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Murmel Mu - Aus den Reden eines Murmeltiers

von Volker Friebel (Autor:in)
80 Seiten

Zusammenfassung

Auf einer Wiese am Hang der Alpen lebt das Murmeltier Mu. Mit den Jahren ist es so alt und so weise geworden, dass es sämtliche Dinge der Welt und des Lebens versteht. Seine Weisheit hat hier und da eine Gämse belauscht, eine Föhre, ein Holzfäller, eine Grille. Bald sprach sich die Weisheit des Murmels herum, und immer mehr Pilger fanden sich mit ihren Fragen vor seinem Bau auf der Wiese ein. Die Hirtenkinder waren von Beginn an dabei. Ihr Vieh fand sein Gras auch allein. So setzten sie sich in die Wiese und lauschten. Ein Hirtenbub schrieb manches aus den Reden Mus mit. Das mochte er lieber als die Hausaufgaben vom Tal. Ein Druckwerk hat daraus ein Buch hergestellt. Manche der Geschichten sind lustig, andere weise, wieder andere pechschwarz. Das Buch ist deshalb nur für Leser ab 16 Jahren gedacht.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

 

Auf einer Wiese am Hang der Alpen lebt das Murmeltier Mu. Den Sommer über liegt es im Gras zwischen Blumen und sonnt sich. Im Winter schläft es in seinem Bau tief unter den Wurzeln der alten Föhre.

Damit reichlich beschäftigt, wurde es mit den Jahren immer älter und weiser. Und weil es über all diese dringenden Geschäfte keine Zeit zum Sterben fand, wurde es unversehens so alt und so weise, dass es sämtliche Dinge der Welt und des Lebens verstand. Denn die hatten ihm die Bienen gesummt, die Vögel gepfiffen, der Wind hergetragen, die Wanderer auf ihren einsamen Streifzügen erzählt. Und es hatte über alles gut nachgedacht.

Irgendwann begann das Murmeltier der Welt zu antworten, am liebsten dem Wind. Sie sprachen miteinander, und das Murmel berichtete von dem, was ihm den lieben langen Tag in den Sinn gekommen war. Das hat auch hier und da eine Gämse belauscht, die Föhre, ein Holzfäller, eine Grille. Bald sprach sich die Weisheit des Murmels herum, und immer mehr Pilger fanden sich mit ihren Fragen vor seinem Loch auf der Wiese ein.

Die Hirtenkinder waren von Beginn an dabei. Ihr Vieh fand sein Gras auch allein. So setzten sie sich in die Wiese und lauschten.

Ein Hirtenbub schrieb manches aus den Reden Mus mit. Das mochte er lieber als die Hausaufgaben vom Tal. Auf den folgenden Seiten steht ein Auszug davon.

 

Manche der Geschichten sind lustig, andere weise, wieder andere pechschwarz. Das Buch ist deshalb nur für Leser ab 16 Jahren gedacht.

 

 

Zusatz vom Buchdrucker: Die lustigen und die weisen Worte stammen von Murmel Mu und wurden vom Hirtenjungen exakt aufgezeichnet. Die mürrischen Sachen dazwischen stammen aber vom Schriftsteller, der dem Jungen die Kladde weggenommen hat und das Buch zu seinem eigenen machen will, was aber nicht richtig ist! Das steht alles genau im letzten Kapitel. 

 

Zusatz von der Stadtverwaltung im Tal: Das Buch darf nur mit einer Sondergenehmigung der Stadtverwaltung gelesen werden, mit Stempel und Bescheinigung, dass es sich beim Lese-Anwärter um einen zuverlässigen Bürger handelt. 

Zur Sicherheit empfehlen wir außerdem eine genaue Lektüre der Lese- und Schreibverordnung des Magistrats, unter besonderer Berücksichtigung der Paragrafen 487 a-d, bis einschließlich Absatz 42.

Selbstverständlich sind Lesen und Schreiben in unserem Tal frei, im Unterschied zu anderen Tälern – es sei denn natürlich, ihre Ausübung verstößt gegen die Bestimmungen in den genannten Paragrafen oder das allgemeine Empfinden.

 

Die Reden Mus

 

Weise

 

„Mein Leben lang war ich ein Herumtreiber. Ich hab viel erlebt und gelernt. Nun bin ich alt geworden – aber auch weise? Nein. Kann ich das irgendwie nachholen?“, fragte ein grauhaariger Wanderer.

„Besser nicht“, entgegnete Mu. „Im Alter sollte man lieber nicht weise sein. Das schickt sich eher für die Jugend, wo es auch nötiger ist.“

Und Mu streckte seine Zunge heraus.

Der Alte lachte und zeigte ihm seine.

 

Feuer und Rad

 

Ein Wanderer setzte sich zu Mu vor dessen Bau und fragte: „Wenn ihr so weise seid: Warum habt ihr Murmel weder das Rad noch das Feuer erfunden?“

Mu blinzelte und antwortete: „Weil wir glücklich sind. Wir mussten nie etwas verändern. Wo das Wort ‚neu‘ viel gilt, sind die Menschen nicht glücklich.“

„Was ist Glück?“, wollte der Wanderer wissen.

Mu leierte herunter, was in der Anmerkung eines Wellness-Prospekts stand, den eine Pilgerin vor seinem Bau liegengelassen hatte: „Glück ist ein Zustand, der mir wohl tut, der mir gut tut und den ich nicht verändern möchte.“

„Damit kommt man nicht weit“, sagte der Wanderer und neigte den Kopf.

„Nein“, lachte Mu, „damit kommt man nicht weit.“ Er schlug mit dem Schwanz in das duftende Gras.

 

Das Wasser der Wahrheit

 

„Liebes Murmel“, sagte ein Mann, der von der Universität hoch auf die Wiese gestiegen war, „Jahr um Jahr schon forsche ich, wie andere neben und vor mir. Obwohl wir auch wirklich viel Wissen angehäuft haben und noch immer mehr anhäufen, scheint uns die Wahrheit dauernd zwischen den Fingern zu entgleiten. Nach so vielen Jahren des Forschens meine ich fast, ihr kein bisschen näher gekommen zu sein, obwohl ich so viel mehr weiß als früher.“

„Wissen ist gut und reicht aus“, pfiff Mu. „Sei froh, dass du die Wahrheit nicht findest. Willst du hören, was den Leuten passiert ist, die sie gefunden haben?“

Der Wissenschaftler nickte, und Mu erzählte ihm eine Geschichte.

 

„Eines Sonntagvormittags vor langer, langer Zeit erschienen an der Unterseite einer Wolke feine Risse. Es knirschte und polterte. Dann öffnete sich plötzlich eine Falltür und ein mächtiger Schwall Wasser stürzte hinab auf die Erde. Das war aber das Wasser der Wahrheit. Alles wurde patschnass.

Die Leute warfen böse Blicke nach oben, aber die meisten schüttelten sich dann bloß und setzten ihren Spaziergang fort. Auch die Wolke zog weiter. Die Sonne kam hinter ihr vor und trocknete den ganzen Schlamassel. Und bald war alles wie immer.

Aber nicht ganz.

Nach ein paar Tagen bemerkte der Apotheker zufällig, dass das Gras auf den Wiesen aufgehört hatte zu wachsen. Am nächsten Morgen besorgten sich alle Leute gleich Maßbänder, um nachzumessen – und richtig: Das Gras wuchs keinen Millimeter mehr.

Manchen war das egal, andere runzelten die Stirn. Aber niemand wusste etwas dazu zu sagen. ,Das ist dann eben die Wahrheit‘, meinte der Schnellste endlich und setzte ein weises Gesicht auf.

Die Leute gingen auseinander. Aber viele waren besorgt. Denn wenn die Wahrheit fest und unveränderlich ist, was sollte dann in einer Welt wie der ihren geschehen, in der viele Wesen lebten und es also viele Wahrheiten nebeneinander gab?

Bald waren die Kühe so abgemagert, dass sie geschlachtet werden mussten. Das Gras war nämlich abgenagt und wuchs nicht mehr nach. Die Blumen wollten immer nur blühen. Kein Blütenblatt fiel mehr, und die Preise für Obst kletterten schnell.

Dann erstarrten die Vögel in ihrem Flug. Erst flogen sie wie durch eine immer zähere Luft. Sie keuchten, sie rackerten tüchtig. Und dann blieben sie ganz liegen, wie in einem angehaltenen Film. Der wahre Himmel hing reglos voll Federn.

Die Leute waren inzwischen nicht müßig geblieben. Manche hatten sich ertränkt. Andere waren ausgewandert, über den Rand der Erde hinaus. Wieder andere schlossen sich ein, um die Gelegenheit zu nutzen, endlich ihre Steuererklärung fertigzustellen.

Die Verbliebenen aber hatten sich Spruchbänder und Fahnen gefertigt, die zeigten sie in einer langen Prozession, als die Wolke wieder einmal vorüberschwebte. Sie schwenkten ihre Fahnen, schrien recht laut und ließen Drachen steigen, sogar einen Ballon. Der stieß mit der Wolke zusammen.

Da erschienen wieder Risse an der Unterseite der Wolke. Die Leute zogen schon die Köpfe ein, aber es war diesmal nur ein Fenster. Jemand putzte von innen die Scheibe und sah zu ihnen hinab. Sie schrien im Chor ihre Sprüche, so laut sie konnten.

Zwei Augen sahen lange aus dem Fenster der Wolke. Dann trübte die Scheibe sich wieder. Die Wolke nahm Fahrt auf. Bald war sie hinter den Bergen verschwunden.

Die Leute warfen ihre Fahnen und Spruchbänder in den Fluss und zerstreuten sich. Jeder ging einsam nach Hause.

Am nächsten Morgen entdeckten sie, dass das Gras wieder wuchs. Junge Triebe zitterten im aufgekommenen Wind. Blütenblätter wehten über die Straßen. Die Wahrheit war von ihnen genommen.“

 

 

Distelflaum

 

„Unsere Hausgemeinschaft lebt in Streit“, sagte ein Ratsuchender. „Oft haben wir uns schon zusammengesetzt, um uns zu besprechen, auch geeinigt haben wir uns oft – aber nichts hat gehalten. Was können wir tun?“

Mu räkelte sich auf dem Sonnenplatz vor dem Eingang zu seinem Bau. Dann schloss er die Augen und sprach:

 

„Eine Entscheidung ist zu treffen. Die Menschen lassen sich im Kreis nieder und reden. Schließlich einigen sie sich auf einen Kompromiss. Da tritt einer vor und zeigt auf einen Distelsamen, der in ihrer Mitte hin- und hergetrieben ist. Er sagt:

‚Da liegt euer Kompromiss. Euer Atem hat den Flaum umhergetrieben, eure Redegewandtheit und euer Eifer beim Reden. Aber seid ihr auch dem Problem gerecht geworden? Oder hat nur jeder so gut wie er kann für sich selbst gesprochen?

Die Leute besinnen sich und die Verhandlungen beginnen von neuem.“

 

 

Verantwortlichkeit

 

Eines Tages hatte sich eine Menschenmenge vor Mus Bau versammelt. Eine Frau trat vor und bat um Rat. „Ich bin befördert worden“, sagte sie, „und trage nun eine große Verantwortung. Seitdem schlafe ich nicht mehr gut. Was kann ich tun?“

Mu schwieg eine ganze Zeit und ließ seinen Blick über die Menge schweifen. Dann begann er:

 

„Eine Frau in der Stadt hatte sich jahrelang Wasser vom Klosterbrunnen abgefüllt, weil das als besonders gut galt. Eines Tages fand sie ein Schild am Brunnen montiert: ‚Kein Trinkwasser‘. Da war sie überrascht und beunruhigt und versuchte herauszubekommen, was passiert war.

Sie ging heim und setzte sich ans Telefon. Mit viel Geduld arbeitete sie sich durch die städtische Verwaltung, bis sie schließlich tatsächlich auf die zuständige Stelle stieß.

‚Was ist denn mit dem Brunnenwasser passiert?‘, fragte sie.

‚Nichts‘, antwortete der Beamte.

‚Aber da ist nun ein Schild montiert: Kein Trinkwasser. Früher galt das Wasser als besonders gut.‘

‚Das Wasser ist immer noch ausgezeichnet‘, antwortete der Beamte.

‚Wenn das Wasser gut ist, warum wurde dann ein Schild Kein Trinkwasser am Brunnen montiert?‘, wollte die Frau wissen.

‚Das Wasser ist zwar sehr gut‘, antwortete der Beamte, ‚aber es könnte doch schlecht werden.‘

‚Wie das?‘, fragte die Frau.

‚Das weiß ich nicht‘, antwortete der Beamte. ‚Und gerade da liegt das Problem. Alles Mögliche könnte passieren. Der Bach könnte über die Ufer treten und Gülle oder chemische Stoffe mitnehmen. Sein Wasser könnte versickern und die Quelle verunreinigen.‘

‚Ist das je geschehen?‘, wollte die Frau wissen.

‚Nicht seit es den Brunnen gibt, seit Jahrhunderten nicht‘, antwortete der Beamte. ‚Aber es könnte passieren. Und jemand könnte dann vom Brunnenwasser trinken, könnte krank werden – und die Stadt auf Schadenersatz verklagen. Leute verklagen die Stadt wegen allem Möglichen auf Schadenersatz. Die Stadt muss sich schützen. Das Leitungswasser nämlich kontrollieren wir‘, sagte der Beamte. ‚Das läuft durch die Filteranlagen. Das Wasser all der Brunnen aber können wir nicht kontrollieren. Gelegentlich: ja. Aber regelmäßig: nein. Andauernde Wasserproben  kann die Stadt nicht bezahlen. Und zwischen den Proben ist dann eben doch keine Kontrolle.‘

‚Und das Schild …‘

‚Das Schild‘, ergänzte der Beamte, ‚das Schild können wir bezahlen. An alle Brunnen haben wir deshalb so ein Schild montiert: Kein Trinkwasser.‘

‚Auch wenn das Wasser gut ist?‘

‚Gerade wenn das Wasser gut ist‘, sagte der Beamte. ‚Gutes Wasser zieht Menschen an. Und wenn es dann einmal schlecht wird, machen sie die Stadt verantwortlich, weil kein Schild da war. Die Leute wollen, dass wir alles kontrollieren, dass wir für alles verantwortlich sind. Aber das können wir nicht, niemand kann das.‘

‚Und so haben Sie ein Schild an den Brunnen mit dem guten Wasser gemacht: Kein Trinkwasser‘, sagte die Frau.

‚Richtig‘, sagte der Beamte. ,Aber trinken Sie ruhig vom Wasser, es ist ausgezeichnet. Ich trinke es auch. Das Schild aber müssen wir machen, wegen der Verantwortlichkeit.‘“

Vom Anfang

 

Die Hirtenkinder hatten sich an einem müden Sommermittag im Schatten unter dem Baum vor Mus Bau versammelt. Sie sangen Lieder, sie neckten einander, sie stritten sich. Als ihnen auch das langweilig wurde, fragte eines das Murmeltier, das ihnen zugesehen hatte: „Weißt du vielleicht, wie die Welt begann?“ Das wusste Mu gut, und er fing an zu erzählen.„Am Anfang schwebte in der Mitte des Weltraums ein Ei. Das schwebte ein Weilchen still vor sich hin – dann begann es in ihm sachte zu klopfen. Mit der Zeit wurde das Klopfen stärker und drängender – und eines schönen Maientags sprang die Schale des Eies auf. Schmetterlinge flatterten heraus, Raupen krochen, Ameisen wimmelten, Vögel, Wale, Eidechsen, Murmel, Gorillas – sogar Adam und Eva, die ersten Menschen, waren dabei. Die gähnten und wuschen sich am kühlen Bach, der auch aus dem Ei herausgeströmt war und noch auf der Suche nach einem richtigen Bachbett in der Gegend herumschlängelte. Tja, und als all die Samen vom Wind verweht waren, als sie gekeimt hatten, alle Sprosse herangewachsen waren und die Bäume die richtige Größe erreicht hatten, kletterten Adam und Eva auf den schönsten davon und machten es sich dort richtig gemütlich. Und deshalb heißt es ja, dass das Menschengeschlecht von den Bäumen abstammt.“

„Vom Meer, vom Meer“, rief ein Hirtenbube frech dazwischen.

„Das stimmt nicht, das ist bloß so ein Märchen“, sagte Mu. „Denn das Meer, das konnte es damals noch gar nicht geben. Es braucht doch ziemlich viel Zeit, bis so viel Wasser das Bächlein hinuntergeströmt ist, dass sich daraus ein Meer gebildet hat. Denn in so ein richtiges ausgewachsenes Meer, da geht doch sehr, sehr viel Wasser hinein.“

„Aber woher kam dann das Ei?“, fragte ein Bub.

„Das Ei entstand einfach von selbst“, behauptete Mu. „Es war eine spontane Schwankung im Raum-Zeit-Kontinuum, das es damals allerdings noch gar nicht gab, sozusagen eine in die Vergangenheit gerichtete irrationale Fluktuation.“

Die Hirtenkinder waren beeindruckt. Ein Weilchen war Stille, dann meinte ein Mädchen zögernd: „Aber Eier, die werden doch von Hühnern gelegt.“ Mehrere andere nickten, andere gingen noch weiter: „Von Hennen.“ Mu achtete darauf nicht.

„Das lässt sich auch sprachanalytisch beweisen“, fuhr er sanft fort, „streng wissenschaftlich. Denn wenn nichts ist, vor dem Anfang also, das ist doch wie bei den Zahlen die Null.“ Die Kinder nickten. „Und nach der Null kommt die Eins, und aus der Eins entsteht die Zwei, und aus der Zwei entstehen die tausend Dinge der Welt.“ Ein Bub stand auf und versuchte aus dem Buch vom rechten Weg und der rechten Gesinnung zu zitieren, das sie neulich in der Dorfschule durchgenommen hatten. Aber die anderen stießen ihn an und er legte sich beleidigt wieder ins Gras.

„Jedenfalls ist ‚Ei‘ doch eindeutig kürzer als ‚Eins‘, sagte Mu. „Und das heißt, dass das Ei schon vor der Eins dagewesen sein muss. Das Ei steht also zwischen der Null, dem Nichts, und dem unmittelbaren Anfang. Und das heißt, dass vor ihm nichts sein konnte und dass es zuerst da war.“

„Aber da gibt es doch Zahlen mit Kommas“, warf schüchtern ein Mädchen ein, „Null Komma irgendetwas – die können doch noch früher dagewesen sein als das Ei!“ „Oder Minuszahlen“, riefen gleich andere Hirtenkinder.

„Aber solche komplizierten Zahlen gab es damals noch nicht“ – Mu tat die Einwände mit einem lässigen Schlag seines Schwanzes ab –, „die entstanden erst später. Tatsächlich sind die ersten von ihnen damals mit aus dem Ei gekrochen. Der Anfang ist immer einfach. Kompliziert wird es später.“

„Aber ‚E‘ ist noch kürzer als ‚Ei‘“, sagte ein Mädchen und schaute das Murmel keck an.

„Schon, aber ‚E‘ bedeutet noch nichts, das ist bloß ein Buchstabe“, versuchte Mu, sich herauszuwinden.

„Stimmt nicht, stimmt nicht!“, dröhnten die Hirtenkinder. „‚E‘ ist mittelhochdeutsch und heißt ‚Ehe‘“, sagte ein Bub gespreizt. „Das Wort wurde später nur aufgebläht, damit es wichtiger aussieht“, setzte ein anderer dazu und lachte.

„Wenn die Ehe schon vor dem Ei da war“, gab Mu nach, „muss es also irgendwo einen Hahn gegeben haben und eine Henne, die dann das Ei bekommen hat. Aber das ist jetzt wirklich der Anfang.“

„Und woher kommen der Hahn und die Henne?“, fragte ein Mädchen.

„Die Henne kenne ich, die ist neulich aus dem Hühnergarten davongeflattert“, sagte ein Bub.

„Also fehlt nur noch der Hahn – und der wird sich schon einfinden, wenn eine Henne da ist“, seufzte Mu.

Die Hirtenkinder lachten. Der Wind aber hatte genug gehört und flog davon, die Schalenstücke zu finden und wieder zusammenzusetzen.

 

Von der Teilung der Arbeit

 

Eines Tages kraxelte ein Malergeselle den Berg hoch. Er setzte sich keuchend vor den Eingang zu Mus Bau, grüßte ehrerbietig und fragte: „Wir haben ein Problem wegen der Arbeitsteilung. Einen Rat erfragen kostet doch nichts, oder?“

„Fragen ist umsonst“, bestätigte Mu.

Und der Malergeselle begann.

 

„Wir hatten zu fünft einen Malerbetrieb eröffnet. Und das fing gar nicht schlecht an“, der Malergeselle lachte. „Wir strichen ein Treppenhaus, und weil doch der Tierschutz ein paar Tage vorher eingeführt worden war, machten wir die Ecken zu viert. Nämlich so: Der Lehrling fing eine Fliege. Die hielt er der Spinne knapp außer Reichweite. Das lockte sie weg. Der erste Geselle nimmt sich den Faden vom Spinnennetz und wickelt ihn auf. Der zweite Geselle schnappt sich den Pinsel und malt schnell die Ecke aus. Der dritte Geselle kommt mit dem Föhn und trocknet die Farbe. Und dann ist nochmal der erste Geselle dran und setzt das Spinnennetz wieder hin – und gerade kommt schon der Lehrling um die Ecke mit seiner Fliege – und die Spinne ganz abgehetzt hinter ihm her. Und sie plumpst in ihr Netz und merkt nichts. Der Lehrling lässt nun die Fliege frei und die Ecke ist bestens gestrichen. Und wir klatschen und sagen: Ganz toll!“

Auch Mu klatschte. Aber der Geselle ließ den Kopf hängen und sprach betrübt weiter.

„Dir ist es nicht aufgefallen. Wir haben auch gebraucht, aber dann begriffen wir: Der erste Geselle mit dem Spinnennetz musste zwei Mal ran: Erst aufwickeln, dann abwickeln. Das ist doch zweierlei Arbeit. Und die anderen hatten bloß eine Arbeit.

Da stritten wir, und der eine sagte, der erste Geselle sei besser dran, als sie anderen, weil er mehr arbeiten dürfe, und der andere sagte, der erste Geselle sei schlechter dran, weil er mehr arbeiten müsse. Da war also die Arbeit ein Problem geworden, und wir wussten nicht einmal genau, welches.

Dann überlegten wir, warum der erste Geselle eigentlich zwei Mal ran musste, obwohl es doch fünf Arbeitsteile waren und wir auch fünf Leute in der Firma sind. Und da merkten wir, dass der Chef fehlte.“

Mu lachte. Als selbstständiges Murmeltier war ihm das fremd. Der Geselle aber sprach weiter:

„Wir suchten im ganzen Treppenhaus nach dem Chef, aber wir fanden ihn nicht. Wir fanden ihn in einer der Wohnungen des Hauses. Er trank Kaffee. Wir fragten, warum er nicht arbeite, und er sagte, das komme wegen der Arbeitsteilung. Er arbeite sozusagen auch, wenn er nichts tue, denn jede Arbeit müsse nun mal getan werden. Und wir fragten ihn, was für eine Arbeit er denn tue, wenn er nichts tue. Und er sagte, die Arbeit, die er dann tue, die sei eben keine Arbeit, aber das gäbe es auch, wegen des Müßiggangs.

Und er erklärte uns Gesellen und auch dem Lehrling, dass er als Chef neben der Verantwortung eben auch die Arbeit des Müßiggangs auf sich nehmen müsse, manchmal. Denn wenn ein Geselle müßig gehe oder auch einfach bloß faul sei, dann müsse er ihn leider entlassen, und das sei doch unsozial und überhaupt ein gesellschaftliches Problem, weil der dann arbeitslos sei. Aber weil mit der Arbeit nun mal auch die Faulheit in die Welt gekommen sei, müsse jemand den Müßiggang auf sich nehmen, um ihn von den anderen abzuziehen und die anderen dadurch vor ihm und seinen Konsequenzen zu schützen.

Das schien uns erst logisch, aber als wir uns dann nach der nächsten Ecke im Treppenhaus untereinander besprachen, merkten wir, dass eigentlich jeder von uns das mit dem Müßiggang auch erledigen könne. Wir also wieder in die Wohnung und das dem Chef sagen. Aber er behauptete: Nee, das ginge nicht, denn jetzt sei er der Chef. Und so gingen wir wieder ins Treppenhaus, aber nach der dritten Ecke gründeten wir die Gewerkschaft. Und dann gingen wir in die Wohnung und brachten unsere Forderungen vor. Aber der Chef schaltete auf stur.

Schon bevor es zu einem Arbeitskampf kam, merkten wir allerdings, dass wir immer mehr in Schwierigkeiten gerieten, weil plötzlich der Lehrling aufmuckte. Dieser Lümmel behauptete frech, er würde ‚die ganze Zeit‘ arbeiten, mit seiner blöden Fliege, und jeder von uns nur ein Viertel der Zeit oder der erste Geselle auch zwei Viertel. Der Lehrling wollte eine gerechte Verteilung der Arbeit, und wir kratzten uns alle am Kopf, auch der erste Geselle. Der kratzte vielleicht sogar ein klein wenig stärker als die anderen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739491257
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (April)
Schlagworte
Zeitkritik Satire Philosophie Weisheit Humor Erzählungen Kurzgeschichten

Autor

  • Volker Friebel (Autor:in)

Volker Friebel wurde an einem Schneesonntag gegen Ende des Jahres 1956 in Holzgerlingen geboren. Nach Wanderjahren Studium der Psychologie, mit Promotion. Er ist in Tübingen tätig als Schriftsteller, Ausbildungsleiter, Bildermacher und Musiker.
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Titel: Murmel Mu - Aus den Reden eines Murmeltiers