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Lenara: Der Pfad des Blutes

von Dominique Heidenreich (Autor:in)
340 Seiten
Reihe: Lenara, Band 4

Zusammenfassung

Nach der Evakuation von Wills Rudel sind alle damit beschäftigt, weitere Labore zu finden und etwaige Experimente wie Sin zu befreien. Die Entdeckungen, die sie dabei machen, haben Auswirkungen auf alle. Lenaras Leben gerät in Gefahr, doch die Rettung hat ihren Preis. Einen Preis, den zu zahlen sie noch bereuen wird. Vor allem, als die Gargoyles davon erfahren und auch Lenaras Rudel in Mitleidenschaft gezogen wird. Wird sie Franklins Pläne vereiteln können?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Copyright © 2018 Dominique Heidenreich. Alle Rechte vorbehalten

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Alle in diesem Roman vorkommenden Personen, Charaktere, Schauplätze, Ereignisse und Handlungen entstammen der Vorstellungskraft der Autorin, oder sind fiktiv. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden, oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

1. Auflage

 

Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss, www.juliane-schneeweiss.com

Lektorat & Korrektorat: Pia Euteneuer und Lillith Korn

Selbstverlag: Isabel Heidenreich, BA
Kampfstraße 4, 1140 Wien

Heidenreich, Dominique

Der Pfad des Blutes

Band 4 der Reihe - Lenara

Mehr Informationen finden sie auf www.dominiqueheidenreich.at

Besucht mich auf Facebook und Instagram: @DominiqueHeidenreich

 

Was bisher geschah …

 

Lenara hat durch Sin ihre Erinnerungen zurückbekommen und herausgefunden, dass sie nie eine Blutsklavin war.

Außerdem hat sie erfahren, dass Gargoyles und Dämonen gleichermaßen Experimente wie Sin und sie in Auftrag gegeben haben.

Um ihnen einen taktischen Vorteil mit den Gargoyles zu verschaffen, entschließt sich der Alpha Jones, Markus MacClaine freizulassen.

Doch bevor die Gargoyles den Sumpf verlassen können, taucht Lilith auf und zwingt alle in die Knie.

Von ihr vor die Wahl gestellt tötet Dan seinen Bruder, um Lens Leben zu retten.

 

 

Prolog

 

16 Jahre zuvor

 

Rack erwachte als Wolf. Es war totenstill im Zimmer. Langsam öffnete er die Augen. Er lag auf der Seite und starrte mit leerem Blick auf die gegenüberliegende Wand.

Mary, Nina, Martin und John waren tot. Bilder tauchten vor seinem inneren Auge auf. Ein Arm, ein Kopf, ein regloser Körper. Doch diesmal blieb er dabei stumm.

Seine Brust zog sich so schmerzhaft zusammen, dass er keine Luft bekam und auch keinen Wunsch verspürte zu atmen. Hätte er gekonnt, wäre er auf diese Art und Weise erstickt. Still und unbemerkt, während alles in ihm schrie.

Still und unbemerkt, so wie seine Kinder gestorben waren.

Er hatte versagt.

Joyce hätte ihn sterben lassen sollen.

Wo war Joyce?

Er brachte keinen Ton über die Lippen. Dafür hätte er atmen müssen und er wollte nicht atmen. Wollte nicht leben. Nicht in einer Welt, in der seine Kinder tot waren.

„Atme”, verlangte eine fremde Stimme.

Rack ignorierte den Mann, auch wenn seine Lunge brannte und nach Sauerstoff schrie. Alles in ihm schrie, was machte da das bisschen körperliche Unwohlsein?

Er hörte ein Seufzen, bevor ihm jemand hart genug auf den Rücken schlug, dass er automatisch Luft einsog.

„Benimm dich nicht kindisch”, ertönte es neben ihm mit Grabesstimme. „Deine Frau braucht dich.”

Joyce.

Scham fraß sich durch seine Eingeweide, als ihm klar wurde, dass er auch sie im Stich gelassen hatte. Er hatte bei den einzigen Menschen versagt, die ihm alles auf der Welt bedeuteten.

Allein der Gedanke an sie ließ ihn in kalten Schweiß ausbrechen. Seine Verwandlung war schmerzhaft langsam, bis er sich als Mensch schließlich aufsetzte und den Fremden ansah.

„Wer bist du?” Er erkannte seine eigene Stimme kaum. Monoton, gefühlskalt.

„Daniel MacClaine.”

Etwas in ihm regte sich. Verächtlich zog er die Oberlippe hoch. „Ein Gargoyle.”

Dann gefror sein Blut zu Eis.

Ein MacClaine hatte ihm das Leben gerettet.

Eine Schuld, die er mit dem Leben zurückzahlen musste, sonst würden andere darunter leiden. So wie Joyce. Wird sie nicht leiden, wenn du nicht hier bist, nach allem, was passiert ist?, fragte er sich bitter.

Um ihr Leben nicht weiter zu gefährden, musste er einen Weg finden, seine Schuld zu begleichen.

Eine Blutschuld, die ihn erzittern ließ.

Wieder brachte er keinen Ton hervor, während die Wut sich in Hass verwandelte und sein Blut wärmte. Er hasste die gottverdammten Fledermäuse. Allein für die Massenversklavung seiner Rasse vor all den Jahren.

Obwohl Waffenstillstand herrschte, war dieser nichts wert. Eigentlich hätten es die Wölfe sein müssen, die sich nach Rache sehnten, stattdessen verfolgten die Gargoyles sie weiterhin.

Innerlich brodelnd starrte er diesen MacClaine an, der sein Leben ebenso zerstörte, wie die Dämonen es getan hatten.

Es wäre ihm lieber gewesen, er wäre gestorben.

Mühsam schwang Rack die Beine über die Bettkante und stand auf. Ihm wurde schwarz vor Augen und er taumelte, bevor er sich fing. Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen, krampfte, entkrampfte, krampfte, entkrampfte. Als würde jemand seine Eingeweide mit Stacheldraht massieren und ihm gleichzeitig den Hals zuschnüren.

„Dein Rückenmark wurde verletzt”, kommentierte MacClaine. „Ich bin überrascht, dass du laufen kannst.”

Racks Mund wurde trocken.

Das Letzte, an das er sich erinnerte, war John, der reglos in seinen Armen lag.

Sein kleiner Junge.

Er schluckte den Brechreiz herunter und ging auf zittrigen Knien zur Tür.

Joyce sah nicht auf. Es kümmerte ihn nicht, dass es regnete und nicht warm genug war, um nackt im Freien herumzulaufen. Die wenigen Schritte nach draußen hatten ihn all seine Kraft gekostet. Nebel kroch über den Boden.

„Du warst fünf Tage lang bewusstlos”, hauchte sie, den Blick auf die frischen Erdhügel zu ihren Füßen gerichtet. „Ich musste sie allein begraben.” Ihre Stimme brach, während die in seinem Inneren wieder zu schreien begann.

Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Er wollte sie in den Arm nehmen, sie trösten. Doch er wusste nicht wie.

Er hatte versagt. Sobald es darauf ankam, hatte er versagt.

Er verdiente es nicht, sie zu halten.

Schweigend starrte er zu Boden. Seine Sicht verschwamm und klärte sich, als er blinzelte.

„Bist du verletzt?”, fragte er tonlos.

Sie drehte ihm ihr nasses Gesicht zu und er sah all die Verzweiflung, all den unbändigen Schmerz, all die stummen Schreie, die auch er schrie.

„Joyce, ich -”

Sie warf sich in seine Arme und fing an zu weinen.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis er seine verkrampften Finger lösen konnte und sie fest an sich zog.

Gemeinsam sanken sie auf die Knie, während der Wald um sie herum verstummte und Joyce’ Schreien lauschte.

Sie saßen im Regen, Joyce zitterte in seinen Armen. Rack spürte seine Zehen und Finger kaum wegen der Kälte, genoss aber die Stiche, die jede Bewegung dadurch verursachte. Er verdiente sie.

Keiner von ihnen schien erpicht darauf aufzustehen.

„Ich muss gehen”, erklang es hinter ihnen.

Rack verkrampfte sich. Sein Kopf fuhr herum und er begann zu knurren. „Das ist nicht der richtige Zeitpunkt”, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und hätte ihre Probleme am liebsten damit gelöst, dem Gargoyle die Kehle rauszureißen.

Joyce wischte sich Tränen und Regen aus dem Gesicht, bevor sie sich von ihm löste. Er wollte sie nicht loslassen, er wollte nicht, dass sie ging. Mühsam richtete er sich auf und streckte seine steifen Glieder. Er atmete den Schmerz ein, weil er sich besser anfühlte als Luft.

„Ich habe es nicht gesagt, um -” Der Gargoyle unterbrach sich, seufzte und begann von vorn. „Ich muss gehen.”

„Kannst du nicht ein paar Tage warten?”, zischte Rack und trat einen Schritt auf den Gargoyle zu.

„Das habe ich.”

Verzweiflung kroch in ihm hoch, während sein Blick zu Joyce glitt, die stärker zitterte als zuvor. Er musste verschwinden. Jetzt. Um ihr Leben nicht zu gefährden, war er gezwungen zu gehen.

„Geh mit ihm”, flüsterte Joyce.

Etwas in ihm zerbrach, als sie ihn ansah.

„Er kann hierbleiben”, widersprach MacClaine.

„Als würden wir dem Wort eines Gargoyle vertrauen”, knurrte Rack in seine Richtung, bevor er nach Joyce’ Hand griff.

Sie wich vor ihm zurück und was soeben zerbrochen war, pulverisierte.

„Ich habe dir nicht das Leben gerettet, um einen Schoßhund zu kriegen, der mir überall hin nachläuft”, begehrte der Gargoyle auf.

„Geh mit ihm”, wiederholte Joyce.

„Wie kann ich dich zurücklassen? Sag mir wie?”

Ihre wunderschönen, traurigen Augen bohrten sich in seine. „Ich will dich nie wiedersehen.”

Ihm war klar, was sie tat. Sein Verstand wusste es. Aber sein Herz nicht. „Das meinst du nicht ernst.” Er machte es ihnen nur schwerer und konnte es doch nicht lassen. Er fühlte sich, als hätte man sein Innerstes nach außen gedreht und darauf gespuckt.

„Ich muss von vorn anfangen”, presste Joyce tränenerstickt hervor.

Die Lüge brannte ein Loch in seine Eingeweide, aber sein Herz hörte immer noch nicht zu. Es wollte die Lüge glauben.

„Und das kann ich nicht, solange du hier bist. Ich kann dir nicht in die Augen sehen”, wisperte sie gebrochen.

Er wusste nicht, was mehr wehtat. Die Lüge oder die Wahrheit. Jedes einzelne Wort aus ihrem Mund verursachte ihm Höllenqualen.

„Bitte”, flehte er und schüttelte verzweifelt den Kopf. „Bitte, Joyce.” Er flehte darum, dass sie ihm verzieh. Um ihre Liebe und dass sie ihn nicht fortstieß. Er flehte darum, ihren Schmerz mit ihr zu teilen. Um eine Chance, es besser zu machen, selbst wenn er es nie würde gutmachen können.

„Verschwinde endlich”, schrie sie, die Hände zu Fäusten geballt und so heftig zitternd, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen. „Komm nicht wieder, ruf nicht an und erkundige dich nicht, wie es mir geht! Es ist deine Schuld!”

Sie verstummte abrupt, als er direkt vor ihr stand und ihr Gesicht zwischen seine Hände nahm.

Ein letztes Mal strich er seine Finger durch ihr nasses Haar, berührte ihre Wangen und drückte seine Lippen auf ihre. „Ich liebe dich. Ich werde dich immer lieben”, schwor er leise.

Dann ließ er sie los und ging mit dem Gargoyle. Nur einmal drehte er sich noch zu Joyce um, doch ihr Blick war auf den Boden gerichtet.

Auf die Gräber ihrer Kinder.

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1

 

Grace

 

„Hast dus?”

„Nein”, brüllte Grace, damit Charlie sie im angrenzenden Zimmer hören konnte. Sie presste ihren Kopf fester gegen den Boden und schielte durch die Öffnung, die sie gebohrt hatten, um ein Kabel zu verlegen. Ein Kabel, das festzustecken schien. „Zieh noch mal an!”

Seit Tagen bemühten sie sich, Charlies Equipment aus dem Bunker, wenigstens teilweise, in Gang zu kriegen. Sie kamen nur nie sehr weit, bevor sich entweder jemand über den Krach beschwerte oder eines der Wolfskinder die Kabel zerbiss. Besonders letzteres.

„Das haben wir schon dreimal versucht”, erklang es dumpf von nebenan, gefolgt von einem lautstarken Niesen.

„Dann müssen wir das Loch eben größer machen.”

„Wir haben keinen passenden Bohrer.”

Grace stocherte mit einem Bleistift in dem Loch herum, um das Kabel rauszudrücken. „Dann kaufen wir eben einen.”

„Ich habe bereits fünf Trips zum Baumarkt gemacht. Der Kassier kann mich nicht mal mehr ansehen, ohne in Gelächter auszubrechen.”

„Willst du es lieber abbrechen?”

„Nach all dem Aufwand? Nein!”

Grace zog den Bleistift heraus und seufzte schwer. Womit sie sich den feinen Staub, der durchs Bohren entstanden war, direkt ins Gesicht blies. Hustend rieb sie sich die brennenden Augen. Ihr Handy begann just in dem Moment zu läuten. Hektisch fuhr sie hoch und stieß sich den Kopf an dem Tisch, unter dem sie bis eben gelegen hatte.

„Scheiße!”

Zu dem Schmutz in ihren Augen gesellte sich ein pochender Schmerz auf ihrer Stirn. Beides Umstände, die sie ignorierte, während sie blind ihr Handy aus der Gesäßtasche angelte. Ihr Puls jagte, als sie es endlich schaffte abzuheben.

Sie war zu laut, zu übereifrig und voller Hoffnung. „Nathan?”

„Nein.”

Ihre Schultern sackten automatisch herab, sobald sie die eisige Stimme hörte. Sie bemühte sich, die Enttäuschung herunterzuschlucken, so wie jedes Mal, wenn ihr Handy klingelte und es nicht der eine Mann am anderen Ende der Leitung war, den sie hören wollte. Ein Handy, das sie überall hin mitschleppte, sogar aufs Klo, 24/7 auf voller Lautstärke, um ja nicht zu verpassen, sollte er sich doch endlich melden. Vielleicht hatte sie ein neues Stadium von Verrücktheit erreicht, denn manchmal spürte sie ihr Handy vibrieren, nur um dann festzustellen, dass sie weder einen Anruf noch eine Nachricht bekommen hatte. Charlie behauptete, dass dieser Effekt wissenschaftlich bewiesen worden war und eine neue Störung darstellte. Möglicherweise hatte sie ihre Paranoia und ihren Putzwahn dagegen eingetauscht.

„Sorry, Dan, ich hab nicht aufs Display gesehen.” Sie klang fröhlicher, als sie sich seit Wochen fühlte.

„Er hat sich immer noch nicht gemeldet?” Der Vorwurf schwang zu deutlich mit, um subtil zu sein.

Sie hatte seit über einer Woche nichts mehr von Nathan gehört. Acht Tage, zwölf Stunden und zweiunddreißig Minuten, um genau zu sein. Aber wer zählte schon? Sie hatte es nur zweimal gewagt, ihn anzurufen. Er hatte weder abgehoben noch zurückgerufen oder ihr eine Nachricht geschrieben. Sowohl ihre Wölfin als auch Grace selbst beunruhigte das entsprechend.

Seufzend rieb sie sich den Schmutz aus den Augen. „Warte mal kurz.” Sie hielt den Hörer zu. „Charlie! Ich muss telefonieren.”

Schritte ertönten und dann stand eine zerzauste Charlie in der Tür. „Ich gehe den verdammten Bohrer kaufen. Bis nachher.” Niesend rauschte sie ab.

„Bist du noch da, Dan?”

„Ja.”

„Also, was gibts?”

„Hast du die Bücher bekommen?”

„Ja, aber bisher hatte ich keine Zeit, sie zu lesen”, gestand sie und wischte ihre Hände an der Hose ab, das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt.

Schweigen breitete sich aus. Die unangenehme Sorte. Die Frage nach seinem Befinden erübrigte sich, nachdem er seinem Bruder im wahrsten Sinne des Wortes das Herz aus der Brust gerissen hatte. Grace hatte wiederholt versucht, ihn aus seiner Katatonie herauszuholen. Sie hatte ihn getröstet, ihn geschüttelt, auf ihn eingeschrien, doch nichts davon hatte geholfen. Bis sie in ihrer Verzweiflung, ihn wachzurütteln, Josephines Namen erwähnt hatte. Sie war nicht stolz auf die Worte, die gefolgt waren, obwohl sie ihre Wirkung nicht verfehlt hatten. Grace hatte ihm vorgeworfen, seine Ideale vergessen zu haben. Dass sich seine Frau im Grab umdrehen würde, wenn sie wüsste, wie er sich gerade gehen ließ. Sie erinnerte ihn daran, dass er es ihr schuldete, den Plan um Franklins Untergang fortzuführen. Ob er auch tatenlos zusehen würde, wenn Josephine noch hier wäre.

Der Zweck heiligt die Mittel – nicht, dachte sie bitter.

Unruhig suchte sie ein möglichst unverfängliches Thema. Und scheiterte. „Wie geht es deiner Mutter und dem Baby?”

„Den Umständen entsprechend, aber sie sind beide gesund.”

Erneut herrschte Stille. Dan rief sie regelmäßig an und es lief jedes Mal ähnlich seltsam ab. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, hatte allerdings nicht die Kaltschnäuzigkeit, um ihn abzuwürgen.

„Wie geht es dir?”, hörte sie ihn fragen und zuckte die Schultern, obwohl er das nicht sehen konnte.

Um Entspannung bemüht, lehnte sie sich mit dem Rücken an die Wand. „Es ist chaotisch. Zu viele Leute, zu wenig Platz.” Sie verzog das Gesicht, weil ein schrilles Kreischen durch das Haus hallte. „Zu laut.”

Dabei hatte sie gedacht, in Wills Bunker gäbe es keine Privatsphäre. Jetzt würde sie Charlies Kameras, ohne mit der Wimper zu zucken, gegen das hier eintauschen. Seit sie den Bunker aus Sicherheitsgründen evakuiert hatten, war Wills zweites Territorium, der Apalachicola National Forest, ihr Rückzugsort.

Charlie nieste inzwischen, gequält von ihrer Allergie, fast ununterbrochen. Zu viele Wölfe bedeuteten auch zu viele Haare und nicht genug Fusselrollen, um sie alle zu beseitigen.

Es war immer voll und es gab hier niemals Ruhe, nicht einmal, wenn alle Kinder im Bett waren.

„Schläfst du?”, fragte sie prompt.

„Drei bis vier Stunden am Tag. Was ist mit dir?”

Grace gähnte ins Telefon. „Unverändert. Acht bis neun Stunden und keine Erholung in Sicht. Es fühlt sich an, als hätte ich gar nicht geschlafen.”

Ihre Gespräche drehten sich jedes Mal um dieselben Punkte und umgingen dabei mehr oder weniger - eher weniger - elegant ihre eigentlichen Probleme. Sie sprachen nicht über die wichtigen Dinge. Über das Wesentliche. Sie betrieben auf eine absonderliche Art und Weise Small Talk. Absonderlich vor allem, wenn man bedachte, dass Dan sich gegen das Leben seines Bruders und für ihres entschieden hatte. Etwas, das sie einfach nicht in den Kopf bekam.

Trotzdem redeten sie nicht darüber.

Er machte ihr keine Vorwürfe.

Sie erzählte ihm nicht von ihrem schlechten Gewissen, von den Zweifeln und ihrer eigenen Unsicherheit. Obwohl sie Mark nicht gemocht hatte, hätte sie ihm niemals zugetraut, was er Sin angetan hatte. Der Sprung von Antipathie zu Abscheu war dementsprechend einfach gewesen.

Nichtsdestotrotz blieb Mark Dans Bruder und sie nur irgendein dahergelaufenes Mädchen, mit dem er mal rumgemacht hatte.

Es erschien ihr nicht richtig.

Aber was geschehen war, war geschehen. Keiner von beiden konnte etwas daran ändern, selbst wenn sie es gewollt hätten.

Wahrscheinlich endeten ihre Gespräche deshalb immer in betretenem Schweigen. Weil sie sich mit dem Ernst der Situation nicht weiter auseinandersetzen wollten als unbedingt erforderlich.

Der Einzige, der manchmal etwas Nützliches von Dan bekam, war Will. Deswegen wusste sie auch, dass Franklin seinem Sohn die Geschichte, ein Dämon hätte Mark getötet, nicht abkaufte. Obwohl es eigentlich der Wahrheit entsprach. Natürlich machte es wenig Sinn für Dan, seinem Vater zu erzählen, dass er gezwungen worden war, seinen eigenen Bruder zu töten. Dann hätte er Details über die Vorkommnisse preisgeben müssen, die gefährlicher waren als Franklins bloßer Unglauben.

Grace verdrängte den Gedanken an besagten Tag, so gut sie es konnte, denn sie hatte genug Albträume von dem blutigen Massaker, um sich wenigstens tagsüber den Luxus von Verdrängung zu gönnen.

Dan seufzte durch die Leitung. Das Schweigen hatte zu lange angehalten. „Ich muss gehen.”

Erleichterung machte sich augenblicklich in ihr breit, gefolgt von einer Dosis Schuldgefühle. Sie war froh, das Telefonat hinter sich zu haben. Nicht nur, weil Dan gerade die Leitung für einen möglichen Anruf von Nathan blockierte, sondern auch weil sie sich jedes Mal hilflos fühlte, wenn er anrief.

„Melde dich, falls es etwas Neues gibt”, bat sie, bevor sie sich voneinander verabschiedeten.

Sie starrte auf ihr Handy, als könnte sie es durch reine Willenskraft dazu bringen zu läuten. Natürlich tat es das nicht.

Müde stemmte sie sich vom Boden hoch und marschierte zwischen herumtollenden Wölfen und Kindern in Richtung Küche. Eine Schlange hatte sich wie jeden Morgen vor der Kaffeemaschine gebildet und Grace’ Mundwinkel zogen sich automatisch nach unten. Wie sollte sie all das Chaos hier verarbeiten, wenn sie nicht einmal die Chance hatte, für andere den Kaffee zu machen?

Luca stand ebenfalls in der Schlange und gab ein unartikuliertes Geräusch von sich, das sie in der Zwischenzeit als Begrüßung interpretierte. Es war kein richtiges Knurren, aber auch definitiv kein Wort.

Die Stimmung zwischen ihnen war weiterhin angespannt, nur hatten sie einen Weg gefunden, ihren Frust aneinander abzulassen. Auf mehr oder weniger gesunde Art und Weise. Sie prügelten sich jetzt täglich windelweich. Luca nannte es ‚Training’.

Das Einzige, das sie miteinander verband, war die Tatsache, dass Nathan sie beide zurückgelassen hatte. Ein Fakt, an dem Luca fast mehr zu nagen schien als Grace.

„Auch endlich wach, Prinzessin?”

Die Menge an Sarkasmus und Boshaftigkeit, die Luca um sich warf, stieg von Tag zu Tag an.

Es war für alle kein Spaß, hier zu sein, und die Laune jedes Einzelnen im Haus sank stetig.

Grace würdigte Luca keiner Antwort. Sie hätte ihr gern den Mittelfinger gezeigt, doch beim letzten Mal hatte eine der Mütter ihr deswegen ein metaphorisches Ohr abgekaut. Auf eine weitere Standpauke konnte sie gerne verzichten.

Sie drängte sich an der Schlange vorbei, um sich Tee zu machen. Wenn es so weiterging, würde sie bald eine gehörige Portion Rum dazukippen.

Mit einer Hüfte an den Küchentresen gelehnt, wärmte sie ihre Finger an der Tasse und warf einen Blick aus dem Fenster.

Obwohl es in Florida ausgesprochen warm war, fror sie ständig und ihre eisigen Finger unterstrichen diesen Umstand.

Vielleicht vermisste sie es einfach nur, nachts jemanden an ihrer Seite zu haben, einen warmen Körper, an den sie sich schmiegen konnte. Einmal hatte sie versucht, sich zu einem Wolfshaufen zu legen, nur um von ihrer Wölfin regelrecht in eine andere Richtung gezwungen zu werden. Ihre Wölfin machte ihr so klar, wie sie nur konnte, dass das hier nicht ihr Rudel war, was ihre Einsamkeit und Sehnsucht nach ihrer Familie bloß verstärkte. Dass Rack seine freie Zeit ausschließlich mit der Suche nach Joyce verbrachte, half ebenfalls nicht.

„Hast du was von ihm gehört?”, fragte Luca schließlich wie jeden Morgen.

Grace checkte ihr Handy zum hundertsten Mal an diesem Tag. „Nope. Du?”

„Nein”, murrte sie in ihren Kaffeebecher. „Wo gehts heute hin?”, wandte sie sich an einen der Wölfe in der Küche.

„New Orleans”, antwortete Grace automatisch. Will hatte ihr erlaubt, zu dem potentiellen Labor mitzukommen. Da ihre früheren Mechanismen zur Beruhigung kaum funktionierten, hatte sie einen Entschluss gefasst. Jedes Mal, wenn sie in Versuchung geriet, sich selbst zu bemitleiden, und die Verzweiflung und Hilflosigkeit in ihr hochkroch, tat sie etwas. Etwas Sinnvolles, Nützliches. Etwas, das ihr half, in Zukunft mehr zu sein als eine Spielfigur auf einem Brett, dessen Regeln sie nicht kannte. Also hatte sie, nebst Lucas’ Training, mit dem Rudel ihre Einsätze trainiert. Ein militärischer Einsatz klang in der Theorie einfach. Die Automatismen, die sie nicht zu einer Gefahr für das Team machten, fehlten ihr allerdings. Noch. Will hatte schließlich zugestimmt, sie auf den nächsten Einsatz mitzunehmen. Sie hatte ihm verdeutlicht, sie würde durchdrehen, wenn sie nicht öfter nach draußen käme.

J.J. hatte letztlich, beim Durchforsten der Daten von Dog Island, die erste Spur zu einem Labor in Atlanta gefunden. Seither hangelten sie sich von einer Spur zur nächsten, wie bei einer blutigen Schnitzeljagd, quer durch die USA.

Das Labor in Atlanta hatte es geschafft, alle Daten und Server zu vernichten, bevor Wills Team es hatte unterbinden können. Viele tote Dämonen später war außer einer riesigen Menge Leichen und Blutproben nichts übrig. Aufzeichnungen waren in Atlanta alle am Computer, nicht auf Papier gemacht worden und ließen sie mit leeren Händen zurück.

Grace war dafür gewesen, das Labor abzubrennen, um zu verhindern, dass es wieder verwendet werden konnte. Will hatte sich jedoch damit begnügt, die Einrichtung zu demolieren. Zum Glück waren die Blutproben teilweise beschriftet gewesen und hatten ihnen somit den Weg nach Philadelphia und New Orleans geebnet.

New Orleans war als Nächstes an der Reihe und, wenn man dem dort ansässigen Rudel glauben durfte, immer noch besetzt. Weswegen ihr Team diesmal größer ausfiel, um einen Vorfall wie in Atlanta zu vermeiden.

Luca schnaubte abfällig. „Über fünf Stunden eingeschlossen in einem Auto voll stinkender Soldaten und einem niesenden Wolf. Yippie.”

„Ich mach dir gern das Fenster auf, damit du die Zunge raushängen kannst”, schlug sie zuckersüß vor.

„Werd ja nicht frech.”

Grace fletschte die Zähne. „Sonst was?”

„Lasst das, es ist sowieso kein Platz für eine Prügelei hier drin”, mischte Wills Eli, sich ein und klaute Luca den Kaffee aus der Hand. Luca knurrte, als sie einen fast leeren Becher zurückbekam. „Wo ist Charlie?”

„Ein Wort: Bauhaus”, beantwortete Grace seine Frage.

Seine Augenbrauen wanderten nach oben. „Schon wieder?”

Grace zuckte die Schultern. „Sie nutzt jede Gelegenheit, von hier wegzukommen, und ich kann es ihr nicht verübeln.”

Eli machte ein Geräusch, das merklich unzufrieden klang. „Sobald sie zurück ist, fahren wir los.”

 

***

 

Ruhelos starrte Grace aus dem Fenster des SUVs, in dem sie zusammen mit Will, Charlie und Luca saß.

Charlie war die Einzige, die nur unfreiwillig mitkam, doch Will hatte darauf bestanden. Sollte etwas schiefgehen, brauchten sie jemanden, der Daten retten konnte. Aus demselben Grund saß J.J. im Auto hinter ihnen.

Rack wiederum nutzte die Mitfahrgelegenheit, um seine Suche nach Joyce auszuweiten. Er hatte sich seit Wochen mit nichts anderem beschäftigt und nahm mit jedmöglichem Rudel Kontakt auf, das er finden konnte. Bisher erfolglos. Nicht dass sie ihm je geraten hätte, deswegen aufzugeben.

Für Grace bedeutete das seit Wochen Isolation. Umgeben von mehr Leuten als in ihrem alten Job in St. Louis fühlte sie sich trotzdem allein.

Selbst hier im Auto existierte diese unsichtbare Mauer, eine Distanz, von der sie nicht wusste, wann und wie sie entstanden war. Die Ruhe trug ihr Übriges dazu bei, dass sie über Dinge nachdachte, die sie lieber weiter von sich geschoben hätte.

Die letzten vier Jahre hatte sie damit verbracht, eine Vergangenheit zu vergessen und hinter sich zu lassen, die so nie stattgefunden hatte. Ereignisse, die sie als traumatisch empfunden hatte, hatte es in Wahrheit nie gegeben. Nichtsdestotrotz war es ihre Realität gewesen.

Es fiel ihr schwer, die beiden Bausätze an Erinnerungen in Einklang zu bringen. Ziehmutter, Blutkonserve und ohne Erinnerungen ausgesetzt im Gegensatz zu Waise, misshandelt und paranoid.

Sie verstand Sins Beweggründe besser denn je, doch deswegen tat es nicht weniger weh, zum zweiten Mal von ihr allein zurückgelassen zu werden.

Technisch gesehen war sie zwar nicht allein, aber für die Nachricht, die sie hinterlassen hatte, hätte Grace sie am Liebsten geschüttelt.

‚Ich bin nicht dein Haustier. Misch dich nicht in mein Leben ein und krieg deine Probleme selbst in den Griff. Habe mir Kleidung und Ausrüstung aus dem Lager genommen. Ich komme nicht zurück.‘

Kein Zugeständnis von Gefühlen. Keine Entschuldigung. Nicht mal eine richtige Erklärung. Sie hatte nach ihr suchen wollen, doch Will hatte ihr klargemacht, dass er keine Ressourcen für die Suche nach ihr verschwenden würde, solange die Sache mit den Experimenten und Franklin nicht geklärt war. Allein aufzubrechen hatte sie nur kurz erwogen. Grace hätte nicht gewusst, wo sie anfangen sollte. Sie hatte versucht, X anzurufen, um von ihm zu erfahren, wo Sin sich aufhielt, doch er schien seine Nummer geändert zu haben. Entweder das oder er weigerte sich ebenso wie Nate abzuheben und mit ihr zu sprechen.

Doch die Frage, wer sie jetzt war, drängte sich jeden Tag weiter in den Vordergrund, seit sie ihr Gedächtnis vollständig zurückhatte.

War sie immer noch dieselbe?

Ja.

Nein.

Beides.

Sie hatte keine Panikattacken mehr. War sie ‚geheilt’? Oder hatte sie bisher keine ‚passende Gelegenheit’ dazu gehabt?

Wenn sie auf Chaos stieß, hatte sie weiterhin das Bedürfnis, Ordnung hineinzubringen, aber was bis vor Kurzem unabdingbar gewesen war, verursachte ihr jetzt weder graue Haare noch Nervenzusammenbrüche.

In einem Haus voller Kinder und Wölfe war Unordnung vorprogrammiert, egal wie sehr sich die Eltern bemühten aufzuräumen. Grace ging ihnen hin und wieder zur Hand, weil es ihr ein gewisses Ausmaß an Genugtuung und Frieden brachte.

Doch sie musste nicht länger aufräumen.

Sie hätte erleichtert sein sollen, es zumindest als Erfolg empfinden müssen. Stattdessen fühlte sie sich seltsam leer. Als hätte sie etwas Grundlegendes in ihrem Leben verloren, ohne etwas dafür getan zu haben.

Es hatte keinen Durchbruch gegeben, keine tiefere Erkenntnis ihrer Ängste. Es war einfach nur passiert.

Selbst ihre Klaustrophobie war nahezu verschwunden.

Von diesen Aspekten ausgehend war sie so normal wie nie zuvor.

Nackte Haut machte ihr nichts mehr aus, sie war nicht mehr peinlich davon berührt, wenn andere Sex hatten und sie es hören konnte. Was ihr etwas ausmachte, war die Tatsache, dass es ihr nichts mehr ausmachte.

All das hätte sie gerne mit ihrem Rudel besprochen, die Details mit Malcolm und Marie analysiert. Rack war ihr keine Hilfe, denn er starrte sie nur verständnislos an, wenn sie versuchte, es ihm zu erklären. Für ihn und seinen Wolf war Grace einfach Grace und sie konnte ihm nicht begreiflich machen, warum es sie regelrecht aufregte, keine Panikattacken mehr zu haben.

Der bescheuertste Teil – der verliebte – in ihr redete sich ein, dass Nathan es verstanden hätte. Der restliche Teil war wütend auf ihn, weil er sich nicht meldete.

Wahrscheinlich reagierte sie über.

So wie immer.

Oder auch nicht wie immer, weil es völlig anders war und trotzdem genau gleich.

Argh. Es war zum Aus-der-Haut-Fahren.

Angespannt trommelte sie mit den Fingern auf ihren Oberschenkel.

Als sie sich dabei ertappte, freute sie sich geradezu über die vertraute Angewohnheit.

Wenigstens konnte sie nach wie vor von sich behaupten, verrückt zu sein. Sie hatte nur ein neues Level erreicht und noch keine Skillpunkte verteilt.

„Wie macht sich Eli?”, riss Will sie aus den Gedanken.

Luca schnaubte. „Sie sehen sich YouTube-Videos zu Meditation, innerem Seelenfrieden und Yoga an.”

„Dich hab ich nicht gefragt.”

Grace grinste schadenfroh bei seiner Zurechtweisung, wobei ein Meditationsvideo vielleicht gar keine blöde Idee wäre. Eli, das Experiment aus dem Labor, in dem sie auch Sin gefunden hatten, war in Tallahassee in einem Penthouse von Will untergebracht und damit so ziemlich der Einzige, der ein Zimmer für sich hatte. Grace verbrachte einen Teil ihrer Zeit damit, ihn zu besuchen und ihm dabei zu helfen, Fuß zu fassen in einer Welt, die er nicht kannte. Selbst wenn sie noch ganz am Anfang standen.

„Wir machen Fortschritte, er gibt fast nur noch vollständige Sätze von sich. Einfache Sätze zwar, dafür grammatikalisch korrekt. Seine Konzentration und Kontrolle nehmen stetig zu und seine Wutausbrüche werden nicht nur weniger, sondern sogar kürzer.”

„Wenn Eli es raus hat, sich vollkommen zu verwandeln, setzt sich Charlie vielleicht auch mal dazu”, warf Luca ein.

Selbst an Lucas Anfeindungen gewöhnt, schien ihr die plötzliche Anspannung im Auto fast übertrieben.

„Luca”, warnte Will leise.

„Was? Ich mein ja nur.”

„Lass nur, Boss. Luca ist notorisch untervögelt und deswegen schlecht drauf”, giftete Charlie neben ihr.

„Ich und notorisch untervögelt? Dabei scharwenzelst du um Eli herum, als wäre er der langvermisste Plug-in-Stecker für deine Dose. Du gibst dich doch nur mit dem Pflegefall-Eli ab, weil du Angst vor deinen Gefühlen zu unserem Eli hast.”

„Was ist dein Problem? Reicht es dir nicht, dich einmal am Tag mit Grace zu prügeln, als hinge euer Leben davon ab?”

Die Frage stelle ich mir auch immer wieder.

Luca drehte sich knurrend vom Beifahrersitz nach hinten. „Ihr Leben könnte jederzeit davon abhängen, wie gut sie sich prügeln kann. Es war mein Friedensangebot an sie.”

Charlie lachte in einer Art und Weise, die Grace noch nie bei ihr gehört hatte: gehässig. „Nur du kannst ein Friedensangebot mit einer Portion Gewalt verpacken und die eine Person finden, die zu höflich ist, um es abzulehnen. Du lässt doch bloß deinen Frust an ihr aus, weil Nathan dir einen Korb verpasst hat.”

„Du kleine, beschissene Stalkerin, kannst -”

„Luca, hör endlich auf, und du, Charlie, provozier sie nicht”, fuhr Will vom Steuer aus dazwischen.

„Sie hat angefangen”, brummte Charlie neben ihr und steckte sich einen Kaugummi in den Mund.

Das Geräusch, das Will von sich gab, verriet, dass die beiden ihm gerade den letzten Nerv kosteten. „Danke für diese wichtige Information, die mir sonst entgangen wäre, Charlie.”

Schweigen breitete sich aus, während Grace die Frage auf der Zunge brannte, was für Probleme Charlie beim Verwandeln haben könnte.

„Ich habe gesehen, dass MacClaine dir wieder ein neues Buch geschickt hat”, wechselte Will wenig elegant das Thema.

Das Platzen von Charlies Kaugummiblase hallte laut durch den Innenraum. „Hast du das Dämonen-Kompendium schon durch?”, fragte sie und zog sich Kaugummireste von der Nase.

„Fast, ich war abgelenkt von dem Buch ‚100 Arten, einen Dämon schmackhaft zuzubereiten’ und den faszinierenden Bildern darin”, scherzte sie. Bei den schrägen Blicken, die ihr das einbrachte, verdrehte Grace die Augen. „Es ist mehr ein Tagebuch als ein Kompendium”, erklärte Grace ihm jetzt ernst. „Von diesem Typen aus dem letzten Jahrtausend, der die Dämonen gelistet und sogar gezeichnet hat, die ihm über den Weg gelaufen sind. Ich bin ehrlich erstaunt über die diversen Zustände der untersten Kaste und hoffe, dass ich den meisten von ihnen nie über den Weg laufen werde.”

Die Dämonen, vor denen Dan sie damals gerettet hatte, entstammten der untersten Kaste, auch Daeva genannt. Das wusste sie mittlerweile. Sie waren weitestgehend ungefährlich für alle übernatürlichen Wesen, etwas stärker als Menschen und hatten eine absolut hässliche Zweitform, aber sonst blieben ihre Fähigkeiten unspektakulär. So lange man ihnen also nicht als Mensch begegnete so wie sie damals, als sie nach der Arbeit von Daeva angegriffen worden war, waren sie harmlos. Auf selber Stufe befanden sich die Chimären, die wie Vieh gehalten wurden.

Direkt über den Daeva standen die Mandukare. Der Leichenfresser-Putztrupp, die von Druiden wie X erschaffen wurden, wenn sie die Seele eines Tieres in sich aufnahmen. Doch seit die Druiden von den Gargoyles fast ausgerottet worden waren, gab es auch von den Mandukaren viel zu wenig. Überrascht hatte es sie allerdings, dass Vampire und Blutsauger wie Eric über den Mandukaren standen. Sie hatte keine Erklärung oder beschriebene Fähigkeiten, die sie von den Daeva unterschied, dafür gefunden.

„Warum sind Vampire hierarchisch über den Daeva?”, sprach sie ihre Frage laut aus.

Charlie ließ eine weitere Kaugummiblase platzen. „Sie sind im Gegensatz zu den Daeva und Chimären unsterblich und Mandukare haben keine Seele mehr, keine Form von Ich, die sie über die Vampire heben könnte.”

„Hmm.”

Über den Vampiren folgten Wendigos, darüber die Druiden, die laut den Aufzeichnungen einmal die oberste Kaste gebildet hatten. Vor ihrer fast vollständigen Ausrottung. Sukkubi hatten ihnen seither den Platz streitig gemacht.

„Steht etwas über Schattenläufer drin?”, wollte Will wissen.

„Schattenläufer?”

„Ein Mythos”, sprang Charlie ein. „Eine Legende. Es gibt keine Beweise, dass es sie je gegeben hat. Nur Gerüchte.”

„Für Menschen sind auch wir nur ein Mythos”, argumentierte Will.

Lachend wickelte Charlie ihren Kaugummi in ein Taschentuch. „Wenn du jemals ein Einhorn für mich findest, mach mir ein Foto, ja?”

„Was ist denn nun ein Schattenläufer?”, hakte Grace nach.

„Genau das, was der Name impliziert. Es sind Wesen, die sich in jedem Schatten bewegen können. Wie eine weitere Dimension, deren Ausgänge sich in unseren Schatten befinden.” Charlie zuckte die Schultern. „Sie zu Gesicht zu bekommen ist dementsprechend … herausfordernd.”

„Was wollen sie dann in unserer Dimension?”

„Wenn du einen siehst, frag ihn”, schnaubte Luca.

Grace leckte ihren Zeigefinger ab und steckte ihn Luca ins Ohr.

Das Gekreische, das folgte, ließ sie selbstzufrieden grinsen. Entspannt lehnte sie sich in ihrem Sitz zurück und zeigte Luca, die ihre Schimpftirade kaum unterbrach, um Luft zu holen, den Mittelfinger.

Will seufzte genervt und rieb sich mit einer Hand die Schläfe. „Wie konnte ich nur annehmen, von Erwachsenen umgeben zu sein.”

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 2

 

Grace

 

„Ladies und Gentlemen, wir sind da”, verkündete Will Stunden später und parkte das Auto vor einem Hotel.

Grace streckte sich ausgiebig, nachdem sie endlich wieder an die frische Luft kam. Neben ihr blieb der zweite SUV stehen und der Rest des Teams stieg aus.

„Nehmt euch ein Zimmer und wartet hier. Ich treffe mich mit dem Alpha. Seht zu, dass ihr Grace einsatzfähig macht, bis ich zurück bin.” Will zückte sein Handy und marschierte los.

„Ich organisiere uns mal ein Zimmer.” Charlie stahl sich davon.

Luca wandte sich Grace zu und der Zug um ihren Mund ließ sie automatisch die Schultern straffen. „Du tust, was man dir sagt, wenn man es dir sagt, und hinterfragst es nicht. Bleib so nah an uns dran wie möglich, bloß nicht zu nah. Trenne dich unter keinen Umständen von der Gruppe, bleib in Sicht- und Hörweite.”

„Ein gehorsamer, kleiner Soldat, ich weiß.”

„Versuch, nichts Unüberlegtes zu tun, sonst bringst du uns noch alle um.”

Danke für dein endloses Vertrauen. „Keine pseudo-heroischen Aktionen”, stimmte sie trotzdem zu.

„Wenn du etwas entdeckst oder du ein Problem hast, kommunizierst du das und wartest auf Befehle, klar?”

„Glasklar.” Sie hatte nicht vor, einen Alleingang hinzulegen, auch wenn Luca das zu glauben schien.

„Ich meine es ernst, jeder kleinste Fehler könnte die ganze Situation innerhalb von Sekunden brandgefährlich machen. Erschieß einfach niemanden von uns.”

Grace fletschte die Zähne. „Sonst noch was?”

„Piss dir nicht in die Hosen, sonst kannst du nach Hause laufen”, warf T.J. lachend ein.

„Witzig. Wirklich witzig”, murmelte Grace und verdrehte die Augen.

Rack und T.J. holten jeweils zwei große Taschen aus den Kofferräumen, als Charlie kurze Zeit später, mit den Schlüsseln klimpernd, zurückkam.

Drinnen angelangt, verriegelten sie die Tür, zogen die Vorhänge zu und überprüften ein weiteres Mal die Waffen. Sie schlüpfte in ihre Ausrüstung, danach wiederholte sie mit Rack die wichtigsten taktischen Handzeichen wie Halt, Feind, Ducken und Ähnliches.

Sie waren längst fertig, als Will wieder auftauchte, um sie zu instruieren. „Das Labor liegt angeblich direkt unter dem Lake Pontchartrain. Louis, der Alpha, hat einen Deal mit den lokalen Dämonen ausgehandelt, eine Art Waffenstillstand, den er nicht beeinträchtigt haben will. Das heißt für uns, wir gehen rein, holen, was wir brauchen, und verschwinden, ohne Aufsehen zu erregen.”

Grace runzelte unzufrieden die Stirn. Wenn sie nichts unternahmen und nur Daten stahlen, war die Mission in ihren Augen völlig sinnlos. Sie waren hier, um Leute wie Sin oder sie selbst aus diesen Einrichtungen herauszuholen.

„Also eine Geiselbefreiung?”, fragte J.J.

Die Furchen in Grace’ Stirn vertieften sich. „Wie schaffen wir das, ohne Aufsehen zu erregen? Sie werden uns kaum da reinspazieren und ihre Experimente mitnehmen lassen.”

„Es wird keine Geiselbefreiung”, erklärte Will.

Ihre Stimme war gefährlich leise und ließ ihre Missbilligung durchklingen. „Bitte was?”

„Laut Louis ist das Labor für genetische Forschung zuständig, nicht für die Erzeugung besagter Experimente. Er hat mir das Versprechen abgerungen, niemanden zu töten, wenn es nicht absolut notwendig ist.”

Aufgebracht verschränkte Grace die Arme vor der Brust, bevor sie etwas tat, das sie bereuen würde. „Und wenn er sich irrt?”

„Ist mein Versprechen hinfällig und wir tun, was immer notwendig ist.”

„Wonach sollen wir suchen?”, mischte J.J. sich wieder ein und machte eine Kopfbewegung in Charlies Richtung.

„Nach Hinweisen zu anderen Labors, den Gargoyles, allem, was du kriegen kannst.”

„Wir benötigen Zugang zu einem Computer, der an ihr Netz angebunden ist. Danach brauchen wir nur ausreichend Zeit, um die richtigen Daten zu finden und sie zu kopieren, bevor man auf uns aufmerksam wird”, überlegte Charlie laut mit einem konzentrierten Gesichtsausdruck.

„Ein Ablenkungsmanöver?”, schlug T.J. vor.

Will legte den Kopf nachdenklich zur Seite. „Wir teilen uns auf. Ein Team bleibt draußen und wartet auf mein Kommando. Der Rest geht rein und sichert an zwei unterschiedlichen Stellen Computer, damit Charlie und J.J. ihre Arbeit machen können. Sollte einer auffliegen, verschwindet ihr von dort, und der andere kann weiterarbeiten. Sollten beide Gruppen auffliegen, starten wir ein Ablenkungsmanöver und sehen zu, dass alle heil wieder rauskommen.”

„Gruppeneinteilung?”, hakte Luca nach.

„J.J. geht mit Luca und Dino. Charlie mit Eli, T.J. und mir. Rack, du bist außer Übung und bleibst deswegen draußen bei Grace für ein etwaiges Ablenkungsmanöver.”

Ich hätte wissen müssen, dass sie mich nicht mitnehmen. Training hin oder her. Ein Einsatzteam ist immer nur so stark wie das schwächste Glied in der Kette.

„Na toll.” Charlie warf einen giftigen Blick zu Eli, der selbstzufrieden grinste.

„Noch Fragen?” Schweigen und Kopfschütteln waren seine Antwort. „Gut, die Sonne geht gerade unter, also lasst uns aufbrechen.”

Mit einem letzten Blick auf ihr Handy schaltete Grace es auf lautlos. Bei ihrem Glück verpasste sie genau jetzt Nathans Anruf.

 

Daniel

 

Der ganze Clan hatte sich in Menschenform versammelt, als Zeichen von Verletzlichkeit in Ehrerbietung der Toten. Jeder von ihnen war sterblich, egal wie alt sie werden konnten, sie konnten ebenso schnell sterben wie die Menschen.

In einer Sekunde war Mark in der Blüte seiner Jahre gewesen und in der nächsten hatte Dan ihm das Herz aus der Brust gerissen.

Seit Jahrhunderten hatte er nicht mehr das Bedürfnis gehabt, sich zu übergeben. Doch jedes Mal, wenn er an die Hitze von Marks Blut dachte, wie er seinen Herzschlag an den Fingern gespürt hatte, brannte Galle in seiner Kehle.

Dan zog bereits zum fünften Mal an seiner Krawatte, die ihn wie eine Schlinge um den Hals würgte. Trotzdem schob er seine Gefühle beiseite und spürte, wie sich alle Blicke auf ihn richteten, sobald er nach draußen kam. Es war bewölkt und nieselte leicht, untermalte die Stimmung perfekt für die Beisetzung seines kleinen Bruders. Ein paar der Blicke waren verwirrt, ein paar misstrauisch, einige wenige glaubten die Lügen, die er ihnen erzählt hatte, und blieben ihm gegenüber loyal.

Er trat an die Seite seiner Mutter, die nie zuvor so zerbrechlich ausgesehen hatte, und es lag nicht nur an ihrer menschlichen Erscheinung.

Marks Tod hatte sie hart getroffen, härter als sonst jemanden, wie es aussah. An dem Tag, an dem er mit Marks Körper zurückgekommen war, hatte sie ohne Unterlass geschrien. Ihre Klagelaute waren bis heute nicht verstummt.

Die letzte Beerdigung, der er beigewohnt hatte, war Josephines gewesen. An sie zu denken, brachte ihn immer noch um. Selbst nach all der Zeit reichte allein der Gedanke, um ein Loch in seine Brust zu fetzen, das alles andere verschlang. So grausam es auch war, Marks Tod verblasste im Vergleich zu ihrem. Josephines Tod hatte ihn auf fundamentale Art zerstört.

Er hatte seinen Bruder geliebt, aber um Josephine hatte sich sein ganzes Universum gedreht. Seit ihrem Tod war er nicht einmal mehr halb der Mann, der er zu ihren Lebzeiten hatte sein können.

Manchmal hasste er sich dafür, noch am Leben zu sein. Ihren Tod überlebt zu haben. Es kümmerte ihn nicht, dass sie das nicht gewollt hätte.

An Josephine zu denken, ließ ihn immer leer und ausgebrannt zurück. Es war fast eine Erleichterung, die Trauer und den Schmerz um Marks Tod nicht zu spüren. Doch um Erleichterung zu verspüren, hätte er überhaupt etwas fühlen müssen, was in diesem Moment nicht der Fall war.

Es würde ihn später einholen.

Aber zurzeit fühlte er gar nichts. Keine Trauer, keine Schuld und keine Wut über die Ungerechtigkeit.

Elizabeth reagierte nicht, als er ihre Hand nahm. Die fehlenden Gefühle versetzten ihn jedoch in die Lage, die Gesichter um ihn herum zu analysieren, anstatt in seinem eigenen Gram zu ertrinken.

Sein Vater stellte sich neben sie und legte schützend einen Arm um ihre Schultern, woraufhin Elisabeth seine Hand augenblicklich losließ und sich an Franklins Sakko festkrallte. Über ihren Kopf hinweg trafen sich ihre Blicke. Franklin wirkte alt und abgezehrt. Damit hatte Dan nicht gerechnet.

Wie konnte derselbe Mann, der hunderte von Unschuldigen getötet hatte, derart betroffen sein von einem einzelnen Tod? Wäre er auch so erschüttert, wäre Dan an dem Tag gestorben? Oder war es nur, weil Mark in seine Fußstapfen getreten war?

Schließlich traten seine Geschwister, die er beide jahrzehntelang nicht mehr gesehen hatte, zu ihm.

Mit James und Lindsey zu reden, schien ihm dennoch unmöglich. Ihnen Trost zu spenden, fühlte sich an wie Verrat. Also wandte er den Blick von seiner lebenden Familie ab und sah zu, wie Marks Sarg in die Erde gelassen wurde.

Es war seine Schuld. Niemand, der dabei gewesen war, konnte das bezweifeln.

Hätte er die Wölfe nicht dazu überredet, ihn freizulassen, wäre Mark noch am Leben.

Wäre er Len nicht zurück nach Amerika gefolgt, wäre Mark immer noch hier.

Allerdings war es sein Vater gewesen, der Mark in seine Intrigen hineingezogen hatte.

Und dennoch … Dan war für den Tod seines kleinen Bruders verantwortlich. Er allein.

Weil er sich für Len entschieden hatte, anstatt für sein eigen Fleisch und Blut.

Im Bruchteil einer Sekunde hatte Len die Reste seines Lebens zerschlagen und in eine Farce verwandelt.

Nein, nicht Len. Lilith. Er würde ihre Worte nie wieder aus seinem Kopf bekommen.

„Wenn du ihn nicht tötest, nehme ich mir nicht nur ihn, sondern auch die süße, kleine Lenara vor. Mark steht auf Vergewaltigungen. Vielleicht lass ich ihn über deine Freundin drüber, bevor ich mich deinem Bruder zuwende. Glaub mir, ich kann ihn tausendmal mehr leiden lassen als du. Ich kann ihm jeden einzelnen Knochen im Leib brechen, bis er eine schreiende, weinende Masse aus Muskeln, Fasern und Blut ist und trotzdem weiterlebt. Also sag mir, Prinz, wofür du dich entscheidest, denn ich garantiere dir, ich genieße es so oder so.”

 

Der Teufel auf seiner Schulter erinnerte Dan daran, dass er eben diese Wahrheit seiner Familie erzählt hatte, und man hatte ihm nicht geglaubt. Die meiste Zeit über glaubte er es nicht einmal selbst.

Vielleicht war das der Grund, wieso man ihm seine Geschichte nicht abnahm.

Plötzlich trat sein Vater zu ihm und zog ihn in eine Umarmung. Franklin hatte sich ihm gegenüber seit seiner Rückkehr stets feindselig verhalten. Hatte seine Wut an ihm ausgelassen, sobald er nur den Raum betreten hatte. Ein weiterer Grund, warum er sich gut vorstellen konnte, dass seinem Vater sein Tod lieber gewesen wäre.

Der Schock, so fest von ihm umarmt zu werden, brachte ihn dazu wieder etwas zu fühlen.

„Ich liebe dich, Sohn.”

Mit dem Geschmack von Galle im Mund legte er die Arme um seinen Vater und starrte über dessen Schulter auf das Grab seines Bruders.

 

Grace

 

Grace war, genau wie ihre Wölfin, in höchster Alarmbereitschaft, während sie den Fortschritt der beiden Teams auf einem Tablet verfolgte. Rack stand, Gewehr in den Händen, neben ihr Schmiere und sicherte den Ausgang. Nicht dass Rack sie dafür gebraucht hätte. Mitzukommen war eine dumme Idee gewesen. Wenigstens war sie mal aus dem Haus gekommen. Sie hätte sich nur überlegen sollen, was sie glaubte, damit erreichen zu können, denn helfen konnte sie hier definitiv nicht.

„Wie es aussieht, ist jeder Raum, den sie bisher betreten haben, leer. J.J. arbeitet schon an einem der Computer, aber seinem Gesichtsausdruck zufolge sieht es nicht gut aus”, berichtete Grace leise in Racks Richtung, um ihn auf dem Laufenden zu halten, während er den Ein- bzw. Ausgang nicht aus den Augen ließ.

Kurz darauf meldete Will sich über Funk. „Gebäude gesichert. Rack, Grace, ihr könnt reinkommen.”

Grace verstaute das Tablet in ihrem Rucksack, zog ihre Glock und folgte Rack nach drinnen. Sie stießen auf J.J. und sein Team, bevor sie Charlies erreichten.

„Alles in Ordnung?”, fragte Rack in Charlies Richtung und senkte die Waffe.

„Sie wurden gewarnt”, murmelte sie wütend, während sich ihre Finger ohne Unterlass über die Tastatur bewegten.

„Grace, geh und sieh dir einen der Computer in den anderen Räumen an. Spart uns Zeit und ich bezweifle, dass noch irgendwelche Daten übrig sind”, richtete J.J. sich an sie und marschierte davon.

Unsicher glitt ihr Blick zwischen Charlie und Will hin und her. „Ist das nicht gegen das Protokoll oder so was? Was ist, wenn ich unabsichtlich etwas lösche? Oder einen Virus starte oder so ein Scheiß?”

„Ich dachte, du stehst auf der nerdigen Seite des Lebens, Schätzchen. Mit Computerspielen und all dem Kram”, antwortete T.J. ihr grinsend.

„Ja, aber nerdig zu sein, macht mich nicht zur Expertin, um sensible Daten von einem Computer zu bekommen.”

„Sieh einfach nach, ob du überhaupt eine Festplatte finden kannst und sich der Computer starten lässt”, winkte Charlie ab.

„Bleib in Hörweite”, befahl ihr Will im Hinausgehen.

Der Raum, den sie betrat, war erstaunlich aufgeräumt, dafür dass die Dämonen nicht viel Zeit gehabt haben konnten, um zu evakuieren. Nichts wirkte durcheinander oder fehl am Platz, aber sie hatte keinen Schraubenzieher, um das Gehäuse der Computer zu öffnen, die sie fand.

„Ich hab kein Werkzeug, wollt ihr, dass ich die PCs trotzdem vom Strom nehme?”, brüllte sie.

Die Antwort über Funk war ein klares Ja, also machte sie sich an die Arbeit und stellte die Computer, einen nach dem anderen, auf den Gang. Hätte sie Hilfe, würde es schneller gehen, doch Grace hielt es für klüger, sich in derartige Entscheidungen nicht einzumischen. Ihr fehlte sowieso die Erfahrung in solchen Situationen, um eine sinnvolle Einschätzung treffen zu können.

Im dreizehnten Raum angekommen, fiel ihr Blick nun schon zum dritten Mal auf eine leere Wand, während sie das letzte Kabel abzog. Zunächst war ihr nicht klar, was sie so irritierte, bis ihr auffiel, dass es der einzig freie Platz im Raum war. Rundum waren die Wände durch Regale oder Tische verstellt. Ruhelos trat sie näher an die Stelle und starrte darauf. Nachdenklich spitzte Grace die Lippen, ehe sie aus einem Impuls heraus zurück unter den Tisch kletterte, wo sie den PC abgesteckt hatte. An der Unterseite klebte ein Kaugummi, den sie bei ihrer Räumungsaktion entdeckt hatte. Ihr Reinigungs-Tick hätte sie vor einem halben Jahr gezwungen, den widerlich pink-grauen Klumpen zu entfernen. Diesmal jedoch griff sie aus einem völlig anderen Grund nach einem Stift und kratzte den Kaugummi herunter. Darunter war ein Knopf verborgen, den sie, ohne lange nachzudenken, drückte. Plötzlich nahm sie eine Bewegung im Raum wahr. Hastig rutschte sie unter dem Tisch hervor.

Ein zufriedenes Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als sie sah, dass sich die leere Wand geöffnet hatte und einen weiteren Raum freigab. Abrakadabra, Sesam, öffne dich?

„Leute?”, brüllte sie, ohne sich vom Fleck zu rühren.

„Was ist?”, wollte Luca offensichtlich genervt über Funk wissen.

„Hier ist eine Geheimtür”, gab sie durch und stand auf.

T.J. trat in den Raum, seine Augen wurden groß, als er ihre Worte bestätigt sah. „Bleib hinter mir”, verlangte er von ihr, sein Gewehr im Anschlag.

Grace zog ihre eigene Waffe und folgte ihm in völlige Dunkelheit. Die schwache Beleuchtung, die hinter ihnen in den Raum fiel, erschwerte das Sehen. T.J. schaltete das taktische Licht auf seinem Gewehr ein und leuchtete den Weg zu einer Treppe.

Ihre Haare richteten sich auf, sobald sie die erste Stufe nach unten stieg. Um Ruhe bemüht, atmete sie langsam und gleichmäßig durch die Nase. Doch der nächste Atemzug ließ sie all die Gerüche wahrnehmen, die von unten heraufwehten. Sie sollte T.J. sicherheitshalber warnen, für den Fall, dass am Ende der Treppe jemand auf sie lauerte. Vorsichtig berührte sie ihn an der Schulter und als er sie ansah, tippte sie sich auf die Nase und zeigte dann die Treppe runter.

T.J. formte Zeigefinger und Daumen zu einem O, um ihr zu sagen, dass er verstanden hatte, ehe er sein taktisches Licht wieder abschaltete. Es dauerte etwas, bis Grace’ Augen sich weit genug umgestellt hatten, um wenigstens Schemen im Dunkeln erkennen zu können. Auf leisen Sohlen stiegen sie die Treppe hinab. Eine Hand an die Mauer gestützt, tastete sie die Wand nach einem Schalter ab und fand ihn. Aus einem Reflex heraus drückte sie darauf und flutete den Raum mit Licht.

T.J. fluchte lautstark und schob sich direkt vor sie, die Waffe im Anschlag.

„Sorry”, entschuldigte sie sich kleinlaut. Sobald ihre Augen nicht mehr von der gleißenden Beleuchtung tränten, stockte ihr Atem.

Der Raum, in dem sie jetzt standen, war mindestens hundert Quadratmeter groß und voller Käfige.

Käfigen mit Dingen darin. Tiere, Dämonen, Wölfe, Gargoyles.

In geschockter Stille starrten sie darauf, bis Grace sich hinter T.J. hervordrängte und in eine der Reihen marschierte. Fassungslos trat sie an einen der Käfige heran, in dem ein Wolf lag. Schnell realisierte sie, dass der Wolf, der aussah, als würde er schlafen, nicht atmete. Ihr Blick glitt durch den Raum, bis ihr klar wurde, dass keiner der Insassen ein Lebenszeichen von sich gab. Die Käfige waren gerade groß genug, um die Lebensformen nicht zu quetschen, und waren in drei Reihen nach oben hin gestapelt.

T.J. hatte den Raum in der Zwischenzeit gesichert und trat neben sie. „Was zum Teufel ist das?”, flüsterte T.J., der auf ein Reh blickte, das fledermausartige Flügel hatte. Er aktivierte den Funk. „Boss? Den Mist solltest du dir ansehen.”

„Verstanden.”

Fast ehrfürchtig griff T.J. nach den Gitterstäben und versuchte, die Tür zu öffnen, jedoch ohne Erfolg.

„Es muss Schlüssel geben”, sprach Grace ihren Gedanken laut aus.

„Ich geh rauf und seh zu, ob ich etwas finde”, antwortete er gepresst und ließ sie stehen.

Sie tat ihr Bestes, um die Ruhe zu bewahren, obwohl es ihr schwerfiel, denn die Käfige erinnerten sie an ihre Zeit in Franklins Kerker. Ihre Brust fühlte sich schwer an, als sie die Käfige abging, um wenigstens ein Wesen zu entdecken, das noch am Leben war.

Die Dämonen hatten die einzigen Zeugen ihres Tuns getötet. Aber wie? Wie kann man so viele Kreaturen ohne Blutbad töten? Offensichtlich ohne einen gebrochenen Knochen im Leib?

Ein Teil der Käfige war zu hoch angesiedelt, um sie ohne Leiter zu erreichen. Vielleicht haben sie Gas benutzt, überlegte sie. Gas stieg auf, also wäre es unwahrscheinlich, dass die oberen Reihen überlebt hatten, wenn es die untersten nicht geschafft hatten. Die wenigen Gargoyles in den Käfigen waren im schlimmsten Zustand. Sie sahen verhungert aus, die Haut eingefallen, dass man jeden einzelnen Knochen sehen konnte.

„Nicht schießen”, brüllte T.J. zu ihr herunter, ehe sie seine Schritte hörte.

„Hast du die Schlüssel gefunden?”

Er klimperte damit in seiner Hand, das Gewehr mit einem Gurt über die Schulter geschlungen.

Ihr Blick glitt nachdenklich zur Decke. Keine Ventilatoren. Keine Klimaanlage. Wie zur Hölle haben die das gemacht? Wenn es Gas gewesen wäre, wie kommt es dann, dass die Luft so klar ist?

„Probier es bei einem der Käfige in der hinteren Ecke”, bat Grace, ohne ihm etwas von ihrer Vermutung zu erzählen. Doch möglicherweise war das ein Fehler. „Wie glaubst du, haben sie die alle getötet? Ich sehe keine Ventilatoren oder Klimageräte.”

„Vielleicht haben sie allen eine Überdosis verpasst.”

„Kommt mir doch etwas ineffizient vor, im Vergleich zu all dem hier”, murmelte sie.

„Beth kann sie später checken.”

„Was zum Teufel will Beth mit einem Haufen Leichen?”, fragte Grace spitz, weil ihr die Frau ein Dorn im Auge war, seit sie sich direkt vor ihr an Nathan rangemacht hatte.

T.J. lachte sie ohne Verlegenheit aus. „Na ja, sie ist gelernte Pathologin, Schätzchen.”

Grace machte ein unzufriedenes Geräusch. „Nennst du jeden Schätzchen oder bin das nur ich?”, erkundigte sie sich sarkastisch und erntete einen weiteren Lacher. Ein Teil ihrer Anspannung löste sich.

„Nope, sorry, Schätzchen. Kein Privileg nur für dich.”

„Dachte ich mir schon.”

„Lasst euch bloß nicht bei der Arbeit stören”, ertönte es von den Stufen, als Will hereinkam. „Was ist das?”

„Laborratten. Oder Gargoyles oder Werwölfe, oder was auch immer das Ding mit Haaren und Flügeln ist”, antwortete T.J.

„Sind sie alle tot?”

„Sieht ganz danach aus”, stimmte T.J. zu, der damit begann, einen Käfig nach dem anderen zu öffnen.

„Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Sin, die alle Insassen tötet, oder sie von vornherein alle tot aufzufinden.”

„Wir sollten die anderen Räume ein weiteres Mal durchgehen und sehen, ob es mehr solcher Verstecke gibt”, schlug Grace vor.

Sie fanden tatsächlich zwei weitere Räume. Einer war im selben Zustand wie der erste, eine große Anzahl Käfige, eine ebenso große Anzahl toter Tiere, Biester und Hybriden. Aber im dritten Versteck lebten die meisten noch. Doch sie sahen ausgehungert und schwach aus.

„Was können wir tun?”, fragte sie in die Runde und beobachtete eine Mixtur aus Katze und Wolf. „Wir können sie nicht an die Menschen übergeben und ich bezweifle, dass ein einfacher Tierarzt überhaupt helfen könnte.”

Will hatte bereits das Handy am Ohr, als er ihr antwortete. „Wir können die Normalen in ein Tierheim bringen, für die anderen, sofern sie überleben, müssen wir ein übernatürlicheres Zuhause finden.” Sein Blick richtete sich nach innen. Anscheinend hatte jemand abgehoben. „Louis, wie wäre es, wenn du mir erklärst, warum niemand hier ist? … Ach komm schon, den Mist kannst du jemand anderem erzählen, du hast sie gewarnt. Im Übrigen kann ich dir voller Freude mitteilen, dass sich deine freundlichen Dämonen aus der Nachbarschaft an den Experimenten beteiligen … Woher ich das weiß? Ich stehe gerade vor einer Reihe Käfige, in denen Kreaturen gefangen gehalten wurden, die die Welt noch nicht gesehen hat!”

Grace blendete das weitere Gespräch aus, während das restliche Team die Lebewesen nach draußen beförderte. Ihre Aufmerksamkeit galt der kleinen Katzen-Wolf-Mixtur, die sie aus ihrem Käfig hob und vorsichtig streichelte. Sie hatte rot-braune, kurze Haare, Schlappohren, die viel zu groß für den kleinen Kopf wirkten, Schnurrhaare, schwarze, vertrauensselige Augen und zitterte am ganzen Leib. Grace sprach leise vor sich hin, um sie zu beruhigen, doch das bewirkte nur, dass das kleine Tier an ihrem Oberkörper nach oben kletterte und sich um ihren Hals wickelte, als hinge sein Leben davon ab.

„Louis organisiert Tierärzte und Transporte”, sagte Will laut, nachdem er aufgelegt hatte.

Ihre Augenbrauen wanderten in die Höhe, während sie innerlich bei dem schnurrenden Geräusch dahinschmolz, das das Fellknäuel gerade von sich gab. „Und wir vertrauen ihm?”

„Wir müssen uns darauf verlassen, dass Louis seine Naivität bereut und einsichtig genug ist, um nicht weitere dumme Fehler zu begehen. Davon abgesehen bleiben wir noch eine Weile hier, bevor wir nach Philadelphia fahren, und können die Prozedur im Auge behalten.”

Die Art und Weise, wie Will das sagte, machte Grace schnell klar, dass Louis bei seinem nächsten Fehler ein oder zwei Köpfe kürzer werden würde.

Stunden später überreichte Grace ihre kleine Last an eine freundliche Ärztin und blickte dem winselnden Welpen-Kätzchen nach, als Luca zu ihr trat.

„Wofür glaubst du, haben sie sie gemacht?”

Luca zuckte die Achseln. „Vielleicht haben sie versucht, Lebewesen zu züchten, die Vampire und andere Dämonen ernähren können und sie von den Menschen unabhängig machen.”

„Oder sie wollten eine neue überlegene Rasse erschaffen, um den Krieg gegen die Gargoyles zu gewinnen”, schlug T.J. vor und lehnte sich mit dem Arm auf Grace’ Schulter.

Charlie wischte ihre Hände an den Oberschenkeln ab und machte eine Kopfbewegung zum Parkplatz. „Ich habe die Festplatten schon ins Auto geladen. Mit etwas Glück finde ich darauf brauchbare Informationen.”

 

Lilith

 

„Ich war sehr geduldig mit dir, Frank. Du hast bekommen, was du wolltest, und der Beweis dafür wächst in deiner Frau heran. Warum also muss ich immer noch darauf warten, dass du deinen Teil der Abmachung erfüllst?”

Er stand da, als hätte er den weltgrößten Stock im Arsch. „Ich bin sicher, du hast in der Zwischenzeit ausreichend Hybriden, um deine Vampire für Generationen mit Blut zu versorgen.”

Mit einer wegwerfenden Handbewegung überging sie seinen Einwand. „Du hattest nur eine Aufgabe, Frank. Meine Tochter zu mir zu bringen. Ich habe es dir so leicht gemacht, dir gesagt was du tun musst, um sie auf dich aufmerksam zu machen. Wie du sie aus dem Versteck locken kannst. Trotzdem hast du versagt und ich muss mir berichten lassen, dass du entgegen meiner Erwartungen nichts unternimmst, außer mit deiner Familie Händchen zu halten.”

„Mein Sohn ist tot”, zischte er, die Anschuldigung war klar in seinem Gesicht zu lesen.

„Ich bin sicher, dass du mir dafür die Schuld gibst, anstatt deinem verräterischen Sohn Daniel und der Hure, die zu töten du nicht in der Lage warst, als du sie bereits in deinem Kerker hattest. ”

Wenn sich seine Schultern noch weiter verspannen, bricht er sich noch das Kreuz, überlegte sie amüsiert.

„Daniel –”

„Ist mit leeren Händen zu dir zurückgekehrt”, fuhr sie ihm ungeduldig dazwischen. „Aber gütig wie ich bin, gebe ich dir eine letzte Chance, Frank. Meine Tochter wird von einem alten Freund gesucht und wenn er sie gefunden hat, wird Liliane ihn zu Lenara begleiten. Höchstwahrscheinlich werden sie gemeinsam einen Plan aushecken, um zuerst dich und dann mich zu beseitigen.”

Liliane schien tatsächlich zu glauben, dass sie nicht wüsste, wo sich ihre einzige Tochter aufhielt, nur weil sie ihr nicht mit wehenden Fahnen hinterhergelaufen kam. Aber warum sollte sie sich die Finger schmutzig machen, wenn Nate das ganz von selbst für sie regeln würde. Er würde sie finden, aufhetzen und zu seinem Herzblatt Lenara schleifen.

„Wenn es so weit ist, wird Jinx sich mit dir treffen und die Vorkehrungen treffen, damit uns diesmal keiner von ihnen durch die Lappen geht. Ich würde dir empfehlen, mich nicht wieder zu enttäuschen, Frank.”

Seine Kiefer mahlten aufeinander, aber er nickte ihr zu.

„Gut.” Sie trank ihr Glas aus und erhob sich. Der Seidenschlafmantel, den sie trug, klaffte dabei auf und entblößte ihre Haut, während sie auf ihn zuschritt. Ihr Lächeln war schadenfroh, als sie sah, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten.

Gemächlich ließ sie einen lackierten Fingernagel über seinen Brustkorb gleiten, ehe sie ihn umrundete. Sie mochte es, wie nervös er in ihrer Gegenwart wurde, sobald er nackte Haut sah. „Du weißt, dass ich dafür sorgen kann, dass du es genießt.” Sie blieb vor ihm stehen und packte ihn im Schritt, sodass er zusammenzuckte, obwohl sein Schwanz unter ihrer Hand in kürzester Zeit steif wurde. „Hast du deine Frau auch so angebettelt wie mich, dich zu ficken, Frank?” Lilith liebte es, ihn zu provozieren, er war gut ausgestattet, aber widerspenstig. Doch den besten Sex hatten sie immer dann, wenn er wütend wurde und sie brutal und rücksichtslos fickte, als könnte er sie damit bestrafen.

Statt einer Antwort starrte er stoisch geradeaus.

Lilith lächelte selbstzufrieden, denn das Einzige, das Franklin noch aufrecht hielt, war seine Sturheit und sein Unvermögen einzusehen, wann er verloren hatte.

„Leg dich aufs Bett, Frankie.”

 

 

 

 

 

 

Kapitel 3

 

Lilly

 

„Emma, du musst Florida verlassen”, sagte Lilly durchs Telefon. „Nein, ich scherze nicht. Ja, es ist ernst. Dämonen wie Gargoyles drehen hier durch und wir sind nur eine Haaresbreite davon entfernt, in einen Krieg zu geraten, den selbst die Menschen mitbekommen müssen. Wenn du eines der anderen Mädchen kontaktieren kannst, dann tu es bitte und sage ihnen, was ich dir gesagt habe.” Für eine Weile hörte sie der Teenagerin zu. Vor zwei Jahren hatte sie die Wolf-Dämon-Hybridin vor Dämonen gerettet und fühlte sich seitdem für sie verantwortlich. „Sei vorsichtig, tauche unter und ruf mich nicht an, außer es ist wirklich notwendig. Wenn sich die Dinge beruhigen, melde ich mich bei dir.”

Seufzend sah sie zu Francois hinüber und ließ sich auf die heruntergekommene Couch neben ihn fallen. „Das war die letzte von ihnen.”

„Gut. X hat angerufen, hat wohl ein gerettetes Experiment im Schlepptau und scheint vorerst nicht vorzuhaben zurückzukommen.”

„Wenigstens einer von uns macht sich noch die Mühe, unser Ziel zu erreichen.”

„Sei nicht so hart zu dir selbst.”

„Bin ich nicht, ich –” Sie wurde vom Klingeln ihres Handys unterbrochen. „Ja?”

„Na, das hat ja eine Weile gedauert. Hallo, Göre.”

Der Griff um ihr Smartphone festigte sich. „Ich weiß nicht, wie du an diese Nummer gekommen bist. Ruf nie wieder an”, befahl sie in ihrem eisigsten Tonfall.

„Das kann ich nicht machen, Lill’, nicht einmal, wenn ich es wollte”, meinte Nate und das Timbre seiner Stimme ließ ihr Herz einen Schlag aussetzen.

Sie hasste ihn dafür. Abrupt legte sie auf und schaltete ihr Telefon aus.

„Wer war das?”

„Niemand.” Sie hörte Francois seufzen und warf ihm einen genervten Blick zu. „Was?”

„Der Einzige, den du jemals ‚niemand’ nennst, ist Nate. Was wollte er?”

„Was immer er mir nach all den Jahren zu sagen hat, ich will es nicht hören. Nicht jetzt, nicht später, niemals”, zischte sie.

„Niemals ist eine sehr lange Zeit, um an Groll festzuhalten”, tadelte Francois sanft.

„Es hat nichts damit zu tun, dass ich einen Groll gegen ihn hege. Er hat überreagiert.”

Eine Augenbraue hob sich spöttisch auf Francois’ Gesicht. „Und du nicht?”

„Fein! Dann bin ich eben nachtragend. Es interessiert mich nicht, wie kindisch das ist. Er hat nicht einmal angerufen, nachdem er mich bei euch abgeladen hatte. Er hat nicht ein einziges Mal nach meinem Wohlergehen gefragt. Wenn er sich einen Scheiß um mich schert, scher ich mich einen Scheiß um ihn.”

„Vielleicht wird es langsam Zeit, dass ihr zwei euch darüber aussprecht, was damals passiert ist”, gab er zu bedenken.

Aufgebracht sprang sie auf und ging zur Tür. „Kein Interesse.” Als sie die Tür aufriss, fiel ihr die Kinnlade herunter.

„Hey, Göre. Lange nicht gesehen.”

Nate stand direkt vor ihr, die Hände in den Hosentaschen, während ein halbseitiges Grinsen seinen Mund umspielte

Lilly handelte, bevor sie darüber nachdachte, und schmetterte ihm ihre Faust ins Gesicht.

Zumindest war es das, was sie vorgehabt hatte, aber sie hatte ihre Intention anscheinend zu offensichtlich gemacht, denn er wich mit Leichtigkeit aus.

„Probier das noch mal, und ich schlage zurück”, knurrte Nate, seine Haltung nicht mehr so entspannt wie zuvor, die Hände außerhalb der Hosentaschen zu Fäusten geballt.

O ja, Nate ist angepisst, dachte sie und ihre Stimmung hellte sich auf. „Wirklich? O bitte, tu mir den Gefallen und versuch es”, zwitscherte sie zuckersüß.

„Hör auf”, unterbrach Francois und zog sie in den Raum. „Nate, komm rein.”

„Klar.” Er schritt an Lilly vorbei, als hätte er keine Sorgen auf der Welt. „Wir müssen reden”, meinte er kurz angebunden und setzte sich auf die Couch, als würde der ganze verdammte Raum ihm gehören.

Gott, der Mann treibt einen zur Weißglut. „Wir müssen nicht zuhören”, antwortete sie, nur um ihn zu ärgern.

„Lilith ist letztens aufgetaucht und hat einen Haufen Gargoyles umgebracht.” Er machte eine dramatische Pause, als würde es Lilly auch nur im Geringsten kümmern, ob Gargoyles starben. „Markus MacClaine wurde getötet.”

„Eh oui, das erklärt, warum halb Florida in Aufruhr ist”, kommentierte Francois überrascht.

Lilly schnaubte ungehalten. „Ist mir scheißegal. Ein toter MacClaine ist ein guter MacClaine, wenn es nach mir geht.”

„Obwohl ich dir da recht geben muss, bezweifle ich, dass Lilith es dabei belassen wird.”

„Noch mal”, erinnerte sie ihn ätzend, „nicht mein Problem.”

„Früher oder später wirst du dich ihr entgegenstellen müssen.”

„Was geht dich das an? Warum die plötzliche Sorge nach all den Jahren? Was hat sich geändert?”

„Nichts. Jetzt ist genauso gut wie zu jedem anderen Zeitpunkt. Sie hat sich zurück aufs Spielfeld begeben, also begeben wir uns auch aufs Brett und sprengen sie in Stücke, bevor sie die halbe Menschheit zusammen mit den Gargoyles umbringt.”

„Ähm, hallo? Ich bin ein Dämon. Ich gebe einen feuchten Kehricht auf Menschen oder Gargoyles.”

„Singt immer noch dieselbe Strophe, ja?”, fragte Nate in Francois’ Richtung.

Der warf die Hände defensiv in die Luft. „Zieh mich nicht in euren Streit mit hinein.”

„Wenn es für dich gleich ist, wieso schließt du dich dann nicht deiner Mutter an? Vereinigt euch, macht Freunde und erobert die Welt?”, bohrte er in Lillys Richtung gewandt nach.

„Hallo? Sie hat versucht, mich umzubringen!”

„Und wir alle wissen, wie nachtragend du sein kannst, aber ernsthaft, warum wirfst du dich ihr nicht zu Füßen, entschuldigst dich für deine Fehler und bittest deine liebste Mami, dich wieder aufzunehmen? Als loyale Dienerin?”

„Das würde sie nie tun und das weißt du. Sie denkt, ich bin eine Gefahr für sie und ihr mächtiges Königreich an Dämonensklaven. Deshalb wollte sie mich umbringen”, zischte Lilly.

„Exakt.”

Sie hasste es, wenn er das tat. Ein Argument anbringen mit etwas, das sie selbst gesagt hatte.

„Sie hat Angst vor dir und es wird Zeit, dass du ihr einen richtigen Grund dafür gibst”, fuhr Nate fort.

„Ich will nicht, dass sie Angst vor mir hat!”

„Natürlich nicht. Du willst, dass deine Mami dich liebt”, spottete er.

„Du Hurens-”

Abrupt stand Nathan vor ihr, fast Nase an Nase. „Vorsicht.”

„Ihr zwei seid unglaublich”, beschwerte Francois sich und machte eine ausholende Geste. „Ihr streitet euch wie –”

„Sag es nicht”, unterbrach Nate ihn barsch.

Francois verdrehte die Augen. „Wie ein altes Ehepaar”, gab er nach und brachte sowohl Lilly als auch Nathan damit zum Schnauben. „Also, was genau willst du, das wir tun?”

 

Grace

 

„Hallo, Eli.” Grace schloss die Tür zu seinem Zimmer und lehnte sich dagegen. Nachdem sie früh morgens zurückgekommen waren, hatte sie sich bei Eli absetzen lassen.

Die Zwei-Zimmer-Wohnung in Tallahassee war nicht besonders groß, aber der Ausblick über die Stadt machte das allemal wett. Während die anderen, abgesehen von Elis aktuellem Aufpasser, wahrscheinlich schon in ihren Betten lagen, um sich auszuschlafen, kam sie, zu rastlos um sich hinzulegen, her. Eli hatte den einzigen Raum bekommen, den man als Schlafzimmer verwenden konnte. Doch es war spärlich eingerichtet. In Grace’ Augen wirkte es wie eine gemütlichere Variante einer Zelle. Jedes Mal, wenn sie mit Will darüber diskutierte, biss sie auf Granit. Die Alternative, ihn im Haupthaus im Sumpf unterzubringen, lehnte Will wegen des Risikos für die Kinder und sein gesamtes Rudel ab. Auch für die restliche Stadtbevölkerung, wie er ständig betonte, weswegen immer mindestens ein Aufpasser in der Wohnung blieb, um Eli am Kommen und Gehen zu hindern.

„Wie geht es dir heute?”

Wolfsaugen sahen ihr aus einem menschlichen Gesicht entgegen. Menschlich, sofern man die Reißzähne und haarigen Ohren ignorierte.

Mehrmals setzte er an, etwas zu sagen, und in seiner Mimik erkannte sie, wie schwer es ihm fiel, sich zu konzentrieren. „Heute ist schlechter Tag.”

„Das tut mir leid. Luca hat mich auf eine Idee gebracht, die dir vielleicht helfen könnte.” Der Griff um den Laptop in ihren Händen festigte sich, ehe sie sich langsam auf ihn zubewegte. Elis Instinkte zu triggern, war nicht immer ungefährlich, weswegen sie ruckartige Bewegung in seiner Gegenwart vermied. „Möchtest du es versuchen?”

Er machte ein Geräusch, eine Mischung aus Schnauben und Knurren, das sie unter normalen Umständen als Ablehnung interpretiert hätte. Doch sie kannte Eli mittlerweile gut genug, um es als Zustimmung zu interpretieren. Wenn er nicht einmal ein einfaches Ja herausbrachte, war es wirklich kein guter Tag für ihn.

Eli schlief nicht in dem Bett, das bis vor Kurzem in seinem Zimmer gestanden hatte. Also hatte man nur die Matratze zurückgelassen, um mehr Platz zu schaffen. Auf der saß er jetzt und beobachtete jede noch so kleine Bewegung, während sie sich in akzeptabler Entfernung in den Schneidersitz gleiten ließ. Den Laptop im Schoß klappte sie den Bildschirm hoch, startete das Video auf YouTube und drehte es so, dass Eli es sehen konnte.

Beruhigende Musik erklang und eine sanfte Stimme begann mit Instruktionen. Elis Ohren verwandelten sich in die eines Wolfes und richteten sich aufmerksam nach vorn. Seine Aufmerksamkeit zu gewinnen, war nicht das Problem. Sie zu halten schon.

Vorsichtig stellte Grace den Laptop vor Elis Matratze ab und merkte, wie ihre Wölfin die Ohren spitzte. Vielleicht schaffte sie es, auf diese Weise selbst zur Ruhe zu kommen.

„Wer ist das?”

„Eine Werwölfin namens Sunny. Sie hat sich darauf spezialisiert, Wölfen wie uns bei der Entspannung zu helfen.” Charlie hatte sie ihr empfohlen, nachdem Grace ihre Idee im Auto mit ihr besprochen hatte. Sunny hatte die richtige Musik und Technik gefunden, selbst dem aggressivsten Wolf zur Ruhe zu verhelfen, und hatte ihr Wissen über Yoga und Meditation genutzt, um eine wolfkompatible Version zu schaffen. Die Menschen ahnten davon nichts, denn sie drehte ihre Videos immer als Mensch, nur ihre Methoden waren ungewöhnlich.

„Versuch, es ihr einfach nachzumachen, und wenn du aufhören möchtest, sagst du es mir, ja?” Sie fand es wichtig, dass Eli stets das Gefühl hatte, die Kontrolle zu haben.

„Ja.”

Sie lächelte automatisch und verbuchte es als kleinen Erfolg, dass er seine Zustimmung diesmal richtig verbalisiert hatte. Während Eli gebannt das Video ansah, kramte sie ihr Handy hervor, nur um es seufzend wieder wegzustecken. Sobald sie hochsah, starrte Eli sie geradewegs an.

„Noch immer nichts?”

Sie zog eine Grimasse. „Nein.”

„Kein guter Lebenspartner.”

Das war definitiv kein Gespräch, das sie mit Eli führen wollte. Schon gar nicht, wenn er sie so konzentriert ansah. Sie hatte absolut keine Lust zu interpretieren, was sein Blick zu sagen schien.

„Konzentrier dich lieber auf das Video, Casanova.”

Er fletschte die Zähne und knurrte. „Eli.”

Grace unterdrückte den Drang, die Augen zu verdrehen, und bemühte sich um Geduld. „Ich weiß. Das war eine Redensart.”

„Du hast mehrere Partner?” Er sah sie angewidert an und wich mit seinem Oberkörper nach hinten.

„Gott, nein! Eli, können wir dieses Gespräch darauf verschieben, wenn du es geschafft hast, eine Form anzunehmen?” Sie versuchte, auf sehr erbärmliche Art und Weise Zeit zu schinden, weil sie keine Lust hatte, ihm derlei Dinge beizubringen. Sie würde sich nur um Kopf und Kragen reden, im schlimmsten Fall Eli zu etwas ermutigen, was nicht infrage kam. Im Labor hatte er regelmäßig Sex bekommen. Der ‚Entzug’ bekam ihm nicht gut. Als seine Ohren menschlich wurden, stieg Grace die Röte ins Gesicht. Sie hatte sich zwar seit Wochen darum bemüht, ihn zu motivieren, aber ganz sicher nicht so. „Eli? Was tust du?”

„Konzentrieren.”

Seine Reißzähne verschwanden, seine Unterarme wurden normal.

„Äh, Eli … nicht dass ich es nicht zu schätzen weiß, aber ich bin für dich tabu”, erklärte sie ihm hastig.

„Ich stärker, du wirst sehen”, knurrte Eli, die Muskeln angespannt, der Blick angestrengt, während er sich Stück für Stück mehr in einen Menschen verwandelte.

„Eli, stopp! Du interpretierst da etwas völlig falsch!”

„Ich verwandle mich und dann können du und ich -”

„Nein!” Sie brüllte fast und fuhr sich nervös durch die Haare. Es lag nicht an ihr. Sie wusste das. Eli hatte früher oder später mit jedem weiblichen Wesen, das den Raum betreten hatte, versucht ‚anzubandeln’. Es lag eine Art Verzweiflung darin. Als wäre Sex das Einzige, das ihm helfen konnte – die Lösung all seiner Probleme. „Nein, ganz sicher nicht. Egal ob du dich vollständig verwandelst oder nicht. Ich gehöre zu Nathan.”

Schlagartig verschwand jeder Fortschritt, als wäre ein Gummiband überspannt worden und gerissen. Seine Wolfsaugen fixierten sie jetzt auf völlig andere Weise. Spätestens nachdem er ihr seine Reißzähne ins Gesicht hielt, war klar, dass er weder entspannt noch unter Kontrolle war.

Vorsichtig darauf bedacht, keine ruckartigen Bewegungen zu machen, kam sie in die Hocke – über ihm zu stehen, war das letzte Signal, das sie aussenden wollte. Sie begann ein Lied zu summen, das einzige, das ihr einfiel, und es hätte nicht unpassender sein können. I just can’t wait to be king. Sie hätte Hakuna Matata, Circle of Life oder sonst irgendein Lied aus König der Löwen wählen können, aber nein – ihr Gehirn versorgte sie mit einem der fröhlichsten Lieder, dessen Rhythmus kaum zur Entspannung einlud.

Es überraschte sie daher kaum, dass Eli sich drohend auf sie zubewegte, während sie langsam zur Tür zurückwich.

Grace musste nicht nachsehen, um zu wissen, dass sie die Tür niemals rechtzeitig aufbekommen würde, bevor er sie angriff. Aber sie hatte keine echte Wahl.

Sie versuchte es trotzdem.

Blitzschnell richtete sie sich auf, hechtete zur Tür und riss sie auf, als sich Elis Zähne in ihren Unterarm bohrten.

Sie schrie. Ein Schrei, der von Schmerz in eine Kampfansage überging, bevor sie ihren Arm weiter in sein Maul drückte und ihn damit zwang, seinen Biss zu lockern. Er war in einer entsetzlichen Horrorgestalt, nicht völlig Wolf, aber definitiv nicht mehr das aufrechte Skelett eines Menschen. Über ihn gebeugt drängte sie ihn nach hinten und ignorierte die Qual, die ihren blutenden Arm bis zur Schulter hinaufwanderte. Schließlich holte sie mit der anderen Hand aus und schlug ihm mit der Faust auf die Schnauze, dann seitlich gegen sein Maul.

Erst nachdem sie ihm auf die Augen geboxt hatte, ließ Eli los. Abrupt rannte sie nach draußen und knallte lautstark die Tür zu.

Ein Gewicht krachte Sekunden später von innen dagegen, während sie noch den Griff in den blutüberströmten Fingern hielt.

Jetzt erst bemerkte sie, wie schnell ihr Atem ging.

Zu schnell.

Ihr wurde schwindlig, also zwang sie sich, langsamer zu atmen. Mühsam schleppte sie sich zur Couch und weckte die Wache, damit sie ihr half.

 

***

 

„Ah, verdammt!” Zischend riss sie ihren Arm weg.

„Halt still”, schnaufte Charlie ungeduldig, die Pinzette mit dem von Jod getränkten Wattebausch zwischen den Fingern. „Vielleicht kapierst du jetzt, warum Boss dagegen ist, dass wir allein zu ihm reingehen.”

Widerwillig legte sie ihren Unterarm wieder auf den Tisch und krallte ihre Finger in die Tischkante, während Charlie ihre Behandlung fortsetzte. „Jaja. Es war trotzdem den Versuch wert.”

„Hat es wenigstens etwas gebracht?”

„Bis er abgelenkt wurde – ja.”

Sie seufzten beide und warfen sich dann schelmische Blicke zu.

„Bist du eigentlich gegen Tollwut geimpft?”, fragte Charlie.

Grace sah sie fassungslos an. „Ach, Scheiße. Ist das dein Ernst? Ich dachte, ihr habt ihn durchgecheckt?”

„Hey, ich bin kein Arzt. Denelle ist auf irgendeinem Fortbildungskurs und kommt erst in einer Woche wieder.”

„Ich weiß nicht, warum alle überhaupt so ein Aufheben darum gemacht haben. Sobald ich mich verwandle, ist das hier Schnee von gestern.”

„Du kannst gerne mit den hysterischen Müttern diskutieren, ob Wunden desinfiziert werden müssen, bevor du dich verwandelst. Ich bin nicht diejenige, die gebissen wurde und aussah, als hätte sie Schaum vorm Mund, kaum dass ich hier ankam.”

Grace verdrehte die Augen. „Ich habe keine Tollwut und ich hatte ganz sicher keinen Schaum vorm Mund. Ich bin auch nicht die Erste, die gebissen wurde. Das hier ist total lächerlich.”

Wieder und wieder tupfte Charlie auf der Wunde herum. „Schadet nicht, auf Nummer sicher zu gehen, und sei es um des lieben Friedens willen.”

„Deswegen sitze ich ja hier und lass mich von dir quälen. Bist du endlich fertig? Du hast gefühlt die ganze Flasche verbraucht, während du eine halbe Packung Watte dazu benutzt hast, um mein Innerstes nach außen zu kehren und abzuschaben.”

„Soll ich pusten? Willst du Schokolade, weil du so brav stillgehalten hast?”

„Was ist dir eigentlich über die Leber gelaufen? Ich krieg langsam das Gefühl, Luca sitzt mir gegenüber.”

Charlie seufzte schwer, warf den Wattebausch in den Mülleimer und erhob sich, um sich die Hände zu waschen. „Ich bin einfach nur müde. Ich habe verdammt gut geschlafen, bis mich dein Anruf geweckt hat, weißt du?”

Grace machte ein ungläubiges Geräusch, während sie sich mühsam aus ihren Klamotten schälte. Als sie die Verwandlung hinter sich gebracht hatte und angezogen war, stand Charlie ans Waschbecken gelehnt da und starrte gedankenverloren ins Leere.

„Was ist?” Vorsichtig betastete sie ihren jetzt wieder unversehrten Arm.

Abwehrend schüttelte Charlie den Kopf. „Ich fahre zurück und hau mich aufs Ohr. Solltest du auch tun.”

„Aye, aye, Captain.” Grace salutierte in gespieltem Ernst, ehe sie Charlie zum Auto folgte.

Das fehlende Adrenalin ließ sie auf dem Weg zurück zum Haupthaus und ihrem Zimmer gähnen. Rack war in New Orleans geblieben, also hatte sie das Bett für sich allein.

Erschöpft ließ sie sich darauf fallen und starrte an die Decke. Ihre Finger tasteten automatisch nach ihrem Handy und steckten es einen Augenblick später ans Ladegerät.

Immer noch keine Nachricht von Nathan.

Das Blutbad im Sumpf der Everglades erschien vor ihrem geistigen Auge. Die Leichen und das, was sonst noch übrig gewesen war.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich unangenehm, bis sie sich schließlich aufsetzte.

Ruhe tat ihr nicht gut.

Bevor sie sich die Gelegenheit gab, zu grübeln und sich in Selbstmitleid zu baden, stand sie auf.

Sie war müde, aber zu aufgekratzt. Jetzt schlafen zu gehen, würde in blutigen Albträumen enden, auf die sie verzichten konnte.

Ruhelos verließ sie ihr Zimmer und dann das Haus, um auf einen der riesigen Bäume im Garten zu klettern. Nachts war der Ausblick jedoch bei Weitem schöner, wenn sie über die Lichter der Stadt hinwegsehen konnte.

Vom Inneren des Gebäudes aus hörte sie Kinderlachen und Gekreische und musste an Lisa denken. Jamies kleine Schwester, deren Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Besonders Lisa war ihr ans Herz gewachsen, nachdem sie nachts zu ihr ins Bett gekrochen war, wann immer Albträume Grace geweckt hatten. Wie viel Zeit war vergangen, seit sie sie das letzte Mal gesehen hatte? Ein Monat oder sogar schon zwei? Wie schnell Werwölfe in dem Alter wuchsen, hatte sie in den wenigen Monaten, die sie mit ihrem Rudel verbracht hatte, bereits gemerkt. Jetzt so viel Zeit von ihrer Entwicklung zu verpassen, saß wie ein Dorn in ihrem Fleisch.

Vermisste Lisa sie? Oder hatte sie sie bereits vergessen? Wenn Wochen in ihrem Wachstum wie Monate vergingen, was war dann mit ihren Erinnerungen?

Was hatte sie in ihrer Abwesenheit alles verpasst? Hatte Fiona es doch noch geschafft, von Cameron schwanger zu werden? Hatte Sira endlich einen Wolf gefunden, den sie interessant fand? Wer entstaubte Malcolms Bücher, wenn sie nicht da war?

So viel zum Thema ‚nicht grübeln’. Dachtest du, die frische Luft löst die Verspannung in deinen Schultern von allein? Vögel zwitschern, die Sonne scheint und all der Scheiß, und du sitzt hier und bläst Trübsal.

Grace verzog das Gesicht und rollte mit den Schultern, als würde das irgendetwas nützen.

„Komm da runter.” Die Stimme unter ihr sorgte für die notwendige Ablenkung von ihren trüben Gedanken. T.J. stand, die Arme vor der Brust verschränkt, in einiger Entfernung und starrte zu ihr nach oben. „Wenn dich eine der Wölfinnen erwischt, oder du eines der Kinder auf dumme Ideen bringst, müssen wir alle darunter leiden.”

Gott, ich vermisse mein Rudel und die Tatsache, dass keiner von ihnen auch nur halb so hysterisch ist, wie es die Mütter in Wills’ zu sein scheinen.

Mit einem Blick nach unten schätzte sie die Distanz ab und hielt es dann doch für besser, nicht zu springen.

Sie begann herunterzuklettern. „Hast du nach dem Einsatz wirklich Wachdienst aufgebrummt bekommen?”

„Habe mich freiwillig gemeldet.”

Als die Höhe nicht mehr zu gebrochenen Knochen führen würde, sprang sie das letzte Stück zu Boden und richtete sich auf. „Wieso das?”

„Wahrscheinlich aus demselben Grund, aus dem du noch wach bist, Schätzchen”, schlug er vor und setzte sich in Bewegung.

Grace hielt automatisch mit ihm Schritt. „Du warst nicht dabei”, entwich es ihr stupide, weil ihre Gedanken zu dem verhängnisvollen Tag im Sumpf zurückkehrten.

T.J. sah sie abschätzend an. „Wobei?”

Seufzend rieb sie sich die Schläfe. „Das Gemetzel im Sumpf.”

„Das ist es also, was dich umtreibt. Ich dachte schon, es wäre Herzschmerz und all der Mist wegen Nate.”

Grace zuckte die Schultern. „Eine Mischung aus Nathan, Sin, meinem Rudel, dem Massaker im Sumpf, dem, was wir in New Orleans gefunden haben, und all dem andern Scheiß, der gerade so abgeht.”

„Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann. Den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.”

„Bist du gläubig oder nur anonymer Alkoholiker?”, fragte sie, bevor sie sich bremsen konnte.

„Weder noch, Schätzchen. Aber ist ein verdammt gutes Motto fürs Leben.”

Grace zog eine Grimasse und schnaubte hämisch. „Vor einem halben Jahr war mein Motto noch ‚Heute ist ein guter Tag’. Zumindest hab ich mir das eingeredet, selbst wenn man mir die Faust ins Gesicht geschlagen hat.”

T.J. lachte auf und drehte sich um, sodass er rückwärtsging. „Im Grunde genommen also genau dasselbe.”

„Tja, mir fehlt ganz offensichtlich die Weisheit. Denn ich sehe in keinem der Bereiche Dinge, die ich verändern kann.”

„Nein? Dann hast du doch deine Antwort.” Schmunzelnd drehte er sich wieder um und marschierte weiter.

„Also doch die Gelassenheit, die mir fehlt?”

„Schätzchen, du kannst nicht ändern, dass Nate sich nicht meldet, auch wenn du noch so oft auf dein Handy starrst”, kommentierte er, während sie es aus der Hosentasche zog.

„Ja, ja, ich weiß. Ich kann es einfach nicht lassen.”

„Hast du ihm schon geschrieben?”

„Nein”, murrte sie und steckte ihr Handy weg.

„Na bitte, das ist etwas, das du ändern kannst. Und wenn du dein Rudel so sehr vermisst, warum bist du dann hier?”

Abrupt erstarrte sie. „Was?”

T.J. verschränkte die Hände hinter seinem Kopf und sah sie mit seinem geduldigsten Blick an. „Schätzchen, du hast mir gerade erklärt, dass du nichts ändern kannst. Im Umkehrschluss heißt das, du hast hier nichts zu tun und kannst das Nichtstun genauso gut zu Hause bei deinem Rudel machen.”

Seine Idee gefiel ihr so gut, dass ihr den Mund offen stehen blieb. Bis ihr einfiel, warum das nicht ging. „Damit bringe ich mein Rudel in Gefahr.”

„Nichts für ungut, aber das sind sie sowieso. Das Zuhause deines Rudels zu finden, ist nur eine Frage der Zeit und wenn es so weit ist, können sie jede Hilfe brauchen, die sie kriegen. Gargoyle gegen Gargoyle erscheint mir besser als Wolf gegen Gargoyle. Oder glaubst du wirklich, dass sie sie nicht als Druckmittel gegen dich verwenden würden?”

Alles in ihr protestierte lautstark und suchte nach Argumenten, warum sein Vorschlag nicht funktionieren konnte. „Willst du mir weismachen, dass all meine Zeit hier und mein Versuch, meine Familie zu beschützen, für die Katz waren?”, entfuhr es ihr wütend.

„Keine Ahnung, war es das?”, fragte er gelassen, wenn auch provokant zurück. Sein süffisantes Lächeln ließ sie aufbrausen.

„Scheiße, nein! Verdammt, wir sind aus zwei Gründen hergekommen, um die Gargoyles von meiner Familie wegzulocken und um die Ursache für meine Flashbacks zu finden.”

„Ersteres ist nicht mehr notwendig, weil sie direkt bedroht und involviert wurden. Nicht von dir, sondern von den Gargoyles. Letzteres wiederum hat sich erledigt. Was also hindert dich daran?”

Sie setzte bereits zu einer Erwiderung an, nur um dann sprachlos den Mund wieder zuzuklappen. Sie wagte es kaum zu denken, umso schwerer fiel es ihr, es auszusprechen. „Ich kann nach Hause?”

„Wenn du einen Weg findest, es unter dem Radar der Gargoyles zu tun – klar, wieso nicht?”

Ihre Augen brannten, ihr Atem stockte und spontan umarmte sie T.J. und drückte ihn so fest, bis er ein ächzendes Geräusch von sich gab. In einer befangenen Geste tätschelte er ihr die Schulter, bis sie ihn losließ. Das strahlende Lächeln, das sich in ihrem Gesicht ausbreitete, ging in das erste unbeschwerte Lachen seit einer gefühlten Ewigkeit über. „Oh, mein Gott, ich fasse es nicht – du hast recht. Warum nur bin ich nicht früher darauf gekommen? Ich muss sofort Rack anrufen!” Überschwänglich hüpfte sie auf und ab. „T.J., dafür schulde ich dir was.”

„Alles, was du sagst, Schätzchen”, meinte er lachend.

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 4

 

Grace

 

Grace schlief wie ein Stein. Nicht einmal Lucas schlechte Laune machte ihr etwas aus, als sie sich später zum Training trafen. Sie hatte Rack nicht erreicht und fragte sich langsam, ob etwas mit ihrem Handy nicht stimmte, oder ob die ganze Welt beschlossen hatte, nicht mehr abzuheben, wenn sie anrief.

Aber davon ließ sie sich nicht unterkriegen. Sie sprudelte förmlich über vor Energie und Tatendrang. Alles, was ich jetzt noch tun muss, ist, einen Weg zu finden, wie ich nach Hause kommen kann, ohne dass die Gargoyles es mitkriegen.

„Hat Nate endlich angerufen?”, fehlinterpretierte Luca ihre Stimmung.

„Nein.” Diesmal wich das Grinsen nicht einmal aus ihrem Gesicht. „Ich kann nach Hause.” Ja, gute Idee. Benimm dich, als wärst du drei und ein bisschen schwachsinnig. Das kommt bei Luca immer total gut an.

„Okay, nein. Weißt du was? Ich will es gar nicht wissen. Lass mich dir erst wieder etwas Verstand einbläuen.”

Luca und ihr Training waren ‚speziell’. Sie trainierten im Freien, in normaler Kleidung, nicht in Trainingsklamotten, und Verwandlungen waren für Grace nicht erlaubt. Auch mehrere Stunden danach nicht. Luca wollte, dass sie lernte, Schmerz auszuhalten und weiterzumachen. Egal ob sie blutete oder gebrochene Knochen hatte. Manchmal fühlte es sich wie ein Kampf auf Leben und Tod an. Wahrscheinlich war das genau das, was Luca bezweckte.

Außerdem half es ihnen, Druck abzulassen. Gestoppt wurde erst, wenn Luca aufgab oder Grace ohnmächtig wurde. Je nachdem was vorher eintrat.

Zwei Stunden später war Grace schweißgebadet, drecküberströmt und ihre Wölfin hatte keine Geduld mehr übrig.

„Steh auf”, knurrte Luca.

Schnaufend kam Grace auf die Füße und duckte sich vor Lucas nächstem Schlag, der sie dennoch an der Schulter streifte.

Die vielen Schläge, die sie mit bloßen Fäusten ausgeteilt hatte, hatten ihre Knöchel aufplatzen lassen. Ihre Nase war mal wieder gebrochen und blutete ebenso wie ihre aufgeplatzte Unterlippe. Im Moment konnte sie sich nicht vorstellen, dass eine Verwandlung all die wunden Stellen, die Hämatome und Schmerzen heilen würde. Aber Luca ließ nicht locker und kämpfte unerbittlich weiter, obwohl sie selbst aufgerissene Mundwinkel und so manchen blauen Fleck davongetragen hatte. Ihr linkes Auge begann zuzuschwellen und aus der Platzwunde an der Stirn lief ein Blutrinnsal über ihre Schläfe herab.

Schweiß tränkte ihre Kleidung, vermischte sich zu einer rotbraunen Farbe.

Grace drückte sich aus der Hocke hoch, schlug Luca dabei in den Bauch, doch sie verlor das Gleichgewicht und fiel dabei direkt auf sie.

Schmerzenslaute und Gefluche begleiteten Grace, die sich beeilte, von Luca runter- und außer Schlagweite zu kommen. Statt eines Schlags trat Luca ihr die Beine weg, brachte sie schmerzhaft zu Fall. Ihre Ellbogen dämpften ihren Aufprall und gleichzeitig fuhr Schmerz bis in ihre Fingerspitzen, die sich für wenige Sekunden taub anfühlten.

Schwankend rappelte sie sich auf und griff Lucas Handgelenk, als diese ausholte. Grace ließ blitzartig los, boxte Luca in den Bauch und packte ihre Kniekehle, um sie wieder zu Boden zu bringen.

Von da an wälzten sie sich über die Erde, schlugen, traten, bissen, kratzten und rissen sich gegenseitig an den Haaren. Beide waren völlig außer Atem und doch war keine bereit, nachzugeben und das Handtuch zu werfen.

Als Grace es schaffte, Luca den Ellbogen ins Gesicht zu rammen, was eine neue Fontäne Blut zur Folge hatte, gab Luca einen erstickten Laut von sich, ehe sie mit der flachen Hand zweimal auf den Boden klatschte.

„Genug”, gurgelte sie und spuckte Blut, bevor sie sich zur Seite drehte und noch in der Bewegung verwandelte, um als Wölfin auf die Füße zu kommen. Lucas weißer Wolf schüttelte sich kräftig durch, während Grace auf dem Rücken lag und damit beschäftigt war, nach Luft zu schnappen.

Jeder einzelne Knochen im Leib tat ihr weh. Vorsichtig betastete sie ihre Nase und biss sich die Zunge blutig, als sie sie geraderichtete. Röchelnd riss sie einen weghängenden Stofffetzen von ihrem Shirt ab und stopfte ihn sich, schmutzig wie er war, in die Nase.

Ihre Stimme klang entsprechend ungesund, als sie sich an Luca wandte. „Wann sagtest du, brecht ihr nach Philadelphia auf?”

Die starrte sie kommentarlos aus Wolfsaugen an, mit einem hämischen Grinsen im Gesicht, das Grace ihr gerne ein weiteres Mal ausgeschlagen hätte. Sie hatte nicht wirklich eine Antwort erwartet. Lucas Waffenstillstand bestand in Wahrheit nur darin, keine echten Waffen zu benutzen, während sie sich gegenseitig die Seele aus dem Leib prügelten. Sie wollte gar nicht wissen, was Nathan dazu zu sagen hätte, wenn er sie jetzt sehen könnte.

„Ich werde jede Sekunde deiner Abwesenheit genießen”, murmelte Grace und schloss die schmerzenden Augen.

 

Lilly

 

„Und ich sage es noch mal: Das kann er sich abschminken!” Wütend schritt Lilly in dem Hotelzimmer auf und ab.

„Mon cher.” Das Kosewort war von einem schweren Seufzen begleitet.

„Nein! Ich kämpfe nicht seinen Krieg für ihn, nur weil er es allein nicht hinbekommt!”

„Es ist auch dein Krieg.”

„Und genau da irrt ihr euch! Ich kenne meine Mutter und –”

„Und trotzdem glaubst du weiterhin, dass sie dich verschonen würde”, unterbrach Francois sie mit finsterer Miene. „Sei nicht so naiv. Oder hast du schon vergessen, dass Nate es war, der dich vor ihrem Mordversuch gerettet hat?”

„Natürlich nicht!”

Als wäre dieser Tag für sie so einfach zu vergessen. Nate war damals ihr Aufpasser gewesen, während er in den Diensten von Lilith gestanden hatte, und er schien jede einzelne Minute davon gehasst zu haben. Aber obwohl er schon so oft deutlich gemacht hatte, wie sehr er sie verabscheute, hatte er sie jedes Mal gerettet, war immer für sie dagewesen, wenn es darauf ankam. So auch an dem Tag, an dem sich alles für sie verändert hatte.

 

27 Jahre zuvor

 

„Mama?”

„Ich habe dir schon tausendmal gesagt, du sollst mich nicht so nennen. Warum hörst du nie auf das, was ich sage? Ich habe dir wieder und wieder erklärt, mich beim Namen zu nennen”, wütete Lilith.

„Es tut mir leid. Es ist nur … Irgendwas ist seltsam, Ma- Lillu”, korrigierte sie sich.

„Was ist seltsam?” Ihre Mutter sah nicht einmal hoch, sondern lackierte unbeirrt ihre Zehennägel.

„Ist dir aufgefallen, dass mich die Leute in den letzten Tagen komisch angesehen haben?” Normalerweise wäre sie wegen so einer Kleinigkeit nie zu Lilith gegangen. Aber es trieb ihr die Gänsehaut über die Arme, die Art und Weise, wie sie dauernd beobachtet wurde, und so hatte sie sich nach vier Tagen des Starrens endlich durchgerungen, Lilith um Rat zu fragen.

Plötzlich schnellte der Kopf ihrer Mutter nach oben. „Angesehen?”, wiederholte sie.

„Ja, sie starren mich an. Es ist schon fast gruselig.”

Der Blick, mit dem Lilith sie jetzt fixierte, sorgte dafür, dass sich ihr Magen schmerzhaft zusammenzog. Sie unterdrückte den Schauer, der ihren Rücken herunterzulaufen drohte.

„Du glaubst doch nicht, dass es daran liegt, dass ich mich vor ein paar Monaten in eine Gargoyle verwandelt habe, oder?”

„Sei nicht dumm, Kind. Natürlich nicht. Wir alle wussten, dass das eines Tages passieren würde.” Der Ton ihrer Mutter war in keiner Weise beruhigend. Im Gegenteil, die Art, wie sie es sagte, machte Lilly zusätzlich nervös.

„Geh und stell dich dort drüben in die Ecke”, verlangte ihre Mutter plötzlich und zeigte zu der Stelle, die von der Tür am weitesten entfernt und fast uneinsehbar war.

„Warum?”

„Weil ich es so sage.”

Danach wagte Lilly es nicht mehr zu sprechen und gehorchte.

„Köter!”

In dem Moment, in dem er den Raum betrat, beschleunigte sich Lillys Herzschlag.

Seine Mimik war wie sonst auch dunkel und Unheil verkündend und er behandelte sie immer noch wie ein kleines Mädchen. Aber er hatte sie unzählige Male gerettet. Sie wurden in einer gewissen Regelmäßigkeit angegriffen und sie war bereits des Öfteren entführt worden. Trotzdem war er jedes Mal nachgekommen und hatte sie nach Hause geholt.

„Du hast gerufen?”, antwortete er Lilith in einem sarkastischen Ton, den nur er in ihrer Gegenwart riskierte. Er sah nicht einmal in Lillys Richtung. Und er hatte ihr bis heute nicht seinen Namen verraten. Was sie in den Wahnsinn trieb. Sie war sogar so weit gegangen herumzufragen, aber es schien, als ob niemand seinen echten Namen kannte. Alle benannten ihn stets nur nach dem, was er war.

„Danke, du kannst gehen. Schick jemand anderen herein”, verlangte Lilith ohne weitere Umschweife.

Er kommentierte das seltsame Verhalten ihrer Mutter nicht. „Irgendjemand Bestimmten?”

„Nein. Ist mir egal. Jedermann tuts.”

Als er sich zum Gehen wandte, trafen seine Augen, für ungefähr eine halbe Sekunde, auf Lilly.

Matthew kam kurz darauf herein. Ein Vampir, mit Haaren bis zum Hintern. Ihrer Meinung nach sah er viel zu hübsch aus für einen Mann.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752138603
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Urban Fantasy Fantasy Liebesroman Gargoyles Werwölfe Fantasy Romance Romantasy Liebesroman Liebe

Autor

  • Dominique Heidenreich (Autor:in)

Meine Bücher, genau wie ich, haben einen Hang zu Sarkasmus und schwarzem Humor. Trotzdem: Ohne Liebe und Romantik komme ich persönlich genauso wenig aus, wie ohne Happy-End. Ich mag meine Geschichten fernab von Kitsch und tue mein Bestes meinen Protagonistinnen ein Rückgrat zu verpassen, das sie nicht beim ersten Anblick eines Mannes vergessen. Egal ob sie in dieser Welt spielen, einer fantastischen Umgebung oder auf fremden Planeten.
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Titel: Lenara: Der Pfad des Blutes