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Die geheimnisvolle Reise der Kaja D.

von Nora Gold (Autor:in)
467 Seiten

Zusammenfassung

Ein Mann, eine Frau und ein dunkles Geheimnis ...

Ghostwriterin Kaja Dorn lernt an der Nordsee Moritz Rosemann kennen, einen attraktiven und erfolgreichen Anwalt, der sie vom ersten Moment an fasziniert, aber auch verunsichert. Denn es geht etwas Dunkles von ihm aus, das Kaja Angst macht. Als Moritz ihr überraschend anbietet, ihn nach Schottland zu begleiten, um dort gemeinsam seine Lebensgeschichte zu schreiben, nimmt sie dennoch den großzügig bezahlten Auftrag an. In Schottland gerät Kaja immer tiefer in eine Situation, die schließlich in einer Katastrophe endet. Doch der eigentliche Albtraum beginnt für Kaja erst, als sie auf ihrer Flucht in ein altes Haus in Edinburgh kommt, dessen Besitzer sie in eine fremde und unheimliche Welt führen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1.

 

Edinburgh, Schottland

 

Dass ich Moritz umgebracht habe, war kein Zufall, sondern die logische Folge der vorangegangenen Ereignisse. Das war das einzig Tröstliche daran. Dass das Unfassbare vom Standpunkt der Logik wenigstens einer Gesetzmäßigkeit unterlag. Denn die Logik gab die Schritte vor, sie sagte: wenn, dann. Mir half sie, die ersten Stunden nach Moritz‘ Tod zu überstehen. Bis zu dem Moment, in dem jede Logik außer Kraft gesetzt schien.

Meine Beziehung zu Moritz war von Anfang an etwas Besonderes gewesen. Ira behauptete, Moritz sei mein Schicksal. Große Worte waren schon immer typisch für sie. Ira kannte auch nicht Moritz‘ Geheimnis. Und jetzt war er schon vierundzwanzig Stunden lang tot. Vielleicht auch länger. Mein Zeitgefühl war seitdem vollkommen in Unordnung geraten. Rastlos lief ich durch die Straßen in dieser fremden Stadt und überlegte, was als nächstes zu tun sei. Aber mein Kopf war leer und ich konnte keinen zusammenhängenden Gedanken fassen. Außerdem wurde der Schmerz in meinem Arm langsam unerträglich. Zwischendurch machte mich mein Magen immer wieder lautstark darauf aufmerksam, dass ich seit fast zwei Tagen nichts mehr gegessen hatte. Und kaum etwas getrunken. Ich musste unbedingt in eins dieser Restaurants gehen. Danach würde ich weitersehen.

2.

 

An der Nordsee - ein paar Wochen früher

 

Ich hatte Moritz an einem Sommertag kennengelernt. Einem stürmischen Sommertag, um genau zu sein. Ich war wieder auf der Insel, wie mehrmals im Jahr. Es waren immer nur ein paar Tage, eine ganze Woche war schon echter Luxus. Natürlich wohnte ich nicht in einem der teuren Hotels. So viel warf die Agentur schließlich nicht ab, dass ich mir das hätte leisten können. Vielleicht kam das später noch.

Diesmal hatten die Sonnengierigen jedenfalls Pech gehabt. Der Himmel an diesem Teil der Nordseeküste war grau und blieb es. Dazu war es kalt, obwohl der Frühsommer längst begonnen hatte. Es stürmte seit dem Tag meiner Ankunft, wie mir die Hotelbesitzerin schon zweimal unter die Nase gerieben hatte. Als hätte ich den wolkenverhangenen Himmel vom Festland mitgebracht. Vermutlich erntete ich darum kaum Blicke, wenn ich morgens den Frühstücksraum betrat. Ich war schuld am geflohenen Sommer.

Mich störte das Wetter kaum, ich war trotzdem den ganzen Tag über draußen. Nur wenn die Regenschauer zu heftig wurden, ließ ich mich mit den wenigen anderen Unerschrockenen vom Strand zurück ins Trockene fegen. Die Restaurants, Cafés und Bars waren so voll, dass es an ein Wunder grenzte, noch einen Platz zu ergattern. Vor allem die Bars waren beliebte Auffangbecken und fast jeder, der hier landete, fand einen Grund, Prosecco oder noch lieber Champagner zu trinken. Dabei wurde viel und erfolgreich geflirtet. Wenn auch die meisten dieser Kontakte auf dem Festland keinen Bestand hatten.

Ich wollte nicht flirten, sondern am Strand wandern, am liebsten kilometerweit, und den Wellen zuschauen, wie sie sich an stürmischen Tagen überschlugen und in windstillen Zeiten friedlich auf dem Sand ausliefen. Und abends wollte ich noch ein Glas Wein trinken und dabei Pläne für den nächsten Tag schmieden. Meine letzte Beziehung hatte mich einiges an Kraft gekostet. Wie meistens. Darum hatte ich mir an meinem ersten Abend auf der Insel den feierlichen Schwur gegeben, meine Energie von jetzt an lieber in die Agentur zu stecken. Zumindest in den nächsten Monaten.

Tom und ich hatten unsere Beziehung inzwischen erfolgreich in eine Freundschaft verwandelt. Zu meiner Überraschung war mir das leichter gefallen als Tom. Es hatte wohl sein Ego gekränkt, dass ich nicht wochenlang mit verquollenen Augen herumgelaufen war. Doch ich war wirklich nicht traurig über das Ende unserer Beziehung. Außerdem erfüllte Tom die Rolle des guten Freundes viel besser als die des Partners. Bei seinen Freundschaften war er treu. Eigentlich hatte mich Toms notorisches Fremdgehen auch zu unseren Beziehungszeiten nie tief getroffen. Das mochte daran liegen, dass ich ihn nicht wirklich geliebt habe. Wir waren ein schönes Paar gewesen, wie Ira und sogar meine Eltern immer betont hatten. Doch für mich war Tom wahrscheinlich immer nur ein guter Freund gewesen.

An diesem Tag gab es fast nur Regenperioden. Besser gesagt, die Sonne ließ sich überhaupt nicht blicken. Am Strand waren noch weniger Menschen als an den Tagen zuvor. Auch ich hatte einen Moment überlegt, direkt in eins der schönen Cafés zu gehen und es mir dort mit einem Buch, ganz viel Cappuccino und roter Grütze gemütlich zu machen. Dann zog es mich aber doch wieder zum Strand hinunter. Es war gerade Flut, sodass ich durch den hohen Sand wandern musste. Ich entschied, mit dem Wind zu gehen. Dann bekam ich den Regen zumindest nicht ins Gesicht.

Ich sah Moritz schon von Weitem. Im Gegensatz zu mir lief er gegen den Wind und musste sich richtig anstrengen. Dabei sah er wild und bildschön aus vor den sich aufbäumenden Wellen. Der Wind zerrte an seiner Kleidung und drückte den Stoff immer wieder an seinen Körper, sodass ich erkennen konnte, wie durchtrainiert er war. Moritz‘ Gesichtsausdruck war düster, aber seine Haltung war lebendig und zeigte etwas Jungenhaftes. Bestimmt schaute er wegen des schlechten Wetters so miesepetrig drein, dachte ich damals. Klar, dass ich das dachte. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt ja noch nichts von ihm.

Er trug Jacke und Leinenhose, beide waren schwarz. Die Schuhe trug er in der Hand, sodass seine nackten Füße Abdrücke im Sand hinterließen. Seine Kleidung schien typisch für die Insel. Wer dazugehören wollte, demonstrierte, dass er sich Klamotten leisten konnte, deren Preis so hoch war, wie die Monatsgehälter der meisten anderen Menschen. Beispielsweise einer Kassiererin oder einer Freiberuflerin mit Agentur für Pressearbeit und Marketing. Wie ich. Mein Monatsgehalt reichte nicht einmal für so eine Jacke, ganz zu schweigen von der passenden Hose dazu. Aber meine finanzielle Situation war eindeutig meine Schuld. Ich hatte unbedingt Philosophie studieren müssen, gegen den Rat meiner gesamten Familie und meiner Freunde. Und wofür? Um anschließend Sätze sagen zu können, dass wir durch Zufall und ohne vorherbestimmten Sinn ins Leben geworfen würden. Das stammte von Sartre. Ungefähr zumindest. Und es hatte mich im letzten Schuljahr vor dem Abi so beeindruckt, dass ich es unbedingt studieren wollte. Wie sehr hatte ich damals meine Freunde bedauert, die Logopäden, Juristen, Verwaltungsangestellte und Zahnmediziner wurden. Würden sie heute meinen Kontostand kennen, wäre es an ihnen, mich zu bedauern. Aber heute glaubte ich auch nicht mehr an Zufälle. Dafür waren die Gesetze der Logik zu klar und nachvollziehbar. Logisch eben. Dies war zumindest eine sinnvolle Erkenntnis aus meinem Philosophiestudium. Darum würde ich auch nie mehr sagen, dass wir zufällig in dieses Leben und in unsere Situationen geworfen werden. Hätte Sartre erlebt, was ich mit Moritz erlebt habe, hätte er bestimmt seine Theorie geändert. Aber ich schweife ab.

Es lag wohl an Moritz‘ Blick, dass er Menschen auf Anhieb beeindruckte. Das ging nicht nur mir so, wie ich noch feststellen sollte. Sein Blick schien bis auf den Grund der Seele zu schauen, selbst wenn Moritz einen gar nicht ansah. Seine Augen fielen schon aus der Entfernung auf. Ich ertappte mich an diesem stürmischen Nachmittag sogar bei dem Gedanken, dass ich ihm folgen und ihn wie zufällig ansprechen könnte. Und dieser Gedanke verursachte bei mir eine Unruhe, die mir bislang unbekannt war.

Nachdem Moritz und ich aneinander vorbeigelaufen waren, ohne, dass mich sein Blick auch nur gestreift hätte, wanderte ich noch eine halbe Stunde lang tapfer durch den nassen, hohen Sand. Erst als ich vollkommen durchgefroren und nass war, beschloss ich, den Strand zu verlassen und auf dem Dünenweg zurückzugehen. Das ging deutlich schneller. Der Grund, warum ich bis auf die Haut nass war, lag an meiner Regenjacke, die über die Nähte den auftreffenden Regen bereitwillig ins Jackeninnere weiterleitete. Bei den Edeljacken, die man hier in den einschlägigen Geschäften kaufen konnte, passierte solch ein Malheur natürlich nicht.

Nach zwanzig Minuten erreichte ich mein Lieblingsrestaurant, ein Holzhaus mit einer riesigen Fensterfront zur Meerseite. Es war nah an die Düne gebaut und lag auf halber Höhe zwischen Strand und Promenade. Ich liebte es. Nirgendwo sonst auf der Insel konnte man das Tosen und Stürmen des Meeres so direkt von einem warmen Platz aus beobachten.

Als ich den Raum betrat, waren alle Tische besetzt. Enttäuscht wollte ich schon wieder gehen, als mir eine junge Frau etwas zurief, das ich im allgemeinen Lärm nicht verstand. Sie gehörte zu einem dunkelhaarigen, attraktiven Mann, der jetzt aufstand und auf seinen Platz deutete. Erfreut nickte ich den beiden zu und bahnte mir einen Weg an den anderen Gästen vorbei. Die beiden zogen bereits ihre Jacken an. Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, wie der Mann dabei wie zufällig die linke Brust der Frau streifte. Die Frau grinste ihn kurz an und sprach dann auf einen dieser großen, unglaublich schmalen Hunde ein, der dösend unter dem Tisch lag. Der Hund richtete sich daraufhin zur vollen Größe auf. Sein helles Fell schimmerte nass, was ihn noch schmaler erscheinen ließ.

Als das Paar mit dem Hund an mir vorbeiging, lächelte mir die Frau noch einmal freundlich zu und ich lächelte tapfer zurück. Der Anblick glücklicher Paare im Urlaub war trotz allem für mich nicht wirklich angenehm. Ein schneller Check in den Raum bestätigte das übliche Bild. Ich saß wieder einmal als Einzige allein an einem Tisch. Zum Glück hatte ich meinen Roman griffbereit im Rucksack. Mein kleiner Retter. Ich setzte mich auf den Platz, auf dem zuvor der Mann gesessen hatte - die Sitzfläche war noch warm - und sah nach draußen auf die immer stürmischer werdende See. Die Wellen hatten jetzt hohe weiße Schaumkronen und brachen sich schon weit draußen.

Der Kellner kam und ich bestellte ein Glas Rotwein, dazu einen großen Salat. Der Rotwein würde mich müde machen und bei diesem Wetter war Schlafen nicht die schlechteste Idee. Ich zog mein Buch aus dem Rucksack und lehnte mich zurück. Draußen heulte und fegte der Wind um die Holzwände und übertönte sogar die Gespräche im Raum. Schon nach wenigen Minuten war ich in der Geschichte, einem Thriller, der von Seite zu Seite spannender wurde. Es passierte selten, dass mich eine Handlung so in ihren Bann zog. Heute nahm ich nicht einmal den Kellner wahr, sondern wunderte mich nur, als plötzlich das Glas Rotwein vor mir stand. Ich nahm einen Schluck und vertiefte mich weiter in meinen Roman.

„Ob das heute noch mal aufhört?“

Die Stimme klang jung und ein bisschen frech und sie redete offenbar mit mir. Erstaunt hob ich den Kopf und prallte zurück. Da war er wieder, der Mann vom Strand. Er stand direkt vor mir und grinste mich an.

„Ist an Ihrem Tisch noch ein Platz frei?“, fragte er und zeigte dabei zwei makellose Zahnreihen. Aus seinen dunklen Locken tropfte Regenwasser. Einige Tropfen liefen an seinen Wangen entlang.

„Sogar noch drei Plätze“, erwiderte ich ein bisschen zu schnell. Ich konnte kaum meinen Blick von ihm wenden. Warum er mich so irritierte, verstand ich selbst nicht. Normalerweise hatte ich keinerlei Probleme mit dem Flirten, auch nicht mit attraktiven Männern. Aber jetzt wäre ich am liebsten direkt davongerannt. Stattdessen fing ich an, eine meiner Haarsträhnen zu zwirbeln, die lang und schwarz herunterhingen. Damit sie besser trocknen konnten, hatte ich vor ein paar Minuten die Spange gelöst, mit der ich meine Haare hier an der See immer hochsteckte.

„Sie glühen ja richtig vom Wind“, redete der Mann weiter und setzte sich auf den Stuhl mir gegenüber. Sein Pullover hatte dieselbe Farbe wie seine Augen. Graublau.

„Dann haben wir ja etwas gemeinsam“, sagte ich, um meine Verlegenheit zu überspielen und fasste mir dabei wie zufällig ins Gesicht. Tatsächlich, meine Wangen glühten, was sicher nicht nur am Wind lag. Im selben Moment fragte ich mich, ob noch mehr Menschen außer mir mit Ende Zwanzig ständig rot würden. Ich kannte jedenfalls niemanden. Bei meiner Schneewittchenhaut fiel es außerdem richtig auf.

„Merlot oder Dornfelder?“ Der Mann zeigte auf mein Glas. Auf den Oberseiten seiner Finger ringelten sich vorwitzig dunkelblonde Härchen. Ich konnte kaum meinen Blick davon lösen und bemerkte das leider erst, als ich sein Grinsen sah. Gut, dass ich bereits rot war.

„Dornfelder“, antwortete ich schnell und nahm einen Schluck aus meinem Glas. Als ich wieder aufschaute, sah er mich noch immer mit diesem intensiven Blick an, dem ich kaum standhalten konnte. Ich benahm mich unsicherer als eine Vierzehnjährige bei ihrem ersten Date. Falls es heute überhaupt unsichere Vierzehnjährige gab.

„Sind Sie schon lange hier?“

Um seine Augen bemerkte ich jetzt einen dunklen Zug, der ihm etwas Unnahbares gab.

„Knapp eine Woche. Und Sie?“ Was für eine blöde Frage. Als ob mich interessierte, wie lange er hier war. Ich sollte lieber fragen, ob er allein hier war oder mit Freundin.

Stopp! Ich wollte nicht flirten. Wirklich nicht!

„Seit vorgestern.“

„Und wie lange bleiben Sie noch?“ Die nächste sinnlose Frage von mir.

„Ich fahre übermorgen wieder zurück, es war nur ein verlängertes Wochenende.“

Da war sie, die erste Gemeinsamkeit zwischen uns. Auch ich musste übermorgen wieder nach Hause.

Er schien meine Gedanken erraten zu haben. „Woher kommen Sie?“

„Aus Nordrhein-Westfalen, aus der Nähe von Essen. Und Sie?“

„Köln“, sagte er und wandte sich dem Kellner zu, um auch ein Glas Dornfelder und dazu eine Portion Rote Grütze mit Vanillesoße zu bestellen.

„Ich heiße übrigens Moritz. Moritz Rosemann.“ Wieder dieser unergründlich intensive Blick.

„Kaja Dorn“, erwiderte ich.

Aus der Nähe wirkten seine Sachen gar nicht mehr wie der Zugangscode in den erlesenen Kreis der Reichen. Moritz war alles andere als uniform. An seinem Halsausschnitt waren ein paar Stiche der Naht aufgegangen und an seinem linken Ärmel hatten sich trockene Blätter verfangen, als hätte er sich durch dichtes Grün gekämpft. Seine Haare hingen nass und zerzaust ins Gesicht und wirkten dadurch vermutlich dunkler, als sie es in trockenem Zustand waren. Ich fragte mich, ob er sich seiner Wirkung auf Frauen nicht bewusst wäre oder ob ihn das einfach nicht interessierte. Vermutlich letzteres. Er hatte es nicht nötig, mit seinem Gegenüber zu spielen, um sich auszutesten.

Als Moritz die Ärmel seines Pullovers ein Stück nach oben schob, kamen karamellfarbene Haare an seinen langen, sehnigen Unterarmen zum Vorschein. Ich zwang mich, nicht darauf zu starren. Wenn seine Haare auf dem Kopf wieder trocken sein würden, hätten sie bestimmt dieselbe Farbe.

„Sind Sie zum ersten Mal hier?“

Offenbar sah man mir an, dass ich mir die Insel eigentlich nicht leisten konnte.

„Ich komme seit zehn Jahren mindestens einmal pro Jahr her. Meistens öfter“, sagte ich und sah ihn an.

Mein Tonfall schien ihn zu überraschen. „Ich dachte nur … Die meisten hier sehen irgendwie gleich aus. Schöne Fassade und so weiter.“

„Vielen Dank! Ich habe nicht vor, bei einem Model-Contest mitzumachen.“ Jetzt schwang Ärger in meiner Stimme. Einen Moment war ich sogar versucht aufzustehen, an der Theke zu bezahlen und erhobenen Hauptes das Restaurant zu verlassen. Doch etwas hielt mich auf meinem Platz fest. Auf Moritz‘ Gesicht erschien jetzt ein Lächeln. Aber nur kurz, dann wurden seine Züge gleich wieder ernst.

„Sie wären aber ein Gewinn für jeden Model-Contest, so, wie Sie jetzt aussehen“, begann er erneut. Noch immer dieser Blick.

„Als komische Nummer? Nein danke!“ Ich kramte nun doch nach meinem Portemonnaie.

„Sie machen den Eindruck, als würden Sie ein Geheimnis bewahren.“

Sicher, den heiligen Gral, dachte ich grimmig. Der Knabe hörte sich plötzlich an, als wäre er hundert Jahre alt. Mindestens. Dazu passte auch sein schon wieder düster umwölkter Blick. Nur sein Gesicht war viel zu jung. Ich schätzte ihn auf Mitte dreißig.

„Ah, ein Poet!“, erwiderte ich spitz.

Plötzlich berührte er meine Hand, die auf der Tischplatte lag. „Bitte entschuldigen Sie! Ich wollte Sie mit meiner Bemerkung nicht kränken.“

Seine Hand lag noch immer auf meiner und diese spontane Berührung traf mich wie ein Blitz. Ich spürte seine Wärme, die sich schnell in meinem Arm ausbreitete. Und in meinem Gesicht. Meine Wangen wurden jedenfalls schon wieder glühend heiß. Moritz hatte es ebenfalls bemerkt, denn jetzt spielte ein leichtes Grinsen um seinen Mund. Langsam zog er seine Hand wieder fort.

„Ich habe das ernst gemeint mit dem Geheimnis“, sagte er. „Aber kaum jemand scheint heute noch Geheimnisse zu mögen.“ Der dunkle Schatten um seine Augen wirkte jetzt noch intensiver.

Hatte er sich gar nicht über mich lustig gemacht? Zu meiner eigenen Überraschung löste sich meine Verärgerung langsam wieder in Luft auf.

Mit einem versöhnlichen Lächeln schlug Moritz einen lockeren Ton an und begann, von seinen Erlebnissen auf der Insel zu erzählen. Er hatte sich wirklich in der Botanik verfangen. Augenzwinkernd berichtete er von einer Pause unter einem dichten Blätterdach, nachdem er vorher fast die halbe Insel umrundet hatte.

„Sind Sie nicht nass geworden?“, fragte ich überrascht.

„Nur ein bisschen. Der Süden der Insel war heute trockener als dieser Teil.“ Lachend deutete er auf seine Haare. Seine Stimme klang so jung. Und er hatte das schönste Lachen, das ich je gehört hatte. Vielleicht weil es bei ihm so rar war, wie ich noch feststellen sollte.

„Und was machen Sie, wenn Sie nicht gerade eine Insel erkunden?“, fragte ich, nachdem er seinen Bericht beendet hatte.

„Ich teile mir eine Kanzlei mit zwei Kolleginnen.“

„In Köln?“

„Ja. Und Sie?“

„Ich teile mir mit niemandem eine Agentur für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.“

„Kann man davon leben?“ Der dunkle Schatten um seine Augen war nun wieder verschwunden. „Immerhin können Sie sich regelmäßige Urlaube hier an der Nordsee leisten.“

„Mehr oder weniger.“ Ich deutete auf meinen nassen Pullover und er stimmte in mein Lachen ein, obwohl er die Anspielung auf meine undichte Jacke bestimmt nicht verstand.

 

Wir waren die letzten Gäste, die an diesem Abend das Restaurant verließen. Der Kellner atmete erleichtert auf, als er endlich hinter uns abschließen konnte. Der Wind hatte sich in der letzten Stunde zu einem Sturm entwickelt und es kostete mich einige Anstrengung, die Treppe hinauf zur Promenade zu steigen, ohne nach hinten oder zur Seite gerissen zu werden. Plötzlich spürte ich einen Arm, der sich langsam unter meinen schob.

„Damit Sie nicht davonfliegen“, raunte Moritz mir ins Ohr.

Ich drehte mich um und zuckte erschrocken zurück, als ich sein Gesicht so dicht neben meinem sah. Noch ein paar Zentimeter und unsere Nasen hätten sich berührt. Ich konnte sogar den Geruch seiner Haut riechen, nach Sand und Salz. Und nach ihm. Schnell drehte ich mich um und konzentrierte mich wieder auf die Treppenstufen.

„Haben Sie morgen schon etwas vor?“, fragte er, nachdem wir heil oben angekommen waren.

„Nein“, erwiderte ich wahrheitsgemäß und ärgerte mich im nächsten Moment über meine unüberlegte Antwort. Ich wollte meinen letzten Urlaubstag in aller Ruhe und allein genießen. Noch einmal richtig ausschlafen, durch die Geschäfte bummeln, in die alte Dorfkirche gehen, eine lange Wanderung am Strand machen und anschließend noch ein Abschiedsglas in meinem Lieblingsrestaurant trinken. Das war mein Ritual für letzte Tage auf der Insel und ich liebte es. Doch ich hatte noch einen Grund für meine Abwehr. Dieser Mann beunruhigte mich.

„Haben Sie Lust auf eine Radtour?“, fragte Moritz und sah mich an. Sein Gesicht war wieder dicht vor meinem. Welche Frau hätte keine Lust auf eine Radtour mit so einem Mann? Nur jemand wie ich konnte jetzt auf die Idee kommen, sich eine Ausrede einfallen zu lassen. Dabei hatte ich, nüchtern betrachtet, überhaupt keinen Grund. Im Gegenteil. Ich gab mir innerlich einen Ruck.

„Habe ich“, hörte ich mich antworten, „und sogar schon eine Idee, wohin wir fahren könnten.“

„Schön. Dann schlage ich vor, dass wir uns morgen Früh bei dem Fahrradverleih dort vorn treffen.“ Moritz deutete in die Richtung, in der auch mein Hotel lag. Direkt daneben war ein Fahrradverleih.

„Um neun?“ Der Mann war es offenbar gewohnt, Nägel mit Köpfen zu machen.

„Ich plädiere für zehn Uhr“, versuchte ich die Abfahrtzeit hochzuhandeln und augenblicklich wurde sein Schmunzeln breiter.

„Gut, dann also zehn Uhr. Eine gute Nacht und bis morgen!“ Unvermittelt drehte er sich um und ging zügig auf eins der teuren Hotels direkt an der Promenade zu. Ich sah ihm einen Moment nach, bevor ich mich auf den Weg zu meinem Hotel machte, das natürlich weiter entfernt vom Strand lag.


3.

 

Der nächste Morgen brachte den ersten Sonnenschein seit Tagen, zusammen mit einem strahlend blauen Himmel. Ich war schon vor neun Uhr mit meinem Frühstück fertig und ärgerte mich, dass ich die Tour mit Moritz auf zehn Uhr verschoben hatte. Doch ich nutzte die verbleibende Zeit, um zu telefonieren. Ira jammerte mir vor, dass Marc sie gestern Abend schon wieder allein gelassen habe und stattdessen lieber mit seinen Kumpels um die Häuser gezogen sei.

„Oh, entschuldige, meine Liebe. Du bist ja jeden Abend allein“, beendete sie schließlich ihr Gejammer. Offenbar hatte Ira wieder ihren Angriffstag. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, warum ich eigentlich mit ihr befreundet war. Ich hatte mich schon so oft über sie geärgert und musste eigentlich ständig mit irgendwelchen Angriffen rechnen. Ira schien das für ihr Ego zu brauchen. Meist schluckte ich meinen Ärger hinunter und überhörte ihre Spitzen. Von meiner Verabredung erzählte ich ihr aber nichts. So, wie sie gerade gelaunt war, hätte das garantiert die nächste Attacke bedeutet.

Darum verabschiedete ich mich schnell von ihr und rief noch meine Eltern an. Sie wollten am nächsten Tag für einige Monate in die USA fliegen. Ihre Arbeit für den gemeinsamen Verlag konnten sie schließlich überall auf der Welt erledigen. Darum hatten sie sich vor fünf Jahren ihren Traum von einem Leben an der nördlichen Westküste der USA erfüllt und lebten nun das halbe Jahr dort und die andere Zeit in Köln. Wir versprachen uns zum Abschied, alle paar Tage zu mailen und zu skypen. Das taten wir ohnehin immer. Dieses Gespräch war jedenfalls deutlich entspannter verlaufen.

Gut gelaunt machte ich mich kurz vor zehn Uhr endlich auf den Weg zum Fahrradverleih. Moritz stand bereits vor dem Laden und diskutierte mit dem Inhaber. Er trug eine weiße Leinenhose, ein schwarzes Poloshirt und eine kurze schwarze Lederjacke und sah darin zum Anbeißen aus. Ich selbst fand mich plötzlich in meinen Shorts, dem Neckholder-Shirt und der kurzen Jeansjacke nur noch halb so schick wie vor dem Spiegel im Hotelzimmer.

„Guten Morgen“, rief Moritz mir zu und wandte sich wieder an den Mann aus dem Fahrradverleih.

„Lust auf ein Tandem?“, fragte er mich unvermittelt.

„Keine Ahnung“, erwiderte ich perplex. Ich war noch nie Tandem gefahren.

„Wir haben aber gerade keins vorrätig“, mischte sich der Mann aus dem Laden ein.

„Auch gut. Ein Tandem wäre vielleicht doch nicht das Richtige für zwei Einzelgänger“, erwiderte Moritz. „Wir nehmen also zwei Räder.“

Ich schluckte. Die Bemerkung über die Einzelgänger hatte bei mir ziemlich ins Schwarze getroffen. Der Gedanke lenkte mich für die nächsten Minuten ab, so dass ich gar nicht mitbekam, als die Räder bereits startklar vor uns standen.

„Ich muss noch bezahlen“, sagte ich.

„Schon erledigt“, zwinkerte Moritz mir zu. Er strich sich ein paar Locken hinter das Ohr, die ihm immer wieder ins Gesicht fielen. „Ich möchte Sie heute gerne einladen.“

„Einzelgänger zahlen ihre Rechnungen grundsätzlich selbst. Um unnötige Abhängigkeiten zu vermeiden“, erwiderte ich und holte mein Portemonnaie heraus.

Moritz wehrte ab. „Heute sind wir ja ausnahmsweise mal zu zweit, also darf ich Sie auch einladen.“

Diese Logik erschloss sich mir zwar nicht ganz, doch ich willigte schließlich ein.

„Dann werde ich Ihnen jetzt einen schönen Weg zeigen“, sagte ich.

Moritz schien einen Moment lang tatsächlich überrumpelt zu sein. „Das wollte ich eigentlich übernehmen.“

„Sie durften bereits bezahlen“, erwiderte ich forsch. „Außerdem ist dies meine Insel, seit vielen Jahren schon. Und heute ist mein letzter Tag hier.“

„Meiner wohl nicht?“, antwortete er amüsiert.

„Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Mein Weg dauert vier Stunden. Wenn er Ihnen nicht gefällt, fahren wir anschließend noch Ihren“, sagte ich übermütig.

Der Himmel war noch immer strahlend blau und ohne jede Wolke.

„Vorsicht, Kaja! Ich könnte Sie beim Wort nehmen.“

„Das hoffe ich doch“, erwiderte ich und radelte los.

Die erste Viertelstunde fuhren wir schweigend nebeneinander her. Nachdem wir den kleinen Ort hinter uns gelassen hatten, führte der Radweg durch Dünen, die mit Strandhafer und Wildrosen bewachsen waren. Von hier konnte man das Meer nicht sehen, sodass es den Anschein hatte, als ginge die herb-schöne Landschaft endlos weiter. Die Rosen fingen gerade an zu blühen und verströmten schon jetzt ihren unvergleichlichen Duft. Ihre hellen bis kräftigen Rosatöne gaben der rauen Landschaft einen zarten Anstrich. Zwischendurch waren auch ein paar weiße Blütenköpfe darunter. Ich liebte die Insel zu jeder Jahreszeit, aber die Rosenblüte war einfach am schönsten.

Der Weg schlängelte sich nun bergauf und ich musste mich anstrengen, um mit Moritz‘ Tempo mitzuhalten. Wie ich vermutet hatte, war er richtig durchtrainiert. Strecken wie diese gehörten vermutlich zu seinem täglichen Feierabendprogramm. Ich geriet bei dem langen Anstieg jedenfalls richtig ins Schwitzen. Als wir endlich die Anhöhe erreicht hatten, bedeutete mir Moritz, rechts auf einen der kleinen Pfade abzubiegen, die in die Dünen und von dort hinunter zum Strand führten. Wir stiegen von den Rädern und schoben sie hintereinander her den schmalen Weg entlang. Statt auf Moritz‘ sehenswerte Rückenansicht versuchte ich, mich auf die schöne Umgebung zu konzentrieren. Der Duft der Wildrosen war jetzt noch intensiver als auf dem Radweg.

Plötzlich bückte sich Moritz und umschloss eine besonders große Blüte mit seiner Hand. „Ich kenne keine Blume, die so ist wie die Rose“, sagte er leise, „sie ist eins der stärksten Symbole.“

Hatte der Mann etwa eine romantische Ader? Ich hoffte inständig, nicht gleich rot zu werden.

„Damit meine ich natürlich nicht diesen Liebeskitsch“, fuhr Moritz fort und ließ den Rosenkopf wieder los.

Also doch keine Romantik. Aber was konnte er sonst mit der Bemerkung gemeint haben?

„Mal schauen, ob das Meer noch da ist. Die Räder stellen wir am besten hier ab, wenn wir sie nicht durch den tiefen Sand tragen wollen.“ Moritz machte eine Bewegung in Richtung Strand, der noch immer unsichtbar hinter der Dünenkette lag, und schob sein Fahrrad hinter eine Bank. Es war die letzte am Weg, bevor der Bewuchs aufhörte und der Sand anfing.

„Kommen Sie, ich habe ein Schloss dabei.“

Ich schob mein Rad neben seins und streifte dabei leicht seinen Arm. Die Berührung ging wie ein elektrischer Impuls durch meinen ganzen Körper. Irritiert verharrte ich einen Moment in der Bewegung. Moritz sah mich kurz an, holte dann ein Fahrradschloss aus seinem Rucksack und kettete die beiden Vorderräder zusammen.

„Auf ewig verbunden“, sagte er lachend und ich hoffte inständig, nicht schon wieder rot zu werden.

„Hoffentlich nicht“, erwiderte ich schnell. „Sonst wird der Heimweg schwierig.“

„Apropos Heimweg“, begann Moritz, als wir durch den weichen Sand nach unten zum Strand mehr rutschten als liefen. „Sind Sie eigentlich mit dem Auto hier?“

„Mit dem Zug“, erwiderte ich und beschleunigte meinen Schritt.

„Und damit wollen Sie vermutlich morgen wieder zurück?“

„Ich hatte nicht vor, zu laufen. Warum erinnern Sie mich an so einem schönen Morgen an die Abreise?“

Mein Tonfall war wohl ein wenig harsch gewesen, denn Moritz sah mich fast erschrocken an.

„Entschuldigung, ich wollte Ihnen damit nicht den Tag verderben“, sagte er ernst. „Eigentlich wollte ich nur fragen, ob ich Sie mitnehmen kann.“

Augenblicklich bedauerte ich meine heftige Reaktion. Er wollte mir einen Gefallen tun und ich raunzte ihn dafür an. Andererseits wusste ich nicht, was ich von seinem Vorschlag halten sollte.

„Ich habe schon eine Fahrkarte“, sagte ich darum schnell, kam mir aber im nächsten Moment reichlich blöd vor.

„Soweit ich weiß, kann man die zurückgeben.“ Sein Blick fixierte mich. „Ich dachte nur … Wenn wir zusammen fahren, haben wir beide Unterhaltung.“ Sein Gesichtsausdruck hatte jetzt ins Schelmische gewechselt.

„Aber“, wollte ich erneut Bedenken einwerfen, entschied mich dann aber schnell anders. Vor allem, weil mir die Argumente fehlten. „Also gut, ich nehme Ihr Angebot an.“

Er hatte Recht, es war wirklich viel schöner, zu zweit zu fahren. Auf jeden Fall ginge es mit dem Auto schneller.

 

Als wir am Meeressaum angekommen waren, kam uns ein Läufer entgegen. Er trug schwarze Sportkleidung, die wie eine zweite Haut saß. Warum er diese Kleidung trug, war offensichtlich. Sein Körper hatte die idealen Maße, ein Typ wie Michelangelos David. Und jeder sollte möglichst viel davon sehen.

„Eine fast perfekte Form“, sagte Moritz und ich brauchte einen Moment, um zu kapieren, dass er nicht den Jogger meinte. Moritz‘ Aufmerksamkeit galt etwas, das er auf dem Boden entdeckt hatte. Er bückte sich und hob einen runden weißen Stein auf, der wie eine dicke Murmel aussah. Seine Oberfläche glänzte in verschiedenen Weißtönen. Fasziniert hielt Moritz ihn gegen die Sonne und drehte ihn ein paar Sekunden in der Hand.

„Den schenke ich Ihnen“, sagte er unvermittelt und hielt mir den Stein hin.

Der Stein war kalt und nass, doch meine Finger umschlossen ihn wie einen kostbaren Schatz.

„Ich würde gern ein paar Fotos von diesem fantastischen Meer machen“, sagte Moritz. „Und von dem Himmel.“

Von hinten waren weiße Wolken aufgezogen, die gleich über uns wegziehen würden. Ein wunderschönes Bild.

„Es macht Ihnen doch nichts aus? Ich brauche höchstens eine Viertelstunde.“ Moritz hatte schon begonnen, in seinem Rucksack nach dem Fotoapparat zu kramen.

„Nein, natürlich nicht“, erwiderte ich schnell. „Ich genieße so lange den Blick auf das Meer von den Dünen dort vorn.“ Ich deutete in die Richtung, in die ich gehen wollte.

„Dann treffen wir uns oben wieder“, sagte Moritz und zog eine teure Kamera hervor.

Ich wandte mich ab und ging zügig in die angekündigte Richtung. Ein bisschen ärgerte mich schon, dass er mich so einfach stehen ließ. Andererseits war heute der erste wirklich schöne Tag zum Fotografieren und diese Gelegenheit durfte man nicht verpassen. Ich suchte mir einen Platz in einer Mulde, von wo aus ich einen weiten Blick auf den Strand hatte.

Nachdem ich eine Weile einem Hund zugeschaut hatte, der immer wieder begeistert ins Wasser rannte und dabei von einer jungen Frau angefeuert wurde, schloss ich die Augen und hielt mein Gesicht in die Sonne. Darüber musste ich sogar ein paar Minuten eingedöst sein, das laute Rauschen der Wellen brachte mich schnell zurück in die Wirklichkeit. Ich sah hinunter zum Strand. Moritz stand noch immer am Meeressaum und fotografierte. Von hier oben sah er aus wie ein kleiner Junge, der interessiert die Welt erkundete. Ab und zu bückte er sich und hob etwas auf, um es kurz darauf zurück ins Meer zu werfen. Automatisch huschte ein Lächeln über mein Gesicht. Dieser Mann hatte etwas an sich, das andere Menschen dazu brachte, ihn beschützen zu wollen. Und genau das lag vermutlich ganz und gar nicht in Moritz‘ Interesse. Vielleicht war das auch der Grund, warum er zwischendurch so unnahbar und abweisend wirkte. Hier stoppte ich meine Gedanken. Schließlich kannte ich Moritz erst seit gestern und diese Begegnung würde schon morgen ihren Abschluss finden.

Ich lehnte mich nach hinten und schaute in den Himmel. Die Wolken zogen jetzt in großen Gebirgen über den blauen Himmel, untermalt vom Kreisen der Möwen. Durch die weißen Ungetüme bekamen Himmel und Strand eine viel größere Tiefe als es der blaue Himmel allein vermocht hätte. Ich wollte diesen wunderbaren Anblick ganz tief in mich einsaugen, dann konnte ich ihn bei Bedarf im Alltag immer wieder hervorzaubern. Ich schloss die Augen eine Weile, doch das laute Kreischen einer Möwe, die dicht über meinem Kopf segelte, schreckte mich erneut auf und ich schaute ihr eine Weile nach, bevor ich meinen Blick wieder den Strand entlang wandern ließ. Moritz war offenbar ein Stück gelaufen, denn ich entdeckte ihn weiter entfernt von der ursprünglichen Stelle. Noch immer war er ins Fotografieren vertieft.

Ich legte mich auf den Rücken und verfolgte die ziehenden Wolken über mir, bevor ich wieder zum Strand hinuntersah. Doch jetzt konnte ich Moritz nirgends mehr entdecken. Meine Augen wanderten rechts und links den Strand entlang. Vergeblich. Ob er schon zu den Rädern gegangen war? Ich wollte gerade aufstehen, als ich ihn schließlich doch sah. Er stand ein wenig entfernt vom Wasser, hatte sein Telefon am Ohr und sprach lebhaft hinein. Er schien verärgert. Das erkannte ich an der Art, wie er gestikulierte.

Als ich aus meiner Mulde hervortrat, kam mir Moritz mit schnellen Schritten entgegen. Sein Blick war düster. Ich befürchtete, er hätte eine schlechte Nachricht erhalten und müsste die Radtour abbrechen. Doch er nickte mir wortlos zu und wir gingen schweigend zurück zu unseren Rädern. Als ich in die Tasche meiner Shorts fasste, spürte ich den Stein in meinen Händen und ein warmes Gefühl durchfuhr mich.

Nachdem wir unsere Fahrräder auseinandergekettet hatten, zog Moritz seine Schuhe aus und schüttelte den Sand heraus. Ich ertappte mich dabei, wie ich auf seine schlanken, nackten Füße starrte. Niemals zuvor hatten Füße eine so erotische Wirkung auf mich gehabt. Ich musste mich richtig zwingen, in eine andere Richtung zu schauen. Wir fuhren den Dünenweg weiter bis zum nördlichsten Punkt der Insel. Da Moritz noch immer schwieg, konnte ich meinen Gedanken nachhängen. Als wir schließlich am Ziel ankamen, bog ich zum Hafen ab. Ich kannte dort ein kleines Fischrestaurant. Wir hatten Glück und fanden sogar draußen einen freien Tisch.

„Übrigens“, begann Moritz, als vor jedem von uns eine Lachslasagne und ein Glas Weißwein standen, „mein Weg wäre genau derselbe gewesen wie Ihrer.“

Seine gute Laune war wieder zurück, wie ich erleichtert feststellte. Augenzwinkernd sah er mich an. Sein lockiges Haar hing ihm ins Gesicht und gab ihm etwas Wildes. Der Vormittag in der Sonne hatte sein Gesicht leicht gebräunt, er sah jetzt tatsächlich noch schöner aus als gestern. Dabei leuchteten seine Augen in der Sonne blau und sein intensiver Blick bewirkte, dass ich einen Moment aufhörte zu atmen. Vielleicht hatte er es bemerkt, denn Moritz zog die linke Augenbraue hoch und schmunzelte.

„Und ich hatte mich schon auf vier weitere Stunden in die andere Richtung gefreut“, erwiderte ich und sah jetzt scheinbar interessiert zu einem älteren Ehepaar hinüber, das über irgendetwas miteinander in Streit geraten war.

„Ich habe Sie doch schon einmal gewarnt, dass ich Sie beim Wort nehmen könnte“, sagte Moritz und für einen kurzen Augenblick wusste ich nicht, ob sein plötzlich ernstes Gesicht einen erneuten Stimmungswechsel bedeutete. Ich widmete mich schnell meiner Lasagne, während ich weiter seinen Blick auf mir spürte. Dieser Mann irritierte mich. Nicht, weil er so unverschämt gut aussah. Ich war schon anderen schönen Männern begegnet. Doch die meisten von ihnen waren so in sich selbst verliebt gewesen, dass ich sie nur noch langweilig finden konnte. Bei Moritz war das anders. An ihm war etwas, das ich nicht verstand und das mich auf seltsame Weise beunruhigte. Sein Blick hatte bisweilen etwas tief Melancholisches und noch etwas anderes, für das ich keinen Ausdruck fand.

„Ich möchte auf dem Rückweg beim Hünengrab vorbeifahren“, sagte er nun.

„Sie kennen es?“

„Natürlich“, erwiderte er nüchtern.

Nachdem wir das Restaurant verlassen hatten, schlenderten wir noch bis zum Ende der Hafenmole. Ich bemerkte, dass Moritz unablässig zum Horizont blickte, dorthin, wo Himmel und Meer aneinanderstießen. Wieder sprach er kein Wort, bis wir schließlich umkehrten, auf unsere Räder stiegen und uns auf den Rückweg machten.

Wir fuhren etwa eine Stunde, als Moritz unvermittelt anhielt.

„Hier geht es hinunter zum Hünengrab“, sagte er knapp und schaute an mir vorbei. „Ich möchte jetzt gern dorthin fahren.“

Jetzt wandte er mir den Blick zu und ich erschrak über die Dunkelheit in seinen Augen.

„Ist es unverschämt, wenn Sie ab hier allein zurückfahren?“

Wie bitte? Natürlich, ist es unverschämt, mich hier einfach so abzuservieren, hätte ich ihm am liebsten entgegengeschrien. Doch ich beherrschte mich und stammelte eine halbwegs höfliche Floskel. Was bildete sich der Typ ein? Ließ mich hier einfach stehen, nachdem er mich zu dieser Radtour eingeladen hatte. Es mochte ja sein, dass er meiner überdrüssig war, aber warum musste er so unhöflich werden? Die Fahrt hätte ohnehin keine Viertelstunde mehr gedauert.

„Da können wir ja beide froh sein, dass wir kein Tandem genommen haben.“ Diese sarkastische Bemerkung konnte ich mir nicht verkneifen. Ich nickte ihm noch einmal zu und wollte weiterfahren, doch da hielt er meinen Fahrradlenker fest.

„Kaja, einen Moment noch! Treffen wir uns morgen um zwölf Uhr an meinem Hotel?“ Ein kurzes Lächeln glitt über sein Gesicht.

Ich sah ihn mit hochgezogenen Brauen an und erwiderte erst einmal nichts.

„Dann hätten Sie noch ein paar Stunden länger auf Ihrer Insel“, begann er zögernd, „Ihr Zug geht doch bestimmt sehr früh. Außerdem wollten wir doch zusammen zurückfahren.“ Wieder traf mich sein Blick.

„Ja, schon“, erwiderte ich lahm. „Ich dachte nur, Sie haben vielleicht Ihre Pläne geändert. Ich meine, es wäre kein Problem. Ich habe ja meine Fahrkarte.“

„Haben Sie es sich anders überlegt?“, fragte er leise.

Nein! Ich habe mir gar nichts anders überlegt, ich reagiere nur auf deinen Rückzug, hätte ich ihm am liebsten ins Gesicht gerufen. Doch ich schwieg.

„Es würde mich wirklich freuen!“ Noch immer schaute er mich direkt an und für einen kurzen Moment glaubte ich ihm sogar.

„Hm, also gut, dann morgen um zwölf“, erwiderte ich schnell, weil mir nichts Besseres einfiel.

Sein Gesicht hellte sich auf. „Schön! Dann bis morgen … Und genießen Sie diesen letzten Abend auf der Insel.“

„Ihnen auch einen schönen Abend“, sagte ich schnell.

„Hm, vielleicht“, erwiderte er und seine Stimme klang plötzlich rau.

Ich dachte, er würde sich von mir abwenden, stattdessen strich er mir eine Strähne aus dem Gesicht und schob sie sanft hinter mein linkes Ohr. Die Berührung traf mich wie ein Stromschlag. Und sie passierte so schnell, dass ich nicht einmal den Kopf zurückziehen konnte. Ohne ihn anzusehen nickte ich ihm noch einmal zu und fuhr dann hastig los.

4.

 

Nachdem ich das Rad zurückgegeben hatte, ging ich noch auf ein Glas Rotwein in das Restaurant an der Düne. Heute hatte ich jedoch keine rechte Freude an meinem abendlichen Ritual. Ich saß auf der windgeschützten Terrasse und bemerkte erst zwei Stunden später, dass ich die ganze Zeit durch die Glasscheibe auf das Meer gestarrt hatte, während in meinem Kopf die Frage kreiste, wie ich Moritz am besten wieder absagte. Etwas an diesem Mann war eigenartig und ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass ich mich besser von ihm fernhalten sollte. Inzwischen war es vollkommen dunkel geworden und außer mir saß niemand mehr hier draußen. Schnell brachte ich das Glas zurück ins Restaurant und ging zu meinem Hotel.

Nachdem ich meine Tasche gepackt hatte, legte ich mich ins Bett und zog die Decke über den Kopf. Hoffentlich konnte ich überhaupt einschlafen. Die Gedanken tanzten noch immer ziemlich unsortiert durch meinen Kopf. Allen voran die Frage, warum mich Moritz hatte stehen lassen, aber trotzdem wollte, dass ich morgen mit ihm führe. Ich hatte ihm doch eine Brücke gebaut, damit er die Verabredung fallen lassen konnte. Ohne eine Antwort zu finden, starrte ich in die Dunkelheit. Wäre es nicht schon so spät gewesen, hätte ich Ira angerufen. Auch auf die Gefahr hin, wieder eine dumme Bemerkung zu kassieren. Aber um diese Zeit schlief Ira längst, ihr Wecker klingelte morgens immer schon um fünf Uhr.

Das vertraute Piepsen meines Telefons meldete den Eingang einer neuen SMS. War Ira doch noch wach? Schnell griff ich nach dem Telefon und öffnete die Nachricht.

Du bist noch schöner, wenn du rot wirst.

Nur dieser Satz. Kein Absender. Die angezeigte Telefonnummer kannte ich nicht. Augenblicklich spürte ich, wie mein Herz bis zum Hals schlug. Von wem kam diese Nachricht? Vielleicht von Tom unter fremder Nummer? Ausgeschlossen! Die Zeiten, in denen Tom mir Liebesbotschaften schickte, waren lange vorbei. Außerdem war ihm nie aufgefallen, dass ich ständig rot wurde. Vermutlich war er farbenblind. Nein, Tom kam definitiv nicht als Absender in Frage. Sollte die Nachricht etwa von …? Mein Herz klopfte noch schneller. Doch das war leider auch ausgeschlossen. Ich hatte Moritz meine Telefonnummer nämlich gar nicht gegeben. Eine Sekunde schwebte mein Finger über der Anruftaste, doch dann legte ich das Telefon fort. Was war, wenn ein Stalker dahintersteckte? Dann wäre ein Gegenanruf das Dümmste, was ich machen könnte. Andererseits war es ziemlich unwahrscheinlich, dass ich einen Stalker hatte. Schließlich hätte ich das doch längst bemerken müssen. Ich entschied, dass die Nachricht für jemand anderen bestimmt und nur versehentlich bei mir gelandet war. Kurz musste ich sogar über mich lachen, weil mich die wenigen Worte so durcheinandergebracht hatten. Ich wollte die Nachricht löschen, doch mein Finger stoppte, bevor er die Lösch-Taste erreicht hatte.

Wenn sie doch für mich bestimmt war? In dieser Nacht träumte ich zum ersten Mal von Moritz.

5.

 

Als ich am nächsten Tag pünktlich um zwölf Uhr auf dem Parkplatz von Moritz‘ Hotel erschien, packte er gerade eine Tasche in einen roten Alfa Romeo Spider. Ich traute meinen Augen nicht. Das war ein echter Oldtimer. Und dazu auch noch ein Spider.

„Na, gut geschlafen?“, fragte Moritz fröhlich.

Das Dunkle und Melancholische war heute aus seinem Blick verschwunden. Seine Haare trudelten wild um den Kopf und seine intensiv braune Gesichtsfarbe zeigte, dass er die letzten Stunden am Strand verbracht hatte. Auch heute war wieder ein herrlicher Sommertag, nur nicht so windstill wie der Vortag.

„Das ist ja ein echter Rundheck!“ Ohne auf seine Frage einzugehen, machte ich ein paar Schritte um den wunderschönen Wagen mit den Stoßstangen aus glänzendem Chrom. „Ich schätze Baujahr 64?“

„1963.“ Man hörte Moritz‘ Stimme die Verblüffung an. „Woher kennen Sie sich so gut mit alten Autos aus?“

In seinem Blick entdeckte ich jetzt sogar Bewunderung.

„Während der Semesterferien habe ich auf Oldtimer-Messen gejobbt. Für eine Firma, die Ersatzteile für Alfas verkauft“, klärte ich ihn auf.

Er sah mich noch immer unverwandt an.

„Ist schon ärgerlich, dass wir jetzt fahren müssen“, sagte ich, nur um etwas zu sagen. Sein Blick irritierte mich.

„Müssen wir das wirklich?“

Immer noch dieser Blick. Ich hoffte inständig, dass ich nicht wieder rot würde.

„Was treibt uns denn an?“ Moritz‘ Stimme klang jetzt dumpfer und wie aus dem Nichts war der dunkle Schatten wieder da.

„Sollen wir nicht einfach noch ein bisschen bleiben?“

War die Frage etwa ernst gemeint?

„Wie Ihr Kalender aussieht, weiß ich nicht. Aber ich habe um neun Uhr morgen Früh einen wichtigen Termin bei einem Kunden“, konterte ich. „Und ich kann mir nicht erlauben, ihn zu verlieren.“

Er sah mich noch immer an. „Ja, so ist das mit der Arbeit. Immer ist sie wichtiger als die meisten anderen Dinge.“ Mit einer abrupten Bewegung drehte er sich zu mir um und griff nach meiner Tasche. Erschrocken zuckte ich zusammen. Im ersten Moment hatte ich tatsächlich geglaubt, er wollte mir wieder eine Strähne hinter das Ohr streichen wie gestern. Zu allem Überfluss wurde ich jetzt wirklich rot. Doch Moritz hatte sich zum Glück schon wieder seinem Auto zugewandt, um mein Gepäck darin zu verstauen.

Eine halbe Stunde später standen wir mit dem roten Alfa zwischen schwarzen bis dezent grauen Limousinen und schicken Cabrios auf dem Autoreisezug und ließen uns zurück auf das Festland schaukeln. Wir hingen beide schweigend unseren Gedanken nach, während draußen die Deichlandschaft langsam an uns vorbeizog.

„Mögen Sie Emil Nolde?“, fragte Moritz, nachdem wir eine halbe Stunde später in den Zielbahnhof eingelaufen waren und darauf warteten, vom Zug fahren zu können.

„Wieso?“, fragte ich.

„Ganz in der Nähe ist ein wunderschönes Museum“, erwiderte er. „Ich würde es Ihnen gerne zeigen.“

„Mit anderen Worten, Sie wollen selbst dorthin?“

Schmunzelnd und ohne weiteren Kommentar folgte er dem Schild, das den Weg zum Museum im nächsten Ort wies. Bereits zehn Minuten später waren wir dort und Moritz stellte den Wagen in der Nähe des kleinen Museums ab, das einmal das Wohnhaus von Emil Nolde gewesen war. Seine Hand streifte kurz meinen Arm. Ob es Absicht war oder eine zufällige Berührung, konnte ich nicht sagen. Doch es fühlte sich wieder so an, als würde mich ein Blitz durchzucken und augenblicklich ging mein Atem schneller. Hoffentlich hatte Moritz dieses kleine Gewitter in mir nicht bemerkt. Während ich ausstieg, vermied ich vorsichtshalber jeden Blickkontakt mit ihm.

„Hey, warten Sie doch!“, rief er hinter mir her, als ich mit großen Schritten auf das Museum zuging.

Hoffentlich dachte er nicht, ich liefe vor ihm davon. Obwohl er damit nicht ganz falsch lag. Also verzögerte ich meinen Schritt, dass Moritz mich einholen konnte. Er legte wie selbstverständlich seinen Arm um meine Schulter und ich hoffte inständig, nicht zur Salzsäule zu erstarren. Kein Zweifel, dieser Mann brachte mich aus dem Konzept. In seiner Gegenwart benahm ich mich wie ein kleines Mädchen. Als ich zurückschaute, um seinem Grinsen zu begegnen, war sein Blick jedoch wieder düster und starr nach vorn gerichtet.

Die Nolde-Bilder waren ein Traum. Sie berührten mich tief. Die Farben waren so intensiv und eindringlich, ich liebte sie vom ersten Moment an. Moritz, der diesen Abstecher vorgeschlagen hatte, zeigte jedoch mit keinem Lächeln oder Wort, dass er den Aufenthalt genoss. Doch er verweilte lange vor jedem Bild. Ich wünschte ihm, dass ihre Heiterkeit ein wenig auf ihn abfärbte.

Als wir eine Dreiviertelstunde später wieder im Auto saßen, schwieg Moritz noch immer und starrte mit ernstem Gesicht auf die Straße. Ich betrachtete derweil die vorbeifliegende Landschaft. Ich liebte den Norden und freute mich, dass der Weg zur Autobahn so lang war. Auf den Landstraßen fühlte ich mich der Natur deutlich näher. Irgendwo auf dieser Strecke musste ich jedoch trotz der lauten Fahrgeräusche des Oldtimers eingeschlafen sein. Ich wurde jäh geweckt, als Moritz mich fragte, ob er an der nächsten Raststelle halten solle. Überrascht öffnete ich die Augen und bemerkte, dass wir schon auf der Autobahn waren.

„Ein Kaffee wäre doch nicht schlecht, oder?“, sagte Moritz.

Fünf Kilometer später tauchte ein Rastplatz auf. Im Restaurant tranken wir jeder einen großen Kaffee, Moritz hatte sich dazu ein Stück Kuchen geholt, ich ein belegtes Brötchen. Außerdem hatte er eine Zeitung gekauft, in der er intensiv las, während ich in Gedanken bei meinem morgigen Termin war. Der Kunde wollte, dass ich ihm eine Pressekampagne vorbereitete und mir war noch ein Punkt eingefallen, den ich unbedingt im Konzept ergänzen musste. Moritz‘ erneutes Schweigen war mir darum sehr angenehm. Auch, dass er sich hinter seiner Zeitung verbarrikadiert hatte. Tom hatte mich regelmäßig zur Weißglut gebracht, wenn er beim Essen eine Zeitungswand zwischen uns aufgebaut hatte. Bei Moritz hingegen war ich froh, dass ich auf diese Weise seinem intensiven Blick entging.

In diesem Moment klingelte sein Telefon, zum ersten Mal übrigens, seit wir unterwegs waren. Der Klingelton war leise und angenehm. Moritz zog das Mobiltelefon aus der Hosentasche und warf einen Blick auf das Display. Seine Stirn legte sich augenblicklich in Falten, als er die Nummer erkannte. Er seufzte leise, bevor er den Anruf entgegennahm. Das Gespräch, das nun folgte, war einsilbig. Außer Kommentaren wie ‚ja‘, ‚nein‘ und ‚das klären wir morgen‘, sagte Moritz kaum etwas. Das Reden schien der Anrufer oder die Anruferin übernommen zu haben. Ich konnte nicht einmal heraushören, ob das Gespräch privat oder beruflich war. Auf jeden Fall gefiel es Moritz nicht, denn seine Körperhaltung zeigte eine starke Anspannung. Vermutlich ging es um einen schwierigen Fall.

Da ich bereits aufgegessen hatte, brachte ich mein Tablett zur Geschirrrückgabe und verschwand in Richtung Toilette. Auf dem Weg zum Klo holte ich mein Telefon heraus, um zu sehen, ob jemand versucht hatte, mich zu erreichen. Und wirklich, mein Display zeigte gleich drei neue Textnachrichten an. Die erste SMS war von Ira, die fragte, ob wir heute Abend zusammen ins Kino gehen könnten. ‚Gute Idee‘ textete ich umgehend zurück. Die zweite Nachricht war von einem Kunden, der mir ein paar Details aus seinem Leben mitteilte. Beim Lesen musste ich unwillkürlich grinsen. Unglaublich, was mir die Menschen bereitwillig über sich erzählten, seit ich neben der üblichen Presse- und Öffentlichkeitsarbeit auch Ghostwriter-Dienste für Memoiren anbot. Einige meiner Auftraggeber hatten ein solches Mitteilungsbedürfnis, dass es mir manchmal schwerfiel, die Informationsflut wieder zu stoppen. Der SMS-Schreiber gehörte eindeutig zu dieser Sorte. Ich speicherte seine Infos, obwohl ich genau wusste, dass ich sie nicht mehr brauchte. Der Auftrag war so gut wie fertig und die Geschichte auch recht schön geworden.

Dann öffnete ich die dritte SMS:

Wie hat dir meine Nachricht gestern Abend gefallen?

Wieder kein Absender. Und wieder dieselbe Nummer. In diesem Moment begannen vor meinen Augen bunte Punkte zu tanzen. Wer war der Absender? Ratlos sah ich gegen die Wand und brauchte ein paar Sekunden, bis ich erneut entschied, dass es sich um eine fehlgeleitete Nachricht handeln musste. Im ersten Moment wollte ich dies dem Absender als Antwort schreiben. Doch dann ließ ich es bleiben, steckte mein Telefon zurück in die Tasche und ging zum Klo. Als ich die Toilettenkabine gerade wieder verlassen wollte, hörte ich das vertraute Piepsen, das den Eingang einer neuen SMS verkündete. Bestimmt die Antwort von Ira, die mir einen Kinofilm für heute Abend vorschlug. Ich zog das Telefon aus der Tasche, die ich an den Haken der Klotür gehängt hatte.

Ich würde dich so gern berühren. Jetzt!

Und wieder dieselbe Nummer. Ich spürte, wie meine Beine zu zittern begannen. Auch mein Atem ging schneller als gewöhnlich. Verwirrt von der Nachricht und noch mehr von meiner Reaktion darauf starrte ich eine Weile regungslos auf mein Telefon. Ich würde dich so gern berühren. Jetzt! Dann öffnete ich noch einmal die gestrige Nachricht. Du bist noch schöner, wenn du rot wirst. Die Botschaften waren eindeutig und ließen keinen Deutungsspielraum. Ich verließ die Kabine, füllte meine Hände am nächsten Waschbecken mit kaltem Wasser und tauchte mein Gesicht hinein. Das, was ich anschließend im Spiegel sah, gefiel mir. Da war etwas in meinen Augen, das mir sagte, dass ich die Situation … prickelnd … fand. Vermutlich waren die Nachrichten wirklich für jemand anderen bestimmt und der Absender nutzte einfach immer wieder dieselbe Nummer, ohne sie noch einmal zu prüfen. Dennoch gefiel mir, dass die Botschaften auf meinem Handy gelandet waren. Ich lächelte mir noch einmal zu, trocknete mein Gesicht und ging zurück ins Restaurant.

Moritz telefonierte noch immer. Er hatte die Stirn in Falten gelegt, sein Blick war nun vollends düster. Er sah nicht einmal auf, als ich zurück an den Tisch kam. Einen kurzen Moment lang spürte ich so etwas wie Enttäuschung. Er konnte nicht gleichzeitig telefonieren und Nachrichten auf mein Handy schicken. Hatte ich tatsächlich gehofft, die Nachrichten kämen von ihm?

Die kurzen Sätze oder Bemerkungen, die er ins Telefon sprach, gaben noch immer keinen Aufschluss, worum es ging und in welcher Beziehung er zu seinem Gesprächspartner stand. Doch sein Tonfall war schroffer als zu Beginn des Gesprächs und an seiner Stirn trat eine Ader deutlich hervor. Er sah mich kurz an und wies mit den Augen zum Parkplatz. Ich nickte und zog meine Jacke an.

„Bitte heute kein weiteres Gespräch dieser Art“, sagte er kühl in den Hörer, während wir bereits das Restaurant verließen. Dann beendete er das Telefonat und verfiel wieder in Schweigen. Egal, worum es bei seinem Gespräch gerade gegangen war, dieser Mann war nicht wirklich umgänglich. Langsam begann ich mich zu ärgern, nicht doch mit dem Zug gefahren zu sein. Während Moritz ansetzte, einen LKW zu überholen, nahm ich zum Vorwand ein Taschentuch aus meiner Tasche und putzte mir die Nase. Als ich es zurücksteckte, kramte ich scheinbar gedankenverloren weiter in der Tasche herum. In Wirklichkeit griff ich nach meinem Handy und rief noch einmal die letzte SMS auf. Vielleicht war es ja doch kein Irrtum und jemand, den ich kannte und bisher nicht genügend beachtet hatte, war der Absender. In den letzten Monaten hatte ich das Thema Männer komplett verdrängt. Meine Arbeit hielt mich so sehr in Atem, dass meine Gedanken fast ausschließlich um meine Aufträge kreisten. Ob sie ausreichten, um Miete und Krankenversicherung zahlen zu können. Die paar Tage Urlaub, die ich gerade gemacht hatte, fielen schon unter Luxus. Seit der Trennung von Tom hatte ich auch keinerlei Bedürfnis gehabt, mich neu zu verlieben. Es gab nichts, was ich vermisste. Naja, fast nichts, wenn ich das wiederholte Kribbeln, das der Mann neben mir auslöste, richtig deutete.

Ich las noch einmal die beiden rätselhaften Nachrichten. Keine Ahnung, welcher Teufel mich ritt, aber plötzlich drückte ich die Wähltaste und der Ruf ging nach draußen. An den SMS-Schreiber. Ich hielt das Telefon an mein Ohr und unwillkürlich den Atem an. Natürlich hatte ich keinerlei Plan, was ich täte, wenn sich jemand meldete. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, dass Moritz noch immer starr nach vorn schaute und mich überhaupt nicht mehr wahrzunehmen schien. Merkwürdigerweise machte mir seine An- oder besser Abwesenheit Mut, mich mit dem Unbekannten zu konfrontieren. Leider meldete sich in diesem Moment nur der Anrufbeantworter. Angespannt lauschte ich der amtlichen Frauenstimme in der Hoffnung, sie würde gleich den Namen des Menschen nennen, dem dieser Anschluss gehörte. Doch die Stimme wiederholte nur die gewählte Nummer und bot am Schluss die Möglichkeit, eine Nachricht auf die Voice-Mail zu sprechen. Schnell brach ich die Verbindung ab.

„Niemanden erreicht?“, fragte Moritz, als ich das Telefon zurück in meine Tasche steckte. Überrascht und verlegen sah ich ihn an. Offenbar hatte er doch mehr mitbekommen, als ich gedacht hatte. Wenn er erst den Hintergrund dieses Anrufes wüsste. Unwillkürlich musste ich schmunzeln.

„Was ist so komisch?“, fragte er prompt.

„Ach, nichts. Einer meiner Kunden hat mir vorhin eine Nachricht geschickt.“

„Hoffentlich etwas Schönes“, erwiderte er. „Nachrichten, die ich samstags oder sonntags von meinen Mandanten bekomme, enden meist in Arbeit für den Rest des Wochenendes.“

Um seinen Mund spielte ein kleines Lächeln, als er mich noch einmal anschaute. Vermutlich lag es an diesem persönlichen Zeichen nach seinem Schweigen oder daran, dass ich mich von den beiden Nachrichten ablenken wollte, aber ich begann, ihm von meiner Arbeit als Ghostwriterin zu erzählen.

„Wie viele Memoiren“, er betonte das letzte Wort, „haben Sie denn schon geschrieben?“

„Einige“, erwiderte ich und wurde mir in diesem Moment meiner kärglichen Bilanz von fünf Biografien bewusst, die ich in den letzten drei Jahren verfasst hatte. Meinen Eltern erzählte ich immer, dass ich drei Bücher pro Jahr schaffte, aber das war eindeutig gelogen. Seit sie auf der Homepage meiner Agentur gelesen hatten, dass ich als Ghostwriterin Biografien für andere schrieb, versuchten sie mich zu überreden, diese in ihrem Verlag zu veröffentlichen. Doch dann hätte ich zwangsläufig die Karten auf den Tisch legen müssen. Natürlich war das nicht der einzige Grund, warum ich meine Arbeit strikt von der meiner Eltern trennen wollte.

Moritz ging nicht weiter auf das Thema ein und ich ärgerte mich, dass ich überhaupt davon angefangen hatte. Warum sollte ihn meine Arbeit interessieren? Ganz zu schwiegen, dass er meine Versuche, in der Selbstständigkeit Fuß zu fassen, garantiert kläglich fand. Genau das waren sie ja, auch wenn ich mir das eigentlich nicht eingestehen wollte. Vielleicht sollte ich endlich dieser Tatsache ins Auge sehen und mir einen festen Job in einem Unternehmen suchen. Doch wer brauchte schon eine Philosophin? Natürlich hatten meine Eltern gehofft, ich würde direkt nach dem Studium in ihrem Verlag anfangen. Doch ich wollte finanziell erst einmal auf eigenen Füßen stehen, bevor ich bei meinen Eltern einstieg und vermutlich ein paar Jahre später den Verlag übernahm. Meine Eltern hatten sich auf Reiseliteratur spezialisiert und waren seit zwanzig Jahren erfolgreich damit. So erfolgreich, dass sie sich erlaubten, die Werke unbekannter Schriftsteller, die sie für förderungswürdig hielten, zu verlegen. Natürlich in bibliophiler Ausstattung, damit die Bücher in den Läden auch gesehen wurden. In Zeiten von kostenlosem Selfpublishing schwammen die beiden gegen den Strom und hatten dabei ihre Nische gefunden. Ob ich mit meiner Agentur jemals erfolgreich sein würde, stand in den Sternen. Im Moment war es eher ein „Von-der-Hand-in-den-Mund-Job“.

„Haben Sie noch Kapazitäten für einen weiteren Kunden?“, fragte Moritz unvermittelt, nachdem mindestens zehn Minuten vergangen waren.

Ich schaute ihn irritiert an.

„Für eine Biografie?“, fragte ich und bemühte mich um einen professionellen Tonfall.

„Ja“, erwiderte er sachlich. „Ich wüsste vielleicht jemanden für Sie.“

„Bis wann soll der Text denn fertig sein?“, fragte ich und versuchte meiner Stimme den Klang einer vielbeschäftigten Unternehmerin zu geben.

„In zwei Monaten. Ist das möglich?“, fragte er und hielt dabei den Blick nach vorn auf die Straße gerichtet.

„Das hängt davon ab, wie intensiv ich mit der Person arbeiten kann“, begann ich. „Wenn die Gespräche nur alle paar Wochen stattfinden, dauert es länger. Es geht dabei schließlich nicht nur um Informationen. Ich muss mich auch in die Person und in ihr Leben hineinfühlen.“

„Genügen Ihnen drei Wochen, Kaja?“

Ich zuckte zusammen, als Moritz meinen Namen aussprach. Als ich mich zu ihm umwandte, entdeckte ich in seinem Gesicht wieder diesen dunklen Schatten.

„Drei Wochen sind eine sehr kurze Zeit. Da finden erfahrungsgemäß höchstens drei bis vier Gespräche statt“, erwiderte ich vorsichtig. Falls er mir wirklich einen Auftrag vermitteln wollte, durfte ich das nicht gleich im Keim ersticken. „Die Person, über die ich schreibe, muss sich schließlich im Text wiederfinden können. Mit all ihren Wünschen, Plänen, Sehnsüchten und was sie sonst noch so bewegt. Auch mit enttäuschten Hoffnungen, gescheiterten Beziehungen und Träumen.“

Ich stoppte erschrocken, bevor ich mich noch weiter aus dem professionellen Bereich hinausbewegte. Der Mann neben mir war Jurist, ich musste also sachlich bleiben.

„Die Person muss sich im Text wiederfinden“, sagte Moritz und es klang ein wenig spöttisch, wie er das letzte Wort betonte. „Das hört sich ja spannend an.“

„Ich bin natürlich keine Psychologin, aber ich kann mich ganz gut in Menschen einfühlen“, versuchte ich das Ruder wieder zur Sachlichkeit herumzureißen.

„Und dann schreiben Sie, was Ihre Kunden über sich lesen wollen.“

Sein Spott war jetzt kaum zu überhören. Ich sah ihn an, sah dieses Profil, dieses Gesicht, das als Titel auf jeder Mode- oder Sportzeitschrift die Verkaufszahlen in die Höhe treiben würde, und fühlte auf einmal Wut. Was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein? Er hatte alles, wovon die meisten Menschen nur träumten, war erfolgreich im Beruf, konnte sich vieles kaufen, was er sich wünschte, und hatte mit diesen Voraussetzungen garantiert auch keinen Mangel an Frauen, die sich ihm reihenweise zu Füßen warfen. Und in sein Bett.

„Ich nehme meinen Job genauso ernst wie Sie Ihren. Und es gibt Menschen, für die sehr wichtig ist, was ich tue. So albern und überflüssig Ihnen das auch erscheinen mag“, sagte ich und stieß wütend die Luft aus, „ja, ich schreibe in den Biografien gelegentlich auch, was meine Kunden über sich lesen wollen. Aber nicht, weil sie mich dafür bezahlen. Nicht alle Menschen wollen eine Biografie aus Eitelkeit oder übertriebenem Geltungsbedürfnis. Manche Menschen brauchen eine Illusion, um wenigstens in der Erinnerung das Leben zu leben, von dem sie immer geträumt haben. Sie halten sich daran fest wie Ertrinkende an einem Strohhalm. Auch, wenn Sie das nicht verstehen, aber Flucht oder Selbstbetrug sind bisweilen notwendig, um überhaupt weitermachen zu können. Und manchmal bringt genau das auch die Wahrheit hervor.“ Ich holte hörbar Luft, bevor ich fortfuhr. „Erst vor zwei Wochen schrieb mir ein Kunde, dass ihm meine korrigierte Fassung seines Lebens geholfen habe, endlich zu verstehen, wie er sich sein Leben lang selbst belogen habe. Und nun lerne er, sich selbst besser zu verstehen und endlich seine Fehler einzugestehen. Das sei wie eine Befreiung.“ Ich funkelte Moritz wütend von der Seite an. „Das mag in Ihren Ohren paradox klingen, aber manche Menschen kommen erst auf Umwegen auf den Weg, den sie eigentlich gehen wollen.“

Ich hatte mich so in Rage geredet, dass ich kaum noch Luft bekam.

„Sie sagten, die Person müsse sich mit ihren Wünschen, Plänen, Sehnsüchten wiederfinden. Und mit enttäuschten Hoffnungen, gescheiterten Beziehungen, Träumen und … wie soll ich sagen … Lebensentwürfen“, erwiderte Moritz. „Meinen Sie das ernst?“

Irritiert sah ich ihn an. „Ja, natürlich.“ Meine Stimme klang noch immer schroff.

„Reichen Ihnen drei Wochen, wenn Sie dabei die ganze Zeit … oder sagen wir, fast die ganze Zeit mit dem Auftraggeber zusammen sind?“, fragte Moritz. Seine Stimme klang vollkommen ruhig, als hätte es meinen Ausbruch nicht gegeben. Das machte mich für ein paar Sekunden sprachlos. Dann drehte ich mich energisch zu ihm um. Er machte sich nicht einmal die Mühe, meinen wütenden Gesichtsausdruck wahrzunehmen, sondern sah einfach weiter geradeaus.

„Das dürfte teuer werden“, erwiderte ich gereizt. Es reichte mir wirklich. Warum hatte ich mich auf diese idiotische Fahrt mit ihm eingelassen? Ich könnte jetzt gemütlich im Zug sitzen und über meine beiden spannenden Textnachrichten grübeln. Bei diesem Gedanken spürte ich wieder das vertraute Kribbeln.

„Machen Sie sich keine Sorgen wegen des Preises.“ Moritz‘ Stimme klang weiterhin ruhig und besonnen. „Ich mache Ihnen ein Angebot. Fahren Sie nach Schottland! Drei Wochen haben Sie dann Tag und Nacht Zeit zu reden und zu schreiben.“

Es dauerte länger als drei Sekunden, bis seine Worte bei mir ankamen. „Wenn ich nach Schottland fahre, dann bestimmt nicht, um dort Tag und Nacht zu schreiben“, erwiderte ich gereizt. Warum erwähnte er jetzt ausgerechnet mein Lieblingsziel? „Sie haben offenbar keine Ahnung von diesem Land.“

„Doch, habe ich“, sagte er ruhig. „Was das Honorar betrifft, so dachte ich an 20.000 Euro. Sind Sie damit einverstanden?“

„20.000 Euro?“, wiederholte ich und merkte selbst, wie dämlich ich klang. „Ist das Ihr Ernst?“

„Wenn Ihr Text gut ist, erhöhe ich auf 25.000“, sagte Moritz.

Ich starrte nach vorn auf die Straße und versuchte, das soeben Gehörte zu verarbeiten. Würde er mir wirklich 20.000 Euro oder sogar 25.000 zahlen, könnte das nächste halbe Jahr deutlich entspannter verlaufen. Nicht, dass ich dann weniger arbeiten müsste, aber ich würde besser schlafen. Ich wandte mich zu ihm, in der Hoffnung, dass er mich anschaute. Ich wollte in seinem Gesicht lesen, ob er sich einen Spaß mit mir erlaubt hatte.

„Über wen soll ich überhaupt schreiben? Und warum muss ich die Person in Schottland treffen?“ Ich versuchte, so viel Nachdruck wie möglich in meine Stimme zu legen. Schließlich ließ ich mich für Geld nicht vor jeden Karren spannen.

„Müssen Sie gar nicht. Weil ich Sie direkt begleiten werde. Nächste Woche, wenn Sie es einrichten können.“ Sein Blick war noch immer nach vorn gerichtet. „Ich bin Ihr Auftraggeber, Kaja.“

6.

 

Den Rest der Fahrt verbrachten wir schweigend. Was sollte ich auch zu so einem Angebot sagen? Die Frage war allerdings eher: Was sollte ich davon halten? 20.000 Euro waren eine unglaubliche Summe. Und ich könnte sie wirklich gut gebrauchen. Zum Beispiel, um mein Auto reparieren zu lassen. Dann müsste ich nämlich nicht immer zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu Kundenterminen fahren, bepackt mit schweren Akten oder Kartons voll frischgedruckter Flyer. Und abgesehen von dem unglaublichen finanziellen Angebot wirbelten mir Moritz‘ letzte Worte durch den Kopf.

„Ich bin Ihr Auftraggeber, Kaja.“ Was sollte das? Als wir am Nachmittag vor meiner Haustür hielten, hatte ich noch immer keine Erklärung gefunden.

„Ich melde mich in den nächsten Tagen bei Ihnen. Einen schönen Abend und viel Erfolg für Ihren Termin morgen!“ Mit diesen Worten verabschiedete Moritz sich, als ich aus dem Auto stieg und meine Reisetasche schnappte. Dann nickte er mir kurz zu und fuhr weiter.

„Dich sehe ich definitiv nicht wieder“, sagte ich leise, während ich nach dem Haustürschlüssel kramte. Moritz hatte nicht einmal nach meiner Telefonnummer gefragt. Was sollte also das blöde Gerede von Schottland? Und von den 20.000 Euro?

Nach ein paar Minuten kam ich zu der Einsicht, dass das Angebot nicht ernst gemeint sein konnte. An diesem Punkt angelangt, spürte ich Erleichterung. Diesen Mann umgab etwas Düsteres, eine Art Schatten. Und ich wurde das Gefühl nicht los, dass sein Schatten jeden einhüllte, der sich in seine Nähe wagte.

Ich musste Ira anrufen. Ein Abend im Kino würde mich auf andere Gedanken bringen. Außerdem wollte ich endlich mit jemandem über die geheimnisvollen Nachrichten auf meinem Handy sprechen. In meiner Wohnung angekommen, stellte ich erst einmal die Reisetasche ins Schlafzimmer und zog dann mein Telefon hervor, um Ira anzurufen. Mein Display zeigte erneut den Eingang einer SMS an. Sofort begann mein Herz heftiger zu schlagen und ich öffnete die Nachricht mit zitternden Fingern.

Du bist so weit von mir entfernt…

Wer, um alles in der Welt, war der Schreiber? Und wieso war ausgerechnet ich ins Zentrum seines Interesses geraten? Der Piepston, der eine weitere SMS ankündigte, brachte mich beinahe aus der Fassung. Ich starrte auf mein Telefon und traute mich zunächst nicht, die SMS zu öffnen. Nachdem mindestens eine Minute vergangen war, entschloss ich mich doch dazu.

Bist du schon zurück? Freue mich auf unseren Abend, Ira

Erleichtert drückte ich Iras Nummer und sie meldete sich sofort. Zwei Sätze später bemerkte sie, dass mich etwas beunruhigte. Wir verabredeten uns darum schon für sieben Uhr. Dann hatten wir genug Zeit zum Reden und konnten je nach Stimmung immer noch in einen Film gehen. Als ich das Gespräch beendet hatte, sah ich, dass eine weitere SMS angekommen war. Gestärkt durch das Gespräch mit Ira öffnete ich sie.

… und ich würde jetzt so gern bei dir sein.

Einem ersten Impuls nachgebend, warf ich das Telefon durch den Raum. Es landete auf dem Bett und überstand den Sturz dadurch unbeschadet. Jetzt reichte es wirklich langsam. Verwirrt starrte ich in die Luft und wartete, dass sich Atmung und Herzschlag wieder beruhigten. Warum regte ich mich eigentlich so sehr über diese Nachrichten auf? Es ging doch nicht an, dass ein anonymer Schreiber solch eine Macht über mich hatte. Dabei waren die Nachrichten wahrscheinlich gar nicht für mich bestimmt.

Ich zog mich aus und ging unter die Dusche, wo ich den warmen Wasserstrahl lange über meinen Körper laufen ließ.

7.

 

Edinburgh - ein paar Wochen später

 

Vor mir standen eine Fleischpastete und ein Salat. Doch ich stocherte nur lustlos in beidem herum. Ich saß in einem dieser urigen Restaurants, von denen es so viele in Edinburgh gab. Eigentlich hätte ich längst vor Hunger umfallen müssen, schließlich hatte ich seit fast zwei Tagen nichts mehr gegessen. Doch jetzt bekam ich keinen Bissen herunter. Mein Arm tat so weh, dass ich ihn nur ganz ruhig am Körper halten konnte. Bei jeder falschen Bewegung hätte ich am liebsten geschrien. Die Wunde hatte auch wieder zu nässen begonnen und auf meinem Shirt war ein scheußlicher Fleck entstanden. Ich hatte mir nicht einmal einen Verband und Desinfektionsmittel besorgt. Jetzt waren die Apotheken natürlich geschlossen. Die ganze Zeit sah ich nur Moritz‘ Gesicht vor mir, sah wieder seinen Blick, diesen intensiven Blick, mit dem er mich immer fixiert und bis auf den Grund meiner Seele geschaut hatte. Warum hatte ich nicht rechtzeitig erkannt, in was ich mich da manövriert hatte? Am Ende war kein Entkommen mehr möglich gewesen. Zumindest nicht für Moritz. Dabei hatte ich von Anfang an gespürt, dass Moritz etwas Dunkles umgab. Davor hatte ich mich gefürchtet, gleichzeitig hatte es mich fasziniert und angezogen wie ein Magnet. Gefahr zog nun einmal an, vor allem, wenn sie mit einem Geheimnis verbunden war. Natürlich würden sie mich jetzt kriegen. Hinter jeder Ecke konnten sie lauern. Wahrscheinlich beobachteten sie mich längst.

Ich kramte in meiner Tasche, bemüht, den verwundeten Arm nicht zu bewegen, und holte mein Telefon hervor. Eine ziemlich sinnlose Aktion. Der Akku war seit einem Tag leer und blieb es. Niemand konnte mich so erreichen, und vielleicht war das auch ganz gut. Ich wollte weder meinen Eltern noch Ira erzählen, was passiert war. Es genügte, dass meine eigene Welt zerstört war. Und so musste ich wenigstens nicht lügen. Abgesehen davon, dass mir das ohnehin nicht gelingen würde. Doch da war noch ein anderer Gedanke, ein vollkommen absurder und kindischer. So lange ich niemandem von der Geschichte erzählte, war sie vielleicht gar nicht wahr. So lange keiner davon wusste, wäre es nur ein Albtraum. Und vielleicht würde ich aufwachen und dann wäre alles … Ich unterbrach diesen Gedanken, bevor mich meine Erinnerung hart darauf stieß, dass es natürlich noch jemanden gab, der von alldem wusste. Der sogar mit dabei gewesen und jetzt bestimmt hinter mir her war.

Mit einem Seufzen ließ ich das Telefon zurück in meine Tasche gleiten. Dann schob ich die beiden Teller fort und legte meinen heißen Kopf in die Hände. Ich war so müde, so unendlich müde. Ein Hotel, ein Bett, das war alles, was ich jetzt brauchte. Warum hatte ich mich nicht rechtzeitig darum gekümmert? Die letzte Nacht hatte ich im Auto verbracht. Geschlafen hatte ich nicht. Und jedes Mal, wenn ein Fahrzeug vorbeigefahren war und seine Scheinwerfer zu mir hereingeleuchtet hatten, war ich hochgeschreckt. Es war die schrecklichste Nacht meines Lebens gewesen. Meines Lebens - wenigstens konnte ich das noch sagen. Noch eine solche Nacht wollte ich nicht verbringen. Ich musste duschen, mir die Zähne putzen und solche Dinge verrichten. Und nach der Wunde an meinem Arm sehen.

Die Stimmen um mich herum vermischten sich zu einem gleichförmigen Gemurmel. Das Lokal war um diese späte Uhrzeit voller Menschen. Nachtschwärmer, die noch auf ein Bier, ein Gespräch oder auf einen Flirt mit der Aussicht auf schnellen Sex vorbeigekommen waren. Die meisten Gäste waren bereits angetrunken. Angeblich war der Laden bekannt wegen seiner ansehnlichen Auswahl an Biersorten. Aber das galt für fast jede Bar und jede Kneipe hier, wollte man der Werbung an den Eingangstüren glauben. Ich war froh, einen kleinen Tisch in der Ecke ergattert zu haben. Hier beachtete mich kaum jemand.

„Hey, Mädchen! Alles in Ordnung?“

Ein Mann, der am Nachbartisch saß, stieß mich am Arm an. Fast hätte ich vor Schmerz aufgeschrien. Er hatte meinen verletzten Arm getroffen.

„Ja, ja, alles gut“, sagte ich schnell.

Der Mann war mittleren Alters mit beginnender Glatze, Brille und Cordjacke. Ein unscheinbarer Typ, den man gewöhnlich übersah oder an den man sich später nicht mehr erinnerte. Offenbar lebte er hier und hatte vielleicht einen Tipp für mich.

„Kennen Sie ein günstiges Hotel in der Stadt?“, sprach ich ihn noch einmal an.

Er hatte sich schon wieder abgewandt und diskutierte mit den Männern an seinem Tisch. Sein Nachbar musste ihn erst anstoßen, bevor er erneut auf mich aufmerksam wurde. Als er sich daraufhin mir zuwandte, wiederholte ich meine Frage.

„Günstig ist in Edinburgh kaum etwas“, antwortete er und zog dabei die Stirn in Falten. „Es sei denn …“, er sah mich an, „Sie nehmen eine Pension.“

Sein unerwartet eindringlicher Blick brachte mich einen Moment aus dem Konzept und vertrieb meine Müdigkeit. Hinter seinen Brillengläsern beobachteten mich zwei sehr wachsame Augen. Wusste er etwa, was ich vor sechsundzwanzig Stunden getan hatte? Hatte er mich gar bis hierher verfolgt?

Quatsch, unterbrach ich meine Gedanken. Er saß mit Freunden oder Kollegen hier, um ein Feierabendbier zu trinken. Der fehlende Schlaf ließ mich schon Gespenster sehen. Dieser Mann konnte gar nicht wissen, was mit Moritz geschehen war. So lange ich es ihm nicht selbst erzählte.

„Natürlich ist eine Pension okay“, erwiderte ich.

Ich musste ins Bett, je schneller, desto besser. Egal wo. Und wenn ich wieder ausgeschlafen war, würde ich überlegen, was zu tun sei. „Können Sie mir denn eine Pension empfehlen“, fragte ich, „wo ich um diese Uhrzeit noch ein Zimmer bekomme und kein Vermögen loswerde?“ Ich versuchte ein Lächeln.

Statt einer Antwort stand der Mann unvermittelt auf.

„Kommen Sie“, sagte er und machte eine Kopfbewegung zur Tür.

Meine Reaktion muss abwehrend gewesen sein, jedenfalls zog der Mann die Augenbrauen hoch.

„Entschuldigung“, sagte er nun, „ich habe gar nicht gesagt, dass ich der Vermieter des Pensionszimmers bin … Ich würde es Ihnen gern zeigen!“

Ich nickte zustimmend, worauf er seinen Tischnachbarn zurief, dass er in einer halben Stunde zurück sei. Dann wandte er sich zum Gehen. Ich starrte auf mein fast unberührtes Essen.

„Nehmen Sie die Pastete doch einfach in die Hand. Sie sehen aus, als bräuchten Sie umgehend ein Bett. Na, nun kommen Sie schon“, brummte er.

Wenn ich dieses Angebot ausschlug, würde ich heute Nacht kein Zimmer mehr bekommen, dessen war ich mir sicher. Und ich war von Minute zu Minute weniger in der Lage, zu denken oder zu handeln. Also griff ich nach meiner Umhängetasche, nahm die Pastete vom Teller und folgte ihm. Zum Glück hatte ich vorher an der Theke bezahlt, so mussten wir nicht noch auf den Kellner warten.

Draußen empfing uns die warme Abendluft nach einem heißen Sommertag. Ich atmete tief durch. Und sofort begannen wieder die Bilder durch meinen Kopf zu tanzen. Mein erster Abend mit Moritz an der Nordsee, unsere Radtour und sein schneller Abgang beim Hünengrab. Und da war auch wieder sein Blick, dieser intensive Blick. Er würde für immer in meinen Kopf eingebrannt sein.

Der Mann bog nach links ab. Er ging so schnell, dass ich Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten. Wahrscheinlich wollte er zügig wieder zurück zu seinen Freunden und dem Feierabendbier. Ich schleppte mich hinter ihm her durch mehrere Straßen, bis wir schließlich im Gassengewirr der Edinburgher Altstadt angelangt waren. Nun ging es ein paar Treppen hinauf und weitere Straßen entlang. Obwohl diese nun einsamer und enger wurden, verspürte ich keine Angst. Einen Moment ertappte ich mich sogar bei dem Gedanken, mir zu wünschen, hinterrücks überfallen und getötet zu werden. Dann wäre ich zumindest endlich diese unerträglichen Bilder in meinem Kopf los.

Natürlich wurde ich nicht überfallen und wir standen schließlich vor der Tür eines Hauses, das mindestens vierhundert Jahre alt war und sich dicht an zwei ähnlich alte Häuser schmiegte. Die ganze Straße sah aus, als sei hier vor langem die Zeit stehengeblieben.

„Kommen Sie!“, forderte mich der Mann auf, nachdem er die Tür des windschiefen Hauses aufgeschlossen hatte. Willig folgte ich ihm über die Schwelle. Drinnen empfing mich Dunkelheit, die jedoch im hinteren Teil des langgestreckten Flurs durch den Schein von Kerzen in Silberleuchtern erhellt wurde. Die Leuchter standen auf kleinen, halbrunden Wandtischen und brannten hier offenbar vollkommen unbeaufsichtigt. Ziemlich leichtsinnig, wenn man bedachte, dass dies ein uraltes Haus war, das hauptsächlich aus Holz bestand. In einem der angrenzenden Räume musste eine Musikanlage stehen, denn von dort drang leise Orgelmusik zu uns.

„Kommen Sie!“, forderte mich der Mann noch einmal auf.

Die Bodendielen knarzten unter dem dicken Teppich, als er vor mir den langen Flur durchschritt. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit und ich bemerkte, dass oberhalb der Holzvertäfelung an den grüngestrichenen Wänden zu beiden Seiten Ölgemälde hingen. Breite, prächtig verzierte Goldrahmen umgaben Porträts von Männern und Frauen. Einige der dargestellten Personen trugen Perücken und Kleider des Barockzeitalters. Aber auch andere Epochen waren vertreten, wie beispielsweise das 19. Jahrhundert. Die Mode, die diese Porträtierten trugen, war deutlich weniger pompös. Weiter hinten im Flur entdeckte ich sogar mehrere Gesichter, die auch in die heutige Zeit gepasst hätten. Sowohl, was die Kleidung betraf, als auch die Frisuren. Ich stand in einer echten Ahnengalerie und war von dem unerwartet stilvollen und kostbaren Ambiente so verblüfft, dass ich einen Moment sogar vergaß, über die Ereignisse des letzten Tages nachzugrübeln.

Natürlich holten mich diese Gedanken ein paar Sekunden später wieder ein. Mein Begleiter, der stehengeblieben war und mich alles in Ruhe betrachten ließ, schien dies sofort bemerkt zu haben. Er wies in einen Raum, der vom Flur abging.

„Sie wollen sicher endlich auf Ihr Zimmer. Warten Sie, ich mache Sie nur schnell mit meiner Frau bekannt“, sagte er lächelnd.

Mit ihm schien eine sonderbare Veränderung vor sich gegangen zu sein. Seine Sprache klang jetzt vornehmer als noch wenige Minuten zuvor in dem lauten Lokal. Er hatte außerdem zum ersten Mal gelächelt. Offenbar bewirkte dieses Haus diese Verwandlung. Nur seine Kleidung wirkte vor so vielen Kostbarkeiten fast ärmlich. Ich bemerkte, dass sein Jackett an den Kanten abgewetzt war und seine Hose sicher auch schon bessere Tage erlebt hatte. Vermutlich hielten seine Frau und er sich mühsam mit der Vermietung einiger Zimmer über Wasser. Touristen gab es ja genug in der Stadt.

Der Raum, in den er mich führte, war an den Wänden ebenfalls zur Hälfte holzvertäfelt. Noch immer war leise Orgelmusik zu hören. Doch ich konnte nirgends eine Musikanlage entdecken. Auch hier hingen Ölporträts von Männern und Frauen verschiedener Epochen so zahlreich wie im Flur. Es musste eine umfangreiche Gemäldesammlung sein. Am hinteren Ende des Raums stand ein alter Sekretär mit einem passenden Stuhl, der wohl als Rezeption diente. Ansonsten waren keine Möbel im Zimmer, das dennoch gut ausgestattet wirkte. Das lag vor allem am großen Kristallleuchter, der in der Mitte von der Decke hing, und den ganzen Raum dominierte. Auch in ihm brannten Kerzen. Hoffentlich achtete jemand darauf, dass später alles gelöscht wurde. Nicht, dass in der Nacht das Haus über unseren Köpfen abbrannte.

Am Ende der linken Wand entdeckte ich drei Bilder, die sich vom Rest unterschieden. Jeweils eine Darstellung eines Mannes und einer Frau zeigten die gesamten Personen und nicht nur deren Porträts. Außerdem waren die beiden Personen vollkommen nackt, abgesehen von Masken, die ihre Gesichtszüge verdeckten. Die Bilder enthielten erotische Anspielungen. So war das Glied des Mannes leicht vergrößert, was den Eindruck von Erregung andeuten sollte. Die Tatsache, dass es nur leicht erhoben dargestellt war und keine vollständige Erektion zeigte, machte diese Anspielung besonders reizvoll und bewahrte sie davor, ordinär zu wirken. Auch die Frau schien erregt, wie ihre festen Brustwarzen und ihr leicht geöffneter Mund zeigten. Auch dies war nicht auf plumpe Weise dargestellt, sondern spielerisch-elegant. Am verblüffendsten war jedoch das letzte Bild. Es schien überhaupt nicht in diese Reihe zu passen, denn es zeigte mehrere schwarze Raben, die, in eine konspirative Besprechung vertieft, beieinander standen.

„Ritter des Raben“, erläuterte der Mann, der mich offenbar die ganze Zeit beobachtet hatte. „So heißt unsere Pension.“

Wie auf ein Stichwort öffnete sich jetzt eine versteckte Tür an der Stirnseite des Raumes und eine Frau erschien. Sie war zwischen fünfunddreißig und vierzig Jahre alt, hatte lange naturblonde Haare und trug ein engsitzendes, stylishes Sommerkleid. Ihr Gesicht war wunderschön und wurde von ihren leuchtend rotgeschminkten Lippen dominiert. Dieses Gesicht hätte sich auch sehr gut auf einem der Porträts an der Wand gemacht. Die Frau schenkte mir ein strahlendes Lächeln, wobei eine Reihe weißer, gleichmäßig geformter Zähne sichtbar wurde. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass die attraktive und elegante Frau die Ehefrau des Mannes war, der mich hergebracht hatte und der noch immer abwartend im Raum stand.

„Das ist Freya und ich bin Daniel Bennet“, ergriff er nun wieder das Wort und verbeugte sich leicht.

„Guten Abend“, sagte nun auch Freya Bennet. „Sie möchten für heute Nacht ein Zimmer bei uns mieten?“ Ihre Stimme klang melodisch und auf eine angenehme Weise tief. Es war eine Stimme mit einem unverwechselbaren Klang. Eine Stimme für eine Radio- oder Fernseh-Karriere.

Freya Bennet schien überhaupt nicht überrascht, dass ihr Mann zu fast nachtschlafender Zeit einen neuen Gast ins Haus brachte. Mich hätte die Szene vermutlich belustigt, wäre ich nicht so fertig gewesen. Und hätte ich nicht schon wieder Moritz‘ Bild vor Augen gehabt. Als würde die Frau ahnen, dass etwas mit mir nicht stimmte, kam sie direkt auf mich zu, nahm mir meine Umhängetasche ab und schob mich mit einer sanften Bewegung zurück in den Flur. Ich verdeckte schnell den großen Fleck von der Wunde am Arm mit meiner Jacke. Als die Frau mich nun mit energischen Bewegungen in den Flur begleitete, glaubte ich einen angstvollen Augenblick lang, sie wollte mich so schnell wie möglich wieder hinaus auf die Straße bringen. Krank und fertig wie ich aussah, hielt sie mich vielleicht für gefährlich. Doch stattdessen schob sie mich in den hinteren Teil des Flurs, wo sie eine Tür mitten in der Wand öffnete, die wie die Tür im Empfangszimmer ebenfalls vertäfelt und im oberen Teil in der Farbe der Wand gestrichen war. Dahinter verbarg sich eine schmale Wendeltreppe, die von einigen spärlichen Wandlämpchen - zum Glück waren es hier keine Kerzen - erhellt wurde.

Freya Bennet stieg vor mir die Treppe hinauf. Trotz ihrer hohen Absätze war sie auf der engen Wendeltreppe sehr schnell, während ich mich vorsichtig Stufe für Stufe nach oben tasten musste. Seit wir das kleine Treppenhaus betreten hatten, nahm ich einen Geruch wahr, den ich nicht sofort zuordnen konnte. Es roch nach Pflanzen oder ähnlichem. Je weiter wir nach oben stiegen, umso intensiver wurde der Geruch und ich versuchte, ihn zu analysieren. Das vertrieb zumindest für ein paar Sekunden die schrecklichen Bilder in meinem Kopf. Überhaupt war dieses ganze verrückte Haus ein guter Ort, um sich abzulenken. Noch vor zwei Stunden hätte ich nicht für möglich gehalten, dass irgendetwas meine Aufmerksamkeit so fesseln könnte, um mich von Moritz‘ letztem Blick abzubringen. Doch hier, in dieser seltsamen Umgebung schien es tatsächlich für ein paar kurze Momente möglich.

Inzwischen mussten wir mehrere Etagen hinaufgestiegen sein. Offenbar hatte ich das Haus nicht so genau von außen betrachtet, sonst wäre mir sicher aufgefallen, dass es relativ hoch war. Einmal waren wir an einer Tür vorbeigekommen, die wohl in die Räume der ersten Etage führte. Also musste dies schon die zweite Etage sein, zu der Freya jetzt eine Tür öffnete. Sie drehte an einem altertümlichen Lichtschalter und ich sah, dass vor uns ein ähnlicher Flur lag, wie in der unteren Etage. Der einzige Unterschied schien zu sein, dass die Wände hier oberhalb der Vertäfelung in einem angenehm warmen Gelbton gestrichen waren. Dadurch wirkte der ganze Flur freundlich und hell.

Freya führte mich zu einer Tür an der linken Seite. Dahinter lag ein Raum, der von einem riesigen Himmelbett dominiert wurde. Das Außergewöhnliche dieses Raums war jedoch nicht das Bett, sondern die Ansammlung an Vögeln, die sich rundherum befanden. Kleine und große Vögel aus Holz, Metall und Stein waren auf Wandtischen, Schränken oder kleinen Wandborden angeordnet. Es mussten an die hundert sein. Das Skurrile war jedoch, dass alle Vögel so ausgerichtet waren, dass sie zum Bett schauten. Als wollten sie den dort Liegenden keine Sekunde aus den Augen lassen. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken.

„Eine kleine Leidenschaft meines Mannes“, sagte Freya, die meinen erschrockenen Blick bemerkt hatte. „Aber keine Angst, sie beißen nicht und flattern nachts auch nicht durch den Raum.“ Sie lachte und auch ihr Lachen hatte einen besonderen Klang.

„Ich habe mich gar nicht bei Ihrem Mann bedankt, dass er mich hergebracht hat“, sagte ich, während ich ein plötzliches Gähnen unterdrückte. Der Anblick des riesigen Bettes hatten Müdigkeit und Erschöpfung zurückgebracht. „Er hat sich doch sicher auf einen ungestörten Abend mit seinen Freunden gefreut.“

Ich war viel zu müde und durcheinander, um zu überlegen, ob meine Bemerkung für Freya irgendwie beleidigend war.

„Ich richte es ihm aus“, erwiderte sie augenzwinkernd, „wenn er von seinem Männerabend zurück ist.“ Mit schnellen Schritten ging sie jetzt zu den Fenstern und zog die dunkelroten Vorhänge zu. „So, dann stört Sie die Sonne morgen nicht. Im Sommer scheint sie nämlich schon ganz früh hier herein. Und Sie machen den Eindruck, als müssten sie ungestört ausschlafen. Brauchen Sie vielleicht noch etwas?“

Ihr Blick war plötzlich eindeutig besorgt und ich spürte, wie ich rot wurde. Ich wagte nicht, sie anzusehen. Stattdessen vergewisserte ich mich, dass meine Jacke noch immer den Fleck auf meinem Ärmel verdeckte.

„Das Bad ist übrigens im Flur direkt gegenüber diesem Zimmer“, fuhr Freya fort. „Sie haben es für sich allein, weil Sie im Moment unser einziger Gast sind. Mein Mann und ich schlafen eine Etage tiefer und haben dort unser eigenes Bad.“

Sie wandte sich zum Gehen, drehte sich an der Tür aber noch einmal um. „Ach ja, fast hätte ich es vergessen. Dort hinten“, sie deutete auf einen mit Intarsien verzierten halbrunden Wandtisch, „steht etwas Kaltes zu trinken und ein Wasserkocher für Tee.“ Sie schenke mir erneut ihr wunderschönes Lächeln. „Ich wünsche Ihnen eine erholsame Nacht.“

Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer. Ich ging schnell ins Bad. Mein Arm tat nun höllisch weh. Zu meiner Verwunderung fand ich dort auf einem kleinen Tisch ein Körbchen mit Wattepads, Pflastern, Mullbinden und einem Desinfektionsmittel. Vorsichtig zog ich mir das Shirt über den Kopf und erschrak, als ich die Wunde sah. Sie war deutlich dicker, dunkelrot und schien jetzt auch zu eitern. Ich griff nach dem Desinfektionsmittel und den Wattepads und betupfte die Wunde großzügig mit der brennenden Flüssigkeit. Anschließend verband ich sie und wusch notdürftig den Ärmel aus. Hoffentlich trocknete er bis morgen. Ich hatte nämlich vergessen, mir Ersatzkleidung aus dem Auto mitzunehmen. Als ich meine Hose auszog, gab es ein klapperndes Geräusch auf dem Fußboden. Der Stein, den Moritz mir an der Nordsee gegeben hatte, war herausgefallen. Bei seinem Anblick erfasste mich ein solcher Schwindel, dass ich mich einen Moment lang am Waschbecken festhalten musste. Als es besser wurde, hob ich den Stein auf und steckte ihn zurück in meine Tasche. Dieser Stein war das Einzige, was mir von Moritz bleiben würde.

Als ich im Bett lag und die bohrenden Blicke der vielen Vögel auf mir spürte, fiel mir ein, dass Freya Bennet weder nach meinem Namen, noch danach gefragt hatte, wie lange ich eigentlich bleiben wolle. Ohne weiter darüber nachzudenken, sank ich in einen unruhigen Schlaf.

8.

 

Essen - ein paar Wochen früher

 

Nach meiner Rückkehr von der Nordsee gingen Ira und ich nicht mehr ins Kino. Stattdessen blockierten wir bei unserem Lieblingsitaliener fast drei Stunden einen der schönsten Gartentische. Luigi versuchte nicht, uns mit vielen Fragen nach weiteren Bestellungen zu vertreiben. Das tat er nie. In den letzten Jahren hatte sich zwischen uns ein fast freundschaftliches Verhältnis entwickelt, sofern das zwischen einem Restaurantbesitzer und zwei Stammkundinnen die richtige Bezeichnung war. Aber Ira und ich empfanden es so. Und Luigi offenbar auch.

Ira wollte die Nachrichten auf meinem Handy unbedingt mit eigenen Augen sehen. Ich bestand jedoch darauf, sie ihr vorzulesen, auch wenn sie zwischendurch behauptete, dass ich alles nur erfunden hätte. In Wirklichkeit wollte sie die Telefonnummer sehen und in Windeseile auswendig lernen, damit sie im Anschluss an unser Treffen gleich Nachforschungen anstellen konnte. Genau das wollte ich verhindern.

„Die Nachrichten sind garantiert von einem deiner Kunden“, meinte sie schon zum wiederholten Mal. „Du strahlst sämtliche Typen immer so an, dass die alle gleich wer weiß was denken.“

„Vorsicht“, erwiderte ich und hob warnend die Hand.

Ausnahmsweise reagierte Ira darauf und hielt erst einmal den Mund. Wahrscheinlich, weil sie noch mehr hören wollte. Und ich hatte das starke Bedürfnis, zu sprechen. Sie hörte aufmerksam zu, als ich ihr jetzt von Anfang an berichtete, wie ich Moritz kennengelernt und wir anschließend die Radtour gemacht hatten. Als ich bei seinem unerwarteten Abgang in der Nähe des Hünengrabs angekommen war, schaute sie mich fragend an.

„Sag‘ nicht, du hast den Typen am nächsten Tag noch einmal getroffen?“, erwiderte sie empört.

Ich nickte und wartete auf Iras strafenden Blick. Wie so oft, konnte sie auch diesmal mein Verhalten Männern gegenüber nicht nachvollziehen. Mit Ira hätte es sich Moritz mit diesem Abgang nach der Radtour garantiert verscherzt. Ira war für klare Entscheidungen und fackelte niemals lange. Störte sie etwas an einem Mann, und sei es nur in dem Moment, machte sie umgehend Schluss mit ihm. Eigentlich hatte ich erwartet, dass sie auch ihre Beziehung mit Marc bereits beendet hätte, nachdem er sie neulich Abend gegen ihren Willen allein gelassen hatte. Ich kannte keinen Menschen, der in Beziehungsfragen so rigoros und konsequent handelte wie Ira. Nach einer Trennung trauerte sie auch nie lange, gestand sich höchstens drei Tage zu, bevor sie wieder ihren gewohnten Alltag aufnahm und nach neuen männlichen Herausforderungen Ausschau hielt. Auch in diesem Punkt waren wir uns überhaupt nicht ähnlich. Dabei war sie alles andere als oberflächlich. Vermutlich war dies ihr Schutz vor möglichen Verletzungen. Mit Ausnahme meiner Beziehung zu Tom stürzte ich mich immer mit ganzem Herzen und kopfüber in eine Beziehung. Dabei hatte ich mir schon einigen Kummer eingehandelt. Das hielt mich jedoch nicht davon ab, es immer wieder zu versuchen.

„Diesem Moritz hätte ich es ordentlich gezeigt“, setzte Ira ihre Tirade fort. „Der hätte bezahlt, hätte er mich so dämlich stehen gelassen.“ Sie ballte eine Hand zur Faust und machte ein so entschlossenes Gesicht, dass ich losprustete. Wahrscheinlich waren es gerade diese Mentalitätsunterschiede, die unsere Freundschaft spannend machten.

„Mit Marc ist aber wieder alles in Ordnung?“, stichelte ich.

„Wieso?“, hakte Ira nach.

„Du warst bei unserem Telefonat vorgestern nicht so gut auf ihn zu sprechen“, provozierte ich weiter.

„Alles wieder bestens“, erwiderte Ira und grinste mich an. „Aber jetzt will ich endlich wissen, wie es mit diesem Moritz weiterging.“

Also erzählte ich Ira von der gemeinsamen Rückfahrt und Moritz‘ Vorschlag, mit mir nach Schottland zu fahren, einschließlich des finanziellen Angebots.

„Du glaubst aber nicht ernsthaft, dass jemand 20.000 Euro für ein paar Tagebuchseiten bezahlt“, platzte sie heraus, nachdem ich fertig war.

Ich sah sie so herablassend an, dass selbst Ira merkte, dass sie zu weit gegangen war.

„Entschuldige, damit meine ich natürlich nicht die Qualität deiner Arbeit. Ich denke nur, der Typ will seinen sogenannten Memoiren in Wirklichkeit ein neues Kapitel mit dem Titel ‚Kaja‘ hinzufügen.“

Ich spürte, wie ich rot wurde, was Ira nur ein weiteres Grinsen entlockte und die Bestätigung ihrer Theorie. Zumindest, was meine Gefühle für diesen Mann betraf.

„Und du meinst, ich nehme für so etwas seit Neuestem Geld?“, erwiderte ich bissig.

„Das habe ich überhaupt nicht gemeint“, sagte sie.

„Dann pass‘ demnächst besser auf, was du sagst!“ Ich ärgerte mich, dass ich Ira die Geschichte überhaupt erzählt hatte. Von jetzt an würde sie erst einmal nichts mehr von mir erfahren. Ich zog mein Mobiltelefon aus der Tasche, um zu schauen, ob der SMS-Spuk endlich vorbei war. Es gab keine neuen Nachrichten und ich atmete auf. Mein Telefon blieb stumm bis ich spät am Abend einschlief.

Nachts träumte ich wieder von Moritz.

 

Erste Arbeitstage nach dem Urlaub waren schrecklich, selbst nach einem Kurzurlaub an der Nordsee. Der Kunde, mit dem ich schon früh am nächsten Morgen meinen ersten Termin hatte, war ebenfalls schrecklich. Er erwartete Wunder von einer Presseaktion. Als wäre eine Presseagentin als Einzige verantwortlich für seinen Unternehmenserfolg. Und mit dieser Meinung stand er nicht einmal allein, wie ich von Kolleginnen und Kollegen wusste, die als Pressesprecher in Unternehmen oder in anderen Institutionen arbeiteten. Hatte eine Hochschule nicht genügend Studierende, war erst einmal der Pressesprecher oder die Sprecherin schuld. Stimmten die Bilanzen in einem Krankenhaus nicht, war natürlich auch der Sprecher verantwortlich. Schließlich hatte er für so viel gute Presse zu sorgen, dass die Patienten Schlange vor dem Krankenhaus standen. Was stellten sich die Damen und Herren in den Vorständen eigentlich vor, welche Macht Pressesprecher hatten? Waren sie gut, sorgten sie für reichlich positive Präsenz in den Medien. Doch war das wirklich entscheidend, wenn es um die Frage ging, welche Hochschule am besten auf die berufliche Zukunft vorbereitete und in welchem Krankenhaus schwere und leichtere Krankheiten besser behandelt würden? Nicht immer waren die Dinge am besten, um die der größte Medienrummel veranstaltet wurde.

Mein heutiger Kunde hatte ein mittelständisches Unternehmen, das spezielle Lebensmittelzusätze herstellte. Diese verkaufte er weiter an die produzierende Industrie. Der normale Zeitungsleser hatte also wenig Einfluss darauf, von welcher Firma der Produzent seines Lieblingsschokoladenriegels die Zusätze dafür kaufte. Hauptsache, das Zeug, das am Ende in den Regalen lag, schmeckte ihm. Ich überlegte, ob ich meinem Kunden vorsichtig beibringen sollte, dass ihm die geplante Medienkampagne kaum hilfreich sein könne, entschied mich dann aber anders. Ich war auf jeden Kunden angewiesen. Und dieser Auftrag würde umgerechnet vier Monatsmieten bringen. Also klügelte ich mit dem Mann zwei Stunden lang eine Strategie aus. Dann redete ich ihm ein, dass es günstiger sei, die Aktion erst nach den Schulferien zu starten, wenn alle aus dem Urlaub zurück seien und mögliche Presseartikel nicht ins Leere liefen. Normalerweise verlegte ich Themen, die die Presse nicht sonderlich interessierten, lieber in die Ferien. Die Saure-Gurken-Zeit barg gute Chancen, auch weniger Spannendes in die Zeitung zu bekommen. Und das, was dieser Kunde dem normalen Zeitungsleser zu bieten hatte, war nun wirklich eine saure Gurke. Doch gegen meine Vernunft und tiefe Überzeugung hatte ich tatsächlich noch immer die Schottlandreise im Kopf. Und die sollte schon in einer Woche starten.

Schon auf der Fahrt zu meinem nächsten Termin wurde ich wegen meiner Traumtänzerei so wütend, dass ich am liebsten umgekehrt wäre, um mit dem Mann das zeitliche Vorziehen der Presseaktion zu besprechen. Doch meine innere Stimme hielt mich davon ab. Stattdessen starrte ich den ganzen Tag über alle paar Minuten auf mein Telefon. Es ging keine einzige neue SMS ein. Der Absender hatte also endlich gemerkt, dass er die falsche Person mit seinen Nachrichten überhäuft hatte.

Bevor ich nach Hause fuhr - es war inzwischen kurz vor neun Uhr abends – hielt ich noch am Supermarkt. Außer einem belegten Brötchen vom Bäcker hatte ich den ganzen Tag noch nichts gegessen und in meinem Kühlschrank herrschte Ebbe. Ich schnappte mir einen Einkaufswagen mit dem festen Vorsatz, den halben Supermarkt leerzukaufen.

Als ich an der Käsetheke gerade die vierte Sorte Rohmilchkäse aussuchte, sah ich aus den Augenwinkeln, wie mich jemand beobachtete. In diesem Moment lenkte mich jedoch die Verkäuferin ab, die nach meinen weiteren Wünschen fragte. Wahrscheinlich glaubte sie, ich hätte eine Großfamilie zu versorgen.

„Danke, das ist jetzt alles“, antwortete ich und drehte mich schnell nach der Person um, von der ich mich beobachtet fühlte. Doch ich sah nur noch den Rücken eines Mannes, der eilig hinter Regalen verschwand. Mein Herz schlug schneller. Der Mann hatte dieselbe Haarfarbe, Größe und Statur wie … Aber nein, das war wohl nicht möglich! Schnell schob ich den Gedanken beiseite und war heute bereits zum zweiten Mal wütend auf mich. Ich musste diesen Typen endlich aus dem Kopf bekommen. Wegen ihm machte ich jetzt sogar schon meine Arbeit schlecht. Zumindest hatte mein erster Kunde heute Morgen keine gute Zeitplanung erhalten, und alles nur wegen einer vagen Äußerung einer flüchtigen Urlaubsbekanntschaft. Wenn das so weiterging, setzte ich meine hart erarbeiteten Kontakte auf’s Spiel für einen Mann, der mich während einer gemeinsamen Radtour auf halber Strecke stehen gelassen hatte, der außerdem alle paar Minuten in düsteres Schweigen verfiel und etwas ausstrahlte, das mir Angst machte.

Ich entschied mich noch an der Käsetheke, Moritz aus meinem Kopf zu verbannen. Und morgen Früh würde ich meinen Kunden anrufen und einen geeigneten Termin für die Presseaktion vereinbaren. Mir würde schon ein Grund für die Planänderung einfallen. Mit diesem Vorsatz ging ich zur Kasse und achtete nicht mehr auf Ähnlichkeiten anderer Supermarktbesucher mit meiner Urlaubsbekanntschaft. Ich fühlte mich direkt besser und war überzeugt, heute Nacht traumlos zu schlafen. Natürlich irrte ich mich.

Als ich zu Hause meinen Briefkasten leerte, fiel mir ein brauner Umschlag entgegen. Weil er aussah wie ein Behördenschreiben, steckte ich ihn in die Tasche, ohne den Absender zu lesen. In der Wohnung angekommen, packte ich erst einmal meinen Einkauf in den Kühlschrank und füllte meine Obstschale auf. Dann schob ich eine Fertigpizza in den Ofen und machte es mir mit einem Glas Rotwein vor dem Fernseher gemütlich. Als ich beim letzten Pizza-Viertel angelangt war, fiel mir der Brief wieder ein. Er war noch immer in meiner Tasche im Flur. Als ich ihn holte, begann unvermittelt mein Herz bis zum Hals zu schlagen. Warum hatte ich nicht gleich auf den Absender geschaut?

‚Anwaltskanzlei Rosemann, Fechner und Schrader‘ stand dort. Hatte mich jemand angezeigt? Und wenn ja, warum? Ich riss den Umschlag auf und entnahm ihm ein zusammengefaltetes DIN-A-4-Blatt. Darin lag eine ausgedruckte Bestätigung über die Buchung eines Fluges. Ein Hin- und Rückflug Düsseldorf - Edinburgh. Meine Knie fingen an zu zittern.

„Sie haben zugestimmt, Kaja!“, las ich die handgeschriebenen Sätze auf dem Blatt Papier. „Wir sehen uns nächste Woche am Flughafen. Vergessen Sie Ihr Schreibzeug nicht! Ich freue mich auf die Arbeit mit Ihnen, Moritz.“

Unfähig mich zu bewegen, starrte ich einige Sekunden auf die beiden Blätter auf meinem Schoß. Moritz hatte die Reise nach Schottland tatsächlich ernst gemeint. Unschlüssig drehte ich den Umschlag in der Hand. Es klebte keine Briefmarke darauf. Hatte Moritz den Brief persönlich gebracht? Dann war er wirklich der Mann im Supermarkt gewesen. Aber warum hatte mich Moritz nicht angesprochen? Ratlos zog ich die Augenbrauen hoch, legte Brief und Ausdruck neben mich auf die Couch und nahm einen Schluck Wein. Dann schaltete ich den Computer an und googelte die Anwaltskanzlei Rosemann, Fechner und Schrader. Eine Seite mit verschiedenen Links erschien und ich öffnete direkt den ersten. Es war die Homepage der Kanzlei. Oben auf der Seite waren mehrere Fotos zu sehen. Darunter standen die Namen Moritz Rosemann, Julia Fechner und Pauline Schrader. Alle drei Anwälte waren auf Patentrecht spezialisiert. Auf den Fotos, die über die verschiedenen Seiten verteilt waren, entdeckte ich Moritz gleich zweimal. Einmal in schwarzer Robe im Gericht und noch einmal ohne Robe mit Mandanten in einem hellen Raum, dessen hintere Wand ausschließlich aus Glas zu bestehen schien. Auf den anderen Fotos waren zwei Frauen in ähnlichen Situationen zu sehen. Offenbar waren sie Moritz‘ Kolleginnen. Es gab auch Fotos vom Gebäude, in dem die Kanzlei ihren Sitz hatte. Der Eindruck, den schon die Innenaufnahme gemacht hatte, wurde hier bestätigt. Die Kanzlei befand sich in einem dieser modernen Paläste in bester Lage mit vielen reichen Mandanten. Moritz Rosemann gehörte eindeutig zur Kölner High Society.

9.

 

In der Woche vor dem Abflug konnte ich kaum einen vernünftigen Gedanken fassen. Die Tage vergingen schneller als mir lieb war. Ich hatte noch einige Aufträge abzuschließen, wozu auch eine Biografie zählte, deren Ende der Auftraggeber seit Wochen hinauszögerte. Es waren nur noch Kleinigkeiten zu ändern, ansonsten schien dem Kunden seine Lebensgeschichte wirklich zu gefallen. Oder das, was ich daraus gemacht hatte. Da er trotzdem immer wieder um kleinste Korrekturen bat, bekam ich langsam Bedenken, dass dies nur Vorwände seien und er vielleicht mein Honorar nicht zahlen wolle oder könne. Doch ausgerechnet einen Tag vor der Abreise entdeckte ich endlich die Überweisung in der von mir geforderten Höhe auf meinem Konto. Ich atmete auf. Mit diesem Finanzpolster reiste ich deutlich leichter in den Urlaub. Auch wenn es genau genommen kein Urlaub, sondern eine Dienstreise war.

Ich rief den Kunden noch einmal an, um mich persönlich für die angenehme Zusammenarbeit zu bedanken. Schließlich stand meine Agentur für gute Kommunikation. Der Kunde versicherte mir erneut, dass seine Lebensgeschichte wirklich gelungen sei und er sie so bald wie möglich veröffentlichen wolle. Ich gab ihm dazu noch Tipps und Adressen. Dann wollte ich das Gespräch beenden.

„Nein, bitte, legen Sie nicht auf!“, sagte er plötzlich aufgeregt. „Was meinen Sie … können wir uns vielleicht einmal privat treffen?“

Ich schluckte. Solche Situationen waren mir denkbar unangenehm.

„Ich treffe mich eigentlich nie privat mit meinen Kunden“, erwiderte ich zögernd und ärgerte mich noch im selben Moment über das Wort ‚eigentlich‘.

„Das ist sicher eine gute Entscheidung“, redete er weiter, „aber ich bin ja jetzt nicht mehr Ihr Kunde.“

„Das gilt auch für Ex-Kunden“, sagte ich und bemühte mich, meiner Stimme eine Heiterkeit zu verleihen, die ich nicht empfand.

„Aber ich dachte … also, ich hatte den Eindruck, dass Ihnen unser gemeinsames Projekt auch Spaß gemacht hat“, sagte er leise.

„Natürlich hat es das“, erwiderte ich schnell, „auf einer rein beruflichen Ebene.“

„Und meine Nachrichten?“, fragte er noch leiser und ich erstarrte.

Er war der anonyme SMS-Schreiber!

Ich schwieg ein paar Sekunden, um das Gehörte bei mir ankommen zu lassen. Er musste die erotischen Botschaften von einem zweiten Telefon aus gesandt haben, dessen Nummer ich nicht kannte. Die offiziellen Nachrichten, in denen er mir regelmäßig Informationen für seine Biografie geschickt hatte, waren von einem anderen Telefon gekommen … Ich schluckte und hatte Mühe, höflich zu bleiben.

„Hören Sie, ich glaube, es ist besser, wir beenden dieses Gespräch jetzt. Bitte schicken Sie mir keine weiteren Nachrichten mehr!“, sagte ich energisch.

„Das ist ja auch nicht mehr nötig. Die Geschichte ist schließlich fertig“, erwiderte er verdutzt.

Doch ich hatte kein Interesse, ihm noch länger zuzuhören und beendete das Gespräch mit einem kurzen Gruß. Ich war wütend, so wütend, dass ich erst einmal keine Lust zum Packen hatte. Oder war ich einfach nur enttäuscht, weil die Nachrichten vom falschen Mann kamen, während der, mit dem ich morgen eine dreiwöchige Reise antrat, sich kein einziges Mal gemeldet hatte? Ich hatte lediglich diesen braunen Umschlag mit ein paar locker hingeworfenen Sätzen und einem Computerausdruck über eine Flugbuchung. Vor genau einer Woche hatte ich den Brief bekommen. Natürlich hätte auch ich mich bei Moritz melden können, jetzt, wo ich seinen Nachnamen und die Adresse seiner Kanzlei kannte. Aber ich wollte nicht den Eindruck erwecken, als liefe ich ihm nach. Bei jedem anderen Kunden hätte ich mich deutlich professioneller verhalten. Allerdings wäre ich auch mit keinem anderen Kunden drei Wochen fortgeflogen. Aber bislang hatte mir niemand 20.000 Euro für ein Tagebuch geboten, wie Ira es nannte.

Mit Ira hatte ich nach unserem Treffen vor einer Woche noch mehrmals gesprochen. An zwei Abenden hatten wir uns sogar getroffen. Natürlich war sie neugierig gewesen, wie es nun mit diesem Unbekannten weitergehen mochte. Als ich ihr von den Flugtickets erzählte, waren ihr fast die Augen aus dem Kopf gefallen.

„Der meint das ja wirklich ernst“, hatte sie ausgerufen, während ich sie kurz triumphierend angesehen und ein „Ich weiß aber noch nicht, ob ich mitfliege“, erwidert hatte, worauf Ira laut losprustete. „Natürlich fliegst du. Schau dir nur deine Augen an.“

„Du spinnst ja“, hatte ich verärgert geantwortet, doch Ira hatte einfach weitergelacht.

„Sag‘ mal“, hatte sie sich plötzlich unterbrochen, „woher hatte der Typ eigentlich dein Geburtsdatum?“

„Wieso?“

„Das braucht man, wenn man einen Flug für jemanden bucht.“

Wir hatten uns beide irritiert angeschaut. In der vergangenen Woche war ich ein paarmal kurz davor gewesen, in Moritz‘ Kanzlei anzurufen und ihn zur Rede zu stellen. Doch etwas hatte mich davon abgehalten. Sicher würde ich dieses Rätsel schon rechtzeitig lösen. Ich holte meinen Koffer vom Schrank und begann, meine Sachen einzupacken. Drei Wochen waren eine lange Zeit, ich musste also einiges mitnehmen.

Eine halbe Stunde später standen der Koffer und meine Umhängetasche fertig gepackt da. Ich holte ein Weinglas aus dem Schrank und goss mir Rotwein ein. Er sollte mir nicht beim Einschlafen helfen, denn in dieser Nacht schlief ich kaum.

10.

 

Mit schwarzen Ringen unter den Augen erreichte ich am nächsten Morgen den Düsseldorfer Flughafen, eine gute Stunde vor dem geplanten Abflug. Im Zug hierher war ich zu der Überzeugung gekommen, dass Moritz Rosemann nicht auftauchen würde. Vermutlich hatte er längst seine Meinung geändert und entschieden, dass er doch keine Biografie brauchte. Schon gar keine für 20.000 Euro. Warum wollte ein Mann mit Mitte Dreißig, der kein Star oder sonst irgendwie bekannt war, sich eine Biografie schreiben lassen? Dies würde ich natürlich niemals einem zahlungswilligen Kunden gegenüber äußern, doch es stimmte. Die Sache machte überhaupt keinen Sinn.

In der Abflughalle angekommen war ich fest entschlossen, notfalls auch allein zu fliegen. Schließlich war dieser Flug für mich gebucht. Eine Urlaubsreise war in meiner beruflichen Situation zwar höchst unvernünftig, aber Schottland hatte ich noch nie widerstehen können. Selbst Tom hatte mich damit noch einmal geködert. Genützt hatte es ihm trotzdem nichts, weil direkt nach der Reise unsere Beziehung endgültig in die Brüche gegangen war.

Am Schalter stand ein Paar vor mir. Während ich hinter den beiden wartete, versuchte ich einen möglichst unbeteiligten Eindruck zu machen und mich auf keinen Fall suchend umzuschauen. Falls Moritz doch noch auftauchte, sollte er nicht denken, ich hätte ihn schon sehnsüchtig erwartet.

„Sie haben einen First-Class-Flug gebucht, da müssen Sie dort vorne einchecken“, sagte die Frau hinter dem Schalter freundlich, nachdem ich ihr meinen Personalausweis und meinen Namen genannt hatte. Sie deutete nach rechts und ich ging zögernd dorthin und checkte ein.

Nachdem mein Koffer auf den Weg in den Frachtraum des Flugzeugs geschickt war und ich meine Boarding Card erhalten hatte, machte ich mich auf den Weg nach oben in die Abflughalle. Dabei benahm ich mich wieder betont desinteressiert. Ich sah mich auch nicht um, als ich durch die Kontrolle musste. Dummerweise löste ich ein lautes Piepsen aus, als ich unter dem Bogen hindurchging, und zog dabei einige Blicke auf mich. Ich wurde zur Seite gewinkt und mit den Detektoren noch einmal gründlich abgesucht. Nachdem ich sogar meine Schuhe hatte ausziehen müssen, durfte ich endlich gehen. Zu allem Überfluss entschied der Beamte hinter dem Band, meine Umhängetasche nach dem elektronischen Check auch noch einer persönlichen Durchsuchung zu unterziehen und hatte in wenigen Sekunden deren gesamten Inhalt ausgeschüttet. Zwischen meinem Portemonnaie und einem Paket Papiertaschentüchern entdeckte ich zu meinem Entsetzen zwei Kondompäckchen, die schon so lange in der Tasche lagerten, dass ich sie schlicht dort vergessen hatte. Dies wäre jetzt der richtige Moment, in dem Moritz neben mir auftauchen müsste. Nun schaute ich mich doch erschrocken um und hatte mit ein paar schnellen Griffen alles wieder in der Tasche verstaut.

Weil bis zum Boarding noch mehr als eine halbe Stunde Zeit war, entschied ich mich, einen Kaffee zu trinken. Inzwischen freute ich mich richtig auf Schottland. Mit dem Geld vom letzten Auftrag – der Gedanke an die Textnachrichten dieses Kunden machte mich noch immer wütend – könnte ich die Zeit in Schottland ruhigen Gewissens genießen, mir sogar einen Mietwagen nehmen und nach Lust und Laune durch das Land fahren. Vielleicht würde ich auch ein oder zwei Hebriden-Inseln besuchen. Mit der Fähre wäre das kein Problem. Ich spürte eine große Erleichterung, dass Moritz nicht aufgetaucht war. Etwas an diesem Mann war mir von Anfang an nicht geheuer gewesen. Ich lehnte mich zurück und genoss meinen Cappuccino mit Karamellgeschmack. Ein Sakrileg für jeden Italiener, aber mir schmeckte es. Das Piepsen meines Telefons riss mich aus meinem Gedanken. Ich hatte eine SMS bekommen.

Warum meldest du dich eigentlich nicht? Ist er schon da?

Ira. Wer sonst schickte mir solche Nachrichten? Aber gut, ich hatte vergessen, mich von ihr zu verabschieden und nun war sie sauer. Und neugierig. Beides zu Recht, wie selbst ich fand. Ich drückte die grüne Taste, um eine Verbindung zu ihr herzustellen. Ira meldete sich und ich machte mich auf eine längere Tirade über die Rechte und Pflichten einer Freundin gefasst, doch sie blieb erstaunlich zahm.

„Nun sag‘ schon, ist er da?“, rief sie mir etwas zu laut ins Ohr. Vermutlich glaubte sie, ich könnte sie in dem Menschengewimmel nicht gut hören. Doch Ira konnte man eigentlich immer hören, egal, wie laut die Umgebung war.

„Nein“, erwiderte ich knapp. Ich wollte jetzt keine Belehrungen in der Art ‚Habe ich dir doch gleich gesagt, kein normaler Mensch zahlt 20.000 Euro für ein bisschen Geschreibsel‘.

Doch Ira reagierte völlig unerwartet. „Auf welchen Kinofilm hast du Lust heute Abend?“

„Wie bitte?“, fragte ich verständnislos zurück.

„Na, ich dachte, um den Tag doch noch schön ausklingen zu lassen“, erwiderte sie mit fast sanfter Stimme.

„Dafür müsste ich erst einmal wissen, was in Edinburgh in den Kinos läuft“, antwortete ich.

„Sag‘ nicht, du fliegst da trotzdem hin?“ Nun war in ihrer Stimme reines Unverständnis. „Du kannst doch nicht …“

Weiter kam sie nicht, denn ich wünschte ihr schnell eine gute Zeit, versprach, mich jeden zweiten Tag bei ihr zu melden und beendete das Gespräch. Als ich das Telefon zurück in meine Tasche stecken wollte, sah ich, dass ich noch eine SMS bekommen hatte. Eine wütende Erwiderung von Ira? Ich öffnete die Nachricht.

Ich sehne mich nach dir.

Erschrocken warf ich beinahe meine Tasse um. Das war die Höhe, die absolute Höhe! Dieser unverschämte Kerl! Was bildete der sich eigentlich ein? Von einer Sekunde auf die andere kochte ich vor Wut und überlegte kurz, ob ich ihn anzeigen sollte. Kunde hin, Kunde her. Das war sexuelle Belästigung! Doch ich entschied mich für den direkten Weg, drückte die Anruftaste und wartete, dass sich mein Kunde meldete. Mein ehemaliger Kunde, um genau zu sein. Ich wusste noch nicht, was genau ich ihm sagen wollte, aber es würde deutlich sein. Statt eines Freizeichens meldete sich sofort der Anrufbeantworter. Ich wartete die Ansage ab und ließ dann in einem Wortschwall meine Wut auf die Voice-Mail ab. Die Worte flossen einfach so aus mir heraus und offenbar redete ich auch nicht sehr leise, denn plötzlich blickten mehrere Menschen, die an den Nachbartischen saßen, zu mir herüber. Eine elegant gekleidete, ältere Dame schüttelte verständnislos den Kopf und schaute dann schnell wieder in ihre Zeitschrift.

„Nanu, hat jemandem seine Biografie nicht gefallen?“

Irritiert schaute ich auf und blickte in die Augen von Moritz. Vor Schreck hätte ich beinahe mein Telefon fallen gelassen. Doch ich war so geistesgegenwärtig, noch die rote Taste zu drücken. Moritz sah wieder umwerfend gut aus. Und natürlich hatte er in der letzten Nacht hervorragend geschlafen und jetzt keine Augenringe wie ich. Seine Kleidung war komplett schwarz. Nur die Schirmmütze auf seinem Kopf war hell- und dunkelgrau kariert. Doch das erkannte man nur aus der Nähe.

„Was machen Sie hier?“ Meine Stimme schwang zwischen Entsetzen und Schrecken.

„Das nenne ich eine nette Begrüßung“, erwiderte er grinsend. Seine makellos weißen Zähne bildeten einen spannenden Kontrast zur schwarzen Kleidung. „Wenn ich mich richtig erinnere, waren wir hier verabredet.“

„Ja schon, aber ich habe eigentlich nicht …“, mit Ihnen gerechnet, wollte ich den Satz beenden. Doch der letzte Teil blieb mir glücklicherweise im Hals stecken.

„Dann ist’s ja gut“, erwiderte er heiter und schlenderte zur Theke, um sich ebenfalls einen Kaffee zu bestellen.

„Was hat Sie da eben denn so in Rage gebracht?“, fragte er unvermittelt, als er mit dem Kaffee an den Tisch zurückkam.

„Das geht Sie überhaupt nichts an!“, entgegnete ich schärfer als beabsichtigt, um zu überspielen, dass ich schon wieder rot wurde. „Schöne Mütze übrigens“, versuchte ich mit Sarkasmus vom Thema abzulenken.

„Gehört zu meiner Sportausrüstung“, ging Moritz auf meine Stichelei ein, „Ich dachte, ich vergnüge mich ein wenig auf den schottischen Golfplätzen, während Sie sich an meiner Biografie die Finger wund schreiben.“ Er sah mich mit seinem intensiven Blick an, der mich schon wieder völlig aus der Fassung brachte. Jedenfalls begann sich vor meinen Augen alles ganz langsam zu drehen, sodass ich mich kurz an der Tischkante festhalten musste.

Moritz bemerkte es und legte besorgt seine Hand auf meinen Arm. „Alles in Ordnung?“, fragte er leise. „Ich dachte, Sie haben Humor.“

„Den habe ich auch“, stieß ich zwischen den Zähnen hervor, während ich meinen Blick auf einen festen Punkt richtete.

„Ah, ich verstehe. Nur meinen mögen Sie nicht.“ Er lachte leise, wobei er mich weiter aufmerksam ansah. Dabei strich er leicht über meine Hand und ich spürte, wie mich diese Berührung innerlich erschauern ließ.

„Wieder besser?“, fragte er nach ein paar Augenblicken.

Ich nickte.

„Trinken Sie noch einen Schluck!“ Er hielt mir die Tasse an den Mund. Ich begann tatsächlich zu trinken und spürte, dass es gut tat, wie der inzwischen lauwarme Cappuccino durch die Speiseröhre in den Magen rann. Moritz hielt die ganze Zeit meine Tasse fest. Wahrscheinlich hatte er Angst, ich könnte den Inhalt verschütten und er müsste mit einer besudelten Begleitung reisen. Der Gedanke brachte mich zum Grinsen, was Moritz sofort registrierte.

„Was ist so komisch daran?“, fragte er.

„Sie behandeln mich wie ein Baby“, erwiderte ich mit einem Blick auf seine Hand, die noch immer meine Tasse festhielt.

„Einem Baby würde ich nicht den Auftrag geben, meine Biografie zu schreiben“, sagte er lächelnd und stellte die Tasse wieder ab.

„Ich habe nicht damit gerechnet, dass Sie tatsächlich kommen würden“, sagte ich und sah ihn direkt an.

„Sie haben endlich wieder Farbe im Gesicht“, erwiderte er statt einer Antwort.

War ich etwa schon wieder rot geworden? Ich fasste mir unauffällig ins Gesicht, um zu prüfen, ob es heiß war. Vielleicht hatte Moritz seine Bemerkung aber ausnahmsweise freundlich gemeint. Schließlich wäre ich wegen einer kleinen Kreislaufschwäche gerade fast vom Stuhl gerutscht. Dieser Mann haute mich im wahrsten Sinne um. Dieser Gedanke brachte mich zum Schmunzeln.

„Sie amüsieren sich schon wieder, das ist gut …“ Moritz wollte noch etwas sagen, doch in diesem Moment klingelte sein Telefon. Nach einem Blick auf das Display nahm er das Gespräch entgegen, nickte mir kurz zu und entfernte sich dann ein paar Meter von unserem Tisch. Während er sprach, sah er die ganze Zeit auf den Boden. Sein Gesicht war jetzt sehr ernst und ich befürchtete, seine Laune könnte wieder kippen, wie ich es an der Nordsee bereits erlebt hatte. Moritz setzte das Gespräch in dieser Haltung noch zwei Minuten fort, bis er - noch immer telefonierend - zurück zu meinem Tisch kam. So konnte ich noch die letzten Sätze des Gesprächs hören.

„Wir sehen uns ja schon übernächste Woche … dann besprechen wir die Zukunft … Wann genau, kann ich dir noch nicht sagen. Das hängt davon ab, wie schnell ich mit dem geplanten Projekt vorankomme … Es wird vermutlich eher Ende als Mitte der Woche … Ich freue mich auch auf dich, du ahnst nicht, wie sehr … bis übernächste Woche in Edinburgh.“

Er beendete das Telefonat und sah mich an. In seinen Augen lag nun ein Glanz, den ich vorher nicht bemerkt hatte. Er strahlte sogar richtig.

Was waren seine letzten Sätze gewesen? ‚Dann besprechen wir die Zukunft‘ und ‚Ich freue mich auf dich, du ahnst nicht, wie sehr‘. So etwas sagte man zu einer Geliebten. Hatte er vor, sich in Schottland mit seiner Geliebten zu treffen? Während ich als fünftes Rad hinterherdackelte? Glaubte er, ich hätte meine Zeit gestohlen, um sie in Schottland zu vertrödeln, während mir zu Hause lukrative Aufträge durch die Lappen gingen? Ich spürte, wie schon wieder Wut in mir hochkroch. Diesmal auf Moritz. Warum hatte ich mich nur auf diesen Schwachsinn eingelassen? Am liebsten würde ich jetzt meine Tasche schnappen und schnurstracks zurück zum Ausgang marschieren.

„Kommen Sie! Unser Flug wird gerade aufgerufen!“ Moritz klang gut gelaunt, ja, amüsiert. War das Schadenfreude? Machte er sich über mich lustig? Was bildete sich der Typ eigentlich ein! Hatte er tatsächlich geglaubt, ich hätte mehr erwartet als eine geschäftliche Beziehung? Von wegen. Ich war Geschäftsfrau. Und genau das würde ich ihm beweisen.

„Bleibt es übrigens bei dem Honorar?“, fragte ich, während ich es schaffte, ihn anzulächeln.

„Ich hatte mich schon gefragt, wann Sie diesen Aspekt endlich erwähnen“, erwiderte Moritz so betont lässig, dass ich sofort den Impuls verspürte, ihm eine zu knallen. Natürlich beherrschte ich mich und zog nur die Augenbrauen hoch.

„20.000 Euro sind fest ausgemacht. Sie bekommen 25.000 Euro, wenn der Text gut wird“, sagte er und sah mich noch immer grinsend an. „So war es doch vereinbart.“

Vereinbart war gar nichts, hätte ich ihm gerne entgegnet, doch eine kluge Geschäftsfrau hielt in so einem Moment den Mund. Während wir zu unserem Schalter gingen, legte Moritz seinen Arm um meine Schulter. Es war eine warme und fast vertraute Berührung. Und sie durfte nicht sein zwischen einem Kunden und mir, ermahnte ich mich sofort. Doch bestimmt hatte Moritz nur Angst, mein Kreislauf könnte wieder schlapp machen. Ich machte eine leicht abwehrende Bewegung und er nahm sofort seinen Arm wieder fort. Stattdessen begann er nun leise zu pfeifen. Natürlich, die Vorfreude auf seine Geliebte in Edinburgh. Ich fragte mich, warum er nicht direkt zu ihr fuhr. Warum traf er sich erst übernächste Woche mit ihr? Wäre ich an ihrer Stelle, würde mich das verletzten.

Ich war aber nicht an ihrer Stelle! Da dachte ich lieber an die 20.000, nein, 25.000 Euro. Offenbar hatte er tatsächlich vor, einem No-Name wie mir so viel Geld zu bezahlen. Und bestimmt kannte er noch mehr Menschen, die zu viel Geld besaßen und für die ich ebenfalls schreiben könnte. Ich atmete tief durch. Das hier war vielleicht mein Durchbruch als Ghostwriterin der Reichen. Oh ja, ich würde ihm die perfekte Autorin präsentieren!

Moritz kramte in seiner Jackentasche nach der Boarding Card, während ich erst jetzt bemerkte, dass die Schlange vor uns zusammengeschrumpft war und wir als Nächste am Schalter standen.

„Sind Sie bereit?“, fragte Moritz, nachdem uns die Angestellte einen guten Flug gewünscht hatte und wir auf dem Weg zum Shuttle-Bus waren. Ich nickte kurz und vermied dabei, ihn anzusehen.

Als wir endlich im Flugzeug bei unseren First-Class-Sitzen angekommen waren, überließ mir Moritz den Fensterplatz. Glaubte er etwa, ich sei noch nie geflogen? Unsinn, schalt ich mich im nächsten Moment, er wollte einfach höflich sein.

„Wie stellen Sie sich diese Reise eigentlich vor?“, fragte ich, nachdem wir saßen. „Ich meine, an welchem Ort in Schottland werden wir an Ihrer Biografie arbeiten?“

Er wandte sich mir zu und ich bemerkte noch immer diesen Glanz in seinen Augen.

„Lassen Sie sich überraschen“, erwiderte er, während ein Lächeln um seinen Mund spielte.

„Ich hasse Überraschungen!“, sagte ich heftiger, als ich sollte, um emotional unbeteiligt zu klingen. „Vor allem, wenn es dabei um mein Geschäft geht“, ergänzte ich ruhiger und hoffte, den Eindruck des ersten Satzes wieder verwischt zu haben.

„Dann werden Sie es diesmal akzeptieren müssen, fürchte ich.“ Wieder sah Moritz mich von der Seite an. Sein Blick war nun eindeutig amüsiert. Natürlich machte er sich über mich lustig, auch, wenn er die 25.000 Euro wirklich zahlen würde. Und ich konnte es ihm nicht einmal verübeln. Ich hatte mich freiwillig auf die Sache eingelassen und nun musste ich zusehen, dass ich heil wieder aus ihr hinauskam. Andererseits sah Moritz nun wirklich nicht wie ein Psychopath aus. Was natürlich täuschen konnte, wie mich meine innere Stimme mahnte.

„Seien Sie unbesorgt, es wird Ihnen gefallen!“, sagte Moritz. Konnte er Gedanken lesen? „Sie sagten doch, Sie lieben Schottland. Dann werden Sie unseren kleinen Trip genießen.“

Er betonte das letzte Wort auffällig und ich spürte überflüssigerweise wieder dieses Kribbeln in meinem Körper.

„Wir bleiben also nicht an einem Ort?“

„Das wäre doch langweilig“, meinte er und schaute mich wieder mit diesem Lächeln an. „Selbst an einem magischen Ort wie Schottland.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752138634
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Liebesroman düsteres Erbe Highlands dark Romance Bad Boy verbotene Liebe Familiengeheimnis Schottland Romance heimliche Liebe Psychothriller

Autor

  • Nora Gold (Autor:in)

Geboren und aufgewachsen ist Nora Gold in Westfalen. Nach einem Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie in Aachen arbeitete sie viele Jahre lang als Pressereferentin in einer westfälischen Hochschule und später in einem sächsischen Universitätsklinikum sowie freiberuflich bei verschiedenen Printmedien und Unternehmen. Nach Feierabend begann sie Romane zu schreiben. Der Fokus der Autorin liegt auf spannender Romantik. Manchmal mit einem Hauch Mystery.
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Titel: Die geheimnisvolle Reise der Kaja D.