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Lenara: Der Blutschwur

von Dominique Heidenreich (Autor:in)
400 Seiten
Reihe: Lenara, Band 5

Zusammenfassung

Während der Kampf mit Lilith näher rückt, muss Len sich auf einen Krieg vorbereiten, der nur mit Hilfe der Gargoyles entschieden werden kann. Nicht zuletzt muss sie Liliane davon überzeugen, einen Fluch aufzuheben, den sie dem Mann aufgebürdet hat, dessen Unterstützung jetzt unbedingt erforderlich ist. Doch dafür müssen festgefahrene Fronten aufgebrochen werden und das, bevor Dans Clan Rache für den Mord an Franklin fordert. Die finale Schlacht, die über das Schicksal der Wölfe, Dämonen und Gargoyles entscheiden wird, steht direkt bevor.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Copyright © 2018 Dominique Heidenreich. Alle Rechte vorbehalten

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Alle in diesem Roman vorkommenden Personen, Charaktere, Schauplätze, Ereignisse und Handlungen entstammen der Vorstellungskraft der Autorin, oder sind fiktiv. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden, oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

1. Auflage

 

Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss, www.juliane-schneeweiss.com

Lektorat & Korrektorat: Pia Euteneuer und Lillith Korn

Selbstverlag: Isabel Heidenreich, BA
Kampfstraße 4, 1140 Wien

Heidenreich, Dominique

Der Blutschwur

Band 5 der Reihe - Lenara

Mehr Informationen finden sie auf www.dominiqueheidenreich.at

Besucht mich auf Facebook und Instagram: @DominiqueHeidenreich

 

Was bisher geschah …

 

Als Lisa entführt wird, trifft Jamie eine folgenschwere Entscheidung. Er verrät den Dämonen den Standort des Rudels und spielt damit den Gargoyles, die mit Lilith unter einer Decke stecken, direkt in die Hände.

Die Höhle wird angegriffen und es kommt zum Kampf, bei dem Malcolm getötet wird. In dem Tumult wird Marie von den Gargoyles verschleppt und eingesperrt.

Len zieht gemeinsam mit Dan los, um sie zu befreien, und wird dabei von Jinx, Liliths rechter Hand, konfrontiert. Es kommt zur Auseinandersetzung zwischen Dan und seinem Vater Franklin, bei der Dan ihn umbringt.

Gemeinsam schaffen sie es, Jinx zu töten, und Len kann Marie nach Hause bringen.

 

Prolog

 

Sie traf Alexander in einer schmierigen Gasse in London.

Eigentlich war sie kurz davor gewesen, zwei oder drei der Dämonen an ihrer Seite zu nutzen, um ihren Hunger zu stillen. Aber für den Gargoyle musste es nach einem Überfall ausgesehen haben.

Er schritt ein wie ein Ritter in schimmernder Rüstung und sie die Jungfer in Nöten. Nichts hätte weiter von der Wahrheit entfernt sein können.

Es überraschte sie, mit welcher Präzision er in wenigen Sekunden ihre Männer tötete, und sie beschloss, die Chance nicht verstreichen zu lassen und mit ihm zu spielen.

Zu dem Zeitpunkt wusste sie nicht wer, sondern nur was er war und wofür er und sein ganzes Volk standen.

Er verwandelte sich vor ihr in einen Menschen zurück, um ihr auf Augenhöhe zu begegnen.

Sie ließ ihre Fähigkeiten sanft auf ihn einwirken, bis er noch völlig blutüberströmt über sie herfiel. Kaum hatte er Befriedigung erlangt, entschuldigte er sich für sein abruptes Handeln und seine gewaltvollen Taten, während sie vor Genugtuung und Erfüllung schwankte.

Als er sie nach ihrem Namen fragte, antwortete sie aus Reflex und ohne Tücke, wie sie es hätte tun sollen.

Lillu.

Der Name, unter dem sie Jahrzehnte später wieder wandelte.

Doch es war sein Name, der sie aufhorchen ließ.

Der Alexander?“

„Du hast von mir gehört?“, entfuhr es ihm überrascht. „Ich dachte, ich müsste erst erklären, was ich bin, bevor ich klarstellen kann, wer ich bin.“

Hielt er sie etwa für einen Menschen? Konnte das wirklich sein? Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Das würde Spaß machen.

„Du bist ein Gargoyle“, sagte sie ihm deshalb. „Beschützer der Menschen und Unschuldigen.“ Der subtile Hohn in ihrer Stimme war leicht mit echter Bewunderung zu verwechseln. Was Alexander tat. Ihre Finger fuhren durch das Blut in seinem Gesicht und sie widerstand dem Drang, es abzulecken.

Er sah gut aus für jemanden, der den Ruf hatte, erbarmungslos seine Ziele zu verfolgen und ein kaltblütiger Mörder zu sein.

Wenigstens das hatten sie gemeinsam.

Wie er jemals etwas Verletzliches in ihr sehen konnte, blieb ihr ewig ein Rätsel. Sie war eine Frau, schön und selbstbewusst, optisch mochte sie schwach aussehen, aber ihr Kern bestand aus Stahl. Alexander unterschätzte sie. So wie Männer es taten, die sie weit weniger nah an sich heranließ als ihn.

Wie Teenager tauschten sie Telefonnummern aus und schrieben sich, vereinbarten Dates, hatten Sex. Bombastischen Sex, und sie ging bei Weitem nicht großzügig mit derartigen Beschreibungen um. Schließlich hatte sie mehr davon in einer Woche als so mancher Mensch in einem Jahr.

Lilith hätte sich nie für so kompatibel mit jemanden gehalten. Schon gar nicht mit einem Gargoyle.

Sie redeten über Gott und die Welt, über die guten und schlechten Seiten. Er vertraute sich ihr an, seine Probleme, seine Sorgen.

Und zu ihrer großen Überraschung tat sie das Gleiche.

Nach zwei Monaten beichtete sie ihm ihr größtes Geheimnis.

Sie verriet ihm ihren richtigen Namen und wer sie wirklich war, ebenso wie die Tatsache, dass sie den Namen genauso sehr hasste wie ihr Vermächtnis.

Nie hätte sie damit gerechnet, dass ausgerechnet er sie verstand.

Doch das tat er.

Gemeinsam heckten sie einen Plan aus, den Rat der Gargoyles zu überlisten, und Lilith spielte mit, mehr als nur bereitwillig.

Zum ersten Mal in ihrem Leben zeichnete sich Hoffnung für sie ab. Sie könnte ihrem eigenen Schicksal entkommen und mit Alexander an ihrer Seite herrschen. Das wäre mehr, als je ein Dämon vor ihr erreicht hätte. Mehr, als sie je zu träumen gewagt hatte, und es lag in greifbarer Nähe.

Tatsächlich malte sie sich eine Zukunft mit ihm aus. Machte langfristige Pläne, die ihn einbezogen.

Sie sprachen sogar über Nachwuchs, als wären sie ein ganz normales Paar und nicht eine horrende Version von Romeo und Julia.

Er versprach, ihr Himmel und Hölle zu Füßen zu legen.

Lilith war sich nie sicher gewesen, ob sie wirklich verstand, was Liebe bedeutete oder sein sollte. Durch ihn begann sie, all das zu überdenken. Dank Alexander schien plötzlich alles möglich zu sein.

Sie schworen sich ewige Treue und Lilith ließ zu, dass er sie schwängerte. Sie wollte ihm den Erben schenken, den er sich wünschte. Einen Sohn, der ihn liebte und ihm treu ergeben war, nicht wie die Missgeburt von einem Bastard, die er in seiner Verzweiflung mit der Wolfshure gezeugt hatte.

Ginge es nach ihr, hätte sie beide sofort getötet.

Doch sie liebte Alexander und beugte sich seinem Willen, die beiden am Leben zu lassen.

Für ihn trat sie vor den Rat der Gargoyles, dessen Meinung und Anerkennung ihm so wichtig war.

Für ihn hätte sie alle ihre Dämonen auf einen Schlag getötet.

Sie hätte alles für ihn getan.

Hätte der Rat sie nicht verstoßen.

Wäre das Leben entgegen allen Beweisen gerecht und fair.

Nachdem Alexander ihr schließlich beichtete, dass der Rat ihrer Vermählung nicht zugestimmt hatte, und Lilith klar wurde, dass er sich ihnen fügen würde, änderte sich alles.

Sie explodierte nicht auf der Stelle, so wie Alexander es wahrscheinlich erwartet hatte.

Aber sie plante ihre Rache.

Ihre Liebe zu ihm verbrannte zu Asche bei seinem Verrat. Anstatt gegen des Rates Wunsch zu handeln und sie trotzdem zu heiraten, behandelte er sie fortan wie ein schmutziges Geheimnis. Wie eine Mätresse.

Wie die Hure von Wolf, die er als Schoßtier hielt.

Es war sein Fehler zu glauben, dass sie sich ihm unterordnen würde und bereit wäre, ein derartiges Leben zu führen, nur um an seiner Seite zu bleiben.

Sie hätten alles erreichen können, hätte er sie nicht für seine Ideale, die Ideale seines Volkes, verraten.

Hätte er sie nicht im Stich gelassen, hätte sie ihn und seine Familie vielleicht nie getötet.

Vielleicht wären sie sogar glücklich gewesen.

Möglicherweise hätte es sogar ein Für-immer-und-ewig für sie gegeben.

Allerdings war ihrer beider Schicksal ein anderes.

Kaum erfuhr er vom Tod seines Clans, kam er, um sie zu töten, und brachte es doch nicht fertig.

Ob er zu schwach war oder zu sentimental, wusste sie nicht. Möglicherweise beides. Am Ende spielte es keine Rolle.

Sie tötete ihn.

Kurz und schmerzlos. Gnädiger, als er es verdient hatte.

Trotzdem blieb die Genugtuung aus.

Alles, was er zurückließ, war ein enttäuschter Blick ob ihres Verrats und eine Leere, die selbst das Leben, das in ihr heranwuchs, nicht zu füllen vermochte.

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1

 

Len

 

„Immer noch ein Fan von Puzzles. Wenigstens etwas hat sich nicht geändert“, kommentierte Len und ließ sich neben Lisa auf den Boden fallen.

„Hilft mir, den Lärm auszublenden“, murmelte sie. Ihre Konzentration blieb vollständig auf das Puzzle vor ihr gerichtet, während im Hintergrund die Arbeiter, die ihre Höhle wieder auf Vordermann brachten, hämmerten und sägten.

Dan hatte ihnen das Geld für die Reparaturarbeiten und die erweiterten Sicherheitsmaßnahmen zur Verfügung gestellt, nachdem Franklin für den Angriff auf ihr Rudel verantwortlich gewesen war. Für die Mehrheit des Rudels fühlte es sich wie Schweigegeld an, Kompensation für etwas, das man nicht kompensieren konnte.

Cailin, die ihr Bein bei der Explosion verloren hatte, war in ein besseres Krankenhaus verlegt worden, sobald sie für den Transport stabil genug war. Auch das hatten sie Dan zu verdanken. Zwar hatte ihr Rudel keine finanziellen Probleme, doch fehlten ihnen die Mittel, sich all das leisten zu können.

Len war ihm dankbar, vor allem weil er sich die Mühe machte, regelmäßig nach dem Rechten zu sehen, wenngleich er selbst genug um die Ohren hatte. Franklin war tot, Elizabeth hatte sich umgebracht und Dan hatte alle Hände voll zu tun, seinen Clan davon abzuhalten, ihm an die Gurgel zu gehen.

Vielleicht bot die zerstörte Höhle ihres Rudels ihm also einfach eine Fluchtmöglichkeit vor einer Situation, die er nicht so einfach in den Griff bekommen konnte.

Ein Schniefen riss sie aus ihren Gedanken. Sobald sie die Träne Lisas Wange herunterlaufen sah, legte sich ein Gewicht auf ihre Brust.

„Ach, Engel.“ Ohne lange darüber nachzudenken, zog sie Lisa auf ihren Schoß und schloss die Arme um sie. Sie musste nicht fragen, warum sie weinte. Lisa hatte nicht nur ihre leiblichen Eltern verloren, sondern durch Malcolms Tod auch den Ziehvater und ihren Alpha.

„Ist es wirklich Jamies Schuld?“

Natürlich hatte Lisa herausgefunden, dass Jamie involviert gewesen war. Len seufzte schwer und drückte sie fester an sich. „Nein.“ Es fiel ihr immer noch nicht leicht anzuerkennen, dass es nicht Jamies Schuld war. Obwohl Marie ihn wieder im Rudel aufgenommen hatte, wurde er alles andere als mit offenen Armen empfangen. Zu tief saß der Schmerz über seinen Verrat und Malcolms Tod. „Der Einzige, der Schuld trägt, ist der Gargoyle, der Malcolm getötet hat.“

„Aber wenn Jamie nicht –“

„Jamie ist dein Bruder, er liebt dich und würde alles für dich tun. Genau das ist es, was er getan hat, um dich zurückzubekommen. Niemand in unserem Rudel kann ihn dafür verurteilen“, unterbrach Len sie sanft und gleichzeitig bestimmt.

„Das tun sie aber“, schluchzte Lisa.

„Weil Malcolm zu verlieren …“ Ihre Stimme brach und sie musste hart schlucken, bevor sie weitersprechen konnte. „… uns alle schwer getroffen hat. Es tut weh, jedem Einzelnen von uns. Auch Jamie. Es geht nur jeder mit diesem Schmerz anders um.“

Marie hatte sich kurz nach ihrer Rückkehr völlig in sich zurückgezogen und war in Katatonie verfallen. Ivera, die früher als Krankenschwester gearbeitet hatte, kümmerte sich fast Tag und Nacht um sie. Half ihr, morgens aufzustehen, sich anzuziehen … Dinge, die selbstverständlich sein sollten, aber es nicht mehr waren. Wenn man sie nicht wortwörtlich bei der Hand nahm, verbrachte sie den ganzen Tag mit leerem Blick im Bett. Wenigstens aß sie mit etwas Nachdruck. Ivera hatte angefangen, Marie Antidepressiva zu verabreichen, in der Hoffnung, ihre Starre so lösen zu können, sobald die Tabletten anschlugen. Etwas, das Tage, wenn nicht Wochen dauern konnte.

Es war schwer, dabei zuzusehen, noch schwerer zu ertragen, dass es nichts gab, das Len tun konnte.

Lisa hob ihr tränenbenetztes Gesicht und sah sie an. „Warum bist du dann so gefasst?“

Ein trockener, bitterer Ton entrang sich ihr, der Versuch eines Lachens, das bereits im Hals erstarb. „Ich bin vieles, Engel, nur nicht gefasst.“ Sanft wischte sie Lisa die Tränen von den Wangen. „Ich halte mich beschäftigt, genau wie du. Um den Rest auszublenden.“

„Alles hier ist das reinste Chaos. Das halbe Rudel ist über alle Himmelsrichtungen verstreut und es fühlt sich einfach nicht richtig an“, regte Lisa sich auf und sprang hoch.

Len wusste genau, was sie meinte. Rack war mit Joyce im Bunker geblieben, in dem sie Schutz vor den Gargoyles gesucht hatten, und schien endlich Fortschritte mit ihr zu machen. Zumindest kaute sie nicht mehr auf ihm herum und ließ sich von ihm baden, weswegen ihr Fell begann nachzuwachsen.

Bonnie und Fiona waren mit ihren Männern aufs Festland geflüchtet und würden die verbleibende Dauer ihrer Schwangerschaft dortbleiben. Len zweifelte jedoch daran, dass sie zurückkamen, selbst wenn ihre Kinder auf der Welt waren. Cailin war immer noch im Krankenhaus und obwohl Len sich bemühte das Rudel zusammenzuhalten, hatte ihr aller Fundament mit Malcolms Tod gravierende Risse bekommen.

„Hey, ihr zwei, das Essen ist fertig“, ertönte es von Nathan, der im Eingang des Zimmers stehen geblieben war. Lisa wischte sich mit beiden Händen übers Gesicht und ging ohne ein weiteres Wort an ihm vorbei. Nathan sah ihr überrascht hinterher, ehe er sich an Len richtete. „Alles okay?“

Sie zuckte die Schultern und verzog ihre Lippen zu einem bitteren Lächeln. „Wann, seit du mich kennst, war denn schon mal alles okay?“

„Touché.“ Er hielt ihr die Hand hin und half ihr aufzustehen. „Auf einer Skala von eins bis zehn, wie beschissen geht es dir?“

„Wenn zehn das Maximum ist, irgendwo bei einer sieben.“ Sie verschränkte ihre Finger mit seinen, lehnte die Stirn an seine Brust und atmete tief ein. „Tendenz fallend.“

„Kann ich irgendetwas tun, damit es besser wird?“

Seufzend schüttelte sie den Kopf. „Nicht mehr, als du sowieso schon tust.“

„Es wird sich alles wieder einrenken. Gib dem Ganzen mehr Zeit.“

Len schnaubte und sah zu ihm hoch. „Du meinst, das letzte halbe Jahr hat nicht gereicht?“

Er wackelte mit den Augenbrauen. „Willst du mir erklären, dein Leben ist nicht besser geworden, seit ich die Hauptrolle darin spiele?“

„Die Hauptrolle? Ha! Du bist der sexy, aber nutzlose Sidekick.“

In gespielter Theatralik griff er sich ans Herz. „Autsch.“

Das Grinsen, das sich jetzt auf ihrem Gesicht ausbreitete, war echt. Selbst in den unmöglichsten Situationen brachte er sie noch zum Lachen.

 

***

 

„Grace, was tust du da? MacClaine bezahlt einen Haufen Leute für diese Arbeiten.“

Len hielt inne und legte seufzend die Säge zur Seite. Nach dem Mittagessen und ihrem eigentlichen Training hatte sie beschlossen, sich auf aktivere Weise nützlich zu machen. Sich selbst mit physischem Schmerz zu bestrafen war ihr einziges Ventil und ihr einziger Ausgleich für Malcolms Tod. Sie wusste nicht, wie sie es verkraften sollte. Sie wusste, nicht wie sie aufhören sollte, ihn zu vermissen. Wie sie es schaffen konnte, dass es nicht mehr wehtat. In ihrem Inneren brodelte es unablässig. Ihren emotionalen Schmerz in körperlichem zu ertränken, erschien ihr daher nur logisch. Denn obwohl Lisa behauptet hatte, sie wirke gefasst, war sie alles andere als das.

Sie fuhr sich mit dem Unterarm über die Stirn und gab ein angeekeltes Geräusch von sich, ehe sie eine halbwegs trockene Stelle an ihrem Tanktop suchte und den Stoff hochzog, um sich damit abzuwischen. Die Sägespäne, die dabei in ihrem Gesicht kleben blieben, juckten auf ihrer Haut, aber sie gab sich nicht einmal die Mühe, sie abzustreifen.

Obwohl sie völlig verschwitzt war, fühlte sich ihr Hals staubtrocken an, weswegen sie einen Schluck aus ihrer Wasserflasche trank.

„Je eher sie fertig sind, desto eher kann hier so was wie Normalität einkehren“, argumentierte sie mit einem Blick zu Nathan, der wie aus dem Ei gepellt aussah.

„Du verdrängst –“

„Ich verdränge überhaupt nichts“, unterbrach sie ihn bestimmt. „Mein Dad ist tot. Ich habe es nicht vergessen, aber ich werde einen Teufel tun und mich in meinem eigenen Leid suhlen, so wie ich es sonst immer getan habe. Malcolm hätte das nicht gewollt. Allerdings haben wir einen riesigen Haufen Probleme, unter anderem eine halb eingestürzte Höhle.“

Nathan kam zu ihr herüber, schob sie mit der Hüfte zur Seite, ergriff die Säge und machte dort weiter, wo sie aufgehört hatte. „Also ist das hier nicht deine übliche Bewältigungstaktik mit dem Chaos klarzukommen, anstatt deinen Gefühlen freien Lauf zu lassen?“

Len spitzte die Lippen, ehe sich ihr Gesicht zu einer Grimasse verzog. „Keine Ahnung. Aktiv zu bleiben hilft mir beim Nachdenken und dabei, Lösungen zu finden.“

Er schnitt das Brett in der Hälfte der Zeit herunter, die es Len gekostet hätte, und sie war dankbar für die Verschnaufpause. Abgesehen davon war es eine Augenweide, Nathan beim Arbeiten zuzusehen. Auch wenn sie sich nicht recht entscheiden konnte, ob sie den Anblick seines Hinterns in Jeans oder dem Spiel seiner Muskeln bevorzugte.

„Lösungen wofür?“, fragte Nathan mit einem Blick über die Schulter.

Ihre Augenbrauen wanderten ungläubig nach oben. „Willst du, dass ich alle unsere Probleme aufzähle?“

„Ich denke, es sind nicht mal halb so viele, wie du glaubst.“

Len stoppte mit einer Hand auf seinem Oberarm seine Bewegung, damit er sie ansah. „Versteh das jetzt bitte nicht falsch, aber vielleicht solltest du dich um die Lösung deiner eigenen Probleme bemühen, bevor du mir erklärst, ob und wie viele Probleme ich wirklich habe.“

Nathan ließ die Säge los, richtete sich zu seiner vollen Größe auf und verschränkte die Arme vor der Brust. „Meiner eigenen Probleme?“

Weder sein drohender Tonfall noch seine Körperhaltung beeindruckten sie. Stattdessen erinnerte sie ihn an das, was er nur allzu gern verdrängte. „Liliane.“

„Lass sie da raus“, knurrte Nathan.

„Lass sie da raus? Sie steckt schon lange mittendrin“, brauste Len auf.

„Das zwischen ihr und mir hat nichts –“

„Wage es nicht zu behaupten, es hätte nichts mit alledem hier zu tun“, fuhr sie barsch dazwischen und presste ihren Zeigefinger in seine Brust. „Mein Rudel – meine Familie – ist verletzt, tot oder schwebt dank der Dämonen und Gargoyles nach wie vor in Lebensgefahr. Der Rest droht auseinanderzubrechen und ist in alle Windrichtungen verteilt. Du unterstellst mir, ich verdränge meine Gefühle? Sieh in den Spiegel. Ich weiß immer noch nicht, was dein Problem mit deiner Schwester ist. Mag sein, dass es mich nichts angeht. Aber was du dabei zu vergessen scheinst: Lilly ist die einzige Familie, die du noch hast. Also bieg das gerade, bevor es dafür zu spät ist und du dein Leben lang bereust, deine Probleme mit ihr nicht in den Griff bekommen zu haben.“ Weil ihre Gefühle sie überwältigten, sank ihre Stimme zu einem rauen Flüstern. Um Beherrschung ringend trat sie von ihm zurück und fixierte ihn aus tränenfeuchten Augen.

„Grace …“ Er überbrückte die Distanz zwischen ihnen, umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen und lehnte seine Stirn an ihre.

„Schmeiß das, was du und Lilly haben könntet, nicht einfach weg. Du kannst nicht ewig vor ihr und deinen Problemen davonlaufen.“ Ein bitteres Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. „Lass dir das von jemandem gesagt sein, der selbst viel zu viel Zeit damit verschwendet hat, genau das zu tun.“

Sein warmer Atem strich über ihre Lippen, als er seufzte, ehe er seinen Mund zärtlich auf ihren presste. „Okay.“

Überraschend erleichtert schloss sie die Augen und ließ sich gegen ihn sinken. Sie hatte bis zu diesem Moment nicht erkannt, wie wichtig es ihr war, dass er sich nicht länger vor Lilly drückte.

„Hätte ich gewusst, dass dir das so auf der Seele brennt, Munchkin, hätte ich mich eher dazu durchgerungen“, murmelte er an ihrer Schläfe.

Sie schnaubte ein halbes Lachen. „Ich weiß nicht, ob ich dir das glauben soll.“

Er bog sanft ihren Kopf nach hinten und schenkte ihr ein halbseitiges Grinsen. „Ich auch nicht.“

„Egal warum, nur mach es einfach. Okay?“

„Versprochen.“

 

Daniel

 

Zu seiner eigenen Überraschung hatte Dan keinerlei Schwierigkeiten, die Fassade an Gleichgültigkeit vor dem Rat der Gargoyles aufrechtzuerhalten.

Sie hatten ihm noch immer keine Gelegenheit gegeben, seine Version der Geschichte zu erzählen. Stattdessen hatten sie seinen ganzen Clan verhört und seine verbliebenen Geschwister Lindsey und James. Obwohl James sich nicht mal im selben Land befunden hatte, als Franklin gestorben war, hatte er eine sehr laute und klare Meinung zu dem Thema.

James und er hatten sich nie besonders nahegestanden, dennoch hinterließ es einen bitteren Nachgeschmack, dass er so schnell bereit gewesen war, die Vielzahl an Gerüchten zu glauben.

Lindsey wiederum war die innere Zerrissenheit deutlich anzusehen und -hören. Sie wollte keinem der Brüder in den Rücken fallen und stand buchstäblich zwischen zwei Stühlen. Ihre Aussage war emotional und wenig glaubwürdig, wenngleich sie wenigstens einen Teil des Abends bestätigen konnte. Nicht dass man ihn dazu befragt hätte.

James war wütend und verletzt. Innerhalb so kurzer Zeit die Hälfte seiner Familie zu verlieren steckte man nicht so einfach weg.

Abgesehen von Dan.

Objektiv betrachtet verstand er, wie seine Abgebrühtheit auf James wirken musste. Aber das machte es nicht leichter zu verdauen.

Dan hatte seinen eigenen Vater im Affekt getötet, hatte die Liebe seines Lebens gerächt und obwohl ihm klar war, dass nichts je wieder so sein würde wie zuvor, war er erstaunlich zufrieden damit. Er hatte weder schlaflose Nächte noch ehrliche Gewissensbisse, was den Tod seines Vaters anging.

Seine Mutter hingegen stand auf einem anderen Blatt.

Ihr Selbstmord war … Er hatte keine Worte dafür. Zweifellos unerwartet. Definitiv ein Schock. Was ihn beschäftigte, war die Frage: warum?

Er war überzeugt, ihren Schmerz verstehen zu können, schließlich hatte er Josephine verloren. Er hatte so oft daran gedacht, Selbstmord zu begehen, nachdem sie gestorben war, dass es einem Wunder gleichkam, dass er es nicht getan hatte. Aber wäre er eine Frau mit einem ungeborenen Kind in sich … Er konnte sich nicht vorstellen zu tun, was seine Mutter getan hatte.

Lindsey saß mit verquollenen Augen neben ihm, während sein Bruder James gar nicht genug Abstand zwischen ihn und sich bringen konnte, nur um ihm dann mörderische Blicke zuzuwerfen.

Wahrscheinlich sollte Dan es ihm nicht verübeln, dass er die falschen Schlüsse zog oder zumindest vom Schlimmsten ausging. Dennoch wurmte es ihn, dass James ihm seine Version, die einzig echte Version, nicht glauben wollte. Er hatte ihm kaum zugehört, geschweige denn ihn ausreden lassen, nachdem er zur Beerdigung gekommen war. Sicher hatte James seine Meinung bereits gefasst, bevor er in den Flieger nach England gestiegen war, und nichts, was Dan sagte oder tat, konnte daran etwas ändern.

Garret, eines der Ratsmitglieder, räusperte sich und zog Dans Aufmerksamkeit auf sich.

„Daniel MacClaine, der Rat ist jetzt bereit, Eure Version der Geschichte zu hören.“

Daniel strich seine Krawatte glatt, während er sich erhob, und schloss den untersten Knopf des Jacketts. Mit seinem besten Pokerface stellte er sich dem Verhör.

Doch er ließ den Rat gar nicht erst zu Wort kommen. Wieder und wieder war er diesen Tag im Kopf durchgegangen und er würde dafür sorgen, dass alles so verlief, wie er es wollte.

„Ich habe meinen Bruder Markus MacClaine sowie meinen Vater Franklin MacClaine eigenhändig getötet und habe daher zwangsläufig den Selbstmord meiner Mutter zu verantworten.“ Dan verzichtete auf Floskeln und Höflichkeiten. „Ich bin heute nicht hier, um euch zu erzählen, was passiert ist. An dem Abend, an dem Franklin starb, waren fünf Leute anwesend. Drei davon sind tot und ich bin eurer Meinung nach keine glaubwürdige Quelle.“

„Es gibt keinerlei Beweise, dass eine Lenara Blair existiert“, behauptete eines der Mitglieder als Antwort auf seine Anspielung.

„Das können sowohl meine Schwester, mein Clan und meine Verlobte Megan McArren bestätigen.“

„Ex-Verlobte“, zischte Megans Vater Douglas, der ebenfalls Teil des Rates war und ihn ebenso hasserfüllt ansah wie sein Bruder James. Dieser nutzte den Moment, um eine weinende Megan in den Arm zu nehmen, als wäre das hier eine Bühne für ihren dramatischen Ausbruch.

„Megan kann des Weiteren bestätigen, dass mein Vater veranlasst hat, sie zu töten, um die Prophezeiung zu vereiteln“, fuhr Dan unbeirrt fort.

„Ein Unterfangen, das vereitelt wurde. Von Wölfen.“ Pure Verachtung schwang in den Worten des Ratsmitglieds mit.

„Es dürfte weithin bekannt sein, dass mein Vater Markus und mich damit beauftragt hat, sie zu finden und zurückzubringen. Etwas, das von Lilith verhindert wurde.“

Geschocktes Raunen ging durch den Saal. Also hatte Franklin dieses Detail für sich behalten, aber nicht einmal das überraschte ihn mehr.

„Ich nehme an, auch für diesen Vorfall gibt es keine Beweise“, ertönte es von Garret.

„Das Miami Wolfsrudel war dabei.“

„Ernst zu nehmende Beweise“, zischte Megans Vater.

Ein Muskel zuckte in Dans Wange, als er die Zähne zusammenbiss. „Es ist ein unumstößlicher Fakt, dass Lilith noch am Leben ist und sie mit meinem Vater gemeinsame Sache gemacht hat.“

„Um Experimente durchzuführen, die den Fortbestand unserer Art sichern.“ Dan war sich nicht sicher, ob Garrets Aussage Franklins Taten gutheißen sollte oder nicht.

„Woher sollen wir wissen, dass es Franklin war, der gemeinsame Sache mit unserer Erzfeindin gemacht hat? Dass nicht du es warst, der die Fäden zieht und alle, die sich dir in den Weg gestellt haben, getötet hast? Nur um uns jetzt eine haarsträubende Geschichte aufzutischen und deinem toten Vater alles in die Schuhe zu schieben! Kein Wunder, dass Elisabeth Selbstmord begangen hat, nachdem ihr Erstgeborener sowohl ihren Mann als auch ihren Sohn umgebracht hat.“ Douglas wurde während seiner Tirade so dunkelrot im Gesicht, als würde ihn jemand strangulieren.

Innerlich verdrehte Dan die Augen und ließ die Bemerkung an sich abprallen. „Ich weiß ehrlich nicht, woher all diese Empörung kommt. In Wirklichkeit tauscht ihr nur einen Mörder gegen einen anderen. Seit wann kümmert es den Rat, welcher moralische Aspekt im Hintergrund steht? Die Opferung unschuldiger, junger Frauen, aufgrund einer Prophezeiung, die auf hunderte Arten interpretiert werden kann, hat ohnedies keinem hier Anwesenden schlaflose Nächte bereitet. Ich werde nicht auf mein Recht auf den Thron verzichten. Wenn ihr wirklich glaubt, dass auch nur die Hälfte von dem, was ihr da behauptet, wahr ist – dann Gnade euch Gott, denn ich werde vor nichts zurückschrecken, um zu bekommen, was mir zusteht. Vergesst nicht, ich habe sowohl meinen Vater als auch meinen Bruder umgebracht, um zu verhindern, dass sie weiter wahllos Leute umbringen, in dem impertinenten Versuch, eine Lösung für unser Fortpflanzungsproblem zu finden. Wann sind wir so tief gesunken, uns als die Gebieter über Leben und Tod aufzustellen, nur um unsere eigenen selbstsüchtigen Ziele zu erreichen? Was unterscheidet uns dann noch von den Dämonen, die wir zu vernichten trachten?“ Ein paar der Ratsmitglieder sahen aus, als würden ihnen jeden Moment die Köpfe explodieren. „Der Zweck heiligt nicht die Mittel und wenn ich dafür des Teufels Advokat spielen und mich gegen jeden Einzelnen hier stellen muss, dann soll es so sein. Ich werde nicht länger zulassen, dass die Entscheidungen alter Männer mit noch älteren Ideologien die Zukunft unseres Volkes aufs Spiel setzen, nur weil sie zu stur und ängstlich sind, um die Wahrheit zu sehen. Lilith wird gegen uns in den Krieg ziehen. Entweder wir bereiten uns vor und tun alles, um sie endgültig auszurotten, oder ihr wartet hier darauf, dass sie kommt, um euch alle abzuschlachten wie das dumme Vieh, für das sie euch hält.“ Daniel wandte sich an die restlichen Anwesenden. „Keiner von euch will Rechtfertigungen oder Entschuldigungen von mir, aber ihr müsst mich nicht mögen oder gut finden, was ich getan habe, um die Wahrheit zu sehen. Die Bedrohung durch Lilith und ihre Dämonen ist real. Je eher ihr das erkennt und anfangt, etwas zu unternehmen, desto besser stehen die Chancen, diesen jahrhundertelangen Krieg ein für alle Mal zu beenden.“

 

Grace

 

Len erwachte in Nathans Armen und in den ersten wertvollen Sekunden nach dem Aufwachen hatte sie vergessen, dass Malcolm tot war.

Doch sobald sie die Augen aufschlug, brach die Realität über sie herein und erinnerte sie daran, was sie verloren hatte.

Leise, um Nathan nicht zu wecken, löste sie sich von ihm und wanderte auf bloßen Füßen und nur im Pyjama bekleidet ins Freie.

Die Sonne ging gerade auf, der Boden war feucht von der Nacht, die Luft noch kühl, aber die Vögel zwitscherten bereits.

Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und ließ sich auf dem Baumstamm vorm See nieder, auf dem sie auch mit Malcolm gesessen hatte. Das Licht spiegelte sich auf der Wasseroberfläche und blendete sie.

„Ich vermisse dich so sehr“, wisperte sie und starrte, ohne etwas zu sehen, auf das Wasser. Für einen kurzen Moment konnte sie sich fast einbilden, dass er jetzt tatsächlich neben ihr saß. Dass seine breiten Schultern einen langen Schatten hinter sich zogen, der mit ihrer eigenen Form verschmolz. Die Vorstellung war ebenso schmerzhaft wie schön, auch wenn die Realität sie viel zu schnell einholte.

Sie wusste nicht, wie lange sie dort so saß, doch sie musste wieder eingeschlafen sein. Als Nate sich neben sie fallen ließ und sie auf seinen Schoß zog, blinzelte sie verwirrt. Er wickelte eine Decke um sie und stützte sein Kinn auf ihre Schulter.

Er sagte nichts und sie war dankbar über die Stille. Und über seine Nähe. Sie war sich nicht sicher, ob er verstand, was sie immer wieder nach draußen trieb, aber er stellte keine Fragen und bedrängte sie auch nie deswegen.

„Hab ich dich geweckt?“, fragte sie sanft und schmiegte ihre Wange an seine.

„Nein.“ Er drückte sie fester an sich, hüllte sie in Wärme und Geborgenheit ein, als wäre die Geste der Zuneigung selbstverständlich.

Seufzend schloss sie die Augen. „Hört der Schmerz jemals auf?“

Nathan verkrampfte sich hinter ihr. Es dauerte ein paar stille Momente, ehe er ihr antwortete. „Man vergisst ihn und wenn man sich daran erinnert, ist der Schmerz in voller Stärke wieder da, bis man lernt, sich an das Schöne zu erinnern. Dann tut es immer noch weh, aber man redet sich ein, dass es in Ordnung ist.“

Für eine Weile hingen sie beide ihren Gedanken nach.

„Erzählst du mir von ihr?“

Sie spürte, wie sich sein Brustkorb in einem lautlosen Seufzen hob und senkte. „Meine Mutter, Helen, war wunderschön und solange ich zurückdenken kann, war sie immer traurig. Sie liebte die Gartenarbeit und versuchte, aus einer unmöglichen Situation das Beste zu machen. Versuchte, mir Moral beizubringen in einer Umgebung, wo es keine gab.“

„Sie klingt nach einer eindrucksvollen Persönlichkeit“, murmelte Len. „Ist sie der Grund, warum du dich nie einem Rudel angeschlossen hast?“

Er zuckte die Schultern. „Ich hatte nie das Bedürfnis danach.“

Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus und Len genoss es. Als spürte er ihren inneren Tumult, rieb er auf vertraute Weise seine bärtige Wange an ihrer Haut.

Doch ihre Zweisamkeit wurde jäh unterbrochen, als ein Gargoyle lautstark durch die Baumkronen krachte und unsanft landete.

Überrascht sprang Len auf. „Dan? Was ist los? Ist etwas passiert?“

Statt einer Antwort knallte er seine Faust gegen einen Baumstamm und brüllte laut genug, um die Vögel zeternd zu verscheuchen, zusammen mit jedem anderen Tier, das sich im Umkreis von ein paar hundert Metern befand.

„Okay“, kommentierte sie seinen Ausbruch und zog das Wort dabei in die Länge.

Bei Dans Darbietung verschränkte Nathan die Arme vor der Brust.

Hätten Blicke töten können, wäre es eine Frage von Millisekunden gewesen, wer von den beiden Männern zuerst umgefallen wäre. Nathan nahm es Dan übel, dass er Len mit zu seinem Vater genommen hatte, und ignorierte bequemerweise, dass er damit zum zweiten Mal ein Familienmitglied getötet hatte. Wenn auch dieses Mal nicht zu ihrem direkten Schutz. Dan wiederum war seither ein Fass ohne Boden. Ein Pulverfass. Allerdings bezweifelte Len, dass sie in seiner Situation mehr Geduld aufgebracht hätte.

„Megan hat die Verlobung aufgelöst.“

Ihre Augenbrauen hoben sich. „Und? Ich dachte, das wäre sowieso eine reine Formalität, keine Liebesheirat.“

„Darum geht es nicht.“ Dan lief vor ihnen auf und ab. „Sie und James haben sich verlobt und wollen wahrscheinlich bei den anderen Clans vorsprechen, um mich zu stürzen.“

„Königsmörder sind nun mal nicht beliebt“, kommentierte Nathan staubtrocken und erntete von Len einen bösen Blick.

„Kapierst du es nicht?“, herrschte Dan ihn an. „Wenn ihnen ihr Vorhaben gelingt, bin ich so gut wie tot!“

„Erwartest du jetzt wirklich Entsetzen von mir?“ Nathan schnaubte. „Nur ein toter Gargoyle ist ein guter Gargoyle.“

„Du bist selbst zur Hälfte einer, auch wenn du diesen Teil von dir nur allzu gern verdrängst. Nicht zu vergessen: Len. Ist sie dir tot auch lieber als lebendig? Denn dann hätte ich mir viel Ärger erspart.“

Nathan knurrte und setzte sich in Bewegung, ehe Len dazwischentrat und ihre Hände gegen seine Brust stemmte. „Schluss damit!“ Sie fuhr zu Dan herum. „Das gilt ebenso für dich. Einen Streit anzuzetteln hilft dir garantiert nicht weiter und wir sind ganz sicher nicht das richtige Ventil, um Dampf abzulassen.“

„Ah, die Stimme der Vernunft“, höhnte Dan und sie hätte ihm in dem Moment am liebsten den Hals umgedreht.

„Kein Wunder, dass dich deine Leute umbringen wollen, wenn du dich so aufführst.“

„Nathan“, mahnte Len. „Hör auf, Salz in die Wunde zu streuen.“

Dan machte eine wegwerfende Handbewegung. „Lass ihn ruhig, er denkt schließlich immer noch, dass er es mit mir aufnehmen kann.“

Sie warf die Hände in die Luft. „Natürlich, ich stell mich mal eben zur Seite und seh zu, wie ihr euch die Köpfe einschlagt.“

„Das würde es seinem Bruder ersparen, sein Schicksal als Geschwistermörder zu teilen. Wahnsinn ist bei euch eindeutig erblich bedingt.“

„Seid ihr betrunken oder einfach nur bescheuert? Könntet ihr bitte damit aufhören, euch wie kleine Kinder zu verhalten, und für zwei Minuten euer Hirn benutzen?“

Dan blieb abrupt stehen und starrte sie beide an. „Ich hätte überhaupt kein Problem mehr, wenn ich endlich den Thron besteigen könnte.“

„Was würde das ändern, wenn dein Bruder dich nicht als Clanoberhaupt sehen will und gegen dich intrigiert?“, hakte Len nach.

Nathan verspannte sich neben ihr.

„Das habe ich dir doch schon erklärt!“

„Dann erklär es eben noch mal“, zischte sie Dan an, weil sie nicht begriff, worauf er hinauswollte.

„Er redet von dem Fluch“, warf Nathan ein.

„Ja, so viel hab ich verstanden. Aber was hat das eine mit dem anderen zu tun?“

Nathan verzog voller Ekel das Gesicht. „König der Gargoyles zu sein bedeutet eine direkte Verbindung zu all deinen Untertanen zu haben und sie zu dir“, sagte er.

„Du meinst so etwas wie Telepathie?“

„Nein.“ Dan schüttelte den Kopf. „Es ist weniger und gleichzeitig viel mehr als das.“

Len unterdrückte den Drang, ihm den Mittelfinger zu zeigen. „Klar. Sprich nur weiter in Rätseln, das hilft mir total.“

„In dem Moment, in dem er den Thron besteigt, wird er zu einer Art Bienenkönigin. Als hätte er eine Horde hirnloser Zombies, die blind jedem seiner Befehle gehorchen.“

Len wurde bei Nathans Worten blass. „Gedankenkontrolle?“

„Es ist keine Gedankenkontrolle“, widersprach Dan vehement.

Nathan schnaubte angewidert. „Ach nein? Jeder Gargoyle fühlt, was du fühlst, versteht, was du willst, ohne dass du es aussprechen musst. Was ist es dann, wenn nicht das?“

Len klappte der Mund auf. „Das ist der Grund, warum es in Alexanders Zeiten nie einen Aufstand gab.“

„Weil ein Gargoyle nicht für sich selbst denken kann und nie auf die Idee käme, seinen Anführer zu hinterfragen oder ihm seinen Thron streitig zu machen“, stimmte Nathan zu.

Aus schreckgeweiteten Augen starrte sie von einem zum anderen. „Blinder Gehorsam? Heißt das, das schließt uns mit ein?“ Sie deutete auf sich und Nathan.

Dan presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, ehe er schließlich antwortete. „In eurer Gargoyleform.“

„O mein Gott!“

„Mach nicht so ein Aufheben darum. Es ist nicht halb so schlimm, wie ihr es klingen lasst.“

„Zumindest solange du deine Macht nicht missbrauchst“, murmelte Len und rieb sich die Schläfen.

„Das würde ich nie tun!“

„Sagte jeder Herrscher, der jemals regiert hat“, höhnte Nathan.

„Okay, Auszeit! Zurück auf Anfang – Dan, warum bist du hier?“, hakte Len nach.

„Die Blutmagierin, die mit dem Seelenfresser zusammen ist – ich brauche ihre Hilfe, um den Fluch zu brechen.“

Len fletschte die Zähne. „Sin, ihr Name ist Sin, und selbst wenn sie hier wäre und bereit dir zu helfen, so bedeutet das nicht, dass sie dazu überhaupt in der Lage wäre.“

„Es ist den Versuch wert.“

„Das mag ja sein, aber wir haben keine Möglichkeit, sie oder X zu erreichen.“ Ihr Blick glitt fragend zu Nathan. „Oder?“

Er schüttelte stumm den Kopf.

Nachdenklich fuhr sie sich mit den Fingern durch die Haare. Ob eine Aussprache zwischen Nathan und Lilly helfen würde? Sie hatte den Fluch ausgesprochen, also konnte sie ihn auch brechen. Theoretisch.

Len seufzte. „Gib uns ein paar Tage Zeit, vielleicht finden wir eine Lösung.“

 

 

 

 

 

 

Kapitel 2

 

Nathan

 

Lilly lehnte mit verschränkten Armen an einem Baum. Ihr Gesichtsausdruck war ebenso verschlossen wie ihre Körperhaltung defensiv und dabei hatte er noch kein Wort gesagt.

„Du wolltest mich sehen?“, fragte sie anstatt einer Begrüßung, sobald er vor ihr stehen blieb.

Er zeigte mit dem Finger auf die Bank neben ihnen. „Setz dich besser.“

Ihre Augen verengten sich misstrauisch. „Ist etwas passiert?“

„Nein, aber wir zwei müssen reden.“

„Worüber?“

Ungeduldig knirschte Nate mit den Zähnen. „Setz dich einfach hin, ja?“

„Damit du auf mich herabsehen kannst? Ich denke nicht.“

„Himmelherrgott noch mal, Lilly!“

Sie blinzelte perplex und löste ihre Arme voneinander. Ob es wegen seines Ausbruchs war oder weil er sie zum ersten Mal seit Ewigkeiten beim Namen genannt hatte, wusste er nicht. Er musste sich zusammenreißen.

In einem Zeichen guten Willens ließ er sich im Schneidersitz auf den Boden vor der Sitzbank gleiten. „Würdest du dich bitte hinsetzen?“, wiederholte er, diesmal als Bitte formuliert.

„Wenn du so nett fragst“, murmelte sie sarkastisch und verdrehte die Augen, ließ sich aber trotzdem auf die Bank fallen. „Also, was ist los?“

Nate rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht und fuhr sich in derselben Handbewegung durch die Haare. Wie zum Henker sollte er das erklären?

Er hatte selbst nie richtig mit seiner Vergangenheit abgeschlossen, sondern alles, was passiert war, jahrzehntelang erfolgreich verdrängt. Das jetzt hervorzukehren und damit auch die alten Wunden wieder aufzureißen, kostete einiges an Überwindung.

„Ach komm schon, du erstickst ja fast an der Entschuldigung“, unterbrach sie seinen inneren Tumult.

Sein rechtes Auge zuckte. „Entschuldigung?“, echote er.

„Ich bin ja kein Arsch, sag einfach, dass es dir leidtut, und ich vergebe dir.“

Er würde ihr den Hals umdrehen. „Du vergibst mir?“ Nicht dass er nicht Grund genug hätte, sich zu entschuldigen. Doch solange sie nichts von ihrer Verwandtschaft wusste, konnte sie das nicht meinen. „Wovon zum Teufel redest du?“

Sie blinzelte ihn perplex an. „Ich bin nicht davon ausgegangen, dass du dich mit mir treffen willst, um mir deine Liebe zu gestehen – auch wenn das längst überfällig wäre, wenn du mich fragst. Aber dich für dein Verhalten von damals zu entschuldigen tut es fürs Erste genauso.“

Wenn er nicht jeden Moment an einer Gehirnblutung sterben würde, weil das Zucken in seinem Augenlid definitiv kein Zeichen von Entspannung war, dann würde er ausrasten. Genau das war das Problem mit Lilly. Sie war so von sich selbst und ihren Hirngespinsten überzeugt, dass sie sich immer noch einredete, zwischen ihnen würde sich eine tragische, jedoch romantische Liebesgeschichte abspielen. Es gab nur einen Weg, ihr klarzumachen, wie sie zueinander standen: indem er das Pflaster mit einem Ruck abriss.

„Du bist meine Schwester.“

Schock zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, ehe sie sich wieder unter Kontrolle brachte und spröde lachte. „Witzig.“

„Das ist kein Witz, Lill’. Es ist die Wahrheit.“

„Also bitte, hast du was eingeworfen? Du bist ein Wolf.“ Arrogant hob sie das Kinn und schaute über ihre Nasenspitze auf ihn herab. „Ich wüsste es längst, wenn du ein Inkubus wärst.“

Nate knirschte mit den Zähnen. „Väterlicherseits. Wir sind Halbgeschwister.“

Diesmal lachte sie ihm höhnisch ins Gesicht. „Alexander hatte keine Kinder. Keine außer mir. Hältst du mich für bescheuert? Du bist kein Gargoyle. Nie und nimmer.“

Abrupt stand er auf und beugte sich über sie. „Das hier ist kein Spiel und auch kein Scherz. Du und ich sind Geschwister, krieg das in deinen verdammten Dickschädel!“

Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, bevor sie ihn mit beiden Händen nach hinten schubste, um ebenfalls aufzustehen. „Dann beweis es! Verwandle dich hier und jetzt in einen Gargoyle und ich glaube dir.“

Seine Hände ballten sich zu Fäusten. „Das kann ich nicht.“

„Du bist so erbärmlich“, zischte sie und tötete ihn mit Blicken. „Komm endlich mit deinen Gefühlen klar und akzeptiere –“

„Du Idiotin willst es einfach nicht verstehen, oder?“

Sie verdrehte die Augen und verschränkte wieder die Arme vor der Brust. „Nehmen wir mal für eine Sekunde lang an, es stimmt, was du sagst. Warum erzählst du es mir gerade jetzt und noch viel wichtiger: Warum hätte Mama mir das verschweigen sollen?“

„Gottverdammte Scheiße, warum denkst du, hat sie gerade mir dein Leben anvertraut? Ich habe seit deiner Geburt auf dich aufgepasst und dafür gesorgt, dass dir nichts passiert und –“

„Nichts passiert? Willst du mich verarschen? Wo warst du, als sie mich windelweich geprügelt hat?“

Er zuckte zusammen. „Einmal, das hat sie einmal gewagt und von da an war ich dein Prügelknabe. Egal was du angestellt hast, ich habe stellvertretend die Strafe kassiert.“

Lilly wurde blass um die Nase, doch dann schüttelte sie den Kopf. „Alles Lügen, sie hat mich trotzdem geschlagen.“

„Nur, wenn sie mich mal wieder auf eine ihrer bescheuerten Missionen geschickt hat, um mich von dir fernzuhalten oder dauerhaft loszuwerden. Ihr Pech, dass ich immer zurückgekommen bin. Ist ihr Verhalten widersprüchlich? Ja, natürlich ist es das. Wir reden hier von Lilith. Trotzdem, du hast keine Ahnung, was ich alles getan habe, um deine Sicherheit zu gewährleisten.“

„Sie hat mir die Rippen gebrochen!“

„Und ich hab über die Hälfte ihrer Untertanten dafür abgeschlachtet“, konterte Nate eisig.

Unsicherheit wechselte zu Unglauben auf ihren Gesichtszügen ab. „Das hätte sie nicht zugelassen, sie hätte dich eher getötet.“

„Du kapierst es einfach nicht.“

„Was soll ich nicht kapieren? Du denkst dir hier irgendeinen Schwachsinn aus und versuchst, einen Keil zwischen mich und meine Mutter zu treiben, damit ich deinen Krieg für dich gegen sie führe. Denkst du, ich durchschaue das nicht? Du manipulierst mich nur für deine eigenen Zwecke!“

„Halt deinen Mund und hör mir zu“, brüllte er und sie verstummte abrupt. „Nachdem Lilith dich zur Welt gebracht hatte, hat sie sich geweigert, dich zu stillen. Ich war es, der dich gefüttert, gebadet und dir die Windeln gewechselt hat. Ich habe mich Tag und Nacht um dich gekümmert, bis du dein erstes Wort gesagt hast und Lilith kapiert hat, dass sie nicht der Mittelpunkt deiner Welt ist. Sie hat geschworen, dich zu töten, wenn ich dir noch einmal zu nahe komme. Von da an hat sie dich an ihre Untertanten weitergereicht, wann immer es ihr zu viel wurde. Als du das erste Mal entführt wurdest, war ich es, der dich zurückgeholt hat!“

Lillys Blick wurde störrischer, je länger sie ihm zuhörte. „Dann warst du eben für ein paar Jahre meine Nanny, etwas, das du leicht behaupten kannst, weil ich mich nicht daran erinnere. Aber es beweist noch lange nicht, dass wir Geschwister sind“, zischte sie. „Abgesehen davon, wenn du wirklich mein Bruder wärst, hättest du mich nicht mein ganzes Leben lang wie eine Aussätzige behandelt.“

„Ich habe jahrelang unter der Fuchtel einer geisteskranken Frau, die du deine Mutter nennst, gedient. Sie hat dich benutzt, um mich unter Kontrolle zu halten, weil sie mir kein Haar krümmen konnte. Nicht nachdem sie Alexander einen Blutschwur geleistet hatte, mir, seinem Erben, nichts anzutun. Und was hat es mir gebracht? Du weißt nicht, was Grenzen sind, bist ein verzogenes Gör, das sich nur um sich selbst kümmert, und kaum habe ich dich aus den Klauen deiner Mutter befreit, fixierst du dich auf mich und verwendest deine Kräfte gegen mich!“ Er zwang sich, seine Wut zu zügeln und scheiterte. „Weißt du, wie es ist, dein Leben lang in Gefangenschaft, Sklave von machtgeilen Wahnsinnigen zu sein? Und sobald du das erste Mal den Geruch von Freiheit in der Nase hast, will dich deine Schwester ebenso kontrollieren, wie es ihre Mutter getan hat? Noch dazu mit Sukkubus-Magie? Kannst du dir vorstellen, wie ekelerregend –“ Er brach ab und wandte den Kopf zur Seite. Mühsam schluckte er seine Gefühle herunter, ehe er etwas sagte, dass er wirklich bereuen würde.

Leichenblass ließ Lilly sich auf die Bank sinken. „O mein Gott.“ Sie presste eine Hand vor den Mund und sah aus, als würde sie sich jeden Moment übergeben.

Doch kaum, dass er die Tränen in ihren Augen sah, lief ihm kalter Schweiß den Rücken hinunter. „Lilly –“

„Halt die Klappe“, würgte sie erstickt hervor. Sie sah ihn nicht an, als sie sich erhob und davonrannte.

 

Lilly

 

Lilly stürmte in das Hotelzimmer, das sie sich mit Francois teilte, und knallte die Tür hinter sich zu. Ihre Chimäre Ginger rieb sich zur Begrüßung an ihren Beinen und Lilly bremste ihren Zorn lange genug, um Ginger unterm Kinn zu kraulen, ehe sie sich vor Francois aufbaute.

„Ist es wahr?“

Francois schaltete den Fernseher stumm und sah sie verwirrt an. „Ist was wahr?“

„Nathan ist mein Bruder?“ Noch bevor er etwas sagen konnte, sah sie die Antwort in seinem Gesicht. „Und in all den Jahren –“ Sie stoppte abrupt. „Du wusstest, wie es mir ging, was ich für ihn empfand, und du hast kein Wort gesagt. Wie konntest du mir das vorenthalten? Ich hatte ein Recht darauf, das zu erfahren!“

Francois saß für wenige schmerzhafte Herzschläge schweigend vor ihr, ehe er sich erhob und den Kopf schüttelte. „Wenn es nach mir ginge, hätte ich es dir bereits an die tausendmal erzählt. Nate hat darauf bestanden, dass das seine Sache wäre.“

„Aber er hat es mir nicht erzählt!“

Francois trat auf sie zu und griff nach ihrer Hand, doch sie wich ihm aus. Seufzend ließ er den Arm sinken. „Ich verdanke ihm mein Leben, Lilly, das weißt du. Ich habe ihm versprochen, das Geheimnis für mich zu behalten. Glaube nicht, dass mir das auch nur eine Sekunde lang leichtgefallen wäre.“

„Ich habe dir vertraut“, würgte sie erstickt hervor. „Ich hätte wissen müssen, dass du Nates Laufbursche –“

„Ich bin nicht Nathans Laufbursche“, unterbrach er sie barscher, als er es jemals getan hatte. „Ich bin bei dir geblieben, weil ich es wollte, und das weißt du. Du bist wie eine Tochter für mich und ich wollte stets nur dein Bestes. Deine Gefühle für Nate –“

„Waren idiotisch. Ich dachte, er und ich hätten eine Verbindung.“ Sie biss sich auf die Lippen und presste den Mund zu einem schmalen Strich. „Mein Fehler war es nur zu glauben, dass es eine romantische sei.“

„Lilly, es tut mir leid.“ Diesmal ließ er sich nicht von ihr abschütteln und ergriff ihre Hände. „Ich wollte dich nie verletzen.“

Sie lachte spröde und zwang ihre Hände aus seinem Griff. „Mein ganzes Leben ist der reinste Clusterfuck.“ Mit einem letzten Blick auf Francois marschierte sie zur Tür raus.

Gottverdammte Männer, meine Mutter hatte recht. Sie lügen, sie verheimlichen und unterschätzen grundsätzlich immer die Stärke einer Frau, was dazu führt, dass sie saudumme Entscheidungen treffen.

Lilly bahnte sich einen Weg durch das Dorf und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Ihr Herz schlug schmerzhaft gegen ihre Rippen, während sie sich darum bemühte, nicht wie üblich völlig auszurasten.

Den Blick auf die Umgebung gerichtet, verwandelte sie sich und nahm Reißaus.

 

 

Len

 

Len wischte sich mit einem Handtuch übers Gesicht, als Nathan sich geräuschvoll auf die plastikbezogene neue Couch im Wohnzimmer fallen ließ. Oder besser gesagt, dem, was von ihrem einstigen Wohnzimmer noch übrig war, nachdem die Granate alles in die Luft gesprengt hatte. Die Couch war zwei Wochen zu früh geliefert worden und stand eigentlich im Weg, aber jetzt war wohl nicht der richtige Zeitpunkt, Nathan zu bitten, ihr beim Wegtragen zu helfen.

„Deinem Gesichtsausdruck zufolge ist es wohl nicht so gut gelaufen.“

„Ich bin zu weit gegangen.“

„Zu weit?“ Das Plastik quietschte, als sie sich zu ihm setzte, einen Arm auf die Rückenlehne gestützt. „Womit?“

„Der ganze Scheiß ist einfach hochgekocht und ich habe die Beherrschung verloren.“

Seufzend ergriff sie seine Hand. „Hast du dich wenigstens bei ihr entschuldigt?“

Er machte ein grunzendes Geräusch.

„Also nicht.“

„Ich habs versaut“, gab er zu.

„Bevor oder nachdem du ihr gesagt hast, dass ihr verwandt seid?“, hakte sie nach, nur um sicherzugehen, dass er den wichtigsten Punkt nicht ausgelassen hatte.

„Bevor, während und nachdem.“

„O Mann, so schlimm?“

Schulterzuckend ließ er den Kopf nach hinten auf die Lehne fallen. „Früher war sie mal süß, ungefähr bis zu dem Zeitpunkt, ab dem sie angefangen hat zu sprechen. Sie hat es schon geschafft, mich auf die Palme zu bringen, als sie noch Windeln trug.“

Ihre Augenbrauen wanderten nach oben. „Ernsthaft? Dramatisierst du das nicht ein klein wenig?“

Verlegen grinste er sie an. „Ja, vielleicht.“

Sie packte seinen Arm und legte ihn sich um die Schultern, damit sie sich an ihn schmiegen konnte. „Und was hast du jetzt vor?“

„Heißt das, ich kann es nicht dabei belassen?“ Ihr Ellbogen bohrte sich zwischen seine Rippen. „Autsch. War doch bloß ein Scherz. Ich ruf sie morgen an, dann hat sie Zeit, eine Nacht drüber zu schlafen.“

„Mach das.“ Gähnend stand sie auf und streckte sich durch. „Ich bin dann meine abendliche Runde laufen.“

„Findest du nicht, dass du es ein bisschen übertreibst?“

Sie zuckte nachlässig die Achseln. „Ich muss wieder fit werden.“

„Ja? Wann hast du das letzte Mal gegessen?“, hakte Nathan nach, die Augen misstrauisch zusammengezogen.

Len überlegte, sah auf die Uhr auf ihrem Handy und griente verlegen. „Vor sechs Stunden oder so?“

„Dir ist hoffentlich klar, dass du nicht fitter wirst, wenn du nicht auch entsprechend isst?“

„Jaja, ist ja gut.“ Sie stapfte an der Couch vorbei, schob den Plastikvorhang zur Küche beiseite und kam kurz darauf mit einem Sandwich zwischen den Zähnen zurück.

„Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du stur bist?“, erkundigte er sich.

Das Essen immer noch im Mund lachte sie, während sie sich die Schuhe neu zuband. Als sie sich aufrichtete und ihren Mund freimachte, winkte sie Nathan mit ihrem Sandwich zu. „Ein- oder zweimal. Wir sehen uns in einer Stunde.“

„Einer halben“, schoss er sofort hinterher. „Oder ich schleif dich höchstpersönlich zurück in die Höhle.“

„Huh, wo nur hab ich das schon mal gehört?“, überlegte sie laut und kaute ihr Sandwich. Dann schnippte sie mit den Fingern. „Ach ja! Dan – du weißt, der Kerl, mit dem du absolut nichts gemein hast – und ich hatten mal ein ziemlich ähnliches Gespräch über seine Neandertalerpraktiken.“

Knurrend stand er auf, was sie dazu veranlasste, lachend zurückzuweichen.

„Schon gut, schon gut. Eine halbe Stunde, oh, du mein Herr und Meister.“

 

***

 

Len genoss die kühle Nachtluft auf ihrer verschwitzten Haut, obwohl sie das Bedürfnis hatte, sich ihr Sklavenhalsband rauszureißen. Dass sie immer noch keinen Zugang zu ihrer Wölfin besaß, fühlte sich an wie eine kalte Faust in ihrem Inneren. Andererseits war es wahrscheinlich gut, dass sie gerade nicht in den Köpfen ihres Rudels war und andersherum.

Sie wischte sich eine feuchte Strähne aus dem Gesicht, als sie das Unterholz hinter sich knacken hörte. Abrupt wirbelte sie herum und stand einer Gargoyle gegenüber.

Ihr Training sorgte dafür, dass sie sofort in Kampfhaltung ging, auch wenn sie als Mensch nicht die geringste Chance hatte.

„Len?“

Überrascht, aber weiterhin misstrauisch beäugte sie die weibliche Gargoyle vor sich. „Woher kennst du meinen Namen?“

Nachdem sich die Gargoyle vor ihr verwandelt hatte, blinzelte sie perplex. „Lilly?“

„Schön, dich wiederzusehen. Ist eine Weile her.“ Lilly trat auf sie zu und Len gab etwas zu spät ihre kämpferische Haltung auf.

„Ja, ist es.“

„Was machst du hier draußen? Ist es nicht viel zu gefährlich, allein herumzulaufen? Noch dazu mit diesem nicht so hübschen Accessoire an deinem Hals?“

Automatisch glitten ihre Finger zu dem Sklavenhalsband. Sie verzog das Gesicht. So angespannt, wie die Dinge gerade zwischen Lilly und Nathan standen, fing Len lieber keine Diskussion mit ihr an. Schon gar nicht darüber, ob es in Ordnung war, laufen zu gehen oder nicht. „Ich war gerade auf dem Rückweg. Willst du mich das Stück begleiten?“

Sie setzten sich gemeinsam in Bewegung und Lilly räusperte sich verlegen. „Tut mir leid, was mit Malcolm passiert ist.“

Wie immer versetzte ihr die Erwähnung seines Namens einen brutalen Stich und sie brauchte einen kurzen Moment, um nicht in Tränen auszubrechen. Weil sie ihrer Stimme trotzdem nicht traute, nickte sie statt einer Antwort.

„Und wie geht es dir? Alles okay?“, fragte Len sie vorsichtig. Natürlich war es das nicht und sie wusste das. Doch mit Lilly allein zu sein, machte sie gerade zu nervös, um klar zu denken. Sekunden später hätte sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen. „Du bist sicher hier, um Nathan zu sehen, oder? Ich bin froh, dass du hergekommen bist. Ihn zu überreden, dich wieder aufzusuchen, wäre diesmal sicher noch schwerer gewesen.“

„Ihn zu überreden …?“ Lilly blieb abrupt stehen, ihre Augen verengten sich. „Du weißt es? Warum zum Teufel weißt du es?“

Ups, hallo Fettnäpfchen, wir haben uns lange nicht gesehen. Innerlich wand sich Len, auf der Suche nach einer passablen Antwort. „Ich – Ich habe – Nathan hat –“, stammelte sie, völlig vor den Kopf gestoßen.

„Wusste es verdammt noch mal jeder außer mir?“

Len hob beschwichtigend die Hände. „Nein. Niemand weiß von euch. Entschuldige, ich wollte dir nicht zu nahe treten, aber nachdem Nathan vergiftet wurde –“

„Nathan wurde vergiftet?“, unterbrach Lilly ihren Gesprächsdurchfall.

„Chimärengift.“

Schwer seufzend ließ Lilly den Kopf in den Nacken fallen und schloss die Augen. „Da geht auch diese Hoffnung dahin“, murmelte sie. „Wölfe reagieren nicht auf Chimärengift.“

„Genau und sobald ich ihn darauf ansprach … Na ja, eines führte zum anderen.“ Len zuckte die Schultern.

Lilly gab ein frustriertes Geräusch von sich. „Kann dieser Tag denn noch beschissener werden?“

„Deine halbe Stunde ist längst um, Munchkin. Glaube nicht, dass ich meine Drohung nicht wahr mache, wenn du nicht in einer Minute zu Hause bist!“, erklang es laut im Wald und Len drehte sich in die Richtung.

„Munchkin?“, echote Lilly stupide und wurde blass.

Als Nathan schließlich aus dem Wald und zu ihnen trat, verkrampften sich seine Schultern und die Temperatur senkte sich um gefühlte fünfzig Grad. „Lilly.“

„Das ist Munchkin?“ Ihr Blick ruckte zwischen Len und Nathan hin und her. „Munchkin und Lenara sind ein und dieselbe Person?“ Ihre Stimme wurde lauter und schriller gleichzeitig. „Du datest die da?“

„Hey!“

„Lilly, lass das nicht an ihr aus. Sie kann nichts dafür“, ging Nathan dazwischen.

„Natürlich kann sie das nicht! Hätte ich gewusst, dass sie es ist –“

„Was? Wärst du nicht an mein Handy gegangen, um die ‚Konkurrenz‘ loszuwerden?“

„Nathan“, ermahnte Len ihn.

Obwohl Lilly offensichtlich mit ihrem Temperament kämpfte, schaffte sie es, halbwegs zerknirscht dreinzusehen, sobald sie Len ansah. „Tut mir leid.“

Sie hatte nicht die Absicht, die Situation weiter zu verkomplizieren, obwohl das Telefonat sie manchmal noch wurmte. Eifersüchtig auf die Schwester meines Freundes – ich hatte schon bessere Momente. „Schnee von gestern.“ Und wenn ich mir das lange genug einrede, stimmt es vielleicht auch irgendwann!

Lilly richtete ihre Aufmerksamkeit auf Nathan. „Wir müssen reden.“

Er setzte bereits an, etwas zu sagen, als Len ihm den Ellbogen in die Seite rammte und ihn bedeutungsvoll ansah. „Hmpf. Ja, müssen wir.“

Len versuchte sich gerade zu entfernen, als Nathan sie am Handgelenk festhielt. Nervös sah sie zu Lilly. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass es eine gute Idee war zu bleiben. Außerdem war sie sich nicht sicher, ob sie bei diesem Gespräch überhaupt dabei sein wollte.

Während er Lilly ansprach, blieb Nathans Körperhaltung auf Hochspannung. „Es tut mir leid.“

Lilly verschränkte nur die Arme vor der Brust und hob arrogant die Augenbrauen. „Was tut dir leid?“

Len zuckte innerlich zusammen. Sie hätte sich denken können, dass Lilly ihn nicht so leicht vom Haken lassen würde.

„Alles.“

Len hielt sich die Hand vor Augen. Sie konnte das nicht mit ansehen. Nathan, sei bitte kein Idiot und hör auf auszuweichen.

„Geht es auch spezifischer?“, verlangte Lilly.

„Ich hätte es dir früher sagen müssen. Viel früher. Ich war dir gegenüber nicht fair und das tut mir ehrlich leid.“

Lilly schwieg und starrte ihn nur an. Die Stille hielt lange genug, um erdrückend zu werden. Doch kurz bevor Len etwas sagen wollte, erhob Lilly wieder das Wort. „Wenn du mich so sehr hasst, warum bist du dann geblieben?“

Ach du grüne Kacke, warum bin ich eigentlich hier? Das ist ein privater Moment zwischen zwei Geschwistern und ich steh da wie das unnötigste fünfte Rad am Wagen, das die Welt je gesehen hat. Kaum machte sie Anstalten, den beiden mehr Privatsphäre zu geben und sich davonzuschleichen, fixierte Nathan sie mit einem Blick, der sie abrupt stehen bleiben ließ.

„Ich hasse dich nicht. Nicht wirklich“, brummte er schließlich an Lilly gewandt. „Es ist … kompliziert.“

„Dann erklärs mir, verdammt noch mal! Das ist das Mindeste, was –“

„Ist ja schon gut, ich habs kapiert“, fuhr er sie an und legte zwei Finger an seine Nasenwurzel. „Ich hasse dich nicht“, wiederholte er gefasster und ließ die Hand fallen. „Ich hasse die Situation, in der ich mich jahrzehntelang befunden habe, um dich zu beschützen.“

„Das ist es ja, was ich nicht verstehe! Warum hast du mich überhaupt beschützt?“

Er drehte den Kopf zur Seite und vergrub die Hände in den Hosentaschen. „Ich habe es meiner Mutter versprochen.“

„Sag mir nicht, dass es ihr letzter Wunsch war, bevor sie gestorben ist. Denn ich schwöre bei Gott, dann schreie ich.“

„Nein. Es war … ist wesentlich komplexer als das.“ Seufzend sah er zu ihr. „Du weißt, dass meine Mutter Alexanders erste …“ Er machte eine rollende Bewegung mit der Hand und sah aus, als hätte er in eine Zitrone gebissen. „… Sklavin war. Alexander war ehrgeizig, machthungrig und gnadenlos, wenn es darum ging zu bekommen, was er wollte. Er wollte um jeden Preis einen Erben, ich sollte seine Rückversicherung sein, falls er keinen vollblütigen Gargoyle zustande brachte. Während ihrer Schwangerschaft hat er meine Mutter gut behandelt, denn er hätte eine Fehlgeburt niemals riskiert.“ Ein selbstzufriedenes Grinsen umspielte seine Mundwinkel. „Er wollte mich zu einer Kopie von sich erziehen und hat sich die Zähne ausgebissen. Er hätte meine Mutter töten können, nachdem sie mich zur Welt gebracht hatte, aber er hat sie sich aufgehoben wie einen Brutkasten, den er vielleicht noch mal brauchen konnte. Bis Lilith in sein Leben getreten ist. Plötzlich hat er meine Mutter um Rat gefragt, als wären sie seit Jahren engste Vertraute. Er ging sogar so weit, die beiden miteinander bekannt zu machen, weil er wollte, dass sie sich befreundeten, damit er durch meine Mutter Einblick in Liliths Gefühlswelt bekam. Der Schuss ging nach hinten los, nachdem Lilith rausfand, wer meine Mutter war und dass Alexander bereits einen Sohn hatte. Zu dem Zeitpunkt war sie schon schwanger und verlangte, dass Alexander sich uns beider entledigte.“ Er schnaubte abfällig. „Dazu war er selbstverständlich nicht bereit. Nicht solange Lilith dich nicht zur Welt gebracht hatte oder wenigstens feststand, dass sie einen Sohn bekommen würde. Doch dafür war es noch zu früh und Alexander wollte auf Nummer sicher gehen. Ich selbst wurde mir nicht einig, ob ich es gut oder schlecht finden sollte, dass er vorhatte, uns zu ersetzen. Der Gedanke, einen Bruder oder eine Schwester zu haben, war befremdlich und aufregend zugleich. Was, wenn er einen weiteren Erben bekam und ihn genauso misshandelte wie mich? Konnte ich zusehen, wie er ein Mischlingskind ebenso quälte? Was, wenn er seinen zweiten Sohn besser behandelte? Würde er ein Mädchen als nutzlos empfinden und es umbringen? Es war unmöglich für mich einzuschätzen, und je mehr sich Liliths Schwangerschaft abzuzeichnen begann, desto unruhiger wurde ich. Das Leben von meiner Mutter und mir, unsere ganze Zukunft stand auf dem Spiel wegen eines ungeborenen Kindes. Sobald klar war, dass Lilith ein Mädchen bekommen würde, hat Alexander ihr einen Blutschwur abgerungen, dass sie mir niemals auch nur ein Haar krümmen würde. Offensichtlich kannte er sie gut genug, um zu wissen, dass sie jede Form von Konkurrenz bei der erstbesten Gelegenheit töten würde. Als Gegenleistung versprach er, meine Mutter zu beseitigen.“

Lilly schluckte schwer und schüttelte den Kopf. „Es ist nicht so, dass ich keine Empathie für dich aufbringe, Nate. Es tut mir leid, was dir und deiner Mutter zugestoßen ist. Aber nichts davon ist meine Schuld und ich verstehe nicht, wie du es anders sehen konntest.“

„Ich weiß, dass es nichts an dem ändert, was geschehen ist, oder warum. Ich versuche bloß, es dir begreiflich zu machen. Lange bevor ich davon erfuhr, wusste meine Mutter, was ihr bevorstand. Sie versuchte, mich auf ihren bevorstehenden Tod vorzubereiten. Wieder und wieder hat sie sich darum bemüht, mir einzutrichtern, dass das Kind in Liliths Bauch unschuldig sei und niemanden haben würde, der es vor seinen grausamen Eltern beschützt. Niemanden, der sich zwischen die Wut dieser zwei stellen würde, um ein Kind zu schützen. Ich selbst war das lebende Beispiel dafür, mit dem Unterschied, dass ich eine Mutter hatte, die gewillt war, alles zu geben, alles zu opfern, um mich zu beschützen. Ich wollte nichts davon hören und plante die Flucht aus Alexanders Fängen, ich plante ihre Flucht. Sie schwor mir, sie würde meine Flucht vereiteln, wenn ich ihr nicht versprach, zurückzukehren, sobald Liliths Tochter auf der Welt war.“ Er lachte spröde. „Ich hatte allem zugestimmt, um sie von dort wegzubekommen. Wir schafften es fast bis nach London, bevor er uns fand.“

Einen Teil dessen, was Nathan erzählte, hatte Len bereits gewusst oder zumindest geahnt. Doch die volle Tragweite seiner Kindheit erschütterte sie und sie bewunderte Helen umso mehr für alles, was sie durchgestanden hatte. Dass sie es geschafft hatte, Nathan Moral und Prinzipien mit auf den Weg zu geben, allen Widerständen zum Trotz.

Unruhig begann er auf und ab zu tigern. „Ich war bereit, mit ihm zu kämpfen, um meiner Mutter genug Zeit zu verschaffen, damit sie fliehen konnte. Doch sie weigerte sich, auch nur einen Schritt ohne mich zu tun. Er schleifte uns zurück, bis zu seiner vermaledeiten Burg, machte ein richtiges Spektakel daraus. Die ganze Zeit über verhöhnte er uns für den gescheiterten Versuch. Verhöhnte mich, bis ich … auf ihn losging und versuchte, ihn zu bekämpfen.“ Nathan schloss die Augen und blieb stehen. Es dauerte einen Moment, bevor er weitersprach. „Um es kurz zu machen: Ich scheiterte, er tötete meine Mutter und sperrte mich in den Kerker.“ Als er seine Augen wieder öffnete, waren sie voller Hass, voller ohnmächtiger Wut. „Lilith war es, die mich rausgeholt hat, nachdem sie Alexander getötet hatte.“ Er schnaubte abfällig. „Sie hasste mich genauso sehr wie ich sie und trotzdem bot sie mir die Freiheit an.“

„Warum?“, fragte Lilly leise.

„Ich hab nicht die leiseste Ahnung. Nichtsdestotrotz ging ich mit ihr.“

„Um mich zu beschützen.“

Nathan nickte, den Mund zu einer schmalen Linie zusammengepresst. „So ist es.“

Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, ehe Lilly auf ihn zutrat. Er zuckte zusammen, als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben. Ohne ein weiteres Wort machte sie auf dem Absatz kehrt.

„Lilly, warte.“ Er hielt sie am Arm zurück, doch sobald sie ihn ansah, schien er nicht weiterzuwissen. „Es tut mir leid.“

Seufzend löste sie sich aus seinem Griff, ihre Mimik resigniert. „Ich weiß.“

„Wie geht es jetzt weiter?“, fragte er vorsichtig.

„Ich werde nicht deinen Kampf für dich gegen meine Mutter führen“, sagte sie bestimmt. „Aber ich stelle mich dir auch nicht in den Weg.“ Ihr Blick glitt zu Len. „Pass auf den Dummkopf auf.“ Damit verwandelte sie sich und hob ab.

Len stellte sich zu Nathan und ergriff seine Hand, während sie Lilly nachsahen. „Das ist der Grund, nicht wahr?“, brach sie schließlich das Schweigen.

„Was ist der Grund wofür?“, fragte er verwirrt und sah zu ihr herüber.

„Ich lehne mich jetzt kurz aus dem Fenster und behaupte: Du hast dich damals sehr wohl verwandelt.“ Der Ausdruck in seinem Gesicht war Antwort genug. „Ich kann mir nur vorstellen, wie es gewesen sein muss – im einen Moment voller Hass gegen den eigenen Vater zu sein und im nächsten bleibt nichts als Verständnis für das zurück, was er getan hat. Plötzlich zu fühlen, was er fühlt.“

Zähneknirschend wollte er sich abwenden, doch sie hielt ihn am Arm zurück. Es tat körperlich weh, ihn so leiden zu sehen. Zu wissen, dass er all die alten Wunden erneut aufgerissen hatte, um Lilly die langverdienten Antworten zu geben. Weil ich ihn darum gebeten habe.

„Deswegen konntest du sie nicht retten, nicht wahr?“

Obwohl ein Sturm in seinen Augen tobte, kam ihm kein Ton über die Lippen.

„In dem Moment, in dem du dich verwandelt hast, um sie zu retten, wurde ihre Rettung für dich obsolet. Deshalb hasst du die Gargoyles so.“ Statt auf eine Reaktion von ihm zu warten, zog sie ihn fest in die Arme und drückte ihn an sich. Ihr fehlten die richtigen Worte, um ihn zu trösten, und so war alles, was sie ihm bieten konnte, ihre Nähe. Vielleicht hätte sie, gerade weil sie Malcolm verloren hatte, besser wissen müssen, was er von ihr brauchte. Ihr Kopf war wie leer gefegt, während sein Schmerz an ihr nagte, als wäre es ihr eigener.

 

 

 

 

 

 

Kapitel 3

 

Len

 

In dem ganzen Gefühlstohuwabohu hatte Len völlig vergessen, Lilly gegenüber den Fluch zu erwähnen. Nicht dass es wirklich eine gute Gelegenheit gegeben hätte, das Thema anzusprechen. Sie hatte mehrmals versucht, Sin oder X zu erreichen, weiterhin ohne Erfolg. Auf der Suche nach einer Alternative, den Fluch zu lösen, hatte sie sogar Malcolms Bibliothek durchforstet, nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie irgendetwas über Magie oder Flüche fand. Alles, was ihr das gebracht hatte, war, dass sie jetzt wusste, wie ein Blutschwur durchgeführt wurde, und das half ihr auch nicht weiter.

Ihre Ressourcen waren eingeschränkt, also rief sie die eine Person an, die an alle Infos rankommen konnte, ohne ein Aufheben drum zu machen.

„Charlie!“

„Hi, Babe.“ Etwas knirschte lautstark in der Leitung.

Charlie und sie telefonierten regelmäßig über Skype, um sich auf dem Laufenden zu halten. Nachdem sie von Malcolms Tod erfahren hatte, hatte sie Len ein Carepaket geschickt. Schokolade, Kaugummi, Chips, jede Form von comfort food, die man sich vorstellen konnte, und noch ein bisschen mehr. Es war süß. Verdammt seltsam, aber süß. Dank ihr und Nathan aß Len mindestens drei- bis viermal am Tag und nahm stetig zu. Was sie nach allem, was passiert war, bitter nötig hatte.

„Babe?“ Len schüttelte schmunzelnd den Kopf. „Isst du schon wieder Chips?“

„Hey – Zeitverschiebung, es ist völlig in Ordnung, um diese Uhrzeit Chips zu essen. Oder zu jeder anderen Uhrzeit. Außerdem dachte ich mir, bevor wir die Len/Grace-Debatte führen, gebe ich dir lieber einen Spitznamen.“

Sie hatte endlich ihren Frieden mit ihren beiden Namen, Identitäten und damit auch ihrer Vergangenheit gemacht. So wie Malcolm es gesagt hatte, ein Name war nur ein Name und es änderte nichts daran, wer sie war. Ihr Rudel, ebenso wie Nathan, nannte sie immer noch Grace. Bei allen anderen, die sie noch nicht so lange kannten, wurde es komplizierter. Sie selbst dachte von sich als Len, aber das traf eben nicht zwingend auf andere zu.

Ihre Augenbrauen wanderten nach oben. „Und Babe war das Beste, was dir eingefallen ist? Du verbringst zu viel Zeit mit T.J.“

„Ich kann dich auch Schnuffelpuffel nennen, wenn dir das lieber ist“, verkündete Charlie fröhlich.

Lachend ließ Len sich nach hinten aufs Bett fallen und starrte an die Decke. „Okay, okay, kein Grund, ausfallend zu werden.“

„Also, was verschafft mir die Ehre deines Anrufs? Wie läuft die Renovierung?“

„Zu langsam für meinen Geschmack. Ich brauche ein paar Infos.“

„Infos worüber?“

„Flüche und wie man sie brechen kann.“

„Du weißt schon, dass ich Harry Potter nie gelesen habe und mich weigere, diesem Trend hinterherzujagen, oder?“

Len verdrehte die Augen. „Ach, deswegen hast du mich das letzte Mal gefragt, wie mir 50 Shades gefallen hat, weil du keinem Trend hinterherjagst. Gut zu wissen.“

„Hey, da geht es um Sex. Das ist etwas anderes.“

„Also – Flüche. Was weißt du darüber?“

„Puschelwuschel, ich glaube, du hältst mich für blöd. Du willst, dass ich dir helfe, den Fluch der Gargoyles zu brechen? Bist du verrückt?“

Nicht so verrückt wie du, wenn du mich Puschelwuschel nennst. „Nein, ja und nein, um deine Fragen zu beantworten. Wenn Dan den Thron besteigt, könnten wir endlich einen echten Frieden zwischen den Wölfen und den Gargoyles bewerkstelligen.“

„Was auch immer du für Drogen nimmst, nimm weniger davon“, schlug Charlie vor und ließ eine Kaugummiblase platzen. „Oder mehr.“

„Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der nach Chips freiwillig einen Kaugummi in den Mund nimmt, also erzähl mir nichts von Drogen.“

„Selbst wenn ich dir helfen würde. Glaubst du wirklich, dass ich etwas finde, das den Gargoyles all die Zeit entgangen ist?“

„Wenn es jemand kann, dann du.“

„Okay, jetzt schmierst du mir Honig ums Maul. Mach weiter.“

Grinsend drehte Len sich auf dem Bett auf die Seite. „Du bist völlig plemplem, weißt du das?“

„Dann sind wir ja schon zwei. Also, soweit ich weiß, fallen Flüche unter die Kategorie Magie.“

„Was du nicht sagst.“

„Jaja, lass mich weiterreden. Jedenfalls gibt es nur eine Handvoll an Wesen, die der Magie fähig sind.“

„Sukkubi.“

„Tja, da bin ich mir nicht so sicher.“

„Was heißt, du bist dir nicht sicher?“, fragte Len überrascht und setzte sich auf. „Du warst doch dabei, als Sin ihre Blutmagie benutzt hat.“

„Ja, das schon. Aber ich habe seither meine Hausaufgaben gemacht und ich weiß von keinem anderen Fall, also abgesehen von Lilith, in denen ein Sukkubus dazu fähig war, Magie zu nutzen.“

„Aha. Okay? Was sagt uns das?“

„Es sagt uns, dass es entweder ein riesiger Zufall ist oder dass Sin aus demselben Genmaterial gebastelt wurde wie Lilith.“

Mit anderen Worten, die einzigen Sukkubi, die in der Lage waren, Blutmagie zu nutzen, waren die aus Liliths Linie. Möglicherweise fielen Flüche wie Lillys auch unter Blutmagie. Das würde den Kreis derer, die den Fluch aufheben konnten, stark reduzieren. An diesem Punkt überraschte sie das nicht mal mehr.

„Ich glaube nicht an Zufälle. Das heißt, Liliane müsste ebenfalls in der Lage sein, den Fluch aufzuheben.“

„Bist du auf den Kopf gefallen? Sie hat den Fluch überhaupt erst ausgesprochen.“

„Das schon, aber ich war mir nicht sicher, ob sie ihn deswegen auch aufheben kann. Ob es einfach aus der Situation heraus passiert ist. Wer außer den dreien könnte dazu noch fähig sein?“

„Na ja, es gibt ein paar Dämonenarten, die so etwas wie Magie beherrschen. Druiden zum Beispiel.“

Len seufzte schwer und rieb sich die Schläfe. „Aber lass mich raten, deren Magie ist etwas völlig anderes und auf dieser Ebene inkompatibel.“

„So was in der Art ja.“

„Was ist mit den Gargoyles? Sie wurden durch Magie erschaffen und haben Schutzzauber.“

„Überbleibsel aus einem anderen Jahrtausend. Meinen Quellen zufolge sind sie, seit sie die Magier umgebracht haben, die sie erschaffen hatten, nicht mehr in der Lage gewesen, etwas Ähnliches zu reproduzieren.“

Len fluchte innerlich und klammerte sich an den letzten Strohhalm, der ihr noch einfiel. „Magier waren mehr oder weniger normale Menschen, oder nicht? Was, wenn es mehr von ihnen gab als die, die die Gargoyles geschaffen haben?“

Sie erinnerte sich vage an die Nacht in Schottland, in der sie mit Dan und seinem Clan auf Dämonenjagd gegangen war. Damals hatte es auch einen Magier gegeben, der den Wald hatte aussehen lassen, als würde er brennen.

„Dann sind sie seit Jahrtausenden unentdeckt geblieben.“

Frustriert boxte sie ihren Polster. „Aber es muss doch Gerüchte geben. Wenn ich ein Magier wäre, ich hätte mich so gut es geht vor den Gargoyles versteckt. Aus dem Verborgenen heraus gearbeitet.“

„Falls es sie gibt, wird es nahezu unmöglich sein, sie zu finden, wenn sie nicht gefunden werden wollen. Du weißt schon … wegen der Magie und so.“

„Argh, ja, ich weiß. Verdammt.“

Charlie seufzte durch die Leitung. „Ich hör mich mal um, mische die Gerüchteküche ein wenig auf und sehe zu, was ich finden kann. Aber mach dir besser keine allzu großen Hoffnungen.“

Len hatte nicht vor aufzugeben. „Wenn du etwas über Sin oder X herausfindest, würde mir das reichen.“

„Daran arbeiten wir sowieso, Befehl vom Boss.“

Das wiederum überraschte sie nicht. Will hatte ein Talent dafür, ihr mit allem drei Schritte voraus zu sein. „Wie geht es eigentlich Eli? Sins Eli“, spezifizierte sie.

„Dieser Eli will nicht mehr Eli genannt werden.“

„Sondern?“

„Wir verhandeln noch.“

„Ihr verhandelt noch? Charlie, was zum Teufel machst du mit dem armen Kerl?“

„Es ging ihm auf die Nerven, das dauernde ‚Nein, der andere Eli’. Nicht dass ich ihm das verübeln könnte. Wir suchen noch einen Namen, mit dem er sich wohlfühlt. Ich persönlich schlage Elizar vor.“

„Klingt nach dem Namen für einen Engel und dann wäre die Kurzform immer noch Eli.“

„Deswegen bin ich ja dafür. Elizar ist nicht kurz genug, um eine Abkürzung zu brauchen, aber nah genug an dem, was er schon kennt, um sich identifizieren zu können.“

„Und was sagt Eli dazu?“

„Noch gar nichts, ich habe eben erst eine Namensliste für ihn zusammengestellt, samt Bedeutungen, damit er sich etwas aussuchen kann.“

„Sag mir Bescheid, sobald er sich entschieden hat.“

Sie plauderte noch ein bisschen miteinander, ehe sie sich verabschiedeten.

Nathan kam gerade aus der Dusche, als sie ihr Telefonat beendet hatten. „Wer war das?“, fragte er und rubbelte sich das Handtuch, dass er sich auch um die Hüften hätte schlingen können, durch die Haare.

Len wiederum starrte ihn mit offenem Mund an, was ihm ein selbstzufriedenes Grinsen entlockte. „Siehst du was, das dir gefällt?“

Blinzelnd zwang sie sich, den Blick zu heben. „Nichts, was ich nicht längst gesehen hätte.“ Oder abgeleckt habe. Sie räusperte sich. „Das war Charlie.“

„Du weißt schon, dass es nicht in deiner Verantwortung liegt, die Probleme der ganzen Welt zu lösen, oder?“

„Stimmt. Ich könnte mich auch einfach Tag und Nacht auf die faule Haut legen und darauf warten, dass sich alle Probleme von selbst lösen. Das funktioniert sicher genauso gut.“

„Kein Grund, sarkastisch zu werden. Ich will nur sichergehen, dass du dich nicht übernimmst.“ Er setzte sich zu ihr aufs Bett und warf sich das Handtuch über die Schulter.

Ihre Brauen wanderten nach oben, während sie sich alle Mühe gab, nicht auf seinen nackten Körper zu starren. „Versuchst du, mich abzulenken?“

Unschuldig blinzelte er. „Würde ich so etwas je tun?“

Sie stieß ihn spielerisch an und schüttelte lächelnd den Kopf. „Ja, würdest du. Ich kann nicht alle Probleme lösen. Rack zum Beispiel muss das mit Joyce allein auf die Reihe kriegen.“

„Wenn du mir als Nächstes noch weismachen willst, dass du kein schlechtes Gewissen hast, weil du ihm dabei tatsächlich nicht helfen kannst, sag ich dazu nur eines: Bullshit.“

„Haben wir jetzt Sex oder willst du lieber weiterquatschen?“

„Wer lenkt hier wen ab?“, konterte er grinsend und wackelte mit den Augenbrauen. „Ernsthaft, was steht auf deiner imaginären To-Do-Liste?“

Mit einem frustrierten Stöhnen ließ sie ihren Kopf auf seine Schulter sinken und begann an ihren Fingern abzuzählen. „Die Höhle muss in Ordnung gebracht werden. Wir müssen uns auf den Krieg mit Lilith vorbereiten, eine Armee aufstellen, Strategien entwickeln, Waffen besorgen und alles, was dazugehört. Dazu muss Dan den Thron besteigen, ergo muss der Fluch aufgehoben werden und keiner von uns weiß, wie wir das anstellen. Wir brauchen Lillys Unterstützung und obwohl du dich mit ihr ‚ausgesprochen‘ hast, sind wir Meilen davon entfernt. Wir benötigen Sin, wenn wir auch nur davon träumen wollen, eine Chance gegen Lilith zu haben, aber sie und X sind weiterhin spurlos verschwunden. Mein Halsband muss runter, dafür sollte ich laut Denelle noch ungefähr fünf Kilo zunehmen – hör auf, meine Brüste anzustarren, die wiegen, selbst wenn ich zwanzig Kilo zunehme, keine fünf – an Muskelmasse wohlgemerkt, nicht Fett. Dafür wiederum muss ich trainieren, wovon du mich ständig abhältst. Ich muss einen Weg finden, Jamie wieder vollständig ins Rudel zu integrieren, und wenn wir schon beim Thema sind: Rack und Marie sind beide nicht in der Verfassung, das Rudel zu leiten. Sira pendelt zwischen allen, die nicht hier sind, hin und her, um zu retten, was noch zu retten ist. So wie die Dinge jetzt stehen, kann das nicht mehr lange gut gehen. Außerdem –“

„Okay, stopp mal für zwei Sekunden, du vergisst ja zu atmen.“ Er legte einen Arm um ihre Schultern und hob mit seiner freien Hand ihr Gesicht an, um sie sanft auf den Mund zu küssen. „Ich kümmere mich um Jamie und sobald mir ein guter Grund eingefallen ist, dir beim Brechen des Fluches zu helfen –“ Sie boxte ihn in den Bauch. „Autsch. Munchkin, wenn du mehr Kink in unser Leben bringen willst, solltest du dafür wenigstens nackt sein.“

„Kannst du ausnahmsweise mal für fünf Minuten ernst bleiben?“

Gespielt theatralisch weiteten sich seine Augen und er griff sich ans Herz. „Aber nur, weil du es bist.“

„Danke“, schnaubte sie.

„Du hältst es wirklich für eine gute Idee, Daniel MacClaine die Möglichkeit zu geben, über alle Gargoyles zu herrschen? Ist dir bewusst, dass das auch mich und dich beinhaltet?“

Len ließ ihre Knöchel knacken. „Er kann gerne versuchen, mich herumzukommandieren, er wird schon sehen, was er davon hat.“

„Grace, er muss dich nicht kommandieren, sobald du dich verwandelst und in seiner Nähe bist, wirst du ihm aufs Wort gehorchen.“

Sie verstand seine Bedenken, besonders nach dem, was ihm widerfahren war. Schließlich wusste sie, wie tief sein Hass auf die Gargoyles verankert saß. Wusste, was er verloren hatte, weil er dank seines Vaters dieser Macht bereits zum Opfer gefallen war. Dennoch glaubte sie nicht, dass sie um diesen Schritt herumkämen, wenn sie gegen Lilith erfolgreich sein wollten.

„Sieh mal, Dan hat nicht immer die besten Entscheidungen getroffen, das will ich gar nicht infrage stellen. Aber im Grunde seines Herzens ist er ein guter Kerl und selbst wenn das nicht der Fall wäre, er ist das bekannte und kleinste Übel. Wir brauchen ihn und jeden, der bereit ist, mit ihm in den Krieg zu ziehen. Je mehr, desto besser. Ich sehe keine andere oder gar bessere Möglichkeit. Du etwa?“

Nathan brummte unzufrieden. „Ich hasse es, wenn du mir mit Logik kommst.“

„Armer alter Mann“, spottete sie sanft, um der Situation die Härte zu nehmen und ihn aufzuheitern, so wie er es immer für sie tat.

„Ich rufe Lilly an und bitte sie, wieder herzukommen. Hoffen wir, dass sie mir nicht gleich zur Begrüßung den Kopf abreißt.“

„Weißt du, vielleicht probierst du es mal, indem du tatsächlich nett zu ihr bist.“

„Nett ist die kleine Schwester von scheiße“, konterte er brüsk.

„Und lieb der Cousin dritten Grades. Trotzdem, versuch einfach, die Arschlochattitüden auf ein Minimum zu reduzieren.“

„Aber was bleibt dann noch?“, fragte er mit einem entsetzten Gesichtsausdruck.

„Der Mann, den ich liebe?“, schlug sie vor und er machte Würgegeräusche. „Zu dick aufgetragen?“

„Wenn ich ab morgen Karies habe, dann ja.“

„Hey, wenigstens einer von uns gibt sich Mühe mit der Romantik.“

Seine Augenbrauen wanderten nach oben. „Du unterliegst einem Irrglauben, wenn du das für wahre Romantik hältst.“ Sie verdrehte die Augen und zeigte ihm den Mittelfinger. „Viel besser“, erklärte er grinsend, packte ihr Handgelenk und biss sie in den Finger.

„Sagte der nackte Mann in meinem Bett.“

„Was könnte romantischer sein als mein nackter Körper? Hast du überhaupt richtig hingesehen?“ Er warf sich für sie in Pose und Len schmiss lachend ihren Polster nach ihm.

„Idiot.“

„Munchkin, du kannst mich nennen, wie du willst, aber tu es nackt.“

Sie hielt sich den Bauch und wischte sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln. „Danke, das hab ich gebraucht.“ Von einem Ohr zum andern grinsend stand sie auf und ging zur Tür.

„Hey! Das war kein Scherz!“

Lachend zeigte sie ihm erneut den Mittelfinger und ließ ihn in ihrem Zimmer zurück.

 

Rack

 

Racks Handy klingelte zum dritten Mal und obwohl das Timing absolut beschissen war, weil er alle Hände voll zu tun hatte, hob er ab.

„Ja?“

„Hey, großer Bruder. Ich wollte nur mal fragen, wie es dir geht?“

Sein Handy zwischen die Schulter geklemmt und den Blick auf Joyce fixiert, die ihn anstarrte und auf seine letzte saubere Hose pisste, antwortete er: „Joyce’ Zustand verschlechtert sich aus irgendeinem mir unerfindlichen Grund. Joyce! Lass das!“

„Ähm, okay, aber ich habe nicht nach Joyce gefragt.“

„Grace, müssen wir dieses Gespräch jetzt führen? Kann ich dich nicht einfach zurückrufen? Joyce –“

„Natürlich kannst du das“, unterbrach sie ihn mit einer Stimme, die so süß klang, dass ihm schlecht wurde. „Du tust es nur nicht und nachdem du mir verboten hast, vorbeizuschauen und nach dem Rechten zu sehen, bleibt mir nicht viel anderes übrig, als dich anzurufen.“

Er hörte ihr nur mit halbem Ohr zu, während er Joyce durch den Raum nachjagte, weil sie sein Ladegerät im Maul hatte. „Grace, ehrlich, das ist ein wirklich schlechter Zeitpunkt.“ Rack bekam das Kabelende zu fassen und zog daran.

„Es gibt seit Wochen keinen passenden Zeitpunkt mehr.“

Joyce nutzte den Moment und begann ebenfalls an dem Kabel zu ziehen, als wäre das hier ein Spiel.

„Grace, ich bitte dich, ich habe keine Zeit! Ich verlange nichts von dir, außer mir den Freiraum zu lassen, mich um meine Frau zu kümmern. Ich lebe noch. Also könntest du aufhören, mir tagtäglich auf die Nerven zu gehen?“, herrschte er sie an, direkt bevor das Kabel riss und er auf den Hintern fiel. Einen Augenblick zu spät wurde ihm klar, was er soeben gesagt hatte. „Große, es –“

„Schon okay“, unterbrach sie ihn, die Stimme völlig neutral, was bei ihm alle Alarmglocken zum Läuten brachte. „Ich rücke dir nicht länger auf den Pelz.“

Noch ehe er sich entschuldigen konnte, hatte sie aufgelegt.

Fluchend stand er auf und starrte auf Joyce herunter, die auf ihrem Kabelende herumkaute. „Ich schwöre bei Gott, du raubst mir den letzten Nerv“, knurrte er in ihre Richtung. Sie gähnte ihn demonstrativ an, kratzte sich am Ohr und schloss die Augen.

Über alle Maßen frustriert wusch er seine Jeans unter der Dusche aus und rief Sira an. Er bat sie, ihm so bald wie möglich ein neues Ladekabel für sein Handy mitzubringen.

„Warum bittest du nicht Grace darum?“, fragte Sira prompt.

„Weil Joyce jedes Mal, wenn Grace da war, stundenlang völlig durchdreht.“

Siras Stimme wurde misstrauisch. „Hast du ihr das auch gesagt?“

„Ich will nicht, dass sie es in den falschen Hals kriegt.“

„Also redest du gar nicht mehr mit ihr?“

Racks Augen verengten sich. „Hat sie sich bei dir beschwert?“

„Grace? Nein. Du solltest wissen, dass sie nicht der Typ zum Petzen ist. Du wüsstest, dass sie es verstehen würde. Wenn du dir zwischendurch die Mühe gemacht hättest, dich zu erkundigen, wie es ihr geht. Oder deiner Mutter, wenn wir schon beim Thema sind.“

„Sira, Mum trauert, ich kann ihr dabei nicht helfen und Grace hat Nate, der für sie da ist. Ist es wirklich zu viel verlangt, dass ich mich ungestört auf Joyce’ Genesung konzentrieren kann?“

„Sag du es mir. Deine Mutter hat seit Wochen keinen Ton mehr von sich gegeben. Keinen einzigen. Jedes Mal, wenn ich Grace sehe, rennt sie wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Gegend und versucht, alles im Alleingang zu lösen. In ihrem Kopf schließt das dich und Joyce ein. Wenn du ihr klarmachen könntest, dass sie sich keine Sorgen machen muss, weil du alles im Griff hast, nimmst du damit ihr und dir den Druck, capiche?“

„Wo bist du eigentlich?“

„Rack, ernsthaft, schieb das jetzt nicht auf mich. Ich bin die Hälfte der Zeit bei Cailin, für die es alles andere als leicht ist, damit klarzukommen, ein Bein verloren zu haben. Den Rest meiner Zeit pendle ich zwischen Fiona und Bonnie, beide hochschwanger, ängstlich und sehr emotional. Ich kann nicht überall gleichzeitig sein und dann auch noch Botengänge für dich erledigen, weil du Schiss vor deiner kleinen Schwester hast.“

„Ich habe keine Lust auf eine Predigt von dir, bring mir einfach das verdammte Ladekabel.“

„Rack, ich habe keine Ahnung, was mit dir los ist, aber du benimmst dich nicht wie der Mann, den ich kenne.“

„Mein Vater ist tot“, brüllte er und schreckte damit Joyce auf, die augenblicklich die Lefzen hochzog und knurrte.

„Und das hältst du für den richtigen Zeitpunkt, deinem Rudel den Rücken zuzukehren? Spannende Bewältigungstechnik.“

Rack ballte die Hände zu Fäusten und Joyce reagierte sofort darauf, indem sie ihn fixierte und begann ihn zu umkreisen. Wenn er ihr jetzt den Rücken zukehrte, würde sie ihn angreifen. „Bist du fertig?“

„Warum? Reicht es dir schon?“, konterte sie bissig. „Krieg deinen Mist auf die Reihe. Wir alle leiden unter Malcolms Tod und es steht dir zu damit umzugehen, wie auch immer du das für richtig hältst. Aber vielleicht schaffst du es dabei, nicht den Menschen weh zu tun, die noch am Leben sind und dich lieben.“ Sira legte abrupt auf und Rack war lange genug abgelenkt, dass Joyce ihn angriff.

 

 

Lilly

 

„Noch einen Zimttequila. Oder weißt du was? Lass gleich die ganze Flasche da!“

Der Barkeeper kam zu ihr herüber, brachte ihr ein frisches Glas und die Flasche, die sie verlangt hatte, ehe er sich mit den Unterarmen auf den Tresen lehnte. „Also was bringt eine wunderschöne Frau wie dich dazu, an einem feinen Abend wie diesem eine ganze Flasche Tequila zu trinken?“

„Es ist nicht einfach nur Tequila“, meinte Lilly und lallte ein bisschen, ehe sie sich den Shot hinter die Binde kippte. „Es ist Zimttequila.“

Grinsend beobachtete der Barkeeper sie. „Und was ist der Grund?“

„Ich habe einer Frau das Leben gerettet und zum Dank hat sie sich in die Liebe meines Lebens verliebt und er sich in sie.“

Er verzog das Gesicht in Sympathie. „Autsch.“ Dann streckte er die Hand aus und stellte sich vor. „Ich bin Kyle.“

„Hallo, Kyle, ich bin Lilly und nicht interessiert“, säuselte sie, schenkte nach und trank das Glas auf ex aus.

„Ach, komm schon, eine schöne Frau wie du wird sich doch nicht von einem gebrochenen Herzen ins Bockshorn jagen lassen. Du weißt, was man sagt, wenn man vom Pferd gefallen ist.“ Sein Grinsen war lasziv und einladend und es war ihr piepegal.

„Mein bester Freund hat vergessen zu erwähnen, dass der Mann, den ich liebe, eigentlich mein Bruder ist. Ich glaube, ich schwöre den Männern endgültig ab.“

„Wow.“ Kyle pfiff durch die Zähne. „Krasser Scheiß.“

Himmel, Arsch und Zwirn, wer sagte denn heutzutage noch krasser Scheiß? War sie wirklich schon so alt?

„Zisch ab“, ertönte es schroff neben ihr. Als sie zur Seite sah und erkannte, wer sich neben sie gesetzt hatte, verzichtete sie auf das Glas und setzte die Flasche direkt an.

Kyle war nicht begeistert. „Ich und die Lady unterhalten uns gerade.“

„Ich habe gesagt, verpiss dich. Ich wiederhole mich nicht.“ Nates SIG Sauer landete auf dem Tresen und ließ Kyle mit blassem Gesicht in aller Eile das Weite suchen.

„Was soll der Mist? Was machst du überhaupt hier?“, verlangte sie zu wissen, weigerte sich aber, ihn anzusehen.

„Francois hat mich angerufen, gesagt, du wärst seit zwei Tagen nicht nach Hause gekommen und er könnte dich nicht finden.“

„Und was machst du dann hier?“, ätzte sie, griff nach einer Orangenscheibe und biss hinein.

„Lill’, ich habe Scheiße gebaut. Ich weiß das, du weißt das und die ganze restliche Welt auch. Trotzdem ist das kein Grund, dich bewusstlos zu trinken.“

Jetzt drehte sie sich doch zu ihm. Weil sie ihn doppelt sah, kniff sie die Augen zusammen. „Ich bin nicht bewusstlos.“

„Aber auf dem besten Weg dorthin.“

„Was willst du von mir? Hast du nicht genug angerichtet? Geh zurück zu deiner Munchkin und lass dir von ihr einen blasen oder was ihr sonst immer so macht.“ Ihre Stimme hätte giftiger geklungen, wenn sie nicht so stark gelallt hätte.

„Komm, ich bring dich nach Hause.“

Sie wich vor ihm zurück und wäre fast von ihrem Barhocker gefallen. „Und welches Zuhause soll das bitte sein? Ich lebe seit Jahren wie eine Nomadin, weil meine Mutter mich tot sehen will.“

„Ich weiß. Was ich allerdings nicht verstehe, ist, warum du nichts gegen sie unternimmst, obwohl du das weißt.“

Den Blick ins Leere gerichtet, nahm Lilly noch einen Zug aus ihrer Flasche. „Sie liebt mich.“

„Klar tut sie das. Mindestens so sehr wie Scheidenpilz.“

Iiiih, du hast Scheide gesagt!“ Sie tat, als müsste sie sich übergeben, und hielt sich Sekunden später die Hand vor den Mund, weil ihr vom Vornüberbeugen wirklich schlecht wurde.

Kaum hatte Nate die Flasche aus ihren Fingern gewunden, stellte er sie außerhalb ihrer Reichweite. „Ja, kleines präpubertäres Mädchen.“ Er griff sie am Ellbogen und zog sie auf die Beine. Doch ihre Muskeln waren weich wie Gummi und versagten ihr den Dienst. Sie hasste ihn dafür, dass sie Gesicht voran in seiner Brust landete. Sie hasste ihn noch mehr dafür, dass er gut roch.

„Ich hasse dich“, murmelte sie, während sie sich von ihm abstieß und prompt das Gleichgewicht verloren hätte, wenn er sie nicht gehalten hätte.

Seufzend knallte er ein paar Scheine auf die Bar. „Und du hast auch allen Grund dazu. Trotzdem kommst du jetzt mit.“ Er schlang ihren Arm um seinen Nacken, packte sie an der Hüfte und schleifte sie so aus der Bar.

Sie waren keine fünf Minuten an der frischen Luft, als der Alkohol sie einholte und seinen Weg in die Freiheit fand. Direkt auf Nates Schuhe.

„Scheiße“, fluchte er und zerrte sie weiter.

„Liebst du sie?“, nuschelte sie, nachdem er vor einem Auto stehen blieb und aufschloss.

Statt einer Antwort gab er ein grunzendes Geräusch von sich und bugstierte sie auf den Beifahrersitz. „Kotz mir ja nicht ins Auto.“

Während er den Sicherheitsgurt für sie befestigte, drückte er unangenehm auf ihren Bauch und sie hatte Mühe, die Reste ihres Mageninhalts für sich zu behalten. „Sie hat was Besseres verdient als dich.“

„Endlich mal etwas, bei dem wir uns einig sind.“ Er knallte die Tür zu und stieg auf der Fahrerseite wieder ein.

Lilly ließ das Fenster herunter und atmete die kühle Nachtluft ein. „Sie ist hübsch, ihr macht sicher süße Babys zusammen.“ Sie hörte ihn etwas Unhöfliches murmeln, fand es aber zu anstrengend, seine Worte zu einem Satz zusammenzusetzen. „Ich wette, bei ihr bist du in die Vollen gegangen. Romantisches Dinner bei Kerzenschein, Blumen und all der Kram.“

„Nein“, knurrte er.

Überrascht und unerwartet verärgert sah sie zu ihm herüber. Er hielt das Lenkrad so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. „Was soll das heißen, nein? Ich dachte, ihr habt dieses große romantische Ding am Laufen.“

„Erinnerst du dich daran, dass neunzig Prozent aller Gargoyles sie bis vor Kurzem noch tot sehen wollten?“

„Na und? Sterben könnt ihr, wenn ihr tot seid.“

„Was?“

„Was?“ Verwirrt dachte sie noch mal darüber nach, was sie gesagt hatte, und zuckte schließlich die Schultern. „Ich meine, genau deswegen solltest du ihr doch ein bisschen Romantik zukommen lassen, oder? Sie hat ziemlich viel mitgemacht, ich hätte erwartet, gerade du wüsstest das und trägst sie deswegen auf Händen.“

„Es gab keine Gelegenheit dazu.“

„Gelegenheit am Arsch“, schnaubte sie und musste rülpsen.

„Ihr Vater ist eben erst gestorben.“

„Du hast recht, kein Grund, ihr zu zeigen, wie schön das Leben sein kann, oder ihr die Möglichkeit zu bieten, den Kopf freizukriegen und den ganzen Kummer und Stress hinter sich zu lassen. Geh bloß auf kein Date mit ihr!“ Das brachte ihn zum Schweigen. Mit einem selbstzufriedenen Grinsen starrte sie aus dem Fenster.

„Wenn ich gewusst hätte, dass man mit dir fast schon eine ernsthafte Konversation haben kann, sobald du betrunken bist, hätte ich dich regelmäßig abgefüllt.“

„Du bist ein Arschloch, weißt du das?“ Sie warf ihm einen giftigen Seitenblick zu.

Er seufzte. „Eines Tages wirst du dich wirklich verlieben, in einen Kerl, der emotional auch verfügbar ist, und wenn es so weit ist, können wir vielleicht über die ganze Geschwistersache lachen.“

Diesmal drehte sie sich ganz zu ihm, lehnte sich rüber, rülpste lautstark und ließ sich dann wegen seines angeekelten Gesichtsausdrucks lachend in ihren Sitz zurückfallen. „Ich lache jetzt schon“, erklärte sie und kotzte ins Auto.

 

 

Lilith

 

Lilith saß schnaufend in einer Lache aus Blut. Die Einrichtung in ihrem Penthouse hatte sie längst demoliert, die Wände waren rot gefärbt und überall lagen Leichenteile herum, von denen sie sich nicht die Mühe machte, sie wegzuräumen.

Es gab keinen Körper, den sie hätte beerdigen können, nicht von der einen Person, die zählte.

Jinx.

Halb Wendigo, halb Gargoyle, war sie schon als Kind zu dünn und groß gewesen, um normal auszusehen. Ihr endloser Hunger hatte das in Liliths Augen wettgemacht. Hunger nach Fleisch, nach Leid und Macht.

Jinx war von Grund auf das gewesen, was Lilly selbst nach all der Mühe nicht geworden war.

Die Tochter, die sie großgezogen hatte und die dankbar war für die Chancen, die Lilith ihr bot. Die Tochter, die sie in Liliane hätte haben wollen und nie bekommen hatte.

Jinx hatte diese Lücke gefüllt. Besser als Lilith dem verhungerten Ding je zugetraut hätte, als Eric sie damals unter dem Deckmantel zu ihr brachte, er hätte sie vor den Flammen im Labor gerettet. In Wirklichkeit hatte er nur davon ablenken wollen, was er unrechtmäßig für sich selbst entwendet hatte: Lenara und den Sukkubus, der die Dreistigkeit besessen hatte, ihr die Stirn zu bieten. Wäre Eric noch am Leben, hätte sie ihn für dieses Vergehen bei lebendigem Leib gehäutet. Hätte er damals seine Befehle befolgt, wäre keine der beiden Frauen ihr je in die Quere gekommen.

Jinx’ Haut war schwarz verfärbt gewesen und blätterte ab wie trockener Teig, als er sie zu ihr brachte. All den Aufwand, den sie betrieben hatte, um sie zuerst wiederzubeleben und dann aufzupäppeln. Sie hätte die Mühe nie auf sich genommen, wäre Lilly damals nicht vor ihr geflohen, nur wegen ihres kleinen Wutausbruchs.

In all den Punkten, in denen Lilly versagt hatte, glänzte Jinx umso mehr.

Doch auch diese Tochter wurde ihr vom Schicksal entrissen.

Wieder und wieder hatte sie sich die Filmaufnahmen angesehen, in denen die Gargoyles Jinx getötet hatten.

Und jedes Mal verfiel sie in einen Rausch, der nichts als Verwüstung zurückließ.

Anhand der Glieder, die um sie herum verstreut am Boden lagen, konnte sie abzählen, wie viele ihrer eigenen Diener sie bereits in ihrer Wut getötet hatte.

Schreiend schlug sie mit der bloßen Faust auf den Fernseher ein, der einzige Gegenstand, den sie bisher nicht angerührt hatte.

Sie musste aufhören, sich Jinx’ Tod anzusehen, denn selbst Franklins eingeschlagener Schädel konnte den Schmerz über ihren Verlust nicht lindern.

So konnte es nicht weitergehen. Sie würde sich zusammenreißen und ihre Dämonen versammeln.

Die Gargoyles würden bitter bereuen, was sie ihr angetan hatten.

Dafür würde sie persönlich sorgen.

 

 

 

 

 

 

Kapitel 4

 

Len

 

Mitten in der Nacht kam Nathan in ihr Zimmer gestürmt. Von oben bis unten vollgekotzt und eine bewusstlose Lilly über die Schulter geworfen.

Verschlafen rieb Len sich die Augen und setzte sich auf, während er Lilly neben ihr aufs Bett fallen ließ. Len starrte sie an und hielt sich dann die Nase zu.

„Es mag ja jedermanns Traum sein, einen Dreier mit zwei Frauen zu haben, alter Mann. Aber du hattest echt schon bessere Ideen, als deine Schwester in unser Bett zu bringen.“

„Haha“, knurrte er und zog sich sein T-Shirt über den Kopf. „Sie hat auf dem Weg hierher fünfmal gekotzt. Viermal auf mich, einmal in mein Auto.“

„Aww, armes Baby.“ Bei seinem vernichtenden Blick sah sie ihn voller Unschuld an. „Ich meine dein Auto.“

„Ich bin unter der Dusche“, verkündete er kurz angebunden und verschwand ins angrenzende Bad.

„Warum riecht es hier nach Zimt?“ Sie rümpfte die Nase.

„Hmm, Zimttequila“, murmelte Lilly im Schlaf.

Len packte Lilly unter die Decke, stellte einen Kübel bereit und legte sie seitlich, falls sie sich noch mal übergeben musste.

Dann trat sie ins Badezimmer und schloss hinter sich die Tür. „Du weißt schon, dass mein Bett nicht groß genug ist für drei, oder?“

Er warf ihr einen Blick durch die halbbeschlagene Scheibe zu und wusch sich in aller Seelenruhe die Haare. „Ich schlafe draußen auf der Couch.“

„Warum hast du Lilly nicht auf die Couch verfrachtet?“, erkundigte sie sich. „Die kann sie ohne Schaden vollkotzen.“

„Ist es ein Problem?“

Len zuckte die Schultern. „Nein, war nur neugierig.“ Weil er nichts weiter sagte, seufzte sie und setzte sich auf den Klodeckel. „Also, spucks aus, was ist los?“

„Gar nichts.“

„Mhm. Genau.“

Er drehte das Wasser ab, sobald er fertig war, und sie warf ihm ein Handtuch zu. „Wirklich, Lilly und ich hatten sogar unsere erste ernsthafte Unterhaltung. Es ist alles in Ordnung.“

„Warum bist du dann so komisch?“

Das Handtuch diesmal um die Hüften gewickelt, kam er zu ihr herüber, umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen und küsste sie. „Ich bin einfach nur müde.“

Ihre Augen wurden groß. „O scheiße, bist du krank? Hast du Fieber? Soll ich einen Arzt rufen?“

Ruckartig zog er sie hoch und presste sie an sich. Ihre Hände fanden wie von selbst zu seinem Nacken und spielten mit dem feuchten Haar. „Ich werde es genießen, eine Nacht lang mit niemandem um die Decke kämpfen zu müssen. Jeder Mann hat sein Limit und deine kalten Füße sind meines.“

Sie streckte ihm die Zunge raus und zog spielerisch an einer Haarsträhne.

„Provozier mich nicht.“ Er gab ihr einen Klaps auf den Hintern und verließ das Bad. Ein bisschen enttäuscht, weil der Moment nicht in einer wilden Knutscherei geendet hatte, folgte sie ihm. Lilly schien sich keinen Millimeter bewegt zu haben.

Zwar fand sie es komisch, dass er seine Schwester bei ihr ablud, wollte aber auch kein Fass deswegen aufmachen.

Mit dem Rücken zu ihr zog Nate sich an und war schon auf dem Weg aus dem Zimmer, als sie ihn zurückhielt. „Hey, ist wirklich alles in Ordnung?“

„Ist es. Schlaf gut, Munchkin.“ Er küsste sie auf die Nasenspitze und ließ sie stehen.

Sie seufzte schwer und stapfte zurück zum Bett. „Gibt es einen Weltrekord in Seufzen?“, fragte sie in die Stille des Raumes, ohne eine Antwort zu erwarten.

Len hatte gerade die Lider geschlossen, als ihr Handy läutete. Blind griff sie danach und öffnete die Augen einen Spalt, um zu sehen, wer sie um diese Zeit anrief.

„Charlie“, brummte sie, nachdem sie abgehoben hatte. „Es ist mitten in der Nacht. Wehe dir, du hast keine guten Nachrichten.“

„Ups, stimmt ja.“

„Warte kurz.“ Grummelnd stand Len wieder auf und schloss sich im Badezimmer ein, um Lilly nicht zu wecken. „Also.“ Sie gähnte laut. „Was gibts?“

„Ich habe zwar noch nichts über dein Fluch-Problem herausgefunden, aber auf der Suche bin ich über etwas anderes gestolpert.“

Len hielt die Augen geschlossen, während sie darauf wartete, dass Charlie weitersprach. Was sie nicht tat. „Und über was?“

„Ich dachte schon, du fragst nie! New York.“

„Du bist über New York gestolpert? Wirklich? Muss wehgetan haben. Bist du Kopf voraus von der Freiheitsstatue gefallen?“

„Dass du gleich alles so wörtlich nehmen musst. Es ist eine neue … äh – wie heißt das höfliche Wort? – Freudendame aufgetaucht.“

Das machte sie hellhörig. „Du meinst eine Prostituierte.“ Len wagte es kaum zu hoffen. „Sin.“

„Allem Anschein nach. Es geht das Gerücht um, dass eine rothaarige Irre die Szene aufmischt.“

„Was soll das heißen?“

„Sie scheint einem Prostitutionsring auf die Zehen gestiegen zu sein. In jedem Club, in dem sie arbeitet, gibt es kurz darauf Tote.“

Sofort schüttelte Len den Kopf, auch wenn Charlie das nicht sehen konnte. „Sin tötet nicht einfach wahllos Leute.“

„Ich tippe auf ihren Herrn und Meister – X. Schätze, er räumt auf, wenn seine Errungenschaft nicht gut behandelt wird. Entweder das, oder sie versuchen absichtlich, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.“

Nachdenklich kratzte sie sich am Hals. „Die Aufmerksamkeit von wem?“

„Keine Ahnung. Ich habe Boss gebeten, vor Ort Nachforschungen anstellen zu dürfen.“

„Geh nicht allein.“

„Ich bin gerührt von deiner Sorge. Total süß von dir. Natürlich gehe ich nicht allein nach New York. Ich bin ja nicht verrückt.“

Len massierte sich die Schläfen. „Ich schätze, ich kann mitkommen, wenn du mir einen Tag gibst, um rüberzufliegen.“

Charlie protestierte sofort. „Nein, Fluffi. Du bleibst schön, wo du bist, und lässt uns das regeln. Hab zur Abwechslung mal ein wenig Vertrauen in uns, hm?“

Müde setzte sie sich auf den Badezimmerboden und ließ den Kopf nach hinten fallen. „Angenommen du findest Sin, wie willst du sie überreden mitzukommen? Du wirst mich dort brauchen.“

„Lass das meine Sorge sein. Außerdem, wenn Sin auf dich hören würde, wäre sie gar nicht erst weggegangen, oder?“

Sie zuckte zusammen. „Streu ruhig Salz in die Wunde, danke Charlie.“

„War nicht meine Absicht, aber ich habe einen Plan. Vertrau mir, ja?“

Zum gefühlt hundertsten Mal seufzte Len und gab schließlich nach. „Pass bloß auf dich auf, hörst du?“

„Aww, du bist so süß, Hasi.“

Widerwillig musste sie grinsen. „Doofe Kuh.“

„Ich liebe dich auch, Schatz.“

Len lachte leise in sich hinein, während sie sich verabschiedeten.

 

Charlie

 

Charlie hatte gerade aufgelegt, als die Tür zu ihrem Zimmer aufgerissen wurde und Eli, ihr Eli, sich vor ihr aufbaute.

So nonchalant wie möglich sah sie ihn an und ignorierte dabei ihr Herzklopfen. „Kann ich dir helfen?“

„Du liebst ihn? Wen?“, verlangte er wutschäumend zu wissen.

Perplex blinzelte sie. Eli sah aus, als würde er gleich jemanden ermorden. „Wie bitte?“

Er packte sie an den Oberarmen. „Ich habe gehört, was du gesagt hast. Wer zum Teufel ist der Kerl?“

Charlie prustete los.

„Charles, das ist nicht witzig“, knurrte er.

„Doch, das ist es.“ Sie schüttelte seine Hände ab und wischte sich die Lachtränen aus dem Gesicht. „Ich habe gerade mit Len aka Grace telefoniert.“ Dann verging ihr das Lachen. „Hey, hast du etwa gelauscht?“

Eli hatte den Anstand, verlegen dreinzusehen, und räusperte sich. „Das war nicht notwendig. Du hast es ja förmlich durch die Welt geschrien.“

Charlies Augen verengten sich zu Schlitzen, als ihr etwas anderes bewusst wurde. „Und nenn mich nicht Charles! Was gibt dir eigentlich das Recht, ungebeten in mein Zimmer zu platzen?“ Wütend schubste sie ihn, doch er bewegte sich keinen Zentimeter. Besonders in Momenten wie diesen hasste sie es, so ein Leichtgewicht zu sein. „Selbst wenn ich gerade Telefonsex gehabt hätte, ginge dich das überhaupt nichts an!“

Knurrend drängte Eli sie nach hinten, bis ihre Kniekehlen das Bett berührten. „Es geht mich sehr wohl etwas an, Charles.“

Wieder stieß sie ihn vor die Brust und knurrte zurück. „Nenn mich nicht so!“

„Warum? Soll ich dich lieber Schatz nennen?“, konterte er und packte ihre Handgelenke, als sie ihn erneut stoßen wollte.

Sie gab ein frustriertes Geräusch von sich, während sie erfolglos versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. „Was ist eigentlich in dich gefahren?“

„Du. Du bist in mich gefahren. Hast du immer noch nicht kapiert, dass du mir unter die Haut gehst, Charles?“

Charlie wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, da ließ er sie los, vergrub seine Hände in ihren Haaren und küsste sie.

Seine Lippen waren weicher, als sie es sich vorgestellt hatte. Der Kuss fordernd und zart zugleich.

Weil sie sein Verhalten völlig überrumpelt hatte, dauerte es endlose Sekunden, ehe sie sich daran erinnerte, warum sie sich von Männern in ihrem Rudel fernhielt, und sich von ihm löste.

Ihr Herz drohte, ihr aus der Brust zu springen, während sich ihr Magen zu einem nervösen Knoten verkrampfte.

Dann holte sie aus und knallte ihm eine.

„Dazu hattest du kein Recht.“ Zitternd zeigte sie mit dem Finger zur Tür. „Raus!“

Weil er keine Anstalten machte, sich vom Fleck zu rühren, wurde ihre Stimme schrill. „Ich habe gesagt, raus hier!“

T.J. steckte den Kopf bei der Tür rein. „Was soll das Geschrei? Alles in Ordnung hier drinnen?“, erkundigte er sich.

„Eli wollte gerade gehen“, zischte Charlie, ohne den Blick abzuwenden.

Sie ignorierte den Sturm, der in seinen Augen tobte und der ihr versprach, dass das letzte Wort in dieser Sache nicht gesprochen war.

„Äh, Eli?“, forderte T.J. ihn auf.

Als er sich endlich in Bewegung setzte, knallte er die Tür beim Rausgehen so laut zu, dass Charlie zusammenzuckte.

Immer noch unter Schock wanderten ihre Finger zu ihren geschwollenen Lippen.

Warum zum Kuckuck hatte er sie geküsst?

Und viel wichtiger … Warum hatte sie den Kuss erwidert?

 

Lilly

 

Lilly erwachte mit dem größten Brummschädel des Jahrhunderts und hatte das Gefühl, jemand würde mit einem Vorschlaghammer ihren Kopf einschlagen. Dem Geschmack in ihrem Mund nach zu urteilen, waren über Nacht drei Ratten darin gestorben.

Sie wollte ihr Gesicht gerade im Polster vergraben, als ihr bewusst wurde, dass sie nicht in ihrem Bett lag. Und auch nicht allein war.

Abrupt setzte sie sich auf, was ihre Alkoholleiche von Körper mit Übelkeit erster Klasse belohnte.

Ihr Blick fiel auf Len, die mehr auf Lillys Bettseite lag denn auf ihrer eigenen, und schlief fest.

Augenblicklich fühlte Lilly, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich.

„Ach du Scheiße!“

Len schreckte aus dem Schlaf hoch, plötzlich mit einer Pistole in der Hand, und sah sich hektisch um. „Was? Was ist los?“ Sobald sie Lilly sah, entspannte sich ihre Haltung wieder. Gähnend versteckte sie die Pistole unter ihrem Polster.

„Warum zum Teufel liege ich in deinem Bett? Bitte sag mir, dass wir nicht miteinander geschlafen haben!“

Verwirrt starrte Len sie an.

Lilly kreischte los, obwohl das Geräusch ihr in den eigenen Ohren wehtat, und sprang aus dem Bett. „Nate bringt mich um!“

„Er hat dich doch reingelegt, wieso sollte er dich dann umbringen?“

„Ich habe seine Freundin verführt! Natürlich bringt er mich da um!“

Len brach in schallendes Gelächter aus, während Lilly nervöse Blicke zur Tür warf.

„Lilly! Wir haben im selben Bett geschlafen. Wir hatten keinen Sex!“

Da erst fiel ihr auf, dass sie beide vollständig bekleidet waren. Mit einem Schlag kam die Erinnerung von letzter Nacht zurück und sie sank erleichtert aufs Bett.

Len gluckste immer noch voller Erheiterung. „Du dachtest wirklich, wir hätten Sex gehabt?“

Lilly stöhnte gequält und rieb sich die pochende Stirn. „Wir haben gekuschelt, so weit hergeholt ist das nicht“, verteidigte sie sich. „Und wisch dir das Grinsen aus dem Gesicht.“

„Tut mir leid, ich kann nicht. Das ist einfach zu herrlich.“

„Geh und versprüh deine Schadenfreude woanders.“

Len legte sich auf die Seite und stützte den Kopf auf die Hand. „Ach, komm schon, sei keine Spielverderberin. Es passiert nicht alle Tage vor, dass ich neben einer Frau schlafe, die von Sex mit mir träumt.“

Lilly warf ihr einen vernichtenden Blick zu. „Das ist kein bisschen komisch.“

„Für mich schon.“ Len wackelte mit den Augenbrauen. „Sei mir aber nicht böse, wenn ich auf den Guten-Morgen-Kuss verzichte, nachdem du immer noch ein bisschen Kotze am Kinn kleben hast.“

„Bitte, lass mich in Frieden“, quengelte Lilly und rieb sich den Handrücken übers Kinn.

„Okay, okay. Ich hör ja auf. Du kannst die Dusche benutzen, wenn du willst. Ich richte dir ein paar Sachen von mir raus, damit du dich umziehen kannst, und wenn du fertig bist, bekommst du ein ordentliches Reparaturfrühstück.“

Sie rollte sich aus dem Bett und stapfte grantig zum Badezimmer, auf das Len gezeigt hatte. „Wehe, es gibt keinen Speck.“

„Wofür hältst du mich? Der Inbegriff eines Reparaturfrühstücks besteht aus so viel Fett wie möglich“, rief sie ihr hinterher.

 

Len

 

„Du hast ja gute Laune“, kommentierte Nathan, als er zu Len in die Küche trat.

Voller Ernst drehte sie sich zu ihm um. „Es tut mir leid.“

Verwirrt und gleichzeitig misstrauisch verengten sich seine Augen. „Was tut dir leid?“

„Lilly und ich hatten Sex.“ Sie hielt es keine zehn Sekunden durch, bevor sie loslachte. „O Gott, du solltest dein Gesicht sehen.“ Amüsiert wandte sie sich zurück zum Herd und schlug zwei weitere Spiegeleier in die Pfanne.

„Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du nicht witzig bist?“, knurrte Nathan, der ihren Humor offensichtlich nicht teilte.

„Ja.“ Sie gab ein kleines, dreckiges Lachen von sich. „Deine Schwester, als sie vorhin in meinem Bett aufgewacht ist und dachte, sie hätte mich verführt.“ Sie zeigte mit dem Pfannenwender auf ihn. „Selbst schuld, wenn du sie bei mir deponierst. Falls es dich jedoch tröstet: Sie hatte echte Gewissensbisse.“

Nathan schnaubte und machte sich einen Kaffee. „Wahrscheinlich nur, weil sie Angst hatte, dass ich ihr diesmal wirklich den Hals umdrehe, wenn sie sich an dich rangemacht hätte.“

„Weißt du, je mehr Zeit ich mit ihr verbringe, desto mehr drängt sich mir der Gedanke auf, dass ihr verwandt sein könntet“, konstatierte sie.

Er nahm einen Schluck von seinem Kaffee, als wäre er kurz vorm Verdursten und das schwarze Gebräu seine einzige Rettung. „Hast du heute schon eine Dose Scherzkekse gegessen oder was verschafft mir das Vergnügen?“

Sie nickte. „Das passiert, wenn ich morgens kuschelnd neben einer schönen Frau aufwache, anstatt neben dem Kerl, der sich weigert, meine eiskalten Zehen zu wärmen.“ Len hatte keine Scham, ihn auszulachen, nachdem er sich verschluckte und wild loshustete.

Kaum, dass die Eier und der Speck fertig waren, drückte sie Nathan die Teller in die Hand und scheuchte ihn raus. Sie ergriff den Schokoladensirup und den Pancaketurm und brachte beides zum Tisch in den ehemaligen Besprechungsraum, der jetzt als Esszimmer diente, solange die Höhle renoviert wurde. Gott sei Dank war Sonntag, und obwohl sie es kaum erwarten konnte, bis die Arbeiten endlich abgeschlossen waren, freute sie sich über die Ruhe, die dank der fehlenden Bauarbeiter herrschte. Es bedeutete außerdem, dass niemand zur Arbeit musste, weshalb die Höhle nicht mehr so verwaist auf sie wirkte wie unter der Woche.

Ihr Rudel hatte sich bereits versammelt und unterhielt sich, während sie das restliche Essen auf den Tisch stellte. Marie starrte lustlos auf den Teller und gab auch dann keinen Ton von sich, als Len ihr einen Kuss auf die Wange gab und sich neben sie setzte.

Sie ignorierte das Gefühl von Blei auf ihrer Brust, ihre Mutter in diesem Zustand zu sehen, und stopfte sich stattdessen mit Pancakes voll.

Sobald Lilly schließlich den Raum betrat, verstummten die Gespräche für kurze Zeit, während Lilly sich damit beschäftigte, Nathan mit ihren Augen zu ermorden.

„Greif zu“, forderte Len sie auf.

Das Frühstück verlief zu ihrer Erleichterung friedlich und sie räumte gerade die letzten Teller zurück in die Küche, als sich jemand hinter ihr räusperte.

„Oh, hey, Lilly. Was macht der Kater?“

„Vorhanden, aber nach dem Frühstück erträglich.“ Sie zeigte mit dem Daumen über die Schulter. „Ich wollte mich nur schnell verabschieden, bevor ich gehe.“

„Du weißt, du und Francois seid herzlich bei uns willkommen, ihr müsst nicht im Hotel schlafen“, bot Len an, doch Lilly schüttelte den Kopf.

„Ich will dich nicht in meine Probleme hineinziehen.“

Len verzog das Gesicht. „Dieser Rollentausch ist echt … seltsam. Normalerweise bin ich diejenige, die diesen Satz zu anderen sagt. Ernsthaft, ich kann mir nicht vorstellen, dass deine Anwesenheit einen negativen Einfluss auf meine eigenen Probleme hat.“

Den Kopf abgewandt, vergrub Lilly die Hände in ihren Gesäßtaschen. „Ich werde darüber nachdenken.“

Len sah sie spitzbübisch an. „Andererseits hast du in Nathans Auto gekotzt, also solltest du vielleicht doch lieber gehen, bevor er dich zwingt, es selbst sauberzumachen.“

Lilly schüttelte sich sichtlich bei dem Gedanken. „Das war mein Stichwort. Wir sehen uns.“ Winkend nahm sie Reißaus.

Len räumte die Küche fertig auf, ehe sie nach draußen ging, um die Kleidung, die Lilly sich von ihr geborgt hatte, einzusammeln. Zumindest hoffte Len, dass sie sie nicht angelassen und bei ihrer Verwandlung zerrissen hatte.

Sie fand die Sachen neben dem Höhleneingang und wollte gerade zurückgehen, als sie ein bekanntes Gesicht am Waldrand sah.

„Nadja!“

Die Wölfin hatte sie damals in der Wohnung über ihrem Laden wohnen lassen, als sie im Howling gearbeitet hatte, und sich schnell zu einer echten Freundin entwickelt.

Ehe sie sichs versah, hatte Nadja die Entfernung überbrückt, sie in die Arme gerissen und drückte ihr die Luft aus der Lunge. Len lachte heiser und erwiderte die Umarmung. Doch je länger sie so dastanden, desto größer wurde der Druck auf ihrer Brust und desto stärker brannten ihre Augen.

Ein bisschen Zuneigung und sie verlor sofort die Fassung. Vorsichtig löste sie sich von ihrer Freundin, damit sie nicht in Tränen ausbrach.

„Was treibt dich her?“

„Nate hat mich angerufen.“

Lens Augenbrauen wanderten steil nach oben. Was für einen Grund konnte er haben, sie anzurufen?

„Nicht so, wie du denkst“, beschwichtigte Nadja lachend. „Ich bin wegen Jamie hier.“

Len ging mit ihr in die Höhle. „Was willst du denn von Jamie?“

„Oh“, machte Nadja und blinzelte perplex. „Er hat es dir nicht erzählt.“

„Mir was nicht erzählt?“

Nadja kaute unsicher auf ihrem Daumennagel herum. „Mama und ich sind sozusagen auf Mission, und Nate hat vorgeschlagen, Jamie mitzunehmen.“

„Ich versteh kein Wort.“

„Wir starten einen Aufruf unter allen Rudeln und versuchen, sie zu überreden, uns beim Kampf gegen Lilith zu unterstützen. Damit wir vorbereitet sind, wenn es so weit ist. Mama war überzeugt, dass wir das besser persönlich erledigen, also reisen wir durch Europa und klappern alle uns bekannten Rudel ab.“

„Wow, okay, damit hatte ich nicht gerechnet.“

„Es war Nates Idee. Sollte es zum Kampf kommen, müssen wir vorbereitet sein, und aktuell sind wir zahlenmäßig weit unterlegen. Daher unser Appell an die Rudel. Soweit ich weiß, hat Jones dasselbe in den Staaten vor.“

„Und ihr wollt Jamie mitnehmen?“

Nathan trat plötzlich hinter sie und schlang einen Arm um ihre Taille. „Ihm wird der Tapetenwechsel guttun. Er braucht Zeit und auch den Raum, über das, was passiert ist, gründlich nachzudenken. Vielleicht hilft ihm das dabei, seinen Horizont zu erweitern.“ Er küsste sie an die Stelle, an der er sie markiert hatte, und ein Schauer rann ihr über den Rücken. „Die meisten Wölfe in England kennen Berta, mit ein bisschen Networking sollten wir wenigstens die größten Rudel in Europa abdecken können.“

„Klingt, als hättet ihr alles bedacht. Was ist mit Lisa?“

„Jamie will, dass sie hierbleibt.“

Überrascht sah sie über die Schulter zu Nathan. Jamie war die Ausgeburt an Überfürsorglichkeit, wenn es um seine Schwester ging. Vor allem seit sie entführt worden war, wich er ihr kaum noch freiwillig von der Seite. Ein Umstand, der Lisa in den Wahnsinn trieb.

„Sieh mich nicht so an, ich habe dir gesagt, ich kümmere mich darum.“

„Ich weiß, ich hatte nur nicht so schnell … Ergebnisse erwartet.“ Sie zog seinen Kopf zu sich und küsste ihn zärtlich. „Danke.“

Nadja grinste von Ohr zu Ohr, während sie sie beobachtete. „Ich hoffe, dir ist klar, dass du mir einen Tag zum Shoppen schuldest, wenn ich zurück bin“, verkündete sie.

„Ich gehe Jamie holen, dann könnt ihr zwei euch noch in Ruhe verabschieden.“ Damit ließ er sie los und verschwand.

„Ich freue mich für dich“, erklärte Nadja mit einem Strahlen. „Ihr scheint euch gutzutun.“

Len schob sich verlegen eine Haarsträhne hinters Ohr. „Melde dich zwischendurch bei mir und sag mir, wie es euch geht, ja?“, bat sie.

„Sei gewarnt: Wenn all das hier vorbei ist, werden Mädelsabende Routine.“

Diesmal war es Len, die Nadja in eine Umarmung zog und sie fest an sich drückte.

„Wenn du mir eine Rippe brichst, schuldest du mir mehr als nur einen Shopping-Ausflug“, krächzte Nadja.

Abrupt entrang sich Len ein heiseres Lachen. Sie ließ von Nadja ab und küsste sie sanft auf die Wange. „Deal.“

„Halt die Ohren steif, während wir weg sind.“

„Mach ich“, versprach sie.

Aus der Höhle näherten sich Stimmen und es dauerte einen Moment, bevor Len Lisa erkannte.

Ihr Blick ruckte herum.

„Ich hasse dich“, schrie Lisa gerade.

Jamies Blick war stoisch auf seine weinende Schwester gerichtet, der Rücken starr wie ein Brett. „Hasse mich, so viel du willst. Du bleibst hier und das ist mein letztes Wort.“

Len wollte schon dazwischengehen, als Lisa davonrannte und die Tür lautstark hinter sich zuwarf. Doch bevor sie ihr nachging, blieb sie bei Jamie stehen, dem es schwerfiel, ihr direkt in die Augen zu sehen.

„Sie wird sich wieder beruhigen.“

Jamie presste die Lippen aufeinander und nickte, sagte aber nichts. Statt sich zu verabschieden, stürmte er an ihr vorbei ins Freie.

Seufzend sah Len ihm nach. „Hat er sich wenigstens von den anderen verabschiedet?“, fragte sie Nathan.

„Nein, er bestraft sich selbst mehr, als es das Rudel tut.“

„Ich gehe ihm besser hinterher“, meldete Nadja sich zu Wort und winkte zum Abschied.

„Passt auf euch auf“, rief Len ihr hinterher.

„Ich nehme an, du gehst zu Lisa?“

Überrascht von Nates Frage sah sie zu ihm hoch. „Ja, wieso?“

„Schon okay, das kann warten. Wir sehen uns nachher beim Training. Ich muss noch ein paar Dinge erledigen. Ein vollgekotztes Auto verlangt meine Anwesenheit.“

 

 

Sin

 

Sin pfiff mit Daumen und Zeigefinger im Mund und holte sich so die Aufmerksamkeit der restlichen Stripperinnen in der Umkleide hinter der Bühne. „Raus.“

Das unzufriedene Gemurmel ignorierte sie geflissentlich. Sobald sie allein war, ließ sie X in seiner Mausgestalt aus ihrer Handtasche und zog sich für ihren Auftritt um. X verwandelte sich zurück. Im Gegensatz zu allen anderen Gestaltwandlern, die sie kannte, stand er in voller Kleidung vor ihr.

Nachdem er aus Schottland zurückgekehrt war, hatte er sein wenig subtiles Stalking ihrerseits endlich sein lassen und war ihr gegenübergetreten. Was er ihr über die Geschehnisse in Schottland erzählt hatte, hatte ihr nicht gefallen, doch sie hatte zu viel gesehen, zu viel erlebt, um wirklich überrascht zu sein. Das Einzige, was zählte, war, dass Len noch lebte.

An ihrem Vorhaben hatte das nichts geändert, X schien das jedoch anders zu sehen und weigerte sich noch dazu, seine Meinung für sich zu behalten. Als ginge es ihn etwas an, was sie tat. Als müsste sie Rücksicht darauf nehmen, was er von der Sache hielt.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752138641
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Urban Fantasy Fantasy Liebesroman Werwölfe Gargoyles Fantasy Romance Romantasy Liebesroman Liebe

Autor

  • Dominique Heidenreich (Autor:in)

Meine Bücher, genau wie ich, haben einen Hang zu Sarkasmus und schwarzem Humor. Trotzdem: Ohne Liebe und Romantik komme ich persönlich genauso wenig aus, wie ohne Happy-End. Ich mag meine Geschichten fernab von Kitsch und tue mein Bestes meinen Protagonistinnen ein Rückgrat zu verpassen, das sie nicht beim ersten Anblick eines Mannes vergessen. Egal ob sie in dieser Welt spielen, einer fantastischen Umgebung oder auf fremden Planeten.
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Titel: Lenara: Der Blutschwur