Ich bin Anna, Pascals Mutter«, stellte sie sich vor.

»Hi, ich bin Lexa. Eine Mitschülerin von Pascal.«

»Ja, ich weiß. Du bist die Neue.«

»Na ja, neu ist relativ. Immerhin ist es schon ein Jahr her, dass ich in die Klasse kam.«

Anna schenkte mir ein Lächeln. »Stimmt, da kann man wirklich nicht mehr von neu sprechen.« Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu. »Ich habe dir was zum Anziehen mitgebracht. Denn ich glaube kaum, dass es dir gefällt, ein Gespräch zu führen, während du im Nachthemd steckst. Ich zumindest würde mich unwohl dabei fühlen, fast, als sei ich nackt. Ach, und keine Sorge, ich habe dich da hineingesteckt. Nur falls du dich fragst, wie du in das Nachthemd gekommen bist.« Sie reichte mir die Klamotten. »Ich lass dich dann mal allein. Wenn du fertig bist, komm einfach zu uns in die Küche. Sie befindet sich am Ende des Flures. Du kannst sie nicht verfehlen.«

Ich nickte stumm. Anna schenkte mir ein weiteres Lächeln, bevor sie verschwand. Ich betrachtete die Kleidungsstücke in meiner Hand. Sie gehörten eindeutig Pascal. Dazwischen lagen mein Slip und BH. Beides frisch gewaschen. Ich schlüpfte aus dem Nachthemd. Bevor ich meinen Blick nach unten lenkte, hielt ich die Luft an. Geräuschvoll ließ ich sie entweichen. Nichts zu sehen, außer makelloser Haut. Kein Kratzer, nicht einmal einen Piks. Das bekräftigte meine Theorie vom Hitzschlag und dem damit verbundenen Fieberwahn. Ich zog mich an. Hose und Shirt fielen zwar zu groß aus, aber allemal besser als das Nachthemd. Jetzt fühlte ich mich besser gerüstet. Ich schüttelte das Bett auf und legte das vorherige Kleidungsstück ordentlich gefaltet auf die Matratze. Kurz zögerte ich, bevor ich nach draußen in den Flur trat, denn urplötzlich überfiel mich ein flaues Gefühl. So sehr ich mich auch an die logische Erklärung, meiner vermuteten Diagnose, klammerte, blinkten die Ungereimtheiten immer greller, wie eine neonbesetzte Warntafel. Warum hatten sie mich hierhergebracht, anstatt nach Hause? Eine mögliche Erklärung dafür lautete, weil meine Mutter Nachtschicht geschoben und deshalb daheim nicht geöffnet hatte. Warum aber dann nicht ins Krankenhaus? Weshalb übernahmen mir völlig wildfremde Menschen die Verantwortung für mich? Mit einem Hitzschlag spaßte man immerhin nicht. Ich straffte die Schultern und marschierte entschlossen, Antworten zu erhalten, den Flur entlang in die Richtung, aus der ich Stimmen hörte. Sobald ich den Raum betrat, verstummte das Gespräch. Drei Augenpaare richteten sich auf mich. Ich wünschte mir ein Erdloch herbei. Pascals Vater entpuppte sich als der Feuerwehrmann, der sich in der Nacht nach meinem Befinden erkundigt hatte. Was die Frage, warum ich mich ausgerechnet bei Pascal zu Hause befand, beantwortete. Anna brach als erste das Schweigen. »Setz dich, Liebes. Möchtest du etwas trinken? Einen Kaffee vielleicht? Oder lieber was Anderes?« Abwartend schaute sie mich an.

»Kaffee wäre toll.« Ich ging zu dem weiß lasierten Esstisch, zog einen Stuhl darunter hervor und nahm Platz. Meine Hände legte ich in den Schoß. Instinktiv deckte ich mit den Fingern der Rechten das linke Handgelenk ab. Unter Pascals intensivem Starren fing ich an zu schwitzen. Wie von selbst zuckte mein Bein auf und ab. Unter seinem Blick kam ich mir wie ein Schwerverbrecher vor, obwohl es überhaupt keinen Grund dafür gab.

»Hier, Kind. Extra stark. Weckt garantiert die Lebensgeister.« Anna stellte eine große Tasse vor mir ab.

Ich hob die Augenbrauen. »Sehe ich so schlimm aus?«

»Einen Schönheitswettbewerb gewinnst du jedenfalls nicht«, antwortete Pascal an Annas Stelle.

Herzlichen Dank auch! Vollidiot! Ich biss mir auf die Unterlippe, um nichts Falsches zu sagen. Keinesfalls wollte ich undankbar erscheinen. Also schaufelte ich, anstelle einer Antwort, zwei Löffel Zucker in die dampfende Flüssigkeit und rührte um. Dabei behielt ich tunlichst den linken Arm unterm Tisch. Ich wollte keine Aufmerksamkeit auf das Mal lenken. Obwohl ich natürlich wusste, dass es dafür zu spät war. Doch ich hegte die Hoffnung, Pascal würde darauf nicht zu sprechen kommen, wenn ich es weiterhin versteckte. Ich rührte unnötig lange im Kaffee herum, bevor ich einen Schluck trank und die Tasse wieder zurück auf den Tisch stellte. Als hätte er nur darauf gewartet, richtete Pascals Vater das Wort an mich. »Wie geht es dir?«

»Besser, danke, Herr Brandt.«

»Nenn mich Reinhold.«

Ich nickte zum Zeichen des Einverständnisses.

»Weißt du noch, was gestern Abend geschehen ist?«

Meine Gedanken rasten. Wie viel sollte ich von den Geschehnissen preisgeben, wie ich meinte, sie erlebt zu haben? Besser, ich behielt den verrückten Teil für mich. Wer wusste schon, wie sie darauf reagierten? Womöglich riefen sie die Herren in Weiß mit der Hab-Mich-Lieb-Weste. Ich könnte es ihnen nicht mal verdenken. Wenn mir jemand eine derartige Geschichte auftischen würde, würde ich ihn bestimmt auch als völlig durchgeknallt einstufen. »Halbwegs«, antwortete ich deshalb ausweichend. »Zumindest weiß ich noch alles, bis zu dem Zeitpunkt, an dem Pascal mich nach draußen begleitet hat. Ab dann wird es wirr.« Kurz schaute ich Pascal an, bevor ich mich wieder Reinhold zuwandte. »Ich glaube, ich litt wohl an einem Hitzschlag.«

»Hitzschlag, pfff. So kann man das auch ausdrücken.«

»Pascal!« Reinhold warf seinem Sohn einen strafenden Blick zu.

Ich ballte die Finger der linken Hand. Das meinte er jetzt nicht ernst? Er hielt doch nicht an seiner Ansicht fest, die er am Abend zuvor fälschlicherweise über meinen Zustand gefällt hatte? Oder etwa doch? »Ich war nicht betrunken«, fauchte ich Pascal an.

»Habe ich das behauptet?«

»Nein, aber gedacht. Gib es doch zu. Ich konnte es deutlich in deinem Gesicht lesen.«

»Anfangs, bevor ich wusste, was los war. Verdammt, Lexa! Du hättest beinahe allen gezeigt, was du bist. Geheimhaltung hat oberste Priorität. Du solltest dich besser unter Kontrolle haben.« Wütend funkelte Pascal mich an.

Standen bei dem Kerl noch alle Tassen im Schrank? »Spinnst du? Wie soll man das bitteschön unter Kontrolle haben? Das ist unmöglich. Und warum sollte ich es geheim halten?«

»Das liegt ja wohl auf der Hand. Und natürlich ist das möglich. Erfordert lediglich ein wenig Disziplin. Scheinst du aber nicht zu besitzen.«

»Disziplin!« Ich sprang auf. Es juckte mir in den Fingern, Pascal eine zu verpassen. Wie konnte man dermaßen unsensibel sein? »Ich will dich mal sehen, wenn du krank bist. Als würdest du dann noch die Kontrolle über deinen Körper behalten. Selbst du bist nicht dermaßen beherrscht.«

Pascal stand jetzt gleichfalls. »Krank«, er schnaubte, »dass ich nicht lache.«

Ha! Wusste ich es doch. Er schien noch immer felsenfest davon überzeugt, dass ich gestern betrunken gewesen war.

»Schluss jetzt, Pascal! Hör auf, Lexa zu reizen.« Reinholds Stimme duldete keinen Widerspruch. »Und du, Lexa, beruhige dich bitte.«

Mein Blick löste sich von Pascal und glitt hinüber zu Reinhold. Mir war gar nicht aufgefallen, dass er jetzt ebenfalls stand und auch Anna saß nicht mehr. Sie war mehrere Schritte nach hinten gewichen. Ihre Finger umklammerten die Anrichte, in ihren Augen glomm Angst. Reinhold kam langsam einen Schritt auf mich zu, eine Hand zur Hälfte erhoben. Leise sprach er auf mich ein: »Bitte, Lexa. Du musst dich beruhigen.«

»Ich sagte doch, sie besitzt nicht einen Funken Disziplin. Sie bringt uns alle in Gefahr. Wenn das an die Öffentlichkeit sickert …«

»Verdammt, Pascal! Halt jetzt endlich die Klappe. Mir fehlt definitiv die Lust, die Küche neu zu renovieren. Ganz zu schweigen davon, dass deine Mutter noch im Raum ist.«

Mir erschloss sich der Sinn dieser Aussagen nicht. Wieso Küche neu renovieren? Und was sollte nicht an die Öffentlichkeit sickern? Irgendwie erschien diese ganze Situation vollkommen absurd. Urplötzlich flößte ich Anna wohl Angst ein. Reinhold verhielt sich, als müsse er ein wildes Tier beruhigen, das kurz davor stand anzugreifen und Pascal warf mir vor, disziplinlos zu sein. Warum auch immer. Alle drei starrten sie auf meine Hände. Also blickte ich ebenfalls darauf und zuckte zusammen. Hitze flutete durch meinen Körper und mein Magen krampfte sich zusammen. »O mein Gott!«, hauchte ich. Blaue Flammen züngelten über meine Hände, die jetzt höherschlugen. Wie hypnotisiert fixierte ich das Flammenspiel.

»Lexa, sieh mich an«, forderte Reinhold mich auf. Doch ich konnte meine Augen nicht von dem Phänomen auf meiner Haut abwenden. Was geschah da mit mir? Eine Hand legte sich sachte auf meine Schulter.

»Lexa, sieh mich bitte an.« Sanft, fast zärtlich sprach Reinhold auf mich ein.

Ich schaute auf.

»So ist es gut. Und jetzt atme tief ein und aus.«

Ich tat nichts dergleichen, stattdessen betrachtete ich erneut meine Hände. Noch immer loderten die Flammen darüber. Ich atmete viel zu hastig und mein Herz schlug dermaßen laut, dass es mir wie Paukenschläge in den Ohren dröhnte. Ein bitterer Geschmack breitete sich in meinem Mund aus und ich musste hart schlucken, um meinen emporstrebenden Mageninhalt wieder hinunter zu drängen. »O mein Gott. Was …? O Gott!« Mit jedem Wort klang meine Stimme schriller, hysterischer.

Reinhold schüttelte mich leicht. »Lexa, ich will, dass du mir in die Augen schaust. Sofort.«

Ich kam seiner Aufforderung nach.

»Und jetzt will ich, dass du mit mir atmest. Verstanden?«

Diesmal konnte ich mich dem Befehlston nicht entziehen und so nickte ich.

»Gut. Tief ein. Und aus. Ein … Aus. Genauso. Das machst du hervorragend. Und noch einmal. Ein … Aus. Konzentriere dich auf deine Atmung. Alles ist gut. Dir kann nichts passieren. Vertrau mir. Merkst du, wie dein Herzschlag langsamer wird? Vergiss die Atmung nicht. Tief ein und aus. Ja, gut so. Spürst du, wie die Ruhe durch dich hindurchfließt? Lass sie von dir Besitz ergreifen. Werde eins mit ihr.«

Mit jedem Atemzug beruhigte ich mich weiter und mein Herzschlag verlangsamte sich. Die Wut auf Pascal verebbte allmählich. Reinhold drückte leicht meine Schulter und schenkte mir ein Lächeln. »Gut gemacht, Lexa.«

Ich hob meine Hände ein Stück an. Doch das blaue Feuer war fort. Nichts erinnerte mehr daran. Nicht eine Brandblase verunstaltete meine Haut. Fragend blickte ich zu Reinhold. »Was war das?«, flüsterte ich.

»Dir ist so etwas noch nie passiert?«

Ich runzelte die Stirn. »Nein. Außer gestern Abend. Aber da hat mich Pascal …« Ich stockte. Das war lächerlich. Natürlich hatte ich von Pascal kein Messer in die Brust gerammt bekommen. Immerhin lebte ich noch.

»Erstochen. Du kannst es ruhig aussprechen. Warum glaubst du, haben Vater und ich dich sonst hierhergebracht?«

»Sag mal, auf was bist du drauf? Das hieße ja wohl, ich bin tot. Aber ich atme noch und ich besitze nicht mal einen Kratzer.«

»Lexa, wie hieß dein Vater?«

Ich schüttelte den Kopf. »Was tut das denn zur Sache?«

»Antworte, bitte. Oder weißt du nicht, wer dein Vater ist?«

»Selbstverständlich kenne ich meinen Vater. Sein Name lautet Matthias Jasen.«

Reinhold fuhr sich über die Stirn. »Dieser dämliche Vollidiot.«

Ich riss die Augen auf. Was ging hier vor sich? »Du kanntest meinen Vater? Woher?«

»Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Hat er dir nie erzählt, dass er ein Wiederkehrer ist, genau wie du?«

»Wiederkehrer?«

»Ja. Ein Phönix.«

Ich schnappte nach Luft. »Ihr spinnt doch! Was für ein perverses Spiel treibt ihr hier?«

Reinhold hob die Hand. Ich wich zurück. »Bleibt mir vom Leib.« Ich wirbelte herum und rannte durch den Flur zur Haustür, riss sie auf und rannte weiter. Rannte, was das Zeug hielt. Bloß weg von den Brandts. Die tickten nicht richtig. Ich rannte, bis ich Seitenstechen bekam. Erst dann verlangsamte ich das Tempo.

 

Kapitel 4

 

Kaum hatte ich den Finger vom Klingelknopf genommen, öffnete sich die Tür schwungvoll. Wut und Sorge zeichneten sich deutlich im Gesicht meiner Mutter ab. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen und zeugten davon, dass sie bisher noch keinen Schlaf gefunden hatte. »Verdammt, Lexa! Wo bist du gewesen?«

Ich schob mich an ihr vorbei in den Flur. Mit lautem Knall flog die Tür hinter mir ins Schloss. Ich zuckte zusammen. Obwohl ich mir nichts vorzuwerfen brauchte, regte sich das schlechte Gewissen in mir. Ich wusste, wie sehr die letzten Stunden sie mitgenommen hatten. Seit Paps Verschwinden besaßen wir eine stillschweigende Übereinkunft, an die wir uns bisher immer gehalten hatten.

»Antworte mir gefälligst. Und wage es ja nicht, mir irgendwelche Lügen aufzutischen.«

Ich drehte mich zu ihr um. »Ich war bei einem Klassenkameraden.«

»Bei welchem? Und sag nicht Mel oder Torben, dort habe ich angerufen und die wussten auch nicht, wo du steckst.«

»Pascal.«

Die Hände in die Hüften gestemmt, blitzte Ma mich zornig an. Ich konnte sehen, welche Mühe es sie kostete, nicht vollends die Beherrschung zu verlieren. »Du warst bei einem Jungen? Ich bin fast gestorben vor Sorge und du vergnügst dich mit ’nem Kerl. Konntest du nicht wenigstens eine kurze Nachricht schicken?«

»Tut mir leid, Ma. Aber es ist nicht, wie du denkst. Mir ging es ganz plötzlich nicht gut. Ich litt wohl an einem Hitzschlag. Pascals Vater hielt sich vor Ort auf. Er ist bei der freiwilligen Feuerwehr und hielt an dem Abend Brandwache. Er und Pascal nahmen mich mit und kümmerten sich um mich.«

Augenblicklich verrauchte Mas Wut. Zurück blieb nur noch Sorge. »O Gott, geht es dir gut?« Ehe ich mich versah, lag ihre Hand prüfend auf meiner Stirn.

»Ja, es geht mir wieder gut. Bin nur noch etwas müde.«

»Warum zum Teufel hat mich niemand verständigt?«

Ja, warum nicht? Weil es sich bei den Brandts um Sadisten handelte und sie ein perverses Spiel mit mir trieben. Das behielt ich besser für mich. Ich wollte Ma nicht noch mehr aufregen. »Keine Ahnung. Ich weiß sowieso nicht mehr viel. Nur, dass es mir in der Nacht plötzlich ganz mies ging und ich förmlich verglühte. Und dann bin ich heute Morgen im Gästebett der Brandts aufgewacht. Ich würde nicht einfach wegbleiben, ohne dir Bescheid zu geben. Das musst du mir glauben, Ma.« Flehend schaute ich sie an. In ihrem Gesicht zeichnete sich noch immer Sorge ab. Was die Müdigkeit auf ihren Zügen stärker betonte. Langsam nickte sie, dann breitete sie die Arme aus. Erleichtert sank ich an ihre Brust. Eine Weile hielten wir uns eng umschlungen, bis ich mich schließlich sanft aus der Umarmung löste. »Ich leg mich noch ein wenig hin.«

»Mach das … Und, Lexa?«

Ich drehte mich noch einmal zu ihr um. »Ja?«

»Tu mir sowas nie wieder an. Hörst du?«

»Ich gebe mein bestes.«

In meinem Zimmer ließ ich mich aufs Bett fallen. Obwohl ich mich wirklich noch müde fühlte, wollte sich der Schlaf nicht einstellen. Jedes Mal, wenn ich meine Augen schloss, um alles zu vergessen, kreisten meine Gedanken unaufhörlich um die Geschehnisse der letzten Stunden. Ich konnte es nach wie vor nicht begreifen. Alles erschien mir so surreal. Woher waren die blauen Flammen gekommen und warum hatten sie nicht die geringsten Spuren hinterlassen? Nirgends konnte ich auch nur den Hauch einer Verbrennung auf meiner Haut sehen. Geschweige denn eine Wunde von dem angeblichen Messerstich, den ich unmöglich hätte überleben können. Soviel stand fest und deswegen musste er meiner Fantasie entsprungen sein. Doch es erklärte nicht die Vorkommnisse von vorhin bei den Brandts. Irgendwie wollte nichts wirklich zusammenpassen. Wobei der Hitzschlag nach wie vor für mich am meisten Sinn ergab. Und vielleicht, nur mal angenommen, ich reagierte auf irgendein Medikament mit Wahnvorstellungen. Konnte ich mir dann sicher sein, dass die Ereignisse sich genauso abspielten, wie sie es in meiner Erinnerung taten? Eher nicht. In meinem Schädel pochte es und zu allem Überfluss spürte ich noch immer dieses Gefühl von nahendem Unheil in mir. Und für das fand ich beim besten Willen keine vernünftige Erklärung.

Irgendwann musste ich doch eingeschlafen sein, denn als ich meine Augen aufschlug, zeigte der Wecker bereits später Nachmittag an. Na super! Es lag nicht in meiner Absicht, fast den ganzen Tag zu verschlafen. Ich schälte mich aus dem Bett. Da die Klamotten an mir klebten, stiefelte ich zuallererst ins Bad. Als die ersten Wassertropfen auf meine erhitzte Haut fielen, schloss ich die Augen. Zehn Minuten stand ich unter dem Strahl und genoss das belebende Gefühl des Wassers, bis ich mich endlich einseifte. Wie neu geboren verließ ich wenig später das Badezimmer und steuerte die Küche an, wo ich über den Kühlschrank herfiel. Nachdem ich gesättigt war, machte ich mich daran, endlich meine WhatsApp Nachrichten zu checken, wozu ich mich vorhin nicht aufraffen konnte. Einen ganzen Haufen von meiner Mutter und knapp halb so viele von Mel und Torben, in denen sie sich nach meinem Verbleib erkundigt hatten. Zusätzlich einige verpasste Anrufe von den Dreien. Ich überlegte, ob ich meine Freunde anrufen sollte. Doch ich verspürte keine Lust auf eine Unterhaltung, die etliche Fragen mit sich brachte, die ich nicht beantworten konnte und auch nicht wollte. Ganz zu schweigen davon, dass Torben bestimmt einen Anfall bekommen würde, wenn er hörte, wo ich die Nacht verbracht hatte und dafür besaß ich im Moment nicht den Nerv. Normalerweise genoss ich sein Großer-Bruder-Gehabe, aber in diesem Fall konnte ich darauf verzichten. Also beschloss ich, Mel und Torben lediglich eine Mitteilung zu schicken, in der ich ihnen die Geschehnisse erklärte. Das hieß, ich gab die Version zum Besten, die ich auch meiner Mutter erzählt hatte, in der weder blaue Flammen noch das Erstechen vorkamen. Anschließend räumte ich die Wohnung auf. Was nicht viel Zeit in Anspruch nahm, denn Ma hatte das Meiste vor ihrem Schichtbeginn bereits erledigt. Also schnappte ich mir die Einkaufsliste, holte Geld aus der Haushaltskasse und machte mich auf den Weg in den Supermarkt. Kaum verließ ich das Haus, tauchte Pascal vor mir auf. »Was willst du?«, giftete ich ihn an.

»Wir müssen reden.«

»Nein, müssen wir nicht.«

»Lexa.« Er legte eine Hand auf meine Schulter.

Ein Kribbeln durchfuhr mich. Blöde Hormone. Scheinbar realisierte mein Körper noch nicht, was für eine Nummer Pascal da mit mir abzog. Gott sei Dank, arbeitete mein Verstand wenigstens. Hastig trat ich ein Stück zurück. Seine Finger glitten an meinem Schlüsselbein herunter.

»Verschwinde und lass mich in Ruhe.« Ich ließ ihn kurzerhand stehen. Meine abweisende Art schreckte Pascal jedoch keineswegs ab. Mühelos passte er sich meinem Schritt an. Himmelherrgott, warum konnte er mich nicht einfach in Ruhe lassen? In den letzten zwölf Monaten hatte ich ja auch nicht für ihn existiert.

»Lexa, es ist wichtig. Vertrau mir.«

Abrupt blieb ich stehen und drehte mich zu ihm. »Dir? Vertrauen? Ganz sicher nicht. Du tickst nicht richtig. Ich weiß nicht, was du da versuchst mir einzureden und aus welchem Grund. Aber suche dir gefälligst jemand anderen für deine Psychospielchen. Und jetzt hau endlich ab und lass mich in Ruhe. Oder muss ich erst die Bullen rufen?« Ich zückte demonstrativ mein Smartphone und entsperrte das Display. Ein paar Passanten drehten die Köpfe nach uns um. Ich schien wohl ein wenig laut geworden zu sein. Aber das juckte mich nicht die Bohne. Im Gegenteil begrüßte ich die Aufmerksamkeit. Vielleicht besaß ich Glück und mir kam jemand zu Hilfe, wenn sich Pascal nicht abschütteln ließ. Trotzig starrte ich ihn an. Mein Daumen schwebte knapp über der Tastatur, bereit, meine Worte in die Tat umzusetzen, wenn er meiner Aufforderung nicht nachkam. In Pascals Augen blitzte es gefährlich auf. Zu meiner Überraschung wandte er sich jedoch um und ging. Ich stieß einen erleichterten Seufzer aus. Erst jetzt merkte ich, wie mir die Knie schlotterten und mein Herz raste. Auf meinen Handflächen klebte ein dünner Schweißfilm. Ich schob mein Smartphone zurück in meine Gesäßtasche und wischte die Hände an meiner Jeans ab, dann lief ich auf zittrigen Beinen zurück zum Haus. Der Einkauf musste eben bis morgen warten. In meinem Zimmer warf ich mich aufs Bett. Nur allmählich beruhigte ich mich. Das Klingeln meines Mobiltelefons machte die mühsam errungene Ruhe mit einem Schlag wieder zunichte. Mit bebenden Fingern fischte ich es aus der Hosentasche und schaute aufs Display. Aufatmend stieß ich die Luft aus den Lungen. Bloß Torben. Meine Finger zitterten so sehr, dass ich mehrere Anläufe brauchte, um den Anruf entgegenzunehmen. Als ich es endlich schaffte, hatte Torben bereits aufgelegt. Noch während ich überlegte, ob ich zurückrufen sollte, leuchtete eine Nachricht von ihm auf.

 

Gott sei Dank geht es dir gut. Mel und ich haben uns schon tierische Sorgen gemacht. Wollte dich an später erinnern. Bist du noch immer dabei? Wir treffen uns um acht bei mir und gehen dann gemeinsam zum Meisterturm. HDL Torben.

 

Mist. Ich schaute auf die Uhr, bereits halb acht. In der ganzen Aufregung hatte ich das bevorstehende Ereignis total vergessen. Dabei hatte ich Torben schon vor Tagen versprochen mitzukommen. Zwar interessierte ich mich kein bisschen für Astrologie, aber wann bekam man schon die Gelegenheit, einen Kometen mit bloßem Auge beobachten zu können? Heute Nacht um elf Uhr fünfundvierzig sollte er der Erde am nächsten kommen. Und nicht nur das. Sein gigantischer Schweif passierte die Erde. Mit anderen Worten, wir gingen mitten durch ihn hindurch. Was uns angeblich jede Menge zusätzlicher Sternschnuppen bescheren sollte. Das zumindest behauptete Torben, als er mir mit leuchtenden Augen von dem bevorstehenden Ereignis erzählt hatte.

 

Kapitel 5

 

Ich teilte Torben mit, dass ich direkt zum Meisterturm kommen wollte. Da er in entgegengesetzter Richtung zum Wald wohnte, müsste ich einen Teil der Strecke doppelt zurücklegen, wofür mir heute definitiv die Lust fehlte. Während ich mich fertigmachte, verstärkte sich schon wieder diese merkwürdige innere Unruhe. Ich versuchte, sie zu ignorieren, doch sie drängte sich wie ein lästiger Verkäufer ständig in den Vordergrund. Wenn ich nur wüsste, was sie bedeutete, woher sie stammte und vor allem, wie ich sie abschütteln konnte. Doch sie wollte sich nicht verscheuchen lassen. Tief versenkte sie ihre Klauen in mein Fleisch und verbiss sich wie ein hungriges Raubtier, das sich durch nichts von seiner Beute abbringen ließ.

Kurz nach halb neun verließ ich das Haus. In meinem Magen lag ein dicker Klumpen und dicht unter meiner Haut krabbelten Hunderte von Tausendfüßler wild durcheinander und verstärkten das unruhige Gefühl. Ich atmete ein paar Mal tief durch, dann schlug ich den Weg zum Waldrand ein. Immer wieder blickte ich mich um, aus Angst, Pascal könnte mir irgendwo auflauern. Zum Glück konnte ich ihn nirgends entdecken. Wahrscheinlich hatte ich ihn mit der Drohung, die Polizei zu rufen, verschreckt. Anstatt Erleichterung zu verspüren, wuchs die Anspannung mit jedem meiner Schritte. Als ich schließlich den Waldweg erreichte, der zum Meisterturm führte, stand ich kurz davor, wieder umzukehren. Nur zögerlich schritt ich in den Wald hinein. Mein Herz klopfte dumpf, schwer und viel zu schnell. In meinem Nacken kribbelte es. Blöde Kuh! Jetzt reiß dich mal zusammen. Auch, wenn ich bezweifelte, dass Pascal nach meinem Ausraster auftauchen würde, was sollte dabei schon passieren? Vermutlich nichts, außer, dass er erneut versuchen würde, mit mir zu reden. Aber ich musste ihm ja nicht zuhören. Es interessierte mich nämlich kein bisschen, welche Märchen er mir erneut auf die Nase binden wollte. Sein Gewäsch konnte er getrost für sich behalten oder einer Leichtgläubigeren ins Ohr flüstern. Ein Schauer rieselte mir übers Rückgrat und verteilte Kälte in meine Gliedmaßen. Erneut blickte ich über die Schulter, um mich zu vergewissern, dass mir niemand folgte. Knackend zerbrach ein Zweig unter meiner Schuhsohle. Ich zuckte zusammen. Neben mir stob etwas aus der Brombeerhecke empor. Ich machte einen Satz und stieß einen spitzen Schrei aus. O Mann, nur ein Vogel. Schwer atmend stützte ich die Hände auf den Oberschenkeln ab. Herrgott noch mal! Was war bloß los mit mir? Ich benahm mich lächerlich. Ruckartig richtete ich mich auf und straffte die Schultern. Sonst hatte ich mich auch nicht dermaßen ängstlich angestellt, wenn ich durch den Wald gelaufen war. Dennoch konnte ich nicht verhindern, dass ich eher rannte, anstatt zu gehen und dass mein Herz nach wie vor in einem viel zu schnellen Rhythmus schlug. Endlich sah ich die Waldgaststätte zwischen den Bäumen hindurchblitzen. Ich lief weiter zum Meisterturm, der nur wenige Meter entfernt stand. Es handelte sich um keinen Turm, wie man ihn sich vorstellte. Er war nicht rund und aus Stein erbaut, sondern eckig und aus Stahl und erinnerte eher an einen Strommast. Die viereckige Aussichtsplattform ragte nur geringfügig über die Baumkronen hinaus. 173 Stufen wanden sich in der Mitte des Stahlkonstrukts nach oben. Ich machte mich daran, sie zu erklimmen. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte ich die Aussichtsplattform. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und erwiderte noch völlig atemlos das fünfstimmige »Hallo«, das mir fröhlich entgegenschlug.

»Schön, dass du es geschafft hast, Lexa.« Torben zog mich in eine Umarmung und flüsterte mir ein »Alles in Ordnung?« ins Ohr.

Mir blieb kaum Zeit zu nicken, da drückte mich auch schon Mel, die mir dieselbe Frage zuraunte. Wieder nickte ich zur Antwort. Hoffentlich drangen die beiden nicht weiter in mich. Ich wollte nicht über das, was passiert war, sprechen. Nicht, wenn der Rest der Clique zuhörte. Scheinbar gaben sie sich aber damit zufrieden, denn sie zogen mich auf die Holzbank, wo eine Decke ausgebreitet lag, auf der Henning, Jana und Timo saßen. Ich ließ mich darauf nieder und lehnte meinen Rücken gegen die Holzlatten. Hier oben, knapp dreißig Meter über dem Boden, konnte man atemberaubend weit sehen. In der Ferne entdeckte ich einen leuchtenden Punkt am Horizont. Eine Gänsehaut überzog meinen Körper. »Ist er das?« Ich deutete mit dem Finger darauf.

»Ja. Der Wahnsinn, dass man ihn jetzt schon sehen kann, obwohl es noch hell ist«, antwortete Torben begeistert.

Ich konnte seine Euphorie nicht ganz teilen, auch wenn mich der Komet durchaus beeindruckte. Aber der Anblick verursachte mir Magengrummeln. Mit dem Voranschreiten der Dunkelheit nahm nicht nur das Leuchten des Kometen zu, sondern auch mein ungutes Gefühl. Ich verdrängte es. Das hieß, soweit mir das gelang.

Einträchtig saßen wir auf der Bank und ließen eine Tüte Chips herumgehen, während wir den nächtlichen Himmel beobachteten, an dem immer mehr Sterne auftauchten, je dunkler er sich färbte.

»Da!«, rief Jana plötzlich und deutete nach oben. »Habt ihr die Sternschnuppe gesehen?«

»Sternschnuppe? Wo?« Henning suchte den Himmel ab. »Nein. Mist.«

Torben klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter. »Es ist nicht die Letzte für heute. Versprochen. Du erhältst schon noch die Chance, eine zu Gesicht zu bekommen.«

Allmählich schwand auch das letzte Tageslicht, wodurch der Komet immer mehr an Leuchtkraft gewann. Mittlerweile strahlte er heller als der Mond und zog einen breit gefächerten Schweif hinter sich her. Wie eine überdimensionale Sternschnuppe hing er am nachtschwarzen Himmel. Bildschön. Aber tief in mir löste sein Anblick Furcht aus. Unwillkürlich kam mir der Film Armageddon mit Bruce Willis und Ben Affleck in den Sinn. Dabei gab es gar keinen Grund für Weltuntergangsstimmung. Der Komet raste nicht auf die Erde zu, sondern an ihr vorbei. Und das in sicherer Entfernung, wie Torben uns vorhin beteuerte.

»Wow, seht ihr das? Der absolute Wahnsinn.« Torben sprang auf und trat an die Brüstung. »Ich beobachte den Kometen ja schon seit geraumer Zeit, aber bisher konnte ich nur mit Hilfe meines Teleskops erkennen, dass der Schweif aus zwei Teilen besteht. Jetzt kann man es sogar mit bloßem Auge sehen.«

Wir erhoben uns ebenfalls und gesellten uns zu Torben ans Geländer. Ich betrachtete den Schweif genauer. Mein Herz schaltete einen Gang höher und ein unheilvolles Kribbeln durchströmte mich. »Stimmt. Der eine ist bläulich und der andere eher gelblich.«

»Faszinierend, oder?« Torben benahm sich so aufgekratzt wie ein kleiner Junge vorm Weihnachtsbaum.

»Ja, durchaus. Man bekommt nicht alle Tage die Gelegenheit, ein derartiges Naturschauspiel zu sehen«, stimmte ich ihm zu.

»Sag ich doch. Die Wahrscheinlichkeit, ein solches Ereignis mit bloßem Auge beobachten zu können, ist verschwindend gering, um nicht zu sagen fast gar nicht gegeben

Ich nickte. Auch wenn meine Gefühle nach wie vor gemischter Art waren, wollte ich um nichts auf der Welt diesen atemberaubenden Anblick verpassen. Davon konnte ich noch meinen Enkelkindern erzählen.

»Jetzt habe ich auch eine Sternschnuppe gesehen«, rief Timo.

»Da! Noch eine.« Mel klatschte in die Hände, dabei hüpfte sie wie ein Flummi auf und ab.

»Es geht los«, sagte Torben.

Henning löste den Blick vom Himmel und schaute zu Torben hinüber. »Was geht los?«

»Wir tauchen in den Schweif ein.«

»Oohhh, gleich zwei auf einmal«, hauchte Jana verzückt.

Immer mehr Sternschnuppen blitzten auf. Manche nicht mehr als einen Wimpernschlag lang zu beobachten, andere wiederum präsentierten sich mehrere Sekunden als helle Lichtstreifen, bevor sie verglühten.

»Habt ihr die gesehen?« Henning blickte begeistert in die Runde. »Die war richtig schön. Wie aus einem Bilderbuch.«

»O Mann. So schnell komme ich mit dem Wünschen gar nicht hinterher«, meinte Jana. Dabei ließ sie den Himmel nicht eine Sekunde aus den Augen. »Das ist ja ein richtiger Sternschnuppenschauer, der da niedergeht.« Ohne Vorwarnung setzte das kalte Brennen in meinen Venen ein. Nein, nicht schon wieder. Ich verstärkte den Griff um die Brüstung, bis es schmerzte. Jeden Moment müsste das Pulsieren hinzukommen. Doch es blieb aus.

»O mein Gott! Seht ihr das?«, stieß Mel schrill aus und deutete hektisch mit dem Zeigefinger auf einen glühenden Punkt. »Die Sternschnuppe hält direkt auf uns zu.«

»Da kommen noch mehr«, murmelte Jana und umklammerte meinen Oberarm. Dabei bohrte sie ihre Nägel tief in mein Fleisch.

Der Schmerzlaut blieb mir jedoch im Hals stecken. Ich fröstelte. Wie gebannt starrte ich auf die Feuerbälle, unfähig, mich auch nur einen Millimeter zu rühren. Der erste schlug mit dumpfem Knall, ein ganzes Stück entfernt, vor uns ein. Ein Pfeifen durchschnitt die Luft. Ich spürte Hitze, dann schlug ein weiteres Feuergeschoss am Fuße des Meisterturms ein. Erde spritzte empor. Der Turm schwankte. Janas Schrei malträtierte mein Trommelfell.

»Wir müssen hier runter!«, schrie Henning mit Panik in der Stimme und stürmte zur Treppe.

Mel und Timo folgten ihm. Jana ließ meinen Arm los und stürzte ebenfalls zum Abstieg. Torben lief knapp hinter ihr. Nur ich blieb wie angewurzelt stehen.

»Lexa!«

Als legte Torbens Ruf einen Schalter in meinem Gehirn um, löste sich die Starre in meinen Muskeln und ich hechtete zur Wendeltreppe. Die Stufen leuchteten silbern im Mondlicht. Es roch nach verbrannter Erde und Rauch. In halsbrecherischer Geschwindigkeit sauste ich nach unten. Immer wieder rutschten meine schweißfeuchten Hände vom Geländer und ich drohte zu stürzen, konnte mich aber stets in letzter Sekunde abfangen. Ich hörte ein paar weitere Detonationen in der Ferne. Endlich gelangte ich am Fuße der Treppe an. Die anderen rannten bereits Richtung Waldgaststätte. Ich folgte ihnen. Unvermittelt hielt Torben an. »Wartet! Ich glaube, es ist vorbei.«

Wir blieben stehen und lauschten. Nichts Verdächtiges zu hören. Ich atmete auf.

»Scheiße, das war abgefahren«, stieß Timo lachend aus.

»Kannst du laut sagen«, stimmte Torben ihm zu. »Lasst uns zurückgehen und nach den Meteoriten sehen. Wann fällt einem schon eine Sternschnuppe direkt vor die Füße?«

Ich verspürte nicht die geringste Lust zurückzugehen. Da alle anderen Torbens Vorschlag aber begeistert aufnahmen, wollte ich kein Spielverderber sein und so schloss ich mich zögernd an. Wir kamen keine zwanzig Schritte weit, da brach etwas aus dem Unterholz hervor.

»Was war das?« Wieder spürte ich Janas Nägel in meinem Oberarm. Das hinterließ garantiert ein unschönes Muster.

Wir leuchteten mit den Taschenlampen in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Zuerst konnten wir nichts erkennen, dann erfassten unsere Lichtkegel mehrere Gestalten. Das ging ja schnell. Die Einschläge lagen erst ein paar Minuten zurück, schon suchte jemand danach.

»Hey, Leute!« Timo ging ein Stück auf die Ankömmlinge zu. »Wollt ihr euch die Einschlagstelle anschauen? Wir wissen, wo sie ist. Zumindest …« Weiter kam er nicht. Einer der Typen schnellte vor, packte Timo am Hals und hob ihn mühelos ein paar Zentimeter über den Boden. Ein erschrockener Laut, der augenblicklich in ein Röcheln überging, drang aus Timos Kehle. Wie gelähmt stand ich da und starrte fassungslos auf die Szene, die sich vor meinen Augen abspielte. Hilflos zappelte Timo mit den Füßen, während er panisch mit beiden Händen versuchte, die Finger von seinem Hals zu lösen. Völlig unbeeindruckt von Timos Gegenwehr schlug der Angreifer mit der anderen Hand zu. Zerfetzte Timos Bauchdecke. Blut spritzte. Jana und Mel schrien gellend, während ich nur ein Keuchen von mir gab. Torben sog scharf die Luft ein und Henning gab einen entsetzten Ton von sich. Aus Timos Kehle drang lediglich ein gurgelnder Laut. Seine Gedärme quollen hervor. Timos Hände schnellten nach unten und packten nach der blutigen Masse, als wollte er sie zurückhalten. Wie eine Puppe schleuderte der Kerl Timo von sich. Eine Armlänge von uns entfernt schlug er auf dem Waldboden auf. Er zuckte noch ein paar Mal, bis er sich schließlich nicht mehr rührte. Das konnte beim besten Willen nicht real sein, oder? Das hier erinnerte eher an den Anfang eines billigen Horrorstreifens. Ein weiterer dieser Typen erreichte Henning. Eisige Finger umfassten meinen Nacken, glitten über meine Wirbelsäule hinab und bescherten mir eine Gänsehaut. Ohne sichtliche Kraftanstrengung riss der Kerl Henning die Kehle mit nur einer einzigen Bewegung heraus. Wie ein gefällter Baum kippte er vornüber und blieb reglos im grellen Strahl seiner Taschenlampe liegen. Ich schmeckte Galle. Es wirkte gespenstisch, wie das weiße Licht Hennings Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen direkt anleuchtete.

Ich würgte. Doch es kam nichts. Weg. Ich musste hier weg. Jana hing noch immer, wie am Spieß schreiend, an meinem Arm. Unsanft löste ich ihre Nägel aus meinem Fleisch und ergriff ihre Hand. Dann rannte ich los, Jana hinter mir herziehend. Wir mussten aus dem Wald raus. Kalter Schweiß tränkte mein Shirt. Ich atmete viel zu schnell, dennoch gelang nicht genügend Luft in meine Lungen.

Plötzlich tauchten direkt vor mir zwei Gestalten auf. Ich vollführte eine Vollbremsung, wodurch Jana in mich hineinlief. Heftig ruderte ich mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten. Noch bevor ich mich soweit fing, dass ich eine andere Richtung einschlagen konnte, erreichten die beiden uns. Ein Zittern kroch durch meine Glieder. Ich kniff die Augen in der Erwartung zusammen, dass mich jeden Moment einer der beiden zerfetzen würde. Doch die Gestalten liefen an mir und Jana vorbei. Eine ganze Steinladung fiel mir vom Herzen. Es interessierte mich nicht, warum sie uns verschonten. Nur fort. Also rannte ich wieder los. Jana immer noch hinter mir herziehend.

Jäh riss sie mich mit einem Ruck nach hinten. Unsere Finger lösten sich voneinander und ich fiel hart auf mein Hinterteil, direkt auf einen Stein, der sich in meine linke Gesäßhälfte bohrte. Schmerz schoss durch meinen Körper und trieb mir die Tränen in die Augen. Jana schrie hysterisch. Mit einem Mal verstummte sie, als stellte jemand den Lautstärkeregler auf null. »Jana?« Keine Antwort. Ich rappelte mich auf die Beine und leuchtete mit der Taschenlampe die Umgebung ab. Ganz in der Nähe entdeckte ich sie. Ich taumelte auf sie zu. »Jana?« Mir brach die Stimme. Ihr Körper lag in einem merkwürdigen Winkel verdreht am Fuße eines Baumstammes. Schwallartig schoss mein Mageninhalt die Speiseröhre hinauf und verteilte sich auf dem Waldboden.

Eine Hand umklammerte meinen Arm. Kalt und rau umschlossen die Finger mein Gelenk. Klauen bohrten sich nadelgleich in mein Fleisch. Eine echsenähnliche Fratze tauchte in meinem Gesichtsfeld auf. Ich schrie. Der Klang zerreißenden Stoffes drang an mein Ohr. Kurz darauf spürte ich warme Nässe. Ein Schatten schnellte auf meinen Angreifer zu. Der ließ meinen Arm los, um sich der Wucht des Aufpralls zu stellen. Brennender Schmerz stellte sich so urplötzlich ein, dass es mir schier den Atem raubte. Langsam blickte ich an mir hinab. Deutlich konnte ich im Licht des Mondes die fünf langen Risse erkennen, die sich von meinem Unterbauch über die Leiste hin bis zu meinem Oberschenkel zogen. Blut spritzte fontänenartig hervor. Ich presste meine Hände auf die Wunde. Alles um mich herum drehte sich und meine Beine gaben unter mir nach. Ich fiel auf die Knie. In meinen Ohren rauschte es, als befände ich mich unter Wasser.

»Ganz ruhig, Lexa. Alles wird gut.«

Ich hob den Kopf und schaute in Reinholds Gesicht. »Ich glaube, ich blute«, murmelte ich.

»Lass mich mal sehen.«

Ich zog die Hände fort. Sofort spritzte das Blut wieder wie der Strahl eines Springbrunnens empor. Doch es berührte mich nicht. Viel eher erschien es mir, als beobachtete ich eine Fremde durch ein Objektiv. Alles schien seltsam entrückt. Ich konnte mich nicht länger aufrechthalten. Der Boden kam näher. Unkontrolliert klapperten meine Zähne aufeinander, während die Umgebung in Dunkelheit versank. Wie aus weiter Ferne drangen Worte zu mir durch. Doch ihre Bedeutung entzog sich mir. Bleierne Müdigkeit übermannte mich und jeglicher Schmerz verschwand. Ich spürte nichts mehr, außer dem immer langsameren Schlagen meines Herzens. Und dann umgab mich nur noch Finsternis.

 

Kapitel 6

 

Ganz langsam schälte sich mein Bewusstsein aus der zähen Dunkelheit empor. Unter mir spürte ich die Weichheit einer Matratze, demzufolge lag ich in einem Bett. Allerdings konnte ich mich nicht entsinnen, wie ich da hineinkam. Ich kramte in meinem Gedächtnis nach dem Letzten, was ich noch wusste. Zum einen erinnerte ich mich an den Kometen, dann an mehrere Meteoriteneinschläge und … ich keuchte … ein Massaker! Ruckartig setzte ich mich auf.

Meine Freunde … tot. Ich hatte mit ansehen müssen, wie irgendwelche Typen sie mit bloßen Händen regelrecht zerfetzt hatten. Übelkeit krallte sich in meine Magenwände und ich japste nach Luft. Mein Herz raste wie eine alte Dampflok auf Vollspeed. Mit einem Satz sprang ich aus dem Bett. Suchend drehte ich mich einmal um die eigene Achse. Das durfte nicht wahr sein. Ich befand mich schon wieder im Gästezimmer der Brandts. Und wie beim ersten Mal steckte ich in einem fremden Nachthemd. Einziger Unterschied, Pascal saß nicht im Sessel, dafür lagen Jogginghose und T-Shirt über der Lehne bereits parat. In aller Eile schlüpfte ich in die Sachen und verließ das Zimmer. Ich musste heim. Ma drehte höchstwahrscheinlich gerade komplett durch. Trotz meines Versprechens blieb ich das zweite Mal hintereinander ohne Nachricht einfach weg. Auch wenn ich keine Schuld daran trug, peinigte mich ein schlechtes Gewissen. Als ich an der Küchentür vorbeilief, rief Pascal meinen Namen. Mein erster Impuls bestand darin, ihn zu ignorieren. Nach nur zwei Schritten blieb ich stehen.

Verdammt! Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Sich davonstehlen erschien mir unhöflich. Immerhin schuldete ich Reinhold Dank. Also drehte ich um und ging in die Küche. Wider Erwarten saß Pascal alleine am Tisch. Eine Zeit lang musterte er mich nur stumm, bevor er mir mit einem Handzeichen zu verstehen gab, dass ich mich setzen sollte.

»Ich kann nicht. Ich muss zu meiner Mutter«, lehnte ich ab.

»Deine Mutter liegt oben im Lesezimmer auf der Couch.«

»Was? Wieso schläft meine Mutter oben? Wie kommt sie hierher?«

Erneut deutete Pascal auf den Platz vor mir. »Setz dich, dann erzähl ich es dir.«

Wie betäubt zog ich mir den Stuhl zurecht und pflanzte mich darauf. Meine Mutter. Hier. Tausend Fragen peitschten wild durch meine Gehirnwindungen, keine davon kam mir über die Lippen. Stattdessen beobachtete ich stumm, wie Pascal mir aus der Thermoskanne einen Kaffee einschenkte, zwei Löffel Zucker dazugab, umrührte und mir anschließend die Tasse entgegen schob. Erstaunlich. Er wusste tatsächlich noch, wie ich meinen Kaffee trank. Ich nahm einen Schluck, dann blickte ich Pascal erwartungsvoll an.

»Vater hat sie mitgebracht, als er aus dem Krankenhaus zurückkam«, gab er mir endlich Auskunft.

»Dein Vater ist zum Krankenhaus gefahren?«

Ein spöttischer Blick traf mich. »Glaubst du, Mel, Jana und Torben wären von allein dort hingekommen?«

Geflissentlich überhörte ich den Sarkasmus in seiner Stimme und beugte mich nach vorne. »Sie leben?« Unbändige Freude durchströmte mich. Schlagartig verschwand sie jedoch wieder, als ich in Pascals Gesicht schaute. Trauer huschte darüber und er musste sich räuspern, bevor er die nächsten Worte aussprach. »Jana hat es nicht geschafft. Die inneren Verletzungen waren zu schwer. Mel schwebt in Lebensgefahr. Die Ärzte sagen, ihr Zustand ist mehr als kritisch, ob sie durchkommt bleibt abzuwarten. Ihre Chancen stehen schlecht, da sie eine schwere Kopfverletzung davontrug. Torben hat als Einziger Glück gehabt. Er fing sich nur ein paar Schrammen und einen gebrochenen Arm ein. Auch wenn der Bruch nicht ganz glatt ist, so muss er lediglich ein paar Wochen mit einem Gips herumrennen. Also nichts Dramatisches.«

Ich ließ mich nach hinten gegen die Lehne fallen. Meine Kehle zog sich schmerzhaft zusammen und meine Augen brannten.

»Deine Mutter sah, wie mein Vater die drei einlieferte und wollte wissen, wo du bist. Vater beruhigte sie und erklärte ihr, dass es dir gut geht, du aber unter Schock stehst und deshalb bei uns bist, was sie nicht sonderlich gut aufnahm. Sie machte Vater heftige Vorwürfe, weil er dich bei uns ließ, anstatt dich mitzubringen. Du gehörtest in ärztliche Behandlung, meinte sie. Deine Mutter bestand darauf, auf der Stelle zu dir gebracht zu werden. Vater verabreichte ihr auf dem Weg hierher ein Sedativum.«

Ich hörte wohl nicht richtig. Er meinte das unmöglich ernst. Ich schnellte vom Stuhl hoch, stützte beide Hände auf dem Tisch ab, während ich mich ihm entgegen beugte. »Ihr habt sie betäubt?«, hakte ich mit schriller Stimme nach.

»Selbstverständlich! Du warst tot. Hätte sie dich mit der aufgerissenen Arterie sehen und einen Schock fürs Leben erleiden sollen?«

»Ich war nicht …«

»Ach komm schon, Lexa!«, unterbrach mich Pascal hitzig. »Wie oft musst du noch sterben, bevor du es endlich akzeptierst? Und du kannst mir nicht weismachen, dass du dich nicht mehr daran erinnern kannst, wie der Lakerta dich mit seinen Krallen aufgeschlitzt hat.«

Ich ließ mich zurück auf den Stuhl fallen und senkte den Blick auf die Tischplatte. O ja, ich erinnerte mich. Ich erinnerte mich sogar viel zu gut. So gut, dass ich noch die messerscharfen Krallen spürte, wie sie in meine Haut eingedrungen waren, tiefe Furchen in mein Fleisch gezogen und flammenden Schmerz hervorgerufen hatten. Wie mit jedem Herzschlag das Leben aus mir herausgeflossen war. Anders als bei meinem angeblich ersten Tod, der schnell eingetreten war, konnte ich mir diesmal keine logische Erklärung zurechtlegen. Ich hatte die blutigen Striemen quer über meinen Unterleib bis hin zu meinem Oberschenkel gesehen und sogar darauf gedrückt, in der Hoffnung, die Blutung zu stoppen. Vergeblich. Aber wo gestern noch Wunden geklafft hatten, da konnte ich heute nur makellose Haut sehen. Selbst die blutigen Einkerbungen auf meinem Oberarm von Janas Fingernägeln schienen wie von Geisterhand verschwunden. Davon konnte ich mich vorhin überzeugen, als ich mich anzog. So haarsträubend sich Pascals Worte anhörten, neigte ich mittlerweile dazu, sie zu glauben. Mehr Schwierigkeiten bereitete mir mein Mörder. Denn es handelte sich definitiv um keinen Menschen. Humanoid, ja. Aber nicht menschlich. Er erinnerte mich eher an ein aufrecht gehendes Krokodil. »Was war das für ein Ding, das mich tötete?«

»Dann glaubst du also endlich daran, ein Wiederkehrer zu sein?«

Ich sprang auf und tigerte zwischen Küchenzeile und Tisch hin und her. Dabei rang ich die Hände. Schließlich blieb ich stehen. »Himmel! Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Es hört sich nach wie vor absolut unmöglich an. Beim ersten Mal konnte ich mir noch einreden, fantasiert zu haben. Erst wegen eines möglichen Hitzschlages und anschließend wegen irgendwelcher Medikamente, die ihr mir eventuell verabreicht habt. Aber das gestern.« Ich schüttelte den Kopf. »Dafür gibt es keine logische Erklärung. Meine Freunde sind … tot. Sie sind … vor … meinen Augen …« Ein Schluchzen schüttelte mich. Als bräche ein Staudamm, schossen mir Tränen in die Augen und machten mich blind. Ich bekam keine Luft mehr. Meine Beine zitterten und ich krümmte mich vor Schmerz.

Plötzlich stand Pascal vor mir und zog mich in die Arme. Zuerst wehrte ich mich dagegen, doch sein fester Griff und die Wärme, die von seinem Körper ausging, vermittelten etwas Tröstendes und gaben mir Halt. Schließlich gab ich auf und klammerte mich wie eine Ertrinkende an ihn. Binnen kurzem durchnässten meine Tränen sein T-Shirt, was ihn nicht zu stören schien. Während mein Körper sich vor Krämpfen schüttelte, hielt er mich eng umschlungen und flüsterte mir irgendwelche Worte ins Ohr. Dabei wiegte er mich sanft wie ein Kind und strich mir über den Kopf. Ich beruhigte mich nur langsam. Wieviel Zeit verstrich konnte ich allerdings nicht sagen, da mir das Gefühl dafür abhandenkam. Schließlich versiegten auch meine Tränen. Ein paar Herzschläge lang genoss ich noch das tröstende Gefühl von Pascals Wärme, bevor ich mich aus seinen Armen befreite.

»Entschuldige«, murmelte ich und wischte mir mit dem Handrücken über die Nase.

Pascal reichte mir ein Päckchen Taschentücher. »Du musst dich nicht entschuldigen.«

Ich putzte mir die Nase, dann setzte ich mich zurück auf den Stuhl. »Geht es dir gar nicht nahe? Ich meine, du kanntest sie immerhin schon länger als ich.«

Mit beiden Händen rieb sich Pascal übers Gesicht, bevor er die Ellbogen auf die Tischplatte stützte. Sein Kinn ruhte auf den Handflächen. »Doch, tut es.« Seine Stimme kam gebrochen. »Aber es ist nicht das erste Mal, dass ich ein solches Grauen erlebe. Im Gegensatz zu dir. Außerdem blieb mir, während du dich regeneriert hast, genügend Zeit, meiner Trauer freien Lauf zu lassen. Ich bin dir also ein paar Stunden voraus.«

Ich nickte. Es beruhigte mich, zu wissen, dass Pascal nicht dermaßen desinteressiert an seinen Schulkameraden zu sein schien, wie er uns während all der Monate, die ich ihn jetzt kannte, glauben machen wollte. »Also, um was für Dinger handelte es sich? Du hast sie Lektara genannt?«

»Lakerta. Sie kommen aus einer anderen Dimension. Davon gehen wir jedenfalls aus.« Pascal hob einhaltgebietend die Hand, also schloss ich meinen Mund wieder. »Ja, ich weiß. Es klingt verrückt und glaub mir, es wird noch wesentlich verrückter. Eigentlich hätte dein Vater dich schon vor Jahren einweihen müssen.«

»Reinhold meinte, mein Vater sei ebenfalls ein, wie nannte er es? … Phönix? … gewesen.«

»Genau. Gut erkennbar am Feuermal auf dem linken Handgelenk. Er besaß genauso eins wie du.«

Ich runzelte die Stirn. »Kann ich nicht beurteilen. Ich habe ein solches Feuermal nie gesehen.«

Pascal blickte mich ungläubig an. »Du willst mich wohl auf den Arm nehmen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Er trug lauter Freundschaftsbändchen um das Handgelenk. Ma zog ihn immer damit auf, weil er sie nie abnahm.«

»Lexa?« Die schlaftrunkene Stimme meiner Mutter erklang vom Flur her.

»Ich bin hier, Ma.«

Meine Mutter erschien im Türrahmen. Sie sah verwirrt und auch etwas ängstlich aus. Kaum entdeckte sie mich, kam sie mit großen Schritten auf mich zu. Mir blieb eben noch Zeit vom Stuhl aufzustehen, da lag ich auch schon in ihren Armen.

»Dir geht es gut«, murmelte sie in mein Haar, während sie mich mit Küssen überschüttete.

Ich nickte. Eigentlich dachte ich ja, vorhin sämtliche Tränen vergossen zu haben. Ein Irrtum meinerseits, denn ein neuer Strom nässte meine Wangen. Plötzlich versteifte sich meine Mutter und schob mich ein Stück von sich. »Wir gehen.«

»Aber …«

»Kein aber. Wir gehen. Sofort!«

Energisch zog sie mich aus der Küche. Mir blieb eben noch Zeit, einen entschuldigenden Blick über die Schulter zu werfen, dann befand ich mich auch schon im Flur und kurz darauf draußen auf der Straße.

Drei Stunden später beruhigte sich Ma endlich. Es kostete mich einiges an Überredungskunst und geduldiges Zureden, um sie davon zu überzeugen, nicht zur Polizei zu gehen, um Reinhold anzuzeigen. Ich wusste, wenn ich ihr die Wahrheit erzählte, könnte sie seine Vorgehensweise verstehen. Allerdings besaß ich nicht den blassesten Schimmer, ob ich sie ihr überhaupt erzählen durfte. Davon abgesehen kannte ich sie ja selbst nicht einmal genau. Leider hatte Pascal vorhin nicht die Gelegenheit, mir noch mehr zu erzählen.

Ich starrte auf das Feuermal, das sich in Form eines fliegenden Vogels quer über meine Pulsadern zog. Mein Leben lang versteckte ich es penibel unter Armreifen, damit es keiner zu Gesicht bekam. Ich hasste es regelrecht, denn ich hielt es für einen Makel. Selbst Paps schien davon angeekelt gewesen zu sein, da er mich stets ermahnt hatte, es immer verdeckt zu halten. Doch ich hatte seine Intention völlig missverstanden. Das wurde mir jetzt klar. Ob Paps es mir je erzählt hätte? Diese Frage blieb wohl unbeantwortet. Obwohl, Ma wusste es ja auch nicht. Er hatte nie über seine Vergangenheit sprechen wollen und niemals eine Frage unsererseits beantwortet. Egal, wie sehr wir ihn darum gebeten hatten. Ich musste zurück zu Pascal, denn jetzt brannte ich darauf, alles zu erfahren. Ich wollte die ganze Wahrheit. Doch zuerst würde ich nach Mel sehen und anschließend Torben besuchen.

 

Kapitel 7

 

Mel befand sich auf der Intensivstation. Bei ihrem Anblick zog sich ein glühendes Eisen quer durch meinen Magen. Sie wirkte zerbrechlich zwischen den Apparaten und Schläuchen, an denen sie angeschlossen war. Ihre Haut wies einen kalkweißen Ton auf, ähnlich der Laken, zwischen denen sie lag. Ein dicker Verband verhüllte ihren roten Haarschopf und verstärkte den Anschein von Zerbrechlichkeit. Hoffentlich hinterließ ihre Kopfverletzung keine bleibenden Schäden, sofern sie überhaupt wieder zu sich kam. Leises Piepen sowie das Summen der Monitore, die Mels Vitalwerte überwachten, erfüllte den Raum. Zeitgleich pumpten unterschiedliche Gerätschaften Sauerstoff und andere Flüssigkeiten in sie hinein. Ein unsichtbares Band legte sich um meine Brust und zog sich unaufhörlich zusammen. Das Atmen fiel mir schwer und ich spürte schon wieder Tränen in mir aufsteigen.

Neben ihrem Bett saß Torben und sprach leise auf Mel ein. Ich ging zu ihm und legte eine Hand auf seine Schulter. Ohne seinen Redefluss zu stoppen, hob er den gesunden Arm und verschränkte seine Finger mit meinen. In dieser Position verharrten wir eine ganze Zeit lang und erzählten Mel abwechselnd lustige Anekdoten aus unserem Leben. Im Grunde kam es nicht darauf an, was wir von uns gaben. Sie sollte lediglich den Klang unserer Stimmen vernehmen. Damit sie wusste, dass sie nicht allein war. Vorausgesetzt sie hörte uns überhaupt. Leider konnten die Ärzte das weder bestätigen noch ausschließen. Allein die Hoffnung, sie könne uns hören, ließ unseren Redefluss nicht versiegen. Der Gedanke besaß etwas Tröstendes. Als Mels Eltern kamen, verabschiedeten wir uns, denn es durften immer nur zwei Personen gleichzeitig zu ihr.

Auf dem ganzen Weg nach unten suchte ich krampfhaft nach einem unverfänglichen Thema, doch mir wollte absolut nichts Passendes einfallen. Alles, was mir in den Sinn kam, erschien mir entweder viel zu profan oder hing mit den Ereignissen im Wald zusammen, was ich verständlicherweise vermeiden wollte. Und so hielt ich den Mund.

»Du scheinst mit heiler Haut davongekommen zu sein«, brach Torben schließlich das Schweigen zwischen uns, als wir aus dem Krankenhausgebäude ins Freie traten.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783967410952
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Brand Mord Phönix Wesen Feuer Abi Komet Feier Messer Romance Fantasy

Autor

  • J. T. Sabo (Autor:in)

J. T. Sabo erblickte 1970 in Flörsheim das Licht der Welt. Als Kind liebte sie nichts mehr, als den selbst ausgedachten Gute-Nacht-Geschichten ihrer Oma zu lauschen. Schon früh entwickelte sie sich zum Bücherwurm und tauchte mit Vorliebe in fantastische Welten ab. Noch heute gehört ihre Leidenschaft der Fantasy.
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Titel: Phönixerwachen