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Bunte Scherben

Versuch über die Seele

von Volker Friebel (Autor:in)
60 Seiten

Zusammenfassung

Der Schriftsteller sucht für ein Buch nach der Seele, der Bibliothekar und Clara folgen ihm auf ihre jeweils eigene Weise. Der Bibliothekar: „Meine Seele, wohnt sie nicht in der Leere zwischen den Wörtern?“, hat er zu einer der Wände gesagt. Und sich gewundert, wie die Fülle geradewegs aus dem Nichts zu kommen scheint, wie sie nicht zu spüren ist in der Besprechung mit den Kollegen, nicht in der Mittagspause, auch nicht im Trubel des Weihnachtsmarkts in der Stadt – es sei denn vielleicht, man schaut in die Wunderkerzen, deren sprühende Funken alle Dinge zu einem Hintergrund machen – und auch hier sind es nicht die Funken selbst, sondern die Leere, die plötzlich zwischen ihnen hervorlugt, wo eben all die Dinge noch waren. Clara: Ein Buch über die Seele! Natürlich gibt es auch Bücher über Bäume. Aber die bezweifeln den Wald nicht. Wenn der Mann über Bäume schriebe, was bliebe am Ende davon? Wenns hoch kommt, Sperrholz. Vielleicht ist es nur die Frage, ob das Wort ,Seele‘ denn einen Sinn macht, nicht ob es so etwas wie einen Schmetterling oder einen verborgenen See noch zu entdecken gäbe, zwischen all den anderen Dingen. Vielleicht stellt sich die Frage nicht einem Lexikon und dem Mann, der in ihm blättert auf der Suche nach einer allgemeingültigen Wahrheit, sondern jedem Menschen für sich, immer neu, in jeder Sekunde: Hat mein Leben denn Seele an diesem lichtdurchfluteten Tag, auf der Schaukel am Rande der Siedlung, am Buchenwald, wo der Blick in die Berge geht und ins Wolkengebirge darüber? Der Schriftsteller wälzt Lexika und beschäftigt sich mit den Tiefen und Untiefen der Wissenschaft. Fündig aber wird er in der Musik – und in Geschichten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1

 

,Stein‘, ,Halm‘ oder ,Pflug‘, schon immer habe ich solche Wörter geliebt, ihre Einfachheit, Klarheit, Beständigkeit. Höre ich sie oder kann ich sie in einem Gespräch selbst verwenden, macht mich das froh. Doch da sind auch diese anderen Lautfolgen, denen diese Klarheit allerdings fehlt, bei denen ich zusammenzucke, bei denen es mich schüttelt. Und bei manchen werde ich rot. Diese Wörter verfolgen mich.

Vor Jahren hatte ich mir vorgenommen, ein Verzeichnis der unscharfen Begriffe zu veröffentlichen, ein Wörterbuch der Unklarheit sozusagen, wo sie alle festgestellt werden und, soweit möglich, erläutert. Bis heute blieb es bei der Idee.

Weil, so mein Verdacht, bereits der Klang mancher Wörter jede Systematik verwirrt. Weil diese Begriffe schnell abzufärben beginnen und auch das Verzeichnis so angreifbar und verschwommen machen, dass Logik und alles Augenwischen nicht helfen. Soviel zeigten mir schon die Vorarbeiten.

Vielleicht ist das so, weil Systematiken zuordnen wollen, doch diese Wörter Facetten enthalten, die einander widersprechen und sich fortwährend ändern und zuordenbar deshalb kaum sind. Weil manche Bedeutung vielleicht nicht festpikbar ist wie so ein Schmetterling mit einer Nadel. Weil sie mehr mit Beziehung zu tun hat als etwa mit Steinen. Weil sie vielleicht lebt. 

 

 

2

 

Das Turmzimmer im ersten Stock des Cafés. Ein Cappuccino steht vor Clara, einer vor mir. Sie rührt um, ihr Blick streift kurz die Schokoladenbeigabe. Mein Blick geht über den Neckar, das treibende Laub, die Weiden, die Schwäne, den Hölderlinturm und ich frage mich, was mich an dieser Idylle, an unserem, nun, tiefsinnigen Gespräch so stört.

Der Cappuccino ist gut.

„Was meinst du eigentlich mit seelenvoll?“

Clara trinkt noch einen Schluck und mustert mich knapp über dem Tassenrand.

Aus unserer Unterhaltung nenne ich nur Stichworte wie die Seelenvorstellung bei Aristoteles, die Seellosigkeit der Konsumgesellschaft (Entschuldigung), die Bedeutung des Atems in der altindischen Philosophie, die aktuelle Hirnforschung (schon wieder), die Funktion des Bewusstseins, den seit einigen Jahren wieder überschießenden Gebrauch des Wortes ,Funktion‘, den Geschmack des Cappuccino, die weiteren Tagespläne – und schon stehe ich draußen im böigen Wind und sehe ihr nach, wie sie wippend im Gewimmel der Passanten verschwindet.

Dann zu Hause am Schreibtisch, vom plötzlich aufgekommenen Regen nass: Das Gespräch lässt mir keine Ruhe. Vielleicht sind es weniger die Inhalte, als dieses sich immer wieder erneuernde Gefühl des eigenen Versagens in der Sprache. Das Gefühl, auch bei anderen nur etwa eine Wegbeschreibung oder die Zusammenfassung des neuesten Kinofilms richtig formuliert zu sehen (wenigstens manchmal), in Unklarheit und ,Atmosphäre‘ aber fast zu ersticken, sobald es um Wesentliches geht.

Diesmal, wenigstens dieses eine Mal, will ich nachhaken. Wenn schon ein Wörterbuch zu viel sein mag: Diesem Wort unter allen will ich nachgehen, dem nur, der ,Seele‘.

Denn ich hoffe: Wenn man einmal nachfragt, einmal dieses Bemühen um Klarheit nach außen bringt, exemplarisch sozusagen, verändert die ganze Sprache sich. (Na ja.) 

Wie beim Blick über den Strand, über Kiesel und Sand – spüren Sie Nähe und Abstand zu sich! Und dann bücken Sie sich, greifen einen Kiesel heraus, lassen ihn tanzen in Ihrer Hand ... Sie lassen ihn wieder fallen, aber irgendwie, vielleicht ganz unmerklich, haben sich nun alle Kiesel verändert, der Sand auch, womöglich sogar die Wellen, das Meer.

Natürlich: Sprache neigt dazu, sich zu entziehen, sie ist vielfältig, vieldeutbar, ihr Verständnis erlangt nicht der, der nach dem einzig richtigen Weg sucht wie nach der Lösung einer Rechenaufgabe. Deshalb kommt sie auch an unseren Schulen kaum vor, höchstens als Fremdsprache, zum Lexikonwissen erniedrigt. Um irgend ein Festnageln oder Regulieren kann es nicht gehen – aber um ein Erkunden.

Viele Wege verfolgen, und den Blick nicht auf den Asphalt nur richten, sondern ihn schweifen lassen über die Blumen und Gräser am Wegrand, über Wälder, Felder, über die Berge am Horizont und die Wolkenberge darüber.

Nicht auf der Autobahn, nur auf den Pfaden lebst du den Wald, auf den Holzwegen womöglich, wenn du stehen bleibst, wo der Pfad endet, wenn du zögerst – und weitergehst, weglos zwischen die hohen Buchen hinein. 

 

 

3

 

Weglos.

Ich schließe die Augen, und es erscheinen Bilder aus der Natur: Der See, der Himmel, ein Einschluss im Inneren des Berges: ein Diamant.

Der See und der Himmel haben sich selbst, sie brauchen den Menschen nicht. Aber die Seele gehört doch zum Menschen.

Warum verbindet meine Assoziation die Seele gerade mit dem, was ohne den Menschen gut auskommen würde?

Als ruhte die Seele in sich.

Aber was da ist, was existiert, hängt mit anderem zusammen, sonst wäre es nicht ,da‘, oder könnte wenigstens nicht wahrgenommen werden. Und wenn es nur über den Lichtstrahl zusammenhängt, der das Auge des Betrachters und dieses Objekt verbindet. Oder nur mit der Erde, auf der es liegt, mit dem Himmel, der es umströmt. Was mit anderem zusammenhängt, wird auch von diesem anderen beeinflusst.

Ganz sicher beeinflusst der Lichtstrahl jedes Objekt, er ist Energie.

 

 

4

 

Es scheint, dass unsere Sprache eine ganze Reihe solcher unklarer Wörter bereitstellt, die alle auf denselben Bereich zielen, denselben Nebel zu fassen versuchen. Es scheint, als würden wir mal das eine, mal das andere verwenden und so den Schwierigkeiten auszuweichen versuchen, in die ein Wort alleine uns bringen müsste, weil mit der Logik, selbst mit der animistischen Logik der Sprache, dieser Nebel nicht fassbar ist, weil er je nach dem Blickwinkel, aus dem wir ihn betrachten, immer etwas anders erscheint.

Versammlung einiger der Begriffe, die in dieser Wolke taumeln: Psyche, Seele, Lebenskraft, Spiritus, Anima, Atman, Geist, Person, Bewusstsein, Wille ... Alles Begriffe, die einander ergänzen sollen, die einander widersprechen, in deren Zusammenklingen diese Erfahrung ruht, die Menschen dazu bringt, sich immer wieder neu um ein Zentrum zu mühen.

Vielleicht ist es naiv, bei solcher Lage von einem Begriff etwas zu erwarten. Vielleicht ist es naiv zu meinen, einen davon aufhellen, klären, abgrenzen zu können und eine Antwort wäre dann da. Vielleicht wäre es bei solcher Lage erforderlich, sich mit der Begriffswolke als solcher zu beschäftigen, nicht mit den einzelnen Begriffen oder gar bloß mit einem einzigen davon, mit der ,Seele‘. 

 

 

5

 

Der Bibliothekar hat eine Seite des Buches umgeschlagen, nun fährt er mit den Fingern über die Schrift. Es ist nicht die Berührung des anderen, Fremden, was er so liebt, es ist die Bewegung seines eigenen Geistes in diesem freien Raum, der sich öffnet, wenn die Flut der inneren Bilder, wenn das Gemurmel der Stimmen an den Buchstabenkanten verebbt.

„Meine Seele, wohnt sie nicht in der Leere zwischen den Wörtern?“, hat er zu einer der Wände gesagt. Und sich gewundert, wie die Fülle geradewegs aus dem Nichts zu kommen scheint, wie sie nicht zu spüren ist in der Besprechung mit den Kollegen, nicht in der Mittagspause, auch nicht im Trubel des Weihnachtsmarkts in der Stadt – es sei denn vielleicht, man schaut in die Wunderkerzen, deren sprühende Funken alle Dinge zu einem Hintergrund machen – und auch hier sind es nicht die Funken selbst, sondern die Leere, die plötzlich zwischen ihnen hervorlugt, wo eben all die Dinge noch waren.

Der Bibliothekar spricht gern mit den Büchern und Wänden. Die Menschen sind ihm zu unruhig, sie lassen im Wirbel der Bilder die Seele nicht zu. Einmal hat er mit einem Eichhörnchen gesprochen, das an den Stamm der alten Kastanie vor dem Eingang geklammert auf ihn herab sah, mit großen Augen, und hatte mehr als bei den Menschen ein Gefühl des Verstehens.

Noch ein wenig weiter den Gang hinauf ist der Saal mit den Rechnern, da sitzen die Leute und bedienen die Tasten, und die Rechner rechnen, und auf den Bildschirmen erscheint dann einfach eine Antwort.

Das Eichhörnchen hatte etwas anderes verstanden, als es ihn ansah. Womöglich etwas von dem, das erscheint, wenn nichts sich bewegt, wenn die Bilder verschwinden, die Farben, die Klänge – womöglich etwas vom einen Klang, der dann bleibt, von der einen Präsenz, die dann spürbar wird. 

Es ist der Moment, bevor das Lesen beginnt.

Das Eichhörnchen steht womöglich immer davor.

Der Bibliothekar hat gelernt, diesen Moment recht lang werden zu lassen, den Atemzügen zu lauschen, dem Sirren des Lichts über dem halb leeren Regal, dem Tanzen des Staubs. Er hat gelernt, die Pausen zwischen den Wörtern zu pflegen, zu dehnen, bis er nur noch die einzelnen Wörter las und ihren Zusammenhang zu vergessen begann.

Es ist der Raum der Bewusstheit.

Es ist der Moment, in dem alle Fragen verstummen und alle Antworten sich verwandeln in das reine Weiß gefallenen Schnees.

Es ist der Moment, in dem der Bibliothekar zu warten aufhört und einfach nur ist.

 

 

6

 

„Jeder klagt über sein Gedächtnis, niemand über seinen Verstand.“ La Rochefoucauld. Vielleicht kennen Sie das alte Bonmot. Schon nach der ersten kurzen Beschäftigung mit der Seele scheint mir das Gedächtnis allerdings nützlicher als eben dieser Verstand.

Beispielsweise der Schwesterntisch des Altersheims, lang zurück. Die Stationsleiterin vertrat ihre Meinung entschieden: „Wenn die Seele den Körper verlässt, dann spürt man das. Etwas war da und fehlt dann. Es ist wie ein Wind, wenn sie geht, wie ein Glanz, der erlischt.“

Der Zivildienstleistende war beeindruckt.

Aber nun, im Zimmer von Fräulein Warnke, pensionierte Postbeamtin aus Ostpreußen, 96 Jahre alt und endlich im Sterben (sie wollte es so lange schon), lauscht er zweifelnd dem Atem.

Seit Tagen schon ist sie ohne Bewusstsein, die Augen sind geschlossen, Arme und Beine kalt, kein Puls ist zu spüren, jedenfalls nicht für diese unerfahrene Hand. Letztes Lebenszeichen ist dieses Röcheln, das immer wieder mal still steht – eine Minute, zwei Minuten, drei Minuten – um dann in höchster Not neu zu beginnen.

Die alte Dame ist beliebt. Oft kommen Schwestern und Pfleger ins Zimmer, weit öfter als notwendig wäre (nichts mehr ist ,notwendig‘), um ein wenig noch zu begleiten, um Abschied zu nehmen.

Und irgendwann begann der Atem nicht neu.

So saß ein junger Mann allein, und er wusste nicht, ab wann. Kein Schmetterling flog auf, kein Wind ging durchs Zimmer, kein Leuchten stieg in den Himmel. Eine Messung der Hirnströme hätte den genauen Todeszeitpunkt feststellen können. Wenn denn der Tod als der Moment definiert wird, an dem die elektrische Aktivität des Gehirns aufhört. Aber was wäre damit gewonnen?

Alles ginge irgendwie weiter, nichts sei je wirklich verloren, alles sei nur eine Transformation, hörte der junge Mann flüstern.

Wohin geht die Kerzenflamme, wenn sie erlischt?

 

 

7

 

Viel später sagte mir jemand, die Beziehung zum Sterbenden müsse innig sein. Wenn nichts von der auffliegenden Seele zu spüren sei, dann sei die Beziehung nicht innig gewesen.

So wird es am Schwesterntisch geflüstert haben. Und so lässt sich nichts beweisen, nichts widerlegen. Denn ob eine Beziehung innig genug war, man sieht es eben daran, dass am Ende ,die Seele‘ zu spüren ist.

Ein Zirkelschluss also.

Beweis und Widerlegung, sie bleiben dem Mysterium fern.

Ein Zirkelschluss ist ein Kreis. Ein Kreis ist das Zeichen für Nichts und für Alles.

Wenn jemand auf einem Zirkelschluss besteht, zeigt er, dass ihm an Beweisen gelegen ist, er erkennt grundsätzlich die Logik an. Würde er sie nicht anerkennen, bräuchte er keine ,Beweise‘, weder echte noch scheinbare. Und er zeigt, dass ihm an der Antwort liegt, dass er sie möchte.

Was sagt das über die Seele?

Dass die Menschen sie möchten.

Was sagt das über ihre Existenz?

Nichts.

Aber der Kreis? Der Nichts und Alles in Eines fasst?

Das kleine Mädchen möchte, dass sein Teddybär sprechen kann. Und er spricht doch.

Heißt das, dass es an uns liegt? Dass wir die Wahrheit erst schaffen? 

Der Kreis ist ein Bild, nicht mehr.

Aber weist dieses Bild denn, ohne Beweis, ohne Widerlegung, nur einfach als deutender Finger, auch auf verschiedene Räume der Wahrheit? Auf den physikalischen Raum? Auf einen psychischen?

Vielleicht ist die Seele das, was wir glauben.

 

 

8

 

Am Rand des Vororts ein Kinderspielplatz. Clara hat sich auf eine Schaukel gesetzt. Die Schuhe, schnell sind sie abgestreift – auf und ab, hin und her ... Ihre Füße berühren den Himmel.

Ein Buch über die Seele! Natürlich gibt es auch Bücher über Bäume. Aber die bezweifeln den Wald nicht. Wenn der Mann über Bäume schriebe, was bliebe am Ende davon? Wenns hoch kommt, Sperrholz.

Wie ihre Seele der Bewegung ganz folgt, vielleicht sogar noch etwas weiter hinaufgetragen wird vom Schwung, und wieder zurückströmt ...

Wenn sie schaukelt, schaukelt ihre Seele mit. Wenn sie lacht, lacht ihre Seele mit.

Da gibt es etwas, das still ist. Aber etwas anderes, das doch auch ihre Seele sein muss, wird hell beim Lichtstrahl, der sie trifft, und verdunkelt sich im Schatten der Buchen.

Ist das denn widersprüchlich? Nach welcher Logik? Widersprechen sich Welle und Teilchen des Lichts? Aus welcher Perspektive? Und aus welcher klingen sie wieder in eines zusammen?

Wenn die Seele von der Welt berührt wird, ist sie vergänglich wie die Blätter der Buche in der Berührung des Jahres. Wenn die Seele unberührt bleibt, dann kann sie auch dauern, dann ist sie jenseits alles Vergehens. Aber dann hat sie eben nichts mit der Welt zu tun.

Ob denn nicht beides sein kann.

Ob sich das nur nicht denken lässt, aber trotzdem ist. 

Auf und ab, hin und her ...

Das Vogellied verändert sich auf dem Weg ihres Schaukelns, wird heller, dunkler. Ihr Haar verändert sich, zeichnet den Weg der Schaukel nach. Es ließe sich berechnen im Windkanal. Was wäre damit gewonnen? Ihre Freude bliebe dort ausgesperrt. Die aber auch da ist. Die aber auch berührt wird vom Schaukeln ins Licht. Die aber auch die Bewegung ihres schaukelnden Körpers berührt und verändert.

Vielleicht ist es nur die Frage, ob das Wort ,Seele‘ denn einen Sinn macht, nicht ob es so etwas wie einen Schmetterling oder einen verborgenen See noch zu entdecken gäbe, zwischen all den anderen Dingen. Vielleicht stellt sich die Frage nicht einem Lexikon und dem Mann, der in ihm blättert auf der Suche nach einer allgemeingültigen Wahrheit, sondern jedem Menschen für sich, immer neu, in jeder Sekunde: Hat mein Leben denn Seele an diesem lichtdurchfluteten Tag, auf der Schaukel am Rande der Siedlung, am Buchenwald, wo der Blick in die Berge geht und ins Wolkengebirge darüber? 

Auf und ab, hin und her – die Schaukel findet sicher den Weg, er ließe sich fast berechnen im Windkanal.

 

 

9

 

Der Tanz von Staubflocken im großen Lesesaal zwischen den Regalreihen der Präsenzbibliothek. Der Bibliothekar hat nie geglaubt, dass der Staub von den Büchern stammt. Den Staub bringen die Besucher herein. Jede Bewegung, jeder Faltenwurf, jede Regung ihrer unruhigen Herzen schüttelt ein wenig davon in den offenen Raum zwischen den Büchern. Vielleicht trägt auch mal ein Holzwurm etwas zum Tanz bei. Oder doch ein Buch, im Griff eines Lesers, wenn der es herauszieht und aufschlägt und hinwirft, auf einen Tisch.

Tanz, tanz, Staubflocke, tanz!

Die Schwerkraft wirkt durch jeden von uns – aber wie verschieden wir uns in ihrer Gewalt bewegen! Einen Tanzhimmel schafft sie den Staubflocken, diesen Menschen staucht sie jeden Tag zwei Zentimeter zusammen, wovon er sich erst nachts, im Liegen, wieder erholt.

Wenn der Mensch eine Seele hat, scheint sie schwer zu sein und darniederzuliegen wie ein See in der Schwerkraft. Wenn die tanzenden Staubflocken Seelen haben, müssen sie leicht sein.

Der Bibliothekar erinnert sich, von einem Experiment gelesen zu haben, die Seele über ihr Gewicht zu beweisen. Wenn beim Tod etwas den Körper verlässt, muss der doch leichter werden. Man messe denn, vorher, nachher, und da nach dem Tod tatsächlich eine Gewichtsabnahme zu verzeichnen war, galt das als Beweis für die Seele und nebenbei gleich noch als Maßzahl für ihr Gewicht.

Ob die Seelen dicker Leute mehr wiegen, als die schlanker? Ob es Unterschiede je nach Intelligenz, Abstammung, Beruf, womöglich Haarfarbe gibt? Die Seele von Pfarrern stellt sich der Bibliothekar eher mittelschwer vor, die von Philosophen gewichtig – aber dann versagt schon seine Intuition. Wie ist wohl das spezifische Gewicht der Seele von Bücherwürmern? Was bedeuten ,leicht‘ und ,schwer‘ in diesem Zusammenhang überhaupt?

Ein Film, nebenbei, gibt das fehlende Gewicht mit genau 21 Gramm an. Was ihm doch viel vorkommt, selbst für einen beleibteren Philosophen.

Der Bibliothekar hat vergessen, wie das Ergebnis dieses Experiments heute erklärt wird. Sicher nicht durch die Existenz einer Seele. Es war schon immer zu schön für die Wahrheit.

Die Wahrheit, erinnert der Bibliothekar eine Bemerkung Claras, wird vielleicht erst. Nichts beginnt schon in ihr. 

Obwohl er umgekehrt der Ansicht gewesen ist, alles beginne in der Wahrheit und werde falsch mit der fortschreitenden Zeit.

 

 

10

 

Mit wechselnden Namen und Adressen schreibt er an die Verwaltungen der Bibliothek, der Stadt, des Staates, an die verschiedenen Instanzen der Gerichte. Auch jetzt sitzt der Bibliothekar wieder an seinem Schreibtisch und bereitet eine Eingabe vor. An den Protokollmeister des Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, so setzt er die Anrede. Mit Füllfederhalter. Früher hat er mit einer Gänsefeder geschrieben. Doch legt er Wert darauf, mit der Zeit zu gehen. Aber etwas verzögert, um den Schritt bewusst werden zu lassen.

Vor Jahren sah er einen Film, in dem saß eine Dame auf der Veranda, las Zeitung, rief aus: „Wie hätte ich mich echauffiert!“ Es war wohl irgend eine militärische Konfrontation oder Fast-Konfrontation, und sie las die Zeitung zwar täglich, aber um genau zehn Jahre verzögert. Alle Tagesaufregung wusste die Gute längst aufgelöst im Weiß der ziehenden Wolken. Dem Bibliothekar hatte das gefallen. Vielleicht war es sogar damals gewesen, dass er mit seinen Eingaben begann.

„Mein Allerwertester“, schreibt er und muss absetzen, um sich ein Kichern zu verkneifen und ein Zittern der Hand, „Ihnen ist bekannt, dass Glätte abweist. Im alten Japan musste deshalb in jedem Haus etwas unfertig bleiben, im Rohzustand, Sushi sozusagen, ein Schlüsselloch in die Maske des Lächelns, hinter das Lächeln ins Nichts. Ich beantrage deshalb, dass auf den Anzug des Präsidenten ein Flicken gesetzt wird, warum nicht etwa in Höhe des Herzens. Auf eine ausführliche Begründung der Notwendigkeit dieser Manipulation meine ich, Sie nicht zu kränken, verzichten zu sollen, Sie erfassen es selbst. Mit freundlichen Grüßen, Adolph, Freiherr von Knigge.“

Der Bibliothekar überliest das Schreiben. Einen Tag wird er es liegen lassen. ,Knigge‘ – vielleicht fällt ihm noch ein besserer Name ein. Oder warum nicht einfach nur ,Adolph, Bremen 1796‘? Der Protokollchef wird schon selber ergänzen.

 

 

11

 

Albernheiten, Kindereien – je ,gesetzter‘ er mit den Jahren wird, je eingerichteter zwischen den Wänden, den Büchern und Staubflocken, umso stärker bemerkt er eine Neigung zum Schabernack. Wenn der schmerzende Rücken nicht wäre, schlüge er nach solchen ,Schriftstücken‘ gern einen Purzelbaum. Natürlich ist das blöde. Vielleicht gibt es tatsächlich eine Entwicklung ins Aufwärtsgerichtete, Aufrechte, zum Kind zurück (wenn denn die Kinder vom Himmel kommen). Vielleicht spürt er nach solchen Scherzen sogar so etwas wie Freiheit.

Manchmal wundert sich der Bibliothekar allerdings, wie alle nach dieser Freiheit rufen, selbst er noch – auf die Erde geplumpste Kinder, die ihre Hälse verbiegen und zu ihr aufschauen. Denn leben heißt abhängig sein, vom Strom des Blutes durch den eigenen Körper, vom Zusammenhalt der Atome, vom Wirtschaftswachstum, von der aktuellen militärischen Situation im Kampf um die Wüste, vom Wärmezittern der Luftmoleküle, vom Traum letzte Nacht, von allen Pfeilern der Welt. Finde dich ein in den Traum. Geh hinein in das Leuchten. Geh in die Schatten hinein.

Der Bibliothekar hat sich eine Anzahl seiner monatlichen Kontoauszüge ausgeschnitten und aufgeklebt, sorgfältig nebeneinander, untereinander auf ein großes graues Stück Pappe, das hängt nun zu Hause im Wohnzimmer an der weißgestrichenen Wand hinter Glas.

„Macht mich das frei – dieses Wissen um meine Abhängigkeiten, die Verspottung der Abhängigkeiten?“

Wie in dieser alten Chan-Geschichte vielleicht, von den Flüssen und Bergen, die dem Unwissenden einfach nur Flüsse und Berge sind. An denen der, der in den Weg eintritt, der das Wissen um das Herz der Welt zu kosten begonnen hat, zu zweifeln beginnt. Und die dem Weisen wieder zu Flüssen und Bergen werden – aber wie getrennt doch von der Anschauung eines Kindes. „Und die Liebsten nahe wohnen, ermattend auf / Getrenntesten Bergen“, schreibt Hölderlin. Er muss sich abgewöhnen, andauernd zu zitieren. Es passt sowieso nicht.

 

 

12

 

Wir werden die Bedeutung des Wortes ,Seele‘ nicht klären, indem wir in uns hineinhören oder uns unbeantwortbare Fragen stellen. Für Wissenslücken sind Lexika da. Ich gehe in die Bibliothek, frage einen Bediensteten nach ihrem Standort, nehme eines aus dem Regal und schlage es auf, unter dem Stichwort ,Seele‘.

Als ,Seele‘ lässt sich durchaus etwas fassen. Allerdings scheint es von der Definition abzuhängen, was. Definiere ich ,Seele‘ beispielsweise als ,Summe aller Bewusstseinszustände‘, dann weiß ich, dass es sie gibt. Denn Bewusstsein ist mir unmittelbar gegeben – und viele andere Menschen, selbst manche Tiere, verhalten sich so, als hätten sie auch eines. Die Seele gäbe es also.

Ein tieferer Blick in das Lexikon, ins Sammelsurium der Auffassungen: Die Seele als allen Wesen zukommendes metaphysisches Lebensprinzip wird in den verschiedenen Kulturen vorgestellt als Luft, Wind, Atem, Geist. (,Metaphysisch‘ und ,Lebensprinzip‘ gehörten allerdings gleichermaßen in das vielleicht doch wieder aufzunehmende Wörterbuch der Unklarheit, jedenfalls wenn man etwa mit dem Ursprung des Begriffs ,metaphysisch‘ nicht zufrieden ist, nach dem er einfach einige Büchlein des Aristoteles bezeichnet, die im Regal eines antiken Herausgeber nach (,meta‘) dessen Bänden zur Physik standen.) Interessant ist doch, dass viele Sprachen aus dem Wind oder Atem ihr Wort für ,Seele‘ gebildet haben – und nicht zu vergessen, dass es überall ein Wort für dieses doch Umstrittene gibt. Im Altgriechischen lautet es Psyche (Seele, Hauch, Leben), im Lateinischen Spiritus (Luft, Atem, Lebenshauch, Geist, Seele), im Sanskrit Atman (Seele, Hauch), im Althochdeutschen sēula (See, die zum See Gehörende). Die Substanzialitätstheorie in der Tradition des Aristoteles vertritt die Auffassung der Seele als unkörperlicher Substanz, welche sich in den seelischen Vorgängen manifestiert. Im Gegensatz dazu behauptet die Aktualitätstheorie von Wilhelm Wundt, dass es eine Substanz nicht gebe, dass die Seele ganz in den seelischen Funktionsabläufen und Akten bestehe. 

Aber das alles ist Geschichte. In der heutigen Psychologie (laut Lexikon die Wissenschaft von der Seele) kommt die Seele nicht vor. Man hat sie ersetzt, etwa durch ,Geist‘ oder ,Bewusstsein‘ – um nun was besser zu wissen? 

Immerhin, auch ich könnte vorschlagen, den unwissenschaftlichen, unklaren, sozusagen volkstümlichen Begriff ,Seele‘ durch einen anderen, klaren Begriff zu ersetzen, den der Duft all dieser verwaschenen Konnotationen nicht umgibt. Ein neuer Begriff wäre durchaus nötig, da inzwischen auch ,Geist‘ und ,Bewusstsein‘ so unklar geworden sind, dass sie von diesem Duft anzunehmen beginnen. Vermutlich haben sie schon zu lange an Stelle der Seele gehaust.

Ich könnte etwa ,Bewusstsein‘ noch um einige Beiwörter ergänzen, alles ins US-Amerikanische übertragen und eine Abkürzung daraus destillieren. Alexander zerschlug den Gordischen Knoten mit einem Schwert. Das Schwert des Wissenschaftlers ist die angelsächsische Abkürzung. Sie ist klinisch steril.

Ich könnte eine historische Übersicht zur Entwicklung der Seelenvorstellung vom Altertum bis in die Gegenwart skizzieren – und meine eigene Definition mit der Abkürzung, die das Seelenproblem ein für alle Mal löste, als Krönung dieser Entwicklung an den Schluss stellen.

Vielleicht sollte ich aber einfach bei der Seele als Definitionsproblem bleiben und diese kaum begonnenen Erkundungen gleich wieder abschließen. Mit einer geschichtlichen Darstellung und Diskussion ließe sich ein Buch durchaus füllen, eine eigene Definition ist fast unnötig und sowieso blödsinnig. Allerdings führt wissenschaftliche Gediegenheit vielleicht auf Kongresse, ansonsten aber nirgendwohin.

Es ist erstaunlich, wie offizielle Stellungnahmen demotivieren, seien es nun Lexikoneinträge oder Lehrbuchartikel. Wahrscheinlich ist das ihr Zweck. Motivation führt zur Beunruhigung. Wer will das schon. Jedenfalls kein Amt. Jedenfalls keine Hierarchie von Beamten. Die Professoren werden nicht helfen, wenn es um Wesentliches geht.

 

 

13

 

Der Bibliothekar schaut dem Mann lange nach, dann zieht er sein Notizbuch heraus und trägt langsam das Wort ein, das der Besucher genannt hat, anlässlich seiner Frage nach dem Standort der Lexika.

,Seele‘.

Der Bibliothekar muss lachen.

Der Bibliothekar hält sich tatsächlich die Hände vor das Gesicht.

Man stelle sich vor: In diesem späten Jahrhundert des Fortschritts, der Wissenschaft, der Aufklärung, ja Abklärung, sozusagen der Auf- und Abklärung, kommt ein erwachsener Mann in die Bibliothek und fragt nach der Seele. Wo sie zu finden sei, wo er wenigstens nachlesen könne, was sie bedeute. Die Rechner mit ihrer Stichworteingabe, danke, die habe er schon bemüht. Was er jetzt brauche, sei ein reales Lexikon, möglichst dick.

„Auch die Fremdwörterlexika finden Sie dort“, hat sich der Bibliothekar zu sagen nicht zu verkneifen gewusst.

Der Herr hat genickt, überhaupt nicht verwundert, obwohl ,Seele‘ doch offensichtlich kein Fremdwort ist. Und ist gegangen, an seine Wand, die mit den Lexika. 

,Seele‘ – das Wort sieht schön aus in seinem Notizbuch. Der Bibliothekar beschließt, es zunächst einfach bloß stehen zu lassen.

 

 

14

 

Noch einmal tiefer in die Definition: Jeder schwäbische Bäcker weiß, dass es Seelen gibt. Er verkauft sie. Seelen sind eine Art langgezogenes Brötchen, mit Kümmel und grobem Salz.

Auch etwa für das Innere eines geflochtenen Seils, für ein Innenbauteil der Violine oder die Bohrung eines Gewehrlaufs wird das Wort ,Seele‘ verwendet. Einige Menschen, etwa Büchsenmacher, wissen also genau, was sie meinen, wenn sie von der ,Seele‘ sprechen.

Doch was ist mit uns anderen, die wir Gewehre oder Geigen nicht bauen? Oder die als Kunden das nicht befriedigt, was wir beim Bäcker erhalten, wenn wir ihm sagen: „Bitte ein halbes Roggenbrot – und eine Seele“? Müssen wir uns erst durch einen Wald von Zitaten kämpfen, um am Schluss was in Händen zu halten? Dass es von der gewählten Definition abhängt, ob es die Seele gibt oder nicht? Als Backware definiert existiert sie, als unsterbliches Etwas ist sie aber sehr fraglich? Frau Maier hat eine Seele, denn sie definiert sie eben als ,die Gesamtheit meiner Bewusstseinszustände‘, und die können wir ihr nicht nehmen, Herr Schmid dagegen hat vermutlich Pech gehabt mit seiner Definition als ,wahres Wesen des Menschen, das den Körper nach dessen Tod verlässt, um in einem anderen Körper wiedergeboren zu werden‘, denn da fällt uns nur das kleine Mädchen ein, dessen Teddy spricht? 

Was ist eine Definition überhaupt?

Schon das Wort selbst scheint unterschiedlich definiert. Wenn ein Lexikon meint, ,Definition‘ sei die genaue Bestimmung eines Begriffs durch Auseinanderlegung und Erklärung seines Inhalts, so fällt natürlich sofort ein Kübel Wasser vom Himmel und auf unsere Köpfe, und ein paar zappelnde Fische dazu. Denn da klingt doch mit, dass ein Begriff ganz verschieden bestimmt werden kann, eine Definition, wenn sie nicht eine bloß persönliche Sache sein möchte, eine Übereinkunft verlangt, eine Entscheidung, womöglich eine Festlegung, sozusagen ein Gesetz. Eine Definition kann man also erst hinterher machen, wenn wirklich alles klar und eindeutig ist, wenn Übereinstimmung bereits herrscht, sie hilft uns bei unserer Suche nach der Seele nicht weiter. (Und wo bitte, bei welcher Sache in der Welt, gibt es eigentlich Übereinstimmung? Dort, wo man zum Streiten zu müde ist?)

Eine formale Definition der Definition sagt denn auch, sie sei die Gleichsetzung eines bisher noch unbekannten Wortes mit einer Kombination aus mindestens zwei bereits bekannten Wörtern. Und bestätigt damit, dass eine Definition nie am Anfang stehen kann, weil sie bereits Bekanntes voraussetzt.

Ist es möglich, einen Begriff wie ,Seele‘ auf zwei (oder mehr) klare und bekannte Wörter zurückzuführen? Dass wir etwa sagen könnten, eine ,Seele‘ ist ein ,klunkendes Natsch‘ und dann mehr wüssten? (Womit ich nicht behaupten möchte, ,klunken‘ und ,Natsch‘ wären momentan klar und bekannt.)

Diese Definition der Definition behauptet immerhin auch, dass es Begriffe gibt, die unmittelbar gegeben sind. Solche Begriffe seien durch Beispiele einzuführen, durch Deuten mit dem Finger auf etwas, zusammen mit einer Bemerkung wie etwa: „Das ist ein Pferd!“ Und dann können wir sagen: „Du weißt nun, was ein Pferd ist, du weißt, was die Farbe Weiß ist“ (wir deuten auf mehrere weiße Gegenstände). Dann definieren wir: „Ein weißes Pferd ist ein Schimmel.“ Oder: „Ein männliches Pferd ist ein Hengst.“ Auf was wir hier zeigen müssen, wissen Sie selbst. 

Nun deutet allerdings niemand, außer etwa beim Bäcker, auf etwas und sagt: „Das ist eine Seele.“ Unmittelbar gegeben scheint sie also nicht. So wäre sie doch zu definieren. 

Definitionen schöpfen aber offensichtlich immer nur aus dem bereits Bekannten. Auf der Suche nach dem Unbekannten, nach unserer Seele hinter den Begriffen und Bildern, hilft uns das kaum. Da landen wir nur wieder etwa beim ,Geist‘.

 
Woher nehme ich eigentlich meine offensichtlich bestehende Sicherheit, dass jede Antwort in der Art: „Die Seele ist ein klunkendes Natsch“ das Thema verfehlt? Dass so etwas, wenns hoch kommt, zu einem weiteren Lexikoneintrag führt, uns aber der Seele nicht nähert?

Diese Sicherheit sagt eigentlich doch, dass ich etwas über die Seele wissen muss. Sonst könnte ich nicht wissen, dass sie in dieser Richtung nicht zu finden ist. Aber dass ich nicht weiß, was ich weiß. Mehr noch: Nicht weiß, dass ich weiß. 

Die Seele könnte also vielleicht doch eines dieser Dinge sein, die unmittelbar gegeben sind. Aber wie, so nochmals die Frage, zeigt man auf sie? 

 

 

15

 

Die Seele mag in mir sein, ich kann trotzdem nicht auf sie zeigen, mit keinem Finger auf meiner Brust.

Es ist nicht Herz und nicht Lunge und keine Windung dieses zerfurchten Gehirns. Es ist etwas anderes, etwas, das wie im rechten Winkel zu allem Sichtbaren steht.

Was ist das?

Ich kann es nicht denken. Aber ich kann mich erinnern.

Bei der letzten Renovierung hatte ich die Küche umgeräumt und wochenlang, hunderte Male, ging der Griff zum Gewürzkorb an die alte Stelle. Dazu passt der berühmte Gang ins andere Zimmer und, dort angekommen, die Frage: Was wollte ich eigentlich hier? Wer wollte etwas im anderen Zimmer? Sie und ich, wir stehen dann da und lauschen auf dieses andere in uns. 

Vielleicht denkt dabei jemand von uns kurz an Georg Büchner, jene Stelle aus ,Dantons Tod‘, in der der Todgeweihte spricht: „Puppen sind wir von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst! Die Schwerter, mit denen Geister kämpfen, man sieht nur die Hände nicht, wie im Märchen. Jetzt bin ich ruhig.“ Bloß dass unsere Zeit eine andere ist, die Geistesmächte zu ersetzen sind etwa durch Langeweile.

Sind das nur verschiedene Hirnzentren, die unsere Handlungstendenzen modulieren? Und voneinander nicht wissen? Und eine gemeinsame ,Endstrecke‘, unsere Handlungen, die, aus einer Vielzahl von Quellen gespeist, von einer Vielzahl Stimmen beeinflusst, so konsistent, so logisch eben nicht sind? Und das ,Ich‘ nur eine Leinwand, auf der alles zusammenläuft, zum Film unseres Lebens?

Menschen mit Hirnschäden müssen erwähnt werden, die sich, hochbetagt, für 20 Jahre alt halten oder die im Krankenhaus meinen, in ihrer Wohnung zu sein. Die mit schon lange verstorbenen Personen reden und meinen, sie vor sich zu sehen. Da ist eine Kontrollstelle im Hirn ausgefallen, eine Stelle, die Fantasien, Träume, Vorstellungen als solche markiert – die gelangen nun als Realität auf die Leinwand des Ich, das sie kritiklos aufnimmt und vorzeigt.

Eindrücklich der Mann im Prä-Delirium, dem ich vor Zeiten in der Nachtwache einer Suchtklinik gegenüber saß. Der sich, mit mir im kahlen Zimmer allein, in einer belebten Gaststätte wähnte, auf Personen reagierte, die ich nicht sah, der den Duft vom Teller der vorbeieilenden imaginären Kellnerin einsog (nie habe ich in der ,Realität‘ eine Nase so stark reagieren sehen), der mich, den Mitarbeiter des Hauses, für einen alten Kumpel hielt. Da sprangen auch ab und zu ein paar Mäuse im Zimmer herum, behauptete er, ich sah sie nicht. Auf der Fahrt durch die Stadt in die Psychiatrie entwischte er den Sanitätern an einer Ampel, schlug sich per Anhalter zum Bodensee durch, verkaufte dort seine Rollex, kaufte sich Hosen – alles im Wahn, wie er erzählte, Tage später erst der Grenzpolizei aufgefallen und zurückgebracht. Er kam mit seinen Wahnvorstellungen ,draußen‘ ausgezeichnet zurecht. 

Kommen Sie mit den Ihren zurecht?

Wenn wir die Welt nach unseren Einflüsterungen konstruieren, wo ist da Platz für den See einer Seele? Auf welcher Ebene kann er liegen?

Unten ein paar fehlbare Rechenzentren, oben eine weiße Leinwand, das ,Ich‘? 

 

 

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Aber dann wieder niederknien im Garten. Grashalme, einer am anderen, Blumen und eine Feuchte vom Tau. Die Biene summt ihren Sinn in die Luft, den Stock eingebrannt in jede Faser des Leibes. Summ, summ ... Summe ein Weilchen mit ...

Doch du hast nicht den Stock im Blut, das deine besteht aus allerlei klar bestimmbaren Substanzen, je genauer die Geräte fragen, umso feinere finden sie – aber nicht dich.

Die Apparaturen finden uns nicht, so durchsichtig sind wir, unter der Sonne, vielleicht gibt es uns gar nicht, nicht wirklich. Nur so einen Klang in der Luft oder einen Schatten, den etwas anderes wirft.

Vielleicht kann die Bewegung der Schatten uns einiges über unser Leben verraten.

Was ist der Sinn des Bienenstocks? Die Bestäubung der Pflanzen? Der Aufstrich eines Brötchens zum Frühstück? Die Biene weiß nichts davon, sie kennt nur den Bienenstock, sonst würde sie am Bienenstock zweifeln.

Zweifeln Sie nicht?

 

 

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Vor einiger Zeit schon habe ich in der Universitätsbibliothek Bücher über die Seele ausgeliehen – psychologische, medizinische, philosophische, sogar ein paar theologische sind dazugefallen. Die ablaufenden Leihfristen schauen mich an und fragen, weshalb diese Bände unaufgeschlagen verstauben, weshalb nach einigen hilfreichen Lexika-Artikeln der Widerwille gegen alles Papier so fest ausgeprägt ist, dass ich selbst die gedankliche Beschäftigung mit der Seele zum großen Teil aus meinem Arbeitszimmer voll starrender Buchrücken auf Spaziergänge durch die Wälder und über die Rücken der Berge verlegt habe.

Nun schätze ich die ,wissenschaftliche Methode‘ durchaus, bei Fachpublikationen blättere ich am liebsten durch das Literaturverzeichnis und zähle vergnügt die Seiten und Hinweise. Aber bei aller Freude am Kramen und Krämern, auch da flüstert es beharrlich in mir, dass die besten Bücher aus spärlichen Quellen zusammenfließen, wohl weil die vielen kleinen Quellen die eine große verwässern, aus der alleine die Milch fließt (oder der Wein).

Warum nun aber das Gehen? Wenn denn Bewegung schon gut für die Erweiterung des eigenen Blicks ist, warum nicht das Blättern in dem, was andere Leute über die Seele gefunden haben? Warum stattdessen der Gang durch die Platanenallee, das Sitzen am Waldbach, das Steigen im Fels? Und das viele Singen mit den Vögeln des Waldes, was trägt das zur Erkundung der Seele bei?

Wenn ich mich abwende von der Gemeinschaft der Forschenden, wende ich mich den Dingen zu. Eigentlich sollte ein Hin und Her die angemessene Herangehensweise sein: Sich öffnen, die Ansichten von anderen aufnehmen, Erfahrungen sammeln – dann sich schließen, das Fremde aufeinander beziehen und messen an den eigenen Fragen und schon vorhandenen Einstellungen (und diese an ihm) und prüfen am eigenen Herzen.

Woher kommt nun meine offenbar vorhandene und sich zunehmend verfestigende Überzeugung, dass die Seele etwas ist, das ich mit mir und den Bäumen auszumachen habe, nicht mit Buchkapiteln über die Seelenvorstellungen bei den verschiedenen Religionen oder philosophischen Systemen? Das aber deshalb keineswegs nur ,privat‘ ist, sondern ein Ausmachen auch für diese anderen Forschenden, die ich nicht mit heranziehe?

Gesichter von Menschen übereinandergelegt, ergeben ein schönes Gesicht – alle Unregelmäßigkeiten, Verzerrungen werden gemittelt. Der Durchschnitt des Menschen ist schön (für den Menschen); das ist erstaunlich, doch es wurde so untersucht, es ist wahr. 

Lege ich aber die Seelen der Menschen ,übereinander‘ oder die Meinungen zur Seele, wie sie in Büchern dargestellt werden, was kann ich zu erhalten hoffen?

Ich rechne nicht mit der Vollkommenheit und nicht mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Die Ansichten umkreisen einander fremd oder sie löschen sich aus, aber sie ergänzen sich nicht, sie mitteln sich nicht, es sei denn zum Nichts oder zum Ungeheuer.

Das Problem mit Wissenschaft und Philosophie ist der Drang, der Zwang zum System, zum Feilen, Biegen, Überbrücken, Unterdrücken, letztlich damit zum Lügen. Wer die Welt fassen möchte, muss lügen. Jeder muss das, der sich in einer Gemeinschaft denkend bewegt.

Ich muss das nicht, denn ich bewege mich in keiner Gemeinschaft, außer etwa in der der Wolken und Spatzen.

Stattdessen möchte ich einzelne Ansichten rein und klar vor die Sonne stellen. Das weiße Licht will ich aufbrechen, die Farben zeigen, die Perspektiven erwandern. Denn wahr ist der einzelne Mensch, der sich unbefangen vor den Dingen befindet. Auch wenn seine Ansichten mit denen des Nachbarn nicht übereinstimmen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739373607
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Dezember)
Schlagworte
Psychologie Philosophie Spiritualität Seele Essay

Autor

  • Volker Friebel (Autor:in)

Dr. Volker Friebel (*1956) ist Psychologe und Autor sowohl von literarischen als auch von fachlichen Veröffentlichungen. Er lebt in Tübingen.
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Titel: Bunte Scherben