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Christians Geheimnis

Das Echo des Herzens*Das Echo des Rosenmordes*Das Echo von Gottlieb

von Brigitte Kaindl (Autor:in) Brenda Leb (Autor:in)
1300 Seiten

Zusammenfassung

Als der Wirtschaftsprüfer Christian Gottlieb in der Unito-Versicherung auftaucht, hilft er nicht nur dem Unternehmen auf die Beine. Marie wird augenblicklich in seinen Bann gezogen. Seine rätselhafte Aura berührt aber nicht nur sie. Lediglich die 25-jährige Lena hat bloß Spott für den jungen Mann übrig. Bis auch sie ihm verfällt ... Drei Bücher. Eine Geschichte. Mysteriös und fesselnd. * Das Echo des Herzens: Als die 47-jährige Marie am Tiefpunkt ihres Lebens einen Unfall erleidet, brechen alte Wunden auf und sie muss sich ihrer schmerzhaften Vergangenheit stellen. Währenddessen bringt Lena nicht nur ihren Freund zur Verzweiflung und ein alternder Schauspieler realisiert seinen körperlichen und seelischen Verfall erst als sein Leben aussichtslos in einer Sackgasse feststeckt. Als der junge Wirtschaftsprüfer Christian Gottlieb im Leben dieser Menschen aufkreuzt, drängen tief verborgene Geheimnisse ans Licht und seelische Abgründe sowie Verletzungen werden genauso sichtbar wie selbstlose Liebe. Durch seine Güte führt dieser außergewöhnliche Mann dramatische Veränderungen herbei. Wer aber ist Christian, der die magische Kraft besitzt, Liebe in den Herzen der Menschen zu aktivieren? * Das Echo des Rosenmordes: Ein Jahr später ist Christian nicht mehr da und die 48-jährige Marie wird auf einer Hochzeit Zeugin eines kaltblütigen Mordes und einer brutalen Entführung. Danach ist für sie und die 26-jährige Lena nichts mehr, wie es war. Was bleibt, ist Angst. Wird der Mörder mit der lila Rose wieder zuschlagen? Während alte Wunden zu heilen beginnen und ein Musiker seine Bestimmung findet, bringt das Leben neue Wunder hervor. Doch das Phantom mit dem Messer bleibt wie vom Erdboden verschluckt ... * Das Echo von Gottlieb: Ein kleiner Junge wird Zeuge eines schrecklichen Verbrechens. Jahre später begleitet die 28-jährige Lena ihren Jugendfreund zu einer Preisverleihung. Dort lernt sie den skrupellosen Filmproduzenten Konrad Felsinger kennen und trifft eine fatale Entscheidung. Zu spät erkennt sie die Gefahr, in die sie nicht nur sich selbst begibt. Während einer Israel-Reise versteht Marie endlich, warum Christian ihr Leben selbst nach seinem rätselhaften Verschwinden noch immer zu lenken scheint. Als sie glaubt, wieder vertrauen zu können, wird sie allerdings mit einer schockierenden Tatsache konfrontiert, die ihr Leben vollkommen durcheinanderbringt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Buch

Ein schrecklicher Mord, eine brutale Entführung und die Frage nach dem Warum. Vernichtender Hass oder sexuelle Besessenheit? Ein Roman über die Kraft, die aus grenzenlosem Leid entstehen kann, die Geheimnisse der Musik sowie die Macht unzerstörbarer Liebe und verborgener Sehnsucht.

Dieser Roman ist Teil 2 der Echo-Trilogie, eines romantischen Dramas, das in die Tiefen der menschlichen Seele blickt. Im Mittelpunkt steht Christian Gottlieb, ein geheimnisvoller, junger Mann, der durch seine rätselhafte Aura sein gesamtes Umfeld verändert, bevor er wieder verschwindet. Jeder Roman kann ohne Vorkenntnisse für sich allein gelesen werden, obwohl die Geschichte fortlaufend erzählt wird.

Teil 1: „Das Echo des Herzens“: Christian Gottlieb erscheint im Leben der 47-jährigen Marie und der 25-jährigen Lena. Als tief verborgene Geheimnisse und ein Verbrechen sichtbar werden, verändert sich wie durch ein Wunder nicht nur Maries Leben völlig.

Teil 2: „Das Echo des Rosenmordes“: Christian Gottlieb ist nicht mehr da und ein schrecklicher Mord bringt der 48-jährigen Marie, aber auch der 27-jährigen Lena unermessliches Leid.

Teil 3: „Das Echo von Gottlieb“: Das Mysterium um Christian Gottlieb lüftet sich, während die 28-jährige Lena in tödliche Gefahr gerät. Am Ende offenbart sich ein Geheimnis, das nicht nur die 50-jährige Marie heftig erschüttert.

Autorin

Brigitte Kaindl wurde 1960 in Wien geboren. Die Autorin und Musikerin ist verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen Kindern.

© Urheberrechtlich geschütztes Material

Text von Brigitte Kaindl

Besuchen Sie mich auf meiner Homepage: www.brigittekaindl.at


Prolog Mai 2017

Marie saß an Raffaels Bett und sang das Wiegenlied von Brahms. „Guten Abend, gut’ Nacht, mit Rosen bedacht, mit Näglein besteckt, schlupf unter die Deck. Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.“

Raffaels Atem ging ruhig und gleichmäßig, wurde immer langsamer. Selbst das Nuckeln seines Schnullers verlangsamte sich und bald fielen ihm die Augen zu. Nachdem ihr Enkelsohn eingeschlafen war, strich Marie zärtlich über seine rosige Wange und hauchte ihm einen Kuss auf seine Stirn.

„Schlaf gut, mein kleiner Liebling“, flüsterte sie und verließ auf Zehenspitzen das Kinderzimmer. Ein gemütlicher Abend mit ihrer Tochter Lena wartete auf sie. Darauf freute sie sich.

Obwohl. Freuen konnte sich Marie eigentlich über gar nichts mehr so wirklich.

Seit ...

Ihr stiegen die Tränen hoch, als sie an diesen schrecklichen Tag dachte. Sie schüttelte den Kopf und befahl sich, nicht schon wieder an ihren Verlust zu denken. Stattdessen dachte sie an Lenas Worte.

„Während du Raffael zu Bett bringst, bestelle ich uns eine Pizza und wir lassen es uns bei einem Glas Wein gutgehen!“

Marie wischte sich ihre Tränen aus den Augen und ging in das Wohnzimmer. Sie hatte ein Klingeln gehört, als sie im Kinderzimmer gewesen war, und war davon ausgegangen, dass Lena die Tür öffnen würde.

Wahrscheinlich hat der Pizza-Bote die Lieferung zugestellt, war sich Marie sicher.

Als sie dann aber in das Wohnzimmer trat, gefror ihr das Blut in den Adern: Lena lag blutüberströmt am Boden und hob schützend ihre blutenden Hände vors Gesicht. Über ihr stand ein Mann und hob mit irrem Blick ein Messer, um sein mörderisches Werk zu vollenden.

Pauls Hut Juni 2016

17. Juni 2016, 17:00 Uhr

Paul Schönherr saß auf der vorletzten Stufe des Treppenaufganges. Seit die Kirche ihre Pforten geschlossen hatte, hörte er nur mehr das Kreischen der Mauersegler. Er blickte hoch und ihm fielen Worte aus seiner Kindheit ein.

“Fliegen die Schwalben hoch, bleibt das Wetter schön“, hatte ihm Olga, die rundliche Köchin erklärt, als er noch ein Bub gewesen war. Also vor vierzig Jahren. Junge, wie die Zeit vergeht, dachte er.

Er schüttelte den Kopf, weil ihm selbst das Wetter eigentlich herzlich egal war. Sicher, bei trockenem Wetter öffneten sich Brieftaschen leichter, wusste er aus Erfahrung. Und ein paar Münzen kämen ihm schon recht. Seit dem Frühstück hatte er noch nichts gegessen. Aber sonst?

Das ist ein optimales Wetter für den sogenannten schönsten Tag des Lebens, hatte er gedacht, als die elegant gekleideten Herrschaften mit ihren riesigen Blumensträußen in das Gotteshaus geströmt waren.

Es war ein sonniger, nicht zu heißer Junitag, doch die wärmenden Sonnenstrahlen brannten erbarmungslos auf Pauls Haupt. Nachdem das früher so üppige und dunkle Haar bereits etwas schütter geworden war, blickte er auf seinen Hut, der ihn vor einem Sonnenstich schützen könnte.

Solange ich noch keine Glatze habe, ist das nicht nötig, entschied er und ließ den Hut, wo er lag. Neben seinen Füßen.

Als die Orgelklänge das Geschrei der Mauersegler übertönten, wusste er, dass die Hochzeit zu Ende war. Er blickte hoch und beobachtete das sich öffnende Kirchenportal.

Das junge Brautpaar trat in die Sonne und ein sanfter Windstoß wehte den Schleier der Braut vor ihr hübsches Antlitz. Der Bräutigam schob ihr lächelnd den Tüll aus dem Gesicht und küsste sie, bevor der nächste Windstoß ihren Mund abermals verdecken konnte. Die beiden wirkten so glücklich und verliebt.

Paul blickte wieder auf den Hut neben seinen Schuhen und lächelte gequält. Er wusste gar nicht mehr, wie sich das anfühlte.

Hatte er es überhaupt jemals gewusst?

Keine seiner verflossenen Ehefrauen hätte auf diese Frage mit einer Antwort gezögert. Das gesamte Repertoire an Schimpfwörtern wäre wie auf Knopfdruck aufgesprungen, um seine Liebesfähigkeit umschreiben zu können. Schmeichelhaft wäre keine Bewertung gewesen. Seine Qualitäten als Ehemann waren tatsächlich überschaubar, dünn gesät und eigentlich gar nicht vorhanden gewesen.

Das wusste er.

Doch er hatte bei der Partnerwahl auch nicht gerade ein gutes Händchen bewiesen.

Ex-Ehefrau Nummer Vier hat eine Zunge wie ein Schwert besessen. Das musste er erst aushalten lernen! Egoistisches Arschloch und versoffener Nichtsnutz waren schon beinahe Kosenamen gewesen, mit denen Gloria ihn damals bedacht hatte. Und nicht erst kurz vor der Scheidung. Nein, derartige Liebenswürdigkeiten hatten sich von Anfang an in Glorias Sprachschatz befunden.

Egoistisches Arschloch und versoffener Nichtsnutz.

War er das wirklich?

Nun ja. Ein Lottogewinn war er tatsächlich nicht gewesen. Bei ehrlicherer Betrachtung und angemessener Eigenreflexion wurde seine Einschätzung konkreter: Ja, Gloria hatte rechtgehabt. Und nicht nur sie. Auch ihre Vorgängerinnen hatten wesentlich mehr Grund gehabt, die Scheidung zu feiern, als den Hochzeitstag.

Er war tatsächlich ein Widerling gewesen.

Warum?

Weiß der Himmel, warum! Er wollte sich mit derartigen Gedanken auch gar nicht mehr herumschlagen. Die Vergangenheit war nun einmal nicht zu ändern.

Vor geraumer Zeit hatte er eine ehrliche Selbstanalyse durchgeführt. Das war gleichermaßen reinigend wie nötig gewesen. Damals hatte ihm ein junger Mann den Spiegel vorgehalten. Durch ein ausführliches Gespräch mit einem Fremden war Paul klar geworden: Seine derzeitige, tatsächlich ziemlich unerfreuliche Lebenssituation war einfach nur die gerechte Strafe für sein Handeln.

Punkt.

Hinnehmen. Aufrappeln. Weiterleben.

Er blickte hoch, denn er hörte Schritte auf sich zukommen.

Peter und Maggie Gutmann, die frischgetrauten Brautleute stiegen die Treppen herunter. Auf der letzten Stufe angekommen, warfen sie einen Schatten auf seine Gestalt.

Das unangenehme Brennen der Sonne auf Pauls Kopfhaut ließ augenblicklich nach. Eine Wohltat. Paul hob sein Gesicht und betrachtete die strahlenden Gesichter der beiden. Automatisch musste auch er lächeln. Das Glück der beiden wirkte ansteckend.

„Mögen Sie gemeinsam glücklich werden“, wünschte er dem Brautpaar Glück und das meinte er ehrlich. Maggie nahm aus ihrem Brautbeutel einen Schein und legte ihn in seinen Hut.

„Ich wünsche auch Ihnen einen schönen Tag“, bedachte sie den Bettler zu ihren Füßen am schönsten Tag ihres Lebens mit netten Worten und einer Spende.

Danach stiegen Maggie und Peter in das wartende Auto und der Mercedes setzte sich in Bewegung.

Irgendwie kommt mir die junge Frau bekannt vor, grübelte Paul, doch er konnte sich nicht erinnern, wo er sie schon einmal gesehen hatte.

Die Gäste der Hochzeitsgesellschaft kamen ebenfalls die Stufen herunter und Paul senkte wieder seinen Kopf. So sehr er früher danach gestrebt hatte, neuerdings wollte er nicht mehr erkannt werden.

„Komm, Marie, unser Auto wartet bereits!“, hörte er eine weibliche Stimme, die ihm ebenfalls bekannt vorkam. Er hatte ein gutes Gehör und blickte hoch, suchte mit den Augen das Gesicht zur Stimme.

Konfus schüttelte er den Kopf, als er die hübsche Frau wahrnahm.

Sie sieht genauso aus wie die Braut, die soeben mit dem Auto weggefahren ist, dachte Paul und starrte irritiert der gutgelaunten, schönen Lady nach. Sie lief mit wiegenden Schritten am Arm eines jungen Mannes zu einem Auto, an dessen Autoantenne ein rosa Fähnchen wehte.

Paul wusste nun definitiv, dass er entweder diese Frau oder aber die Braut schon einmal gesehen haben musste. Woher, das wollte ihm allerdings nicht einfallen.

Ist aber doch auch überhaupt nicht wichtig, dachte er.

Dann blickte er hoch und dachte, seinen Augen nicht mehr trauen zu können.

Er blinzelte.

Das gab es doch nicht!

„Marie, was machst denn du hier?“, fragte er ungläubig, als er die gleichaltrige, elegante Blondine erkannte. Aus ihrem soeben noch strahlenden Gesicht verschwand alle Farbe und ihre großen, blauen Augen blickten ihn fassungslos an.

„Paul!“, rief sie entsetzt. „Was machst denn du hier?“, wiederholte sie seine, in ihrem Fall jedoch völlig unsinnige Frage, weil doch offensichtlich war, was er tat.

Er zuckte mit den Schultern.

„Ich habe wohl meine besten Zeiten hinter mir“, antwortete er mit einem Lächeln, das durch seine Bartstoppeln seine ursprüngliche Wirkung völlig verloren hatte.

„Aber was soll´s? Hier bei der Kirche bekomme ich ab und zu von glücklichen Leuten, wie der schönen Braut soeben, einen kleinen Obolus. Dann habe ich alles, was ich für den Tag brauche“, erklärte er seine Situation und ließ es so klingen, als säße er im Ritz und würde etwas zu lange auf seinen bestellten Hummer warten.

Als er Maries betroffenes Gesicht wahrnahm, lächelte er.

„Bitte schau doch nicht so erschüttert! Ich bin vielleicht zufriedener, als ich es jemals gewesen bin.“

„Das freut mich für dich“, antwortete Marie und blickte weiterhin irritiert. Kann man in so einer Situation wirklich zufrieden sein?, überlegte sie. Er wirkt nicht unglücklich und lächelt sogar, versuchte sie ihr Entsetzen nicht so deutlich zu zeigen.

Sie griff daher in ihre Geldbörse und versenkte in Pauls Hut einen Geldschein, der ihm ein feines Abendessen bescheren sollte.

„Vergelt´s Gott“, bedankte er sich. Als sich Marie aufrichtete, legte der Mann, der neben ihr stand, seine Hand um ihre Schulter.

„Sie sind sicherlich Maries Mann?“, riet Paul.

„Ja! Ich bin Raffael Haller“, stellte er sich vor.

„Angenehm! Paul Schönherr! Ich kenne Marie von früher“, erklärte er und lächelte Raffael zu. „Passen Sie gut auf sie auf! Sie ist etwas Besonderes. War es immer. Nur war ich zu dumm und viel zu eingebildet, um das zu erkennen.“

„Das mache ich. Ich habe schon immer auf Marie aufgepasst und das werde ich auch weiterhin tun“, versicherte Raffael.

„Das ist fein, denn ein kluger, junger Mann hat mir vor kurzem gesagt: Was ihr sät, das erntet ihr. Daher sitze ich heute hier und Marie hat einen guten Mann bekommen. Sie hat es verdient“, nickte er und versuchte ein fröhliches Lächeln, damit Marie endlich diesen entsetzten Ausdruck aus ihrem Gesicht bekam.

Ist das wirklich der gleiche Mann, den ich mein Leben lang gekannt, und doch nichts mehr als das bereut habe? Paul, der ehemals großartige, doch noch viel mehr arrogante und überhebliche Schauspieler? Marie konnte es nicht fassen.

Genauso wenig wie seine letzten Worte.

„Ein junger Mann?“, fragte sie irritiert.

„Ja, damals, vor wenigen Monaten, als ich dich in deiner Künstleragentur aufgesucht habe. Erinnerst du dich?“ Sie nickte und versuchte besser nicht an diesen Tag zu denken.

„Nach dem Verlassen deines Büros haben mich auf der Straße Fans erkannt und ich habe Autogramme geschrieben. Ein junger Mann ist auf mich zugekommen, hat kurz mit mir gesprochen und ist dann durch das noch geöffnete Haustor geschlüpft. Wahrscheinlich hat er in dem Haus gewohnt oder aber er hat jemanden besucht“, zuckte Paul mit den Schultern.

„Christian Gottlieb hat mit dir geredet?“, fragte Marie und nun musste sie doch an diesen Tag denken. Christian hatte nämlich sie an jenem Nachmittag besucht. Keine fünf Minuten nachdem Paul ihr Büro verlassen hatte, war Christian in ihre Agentur gekommen.

„Christian – wer?“ fragte Paul verblüfft. „Egal, Ich weiß sowieso nicht, wie sein Name gewesen ist“, zuckte er mit den Achseln.

„Was hat er zu dir gesagt?“, wiederholte Marie ihre Frage.

„So im Detail weiß ich das nicht mehr, ich war doch sehr abgelenkt. Aber im Nachhinein ...“ Paul hielt inne, schien nachzudenken. Dann zuckte er abermals mit den Schultern und beschloss, dieses Thema nicht weiter zu vertiefen. Die Situation schien ihm unangenehm zu sein und er wollte offenbar das Gespräch beenden.

„Ich wünsche dir, Marie, und Ihnen, Herr Haller“, er blickte zu Raffael, „einen schönen Tag!“

„Danke, gleichfalls!“, nickte Marie, hakte sich bei Raffael ein und ging mit raschen Schritten zum Auto mit dem rosa Fähnchen. Die junge Frau, die der Braut so ähnlichsah, wartete mit ihrem jungen Begleiter bereits auf Marie und Raffael.

Da erinnerte sich Paul, wo er die junge Frau schon einmal gesehen hatte. Sie war Maries Angestellte. Er hatte sich seinerzeit in Maries Künstleragentur sehr nett mit der jungen Dame unterhalten, bevor er das Büro verlassen hatte.

Verlassen hatte müssen!

Marie hatte ihn nämlich hochkant rausgeworfen. Dabei hatte er an dem Tag doch nur nachgefragt, ob sie ihn unter Vertrag nehmen wollte. Immerhin war er unter seinem Künstlernamen Roy Polaris nicht nur der große Star des heimischen Films, sondern auch in Hollywood gewesen. Er hatte unter namhaften Regisseuren mit Oskar-Preisträgern gespielt. Wenn Marie damals sein Management übernommen hätte, wäre diese Zusammenarbeit für beide lukrativ gewesen.

So hatte er argumentiert. Was sie anders gesehen hatte.

Gut, es hatte da in ihrer gemeinsamen Vergangenheit eine unschöne Sache gegeben, die Marie möglicherweise nicht vergessen hatte. Und irgendwie hatte er die ganze Zeit sowieso befürchtet, dass sie deswegen etwas nachtragend sein könnte.

Aber das alles lag lange zurück.

Paul senkte wieder den Blick. Es kam halt alles, wie es kommen musste.

Alles.

Er blickte in seinen Hut und zählte die Scheine. Marie war großzügig gewesen. Und sie hatte sich überraschend friedfertig verhalten. Jedenfalls ganz anders als bei ihrem letzten Wiedersehen. Es hat wohl wirklich alles sein Gutes, grübelte er und strich über seinen stoppeligen Bart.

Aber auch die Braut war spendabel gewesen. Er steckte das Papiergeld in seine Hosentasche, als zwei Frauen einige Münzen in seinen Hut warfen. Die beiden blieben neben ihm stehen und redeten so laut, dass er ihre Worte mithören musste.

„Komm, lass uns hier in Ruhe auf das Taxi warten. Da stehen wir nicht im Weg herum“, sagte die Jüngere, die sich somit genau vor Paul platzierte.

„Gute Idee!“, stellte sich die Ältere an ihre Seite und die beiden begannen mit einem ausführlichen Frauenplausch.

“Hast du gesehen, Lena dürfte schon wieder einen neuen Lover haben. Peters Trauzeuge scheint ziemlich verknallt in sie zu sein.“

„Ich würde ihr wirklich von Herzen wünschen, dass sie glücklich wird, denn sie hat unter der Trennung von Peter sehr gelitten.“

„Da hast du recht. Ich frage mich nur, wie Peter die Schwestern wirklich auseinanderhält?“, wechselte die Ältere das Thema. „Wenn Lena nicht diese kleine Narbe über dem Auge hätte, könnte ich mir vorstellen, dass Peter die beiden leicht verwechselt“, amüsierte sie sich und ballerte belustigt nach, „nachdem er ja mit beiden etwas gehabt hat!“

Paul verdrehte die Augen. Dieses Frauengeschwätz war für ihn dermaßen uninteressant, dass er sehnsüchtig auf das Auftauchen des Taxis hoffte.

Doch sein Wunsch ging nicht so rasch in Erfüllung.

„Kennst du dieses Lokal beim Lusthaus im Wiener Prater, wo wir zur Hochzeitstafel eingeladen sind?“, fragte die Jüngere.

„Ja! Das ist ein tolles Restaurant und es liegt mitten im Grünen“, antwortete die Ältere und kam wieder auf die Hochzeit zu sprechen. „Hast du mitbekommen, wie ergriffen Marie gewesen ist? Ihr liefen beim Ave Maria unaufhörlich die Tränen herunter.“

Als Paul Maries Namen vernahm, spitzte er interessiert seine Ohren.

„Nun, das ist aber verständlich! Zeige mir eine Mutter auf Gottes Erdboden, die nicht heulen muss, wenn ihr Kind die große Liebe ihres Lebens heiratet. Ich verstehe, dass Marie stolz auf ihre Tochter ist und sich über ihr Glück freut.“

Mutter? Tochter? Paul erstarrte.

„Aber weißt du, was mich wundert?“, begann die Ältere zu flüstern und Paul bemühte sich redlich, um auch wirklich alles verstehen zu können.

„Nein, was?“

„Ich kenne Marie schon so lange, habe aber gar nicht gewusst, dass sie Kinder hat.“

„Ich wusste es auch nicht!“, antwortete die Freundin.

Paul hätte beinahe: „Ich auch nicht!“ gerufen, besann sich aber gleich wieder, dass er unsichtbar war.

Mit ihm redete doch niemand. Er wurde nicht einmal bemerkt.

Dem Bettler, der auf der Stufe vor der Kirche hockte und selbst einmal Teil dieser Gesellschaft gewesen war, schmiss man als guter Mensch eine Münze in den Hut und dann wurde er ignoriert.

„Sonja, Silvia, kommt her, unser Taxi ist da!“, riefen zwei Männer und die beiden Frauen liefen zu ihren Partnern, bestiegen das Auto und weg waren sie.

Paul blickte dem Fahrzeug nach und ihm war mit einem Mal heiß und kalt. So sehr ihn das Geplapper ursprünglich genervt hatte, diese letzte Information war für ihn gleichermaßen interessant, wie überraschend gewesen.

Marie hat Kinder?, wunderte er sich. Die beiden jungen Frauen, die sich so unglaublich ähnlichsehen, sind Maries Töchter?, konnte er es nicht fassen und ordnete seine Gedanken.

Eine Tochter hat soeben geheiratet und deren Schwester ist zuvor anscheinend auch mit dem Bräutigam zusammen gewesen. Was für ein Durcheinander! Er schüttelte den Kopf, wusste aber gleichzeitig, dass ihm dieses Urteil überhaupt nicht zustand.

Nur, weil meine beste Zeit vorüber ist, darf ich nicht verurteilen, wenn andere das tun, was ich früher auch getan habe, dachte er an die Worte des jungen Mannes, die ihn zum Nachdenken gebracht hatten.

Christian Gottlieb! Diesen Namen hatte Marie vorhin genannt, weil sie ihn offenbar auch kannte. Jetzt wusste er wenigstens seinen Namen.

Trotzdem konnte er einfach nicht fassen, dass Marie Kinder hatte.

Obwohl: Warum auch nicht? Nur weil ich in meinem ganzen Leben nichts zusammengebracht habe, das Hand und Fuß hat?, dachte er zweideutig, muss doch nicht jeder so ein nutzloses Leben wie ich führen. Marie hat jedenfalls ihren biologischen Auftrag erfüllt und etwas aus ihrem Leben gemacht, während ich hier wie ein unnötiger Sack herumhocke! Und was hat sie für wunderschöne Töchter, war er beeindruckt. Die beiden jungen Frauen sahen Marie tatsächlich ähnlich. Sehr sogar! Habe ich deshalb mit dieser zuckersüßen Brünetten, die seinerzeit in Maries Agentur im Vorzimmer gesessen hat, geschäkert? Weil sie mich an ihre Mutter erinnert hat? Und ist Marie vielleicht deswegen so fuchsteufelswild geworden? Viel hätte damals nämlich nicht gefehlt und sie hätte mir das Gesicht mit ihren Fingernägeln zerfetzt, erinnerte sich Paul an Maries seinerzeitigen Wutausbruch.

Nachdem er soeben erfahren hatte, dass die junge Angestellte Maries Tochter war, präsentierte sich Maries Tobsuchtsanfall in einem anderen Licht. Marie hat wohl ihre Tochter vor mir schützen wollen!

Und wenn er ehrlich war, und in letzter Zeit war er das immer öfter: Hätte er selbst Kinder, hätte er wahrscheinlich genauso gehandelt.

Trotzdem wäre er damals nie auf die Idee gekommen, dass diese Frau Maries Tochter gewesen ist. Sie hatte Marie schließlich auch mit ihrem Vornamen angeredet und nicht mit ‘Mama‘ oder ‘Mutti‘.

Plötzlich überzog ihn eine Gänsehaut vom Scheitel bis zur Sohle.

Christian Gottlieb!

Ihm fiel plötzlich wieder ein, was dieser junge Mann, dieser Gottlieb, zu ihm gesagt hatte!

Oh, mein Gott!

Er musste handeln!

Hochzeitstanz Juni 2016

17. Juni 2016, 21:10 Uhr

Alles, was Marie als Brautmutter organisiert hatte, war hervorragend gelaufen und sie konnte ohne Zweifel behaupten: Es war eine gelungene Feier.

Die gereichten Speisen hatten ausgezeichnet gemundet und die Versorgung durch das freundliche und rasche Servicepersonal war so exquisit wie das Ambiente. Die Stimmung in diesem Restaurant inmitten unberührter Natur im Wiener Prater war ausgelassen und die dreistöckige Hochzeitstorte war einfach nur ein Traum.

Der geräumige Festsaal des Restaurants war für Maggies Hochzeitsfeier exklusiv reserviert worden, sodass die 50 Gäste unter sich waren. Auf den Tischen standen Blumenarrangements mit gelben Rosen und weißen Freesien und für die Servietten hatte Marie ebenfalls die fröhliche Farbe Gelb gewählt. Die Farbe der Sonne und der Lebensfreude.

Der Raum war durch riesige Fenster und Terrassentüren, die einen Blick auf die angrenzenden Auwälder ermöglichten, lichtdurchflutet. Zumindest bis zum Sonnenuntergang. Inzwischen wurde es draußen dunkel und die historischen Kronleuchter schenkten dem Raum eine freundliche und helle Atmosphäre.

Vor der Terrassentür hatte eine Band mit jungen Musikern ihre Instrumente aufgebaut und die Bandmitglieder spielten abwechslungsreiche Tanzmusik sowie beliebte Evergreens. Auf den Tischen standen Rotwein und Weißwein, Wasserkaraffen sowie Kekse für diejenigen, die noch immer zugreifen konnten.

Marie gehörte nicht dazu. Sie dachte, gleich platzen zu müssen und freute sich, dass sie nun mit Raffael ein Tänzchen wagen konnte.

Vielleicht kann ich auf diese Weise wenigstens die Schlagsahne der Torte runtertanzen, hoffte sie.

Vorweg hatte sie dem Kellner ein angemessenes Trinkgeld zugesteckt und sich überschwänglich für das hervorragende Service bedankt.

„Es genügt, wenn Sie ab nun nur mehr alle 20 Minuten kommen. Die Gäste sind bestens versorgt und Sie können daher Ihre sicherlich schmerzenden Füße etwas schonen.“

„Danke, das ist nett, aber die Füße eines Kellners schmerzen nicht mehr, sie sterben irgendwann ab“, scherzte er und Marie merkte, wie sehr er sich über das positive Feedback freute.

„Ich werde trotzdem alle fünfzehn Minuten Nachschau halten. Vielleicht hat noch jemand Ihrer Gäste einen Sonderwunsch.“

„Danke, das ist sehr nett von Ihnen!“

Nun, in Raffaels Armen, konnte sich auch Marie entspannen. Alles lief wie am Schnürchen und als Marie die fröhlich plaudernden Kollegen, Freunde und Wegbegleiter beobachtete, wusste sie, dass das für Maggie mit Sicherheit der schönste Tag ihres bisherigen Lebens war. So war es aber auch geplant gewesen.

„Ich bin erleichtert, dass alles so fantastisch geklappt hat.“

„Du hast aber wirklich alles bis ins kleinste Detail geplant.“

„Und es hat so viel Freude gemacht. Wenn ich Maggies und Peters glückliche Augen sehe, weiß ich, dass es das wert gewesen ist.“

„Deine Rede war übrigens beeindruckend“, wechselte Raffael das Thema. „Vor allem deine Worte an mich haben mich total berührt! Dass du mir nach 15 Ehejahren noch immer so viele Rosen streust, macht mich unheimlich glücklich“, raunte Raffael. Er sah ihr in die Augen und gab ihr einen zarten Kuss.

„Dass ich dir nach 15 Jahren noch immer so viele Rosen streuen kann, liegt nur daran, dass du so ein toller Ehemann bist! Ich bin unglaublich glücklich mit dir“, lächelte Marie und legte ihren Kopf an seine Schulter.

Jetzt war Raffael doch aus dem Takt gekommen und das, obwohl er ein guter Tänzer war. Natürlich kein derart begnadeter wie David. Allerdings war Peters Trauzeuge auch Tanzlehrer. Aus diesem Grund waren Lena und David vor dem Essen auch kaum von der Tanzfläche weggekommen.

Seltsamerweise fand Marie die beiden bei diesem langsamen Walzer nicht auf der Tanzfläche. Daher gab es auch keine Showeinlage, denn wenn Lena und David tanzten, blieben den Umstehenden Mund und Augen offen. Die beiden wirkten auf der Tanzfläche wie ein Turnierpaar und David bewegte seinen Körper wie Patrick Swayze in ‘Dirty Dancing’.

Raffael hingegen war Raffael. Für Marie einfach nur der beste Ehemann der Welt, ihr Fels in der Brandung und Hafen der Sicherheit.

„Entschuldige, ich bin dir schon wieder auf die Zehen gestiegen!“ bat Raffael mit einem zerknirschten Lächeln um Verzeihung.

„Schon in Ordnung. Ich habe es gar nicht gemerkt!“

„Weil es schon zur Gewohnheit wird, dass ich deine Zehen plattmache?“

„Nein, Raffi, weil ich abgelenkt war. Schau, was da für ein komischer Kauz auf Maggie zukommt.“

Marie deutete mit dem Zeigefinger auf die Tanzfläche, wo Maggie und Peter soeben engumschlungen tanzten. Maggie hatte ihren Kopf an Peters Brust liegen, ihre Arme um seinen Hals gelegt und die Augen geschlossen.

Eine schwarzgekleidete Gestalt mit einer Geistermaske näherte sich den beiden.

„Seltsam“, war Raffael irritiert, „wird das vielleicht eine Hochzeitseinlage?“

„Wenn ja, würde mich wirklich interessieren, wer diesen Einfall gehabt hat“, wunderte sich Marie.

„Diese schreckliche Scream Maske und die schwarze Mönchskutte passen doch eher zu Halloween als zu einer Hochzeit!“, schüttelte Raffael den Kopf.

„Siehst du die lila Rose?“, fragte Marie, doch dann wurde ihr heiß und kalt, denn gleich daneben hing ein Messer. Auch Raffael hatte es entdeckt.

„Ja, die ist wirklich hübsch. Aber was soll dieses Messer? Ist das ein echtes?“, fragte er beunruhigt.

„Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Das ist sicher ein Requisit und gehört wohl zu diesem Brauch, was auch immer das für ein seltsamer Spaß werden soll.“

„Kann es sein, dass jetzt die Braut entführt wird?“

„Möglich. Allerdings wäre das eine besondere Art der Brautentführung!“, wurde Marie nervös. „Ich kenne jedenfalls keinen Hochzeitsbrauch, wo ein Geist mit einem Messer auf das Brautpaar zukommt.“

„Also ich finde das überhaupt nicht lustig, muss ich zugeben!“

„Ich auch nicht“, stimmte Marie ihrem Mann zu. „Mir wird sogar richtig bange!“, offenbarte sie ihre Angst und die Tanzbewegungen der beiden wurden immer langsamer. Schließlich standen sie und starrten mit erschrockenen Augen und aufgerissenem Mund auf das Brautpaar und ihren seltsamen Gast.

Abflug März 1989

Marie lag in Pauls Armen. Gedankenverloren spielte er mit einer blonden Locke, während er mit der anderen Hand über ihren Arm strich. Er spürte ihre weiche Haut an seiner und fühlte sich trotzdem irgendwie unbehaglich.

Alles war plötzlich so anders.

Der Gedanke an die bevorstehende Trennung behagte ihm überhaupt nicht. Und das war das wirklich Ungewöhnliche. Wie alles, was er in den vergangenen Wochen mit Marie erlebt hatte, ungewöhnlich war.

„Kannst du nicht mitfliegen?“, raunte er, in der Hoffnung, dass sie es sich anders überlegte.

„Das würde ich doch selbst gerne, aber wir müssen vernünftig bleiben. Es ist schwierig genug, dass du durch die Dreharbeiten einige Wochen als Arbeitskraft ausfällst. Da kann ich doch unmöglich auch noch Urlaub nehmen. Das geht einfach nicht.“

„Du hast ja recht,“ stimmte er zerknirscht zu.

Paul Schönherr hatte wenige Monate zuvor in der Agentur Berg zu arbeiten begonnen. Anton Berg und seine 21-jährige Nichte Marie betrieben eine Künstleragentur in der Wiener Innenstadt, die in der Branche einen klingenden Namen besaß. In diesem kleinen Familienbetrieb hatte Paul seine erste Arbeitsstelle gefunden, und das, obwohl er ursprünglich ungern, also wirklich total ungern an das Thema ‘Arbeit’ herangegangen war. Obwohl ‘ungern’ gar nicht das richtige Wort war. Nicht freiwillig traf die Wahrheit schon etwas genauer.

Er war von seinem Vater zur Arbeitssuche gezwungen worden, indem er seinem Sohn den Futtersack in derart unerreichbare Höhe gestellt hatte, dass ihm gar nichts anderes übriggeblieben war.

Doch er hätte es schlimmer erwischen können! Die Klientel dieser Agentur bestanden aus Theaterleuten, Musikern und vor allem aus attraktiven Schauspielerinnen. Er konnte daher weiterhin aus dem Vollen schöpfen. Das hatte er zwar bereits sein ganzes, jugendliches Leben lang getan, doch hier liefen ihm die schönsten und faszinierendsten Frauen sogar am Arbeitsplatz über den Weg.

Wie angenehm!

Und dann war das mit Marie geschehen. Das war eigentlich gar nicht geplant gewesen. Überhaupt nicht.

Doch plötzlich war nichts mehr wie zuvor. Nichts!

Marie hatte sein schauspielerisches Talent entdeckt, gefördert und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf Paul gelenkt. Und die Rechnung war aufgegangen!

Und wie!

Zuerst bekam er kleine Werbeauftritte, dann Nebenrollen und nun sollte er seine erste Hauptrolle an der italienischen Amalfi-Küste übernehmen.

Bereits am kommenden Morgen würde Pauls Flugzeug abheben und er sollte einige Wochen in Italien verbringen. Allein. Ohne Marie. Und das behagte ihm überhaupt nicht.

„Wie soll ich diese Zeit nur ohne dich aushalten?“, seufzte er theatralisch und Marie lächelte, obwohl ihr selbst gar nicht zum Lachen war.

Auch ihr graute vor der Trennung. Paul war ihre erste Liebe und sie war ihm ab dem Moment verfallen gewesen, in dem er seinen Fuß in das Büro gesetzt hatte. Sein Aussehen hatte sie an Rock Hudson, den schönen Mann aus den Hollywoodfilmen der 50-er Jahre erinnert. Seine Stimme, seine Erscheinung, alles an diesem Mann hatte Marie fasziniert und die vergangenen Wochen waren derart stürmisch und leidenschaftlich gewesen, dass auch sie keine Vorstellung davon hatte, wie sie auch nur einen einzigen Tag ohne ihn aushalten konnte. Gar nicht zu schweigen von einigen Wochen.

Trotz ihrer Verliebtheit wollte sie aber nicht engstirnig und besitzergreifend denken. Paul hatte nämlich etwas ganz Besonderes. Das spürte sie. Das wusste sie. Und es war nicht nur sein fantastisches Aussehen. Er war dazu geschaffen, Menschen zu berühren. Er hatte das gewisse Etwas und kam vor der Kamera noch besser rüber als im wirklichen Leben.

„Ich glaube, du übertreibst ein bisschen“, lächelte Marie und dachte an Pauls unzählige Liebschaften, die früher im Wochenrhythmus gewechselt hatten.

„Du hattest doch auch ein Leben vor mir.“

„Aber was für eines?“

„Nun, unglücklich hast du aber auch damals nicht gerade gewirkt und eine Frau war schöner als die andere“, zog sie ihn auf.

Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie. Als er sie wieder freigab, legte sie ihren Kopf auf seine Brust und spürte sein Herz schlagen.

„Ja, schön waren sie. Aber das bist du auch. Doch keine war wie du. Jetzt, wo ich den Unterschied kenne, will ich einfach nicht mehr ohne dich leben und mag deshalb nicht allein nach Italien fliegen.“

„Komm, es sind doch nur vier, höchstens sechs Wochen.“

„Ich weiß“, grummelte er. „Aber danach kann ich es gar nicht erwarten, aus dir eine ehrbare Frau zu machen.“

Zorn

Das darf nicht ungestraft bleiben. Damit darf man nicht durchkommen.

Bald kommt die Stunde der Abrechnung. So viel Geld! So viel Mühe! So viel Einsatz! Und wofür? Die Wunde schmerzt noch immer. Und der Zorn ist nach so vielen Jahren noch mehr gewachsen.

So viele Jahre!

Positano März 1989

Es war schon ungewöhnlich heiß an der Amalfiküste. Und es war noch heißer im Filmstudio. Paul lief der Schweiß in Strömen von der Stirn und die Maskenbildnerin hatte dieser Tage den härtesten Job, weil sie die Gesichter der Stars, trotz vermehrter Schweißproduktion frisch und erholt aussehen lassen musste. Paul versuchte sich auf seinen Text zu konzentrieren, während die junge Mitarbeiterin sein Gesicht für die nächste Aufnahme trocken tupfte.

„Na, du Grünschnabel, hast du deinen Text brav gelernt?“, zog ihn seine Filmpartnerin auf. Die große Ella Milano war eine ordinäre, bösartige Zecke, die sich einen Spaß daraus machte, Paul bei jeder Gelegenheit zu ärgern.

Am liebsten würde ich ihr den Hals umdrehen, dachte er gereizt und beherrschte sich mühsam. Seit Wochen stand er mit dieser überspannten Diva vor der Kamera und sie machte ihm das Leben zur Hölle. Bei seinen täglichen Telefonaten mit Marie machte er seinem Ärger stets Luft und Marie versuchte ihn zu unterstützen.

„Ich verstehe dich, mein Schatz, aber du musst ihre Gemeinheiten ignorieren. Sie ist schon lange im Geschäft und fühlt sich offenbar besser, wenn sie an anderen herumhackt.“

„Sie behandelt mich wie einen blutigen Anfänger.“

„In ihren Augen bist du das ja auch. Versuche deine Abneigung irgendwie in den Griff zu bekommen. Immerhin sollt ihr vor der Kamera als Liebespaar glaubwürdig rüberkommen. Sie ist doch eine sehr schöne Frau. Stelle dir vor, du wärst in sie verliebt! Das wirst du doch schaffen, immerhin hast du so viel schauspielerisches Talent. Gib nicht auf. Beiße dich durch. Es sind ja nur mehr wenige Wochen!“, versuchte sie ihn aufzumuntern.

Am nächsten Tag stand die Liebesszene am Spielplan. Davor graute ihm. Diesen Drachen sollte er küssen? Am liebsten wäre er schreiend vom Set gelaufen. Bei der bloßen Vorstellung stellten sich seine Nackenhaare auf.

Doch er blieb.

Er hatte versprochen, sein Bestes zu geben. Sich selbst. Und auch Marie, die so viel Energie in seine Karriere investiert hatte.

Er würde das hinbekommen.

Maries Worte hallten in seinem Kopf, als Ella in ihrem Bademantel auftauchte. Die große Diva kam nicht, sie erschien.

„Oh, Roy Polaris ist schon hier!“ nannte sie ihn bei seinem Künstlernamen, obwohl ihn alle am Set mit Paul anredeten. Ihm war es egal, solange sie nicht an ihm herummeckerte.

„Heute wird sich weisen, ob du der große Lover bist!“

Paul schluckte und dachte an Maries Worte.

„Sie ist doch eine sehr schöne Frau. Stelle dir vor, du wärst in sie verliebt! Du wirst das schaffen, immerhin hast du so viel schauspielerisches Talent.“

Er würde es beweisen.

Ella nahm mit einer grazilen Bewegung ihre dunkle Sonnenbrille ab und hielt der Maskenbildnerin ihr klassisches Antlitz entgegen.

Schön war sie in der Tat, stellte er fest. Als sie danach ihren Seidenbademantel von der Schulter gleiten ließ und sich auf dem vorbereiteten Bett auf die Satinlaken setzte, fiel sein Blick auf ihren weißen Bikini, der mehr offenbarte, als er verdeckte. Ellas praller, perfekt geformter Busen sprang ihm entgegen, denn das kleine dreieckige Stückchen Stoff bedeckte lediglich die Nippel. Nachdem diese durch das Ablegen des Bademantels aufrecht standen, spürte Paul voll Unbehagen, dass sich auch bei ihm etwas aufrichten wollte.

Das hätte ihm gerade noch gefehlt. Er wollte keinesfalls bei dieser Zicke einen Ständer bekommen. Obwohl. Eigentlich war es für diesen Gedanken bereits etwas zu spät.

Er versuchte daher an Apfelkuchen mit Zimt zu denken oder an Tom & Jerry. Oder zumindest seinen Blick abzuwenden.

Doch der Regisseur rief bereits: „Und, Action!“

Paul ging mit wiegenden Schritten auf Ella zu. Wortlos riss er sie, wie im Drehplan vorgeschrieben, leidenschaftlich in seine Arme. Sie bog ihren Kopf sinnlich nach hinten, legte ihren makellosen Hals frei und er strich mit seinen Fingern lüstern über ihre Brüste, ihren flachen Bauch, ihren Nabel.

Von der Kamera unbemerkt beulte sich seine Badehose und der Gummibund dehnte sich dramatisch. Paul versuchte dieser körperlichen Reaktion keine Bedeutung beizumessen und mimte weiterhin den leidenschaftlichen Liebhaber.

Als seine Hände über Ellas Schenkeln strichen, gurrte sie, wie im Skript vorgeschrieben. Danach beugte er sich zu ihr und küsste ihren Hals, um gleich danach voll Verlangen über ihren Mund herzufallen. Ella wurde Wachs in seinen Armen. Sie keuchte vor Verlangen und wusste, dass nun die Kameraeinstellung auf ihren Mund zoomte, um danach auszublenden für die nächste Szene, die den Morgen danach zeigen würde.

Die Liebesszene war im Kasten.

„Cut!“ rief der Regisseur. Doch Ella war mit der Szene noch nicht fertig.

Sie spürte Pauls Erektion und schob ein Bein zwischen seine Schenkel, massierte damit seine pulsierende Körpermitte. Und das stand nicht im Drehbuch dieser jugendfreien Liebesromanze.

„Cut!“ rief der Regisseur lauter, falls die beiden es überhört hatten. Doch Paul und Ella waren zu beschäftigt.

„Hervorragend! Sehr gut. Cut!“ rief er daher noch um einige Dezibel lauter, doch weder er noch die umstehenden Crew-Mitglieder hatten das Gefühl, dass die beiden seine Worte überhaupt gehört hatten. In der nächsten Zeit würden die beiden wohl überhaupt nichts hören, wusste er.

„Gut, dann Pause!“ entschied der Boss. „Raus hier. Alle raus!“ Er kannte Ellas Appetit auf junge Schauspieler, wollte aber nicht unbedingt dabei sein, wenn sie ihren Hunger stillte. Paul tat ihm jetzt schon leid.

Als die Mitarbeiter das Set verlassen hatten, schob Ella ihr dünnes Bikinihöschen mit einem Finger zur Seite und griff gleichzeitig nach Pauls Männlichkeit, die bereits vollständig aus seiner Badehose gequollen war.

„Oh, Mamma Mia, du bist ein toller Hengst, ein wirklich toller Hengst. Amore mio!“

Sie spreizte ihre Beine und nahm ihn in sich auf, während sie in spitzen Schreien nach wenigen Sekunden zum Höhepunkt kam. Gleichzeitig mit ihm.

Im selben Augenblick rollte sich Paul auch schon wieder von ihr runter und schob seine Badehose über sein bestes Stück. Wortlos stierte er zur Decke.

„Du bist gut, richtig gut!“, schnurrte Ella, nachdem auch sie ihren Bikini wieder zurecht gerückt hatte. Sie zündete zwei Zigaretten an und reichte eine davon an Paul weiter. Schweigend rauchten sie, während Ella ihre Fingernägel inspizierte.

Als der Kameraassistent vorsichtig in das Studio blinzelte, lachte Ella ihr kehliges Lachen.

„Silvio, ich hoffe, ihr hattet eine schöne Mittagspause? Wir schon!“ Lüstern ließ sie ihre Finger über Pauls Bauch und danach über den kleinen Hügel seiner Badehose gleiten und setze sich auf.

„Sag dem Regisseur Bescheid, dass alle wieder reinkommen können. Mein Verlobter und ich sind bereit für die nächste Szene!“

„Sind wir doch, oder?“, versuchte sie sich Pauls Zustimmung zuzusichern.

„Ja, wir sind bereit“, wollte Paul die Dreharbeiten nicht verzögern.

Als Ella für die nächste Szene frisiert wurde, ging er wie benommen zur Bar, schenkte sich einen doppelten Whiskey ein und stürzte den Inhalt des Glases gierig in seinen Rachen.

Maries Worte hallten in seinen Ohren: „Ella ist doch eine sehr schöne Frau. Stelle dir vor, du wärst in sie verliebt. Das wirst du schaffen, immerhin hast du so viel schauspielerisches Talent.“

Er beobachtete, wie Ella von einer jungen Mitarbeiterin der Lippenstift nachgezogen wurde. Als sie seinen Blick auffing, schickte sie ihm eine Kusshand.

„Ich freue mich schon auf heute Abend!“ rief sie ihm quer durch das Studio zu. Dann winkte sie ungeduldig nach dem Kameraassistenten.

„Silvio, laufe in das Hotelzimmer meines Verlobten und lasse seine Kleidungsstücke in meine Suite bringen. Roy Polaris soll sich mit derlei Tätigkeiten nicht herumschlagen müssen. Wir haben anderes zu tun.“

„Sehr wohl, Frau Milano!“, nickte der Junge. Er flitzte aus dem Studio, weil man Frau Milano nicht warten ließ, während Paul auf den Barhocker niedersank.

Zwei Monate später war Ella Milano Ella Schönherr.

Der Film wurde ein Riesenerfolg und Roy Polaris von einem Tag zum anderen der neue Star am internationalen Filmhimmel. Die Presse stürzte sich auf das neue Traumpaar und die Teleobjektive zoomten unentwegt. Ellas lüsterne Finger in Pauls Hemd, an Pauls Schenkel, an Pauls Hintern zierten eine Zeitlang jede Titelseite der Boulevardpresse. Diese Verbindung und die damit verbundene Publicity steigerten Pauls Wert als Schauspieler enorm. Hollywood wartete bereits auf ihn.

Roy Polaris – Ein Stern war geboren.

Ameisen im Haar Juni 2016

17. Juni 2016, 20:00 Uhr

Lena stand unter Strom. Sie konnte während des gesamten Hochzeitsdinners an nichts anderes denken als an das, was da vorhin mit ihr und David geschehen war.

Lena und David waren nach der kirchlichen Hochzeit mit Marie und Raffael in das Restaurant gefahren, um gemeinsam mit den anderen Gästen auf das Brautpaar zu warten. Bei Sekt und Tanzmusik war die Wartezeit eine unterhaltsame Angelegenheit gewesen. Sehr unterhaltsam!

Aber auch verwirrend!

Lena und David gemeinsam in einem Raum! Als Freunde! Das allein war schon eine Überraschung.

Lena hatte David, Peters ältesten Freund, nämlich überhaupt nie leiden können. Bei ihrem Kennenlernen wohlgemerkt.

Und wenn Lena früher jemanden nicht leiden konnte, hatte sie das sehr deutlich gezeigt.

Aber auch David hatte mit seiner Abneigung nie hinterm Berg gehalten und die beiden hatten sich in der Vergangenheit nichts geschenkt. Sie konnten sich einfach nicht riechen.

Auch nicht, als sie sich irgendwann zufällig in einem Café über den Weg gelaufen waren.

Auch dann nicht, als sie sich nach einigen Wochen wieder einmal getroffen hatten.

Und irgendwann waren sie halt dann doch Freunde geworden. Nicht die besten, aber es ging so.

Und völlig überraschend sind sie irgendwann dann sogar ziemlich gute Freunde gewesen.

Und nun waren sie beide als Trauzeugen auf dieser Hochzeit.

Doch dann hatte David sie während eines Tanzes geküsst.

Einfach so! Aber nicht auf die Wange, wie es Freunde tun. Nein, er hatte sie stürmisch und leidenschaftlich in die Arme gezogen und auf den Mund geküsst, als gäbe es kein Morgen.

Also kein bisschen wie ein platonischer Freund.

Ihr waren regelrecht die Knie weich geworden und sie hatte nicht einmal die Zeit gehabt, sich überrumpelt zu fühlen. Stattdessen hatte sie, und das war ganz sonderbar, den Kuss sogar erwidert und diesen Kuss, und das war das Unglaublichste überhaupt, genossen.

Trotzdem: Danach war sie verwirrt gewesen und völlig durch den Wind.

Wie hatte das überhaupt passieren können?

In ihren Gedanken hatte sie während des Essens immer und immer wieder diese skurrile Situation vor sich gesehen. Wie in einer Endlosschleife musste sie auch jetzt noch ständig daran denken, wie David seine Lippen auf ihre gesenkt hatte.

Dermaßen abgelenkt, war klar, dass sie dieser Hochzeitsfeier irgendwie gar nicht so richtig folgen konnte. Ihre Gedanken verirrten sich ständig irgendwohin, wo sie nicht hingehörten.

Zu ihrer Endlosschleife.

Sie konnte dem Geplauder und den Gesprächen um sich herum kaum Beachtung schenken, weil ihre Konzentration total gestört war.

Ständig dieses Flattern im Bauch, dieser Druck im Magen und es war kaum auszuhalten, dieses Gefühl, nicht zu wissen, was eigentlich Sache war!

Das herrliche Essen war gereicht worden und hatte wirklich wunderbar geschmeckt. Die zwei Bissen, die sie mit Mühe runtergebracht hatte.

Die wunderbare Torte war angeschnitten, zerteilt und gereicht worden. Einmalig hatte es gemundet, das kleine Stückchen, das es in ihren Mund geschafft hatte.

Lena wollte essen. Doch sie brachte einfach nichts runter. Sie war schlicht und ergreifend total verwirrt und brauchte ..., ja, was eigentlich?

Gewissheit!

Ja, sie brauchte Gewissheit, was in Gottes Namen, da vorhin passiert war.

Doch das war nicht so einfach. Sie saßen nun einmal in einem Raum gemeinsam mit 50 Personen und konnten nicht einfach mal auf ein Vieraugengespräch verschwinden.

David saß als dessen Trauzeuge neben Peter und sie, als deren Trauzeugin, neben Maggie. Ihre Blicke kreuzten sich immer wieder und jedes Mal sah Lena irritiert weg, spürte aber stets einen seltsamen Stich in der Magengegend.

Auch David war überraschend ruhig und das, obwohl sie ihn dermaßen gedämpft gar nicht kannte. David war normalerweise ein Plaudertäschchen.

Dann hielt der Bräutigamvater, Peter Gutmann Senior, seine Rede. Da wurde Lena dann doch wieder aufmerksam und versuchte zumindest vorübergehend nicht an David zu denken. Lena mochte Peters Vater, obwohl sie wusste, oder zumindest stark mutmaßte, dass er eine vorgefasste Meinung von ihr hatte.

Sicher ist er heilfroh, dass Peter die anständigere Schwester geheiratet hat, dachte Lena selbstreflektiert.

„Liebe Maggie, lieber Peter, liebe Hochzeitsgäste! Ich bringe einen Toast auf das junge Brautpaar aus. Möget ihr immer so glücklich sein, wie an diesem Tag!“

Als Peter und Maggie ihm zuprosteten, schmunzelte Peters Vater und fuhr fort: „Ihr habt lange auf das gemeinsame Glück warten müssen, doch ihr habt nie die Liebe zueinander verloren. Jahre der Trennung konnten euch nichts anhaben, denn ihr seid füreinander bestimmt. Peter, dass du so eine wunderbare Schwiegertochter in die Familie bringst, beweist, was für einen hervorragenden Geschmack du besitzt. Und für mich hat eure Bindung den Vorteil, dass ich mich nicht erst an ein neues Gesicht an Peters Seite gewöhnen muss.“

Schallendes Gelächter im Raum. Jeder wusste, worauf er anspielte und Lena wurde kribbelig. Immerhin war sie eine Zeitlang mit Peter liiert gewesen und deren Beziehungsende war nicht gerade ein gesellschaftsfähiges Thema. Sie hoffte inständig, dass sich Peters Vater Details verkneifen würde.

„Entspann dich, mein Schwesterherz!“, drückte Maggie ihre Hand, weil sie Lenas Anspannung spüren konnte. „Peters Vater ist ein Gentleman. Er wird auf deine Kosten keine schlechten Scherze machen.“ Lena lächelte sie dankbar an, dachte und hoffte eigentlich das Gleiche, doch noch konnten sich ihre Schultern nicht ganz entspannen.

„Scherz beiseite. Ich mag diese beiden jungen Frauen und danke Lena, dass sie mit ihrer Lebendigkeit Peter aus seiner Isolation geholt hat. Manchmal passt es und manchmal passt es nicht. Aber oft kommt alles, wie es kommen muss und nun hat Peter sein großes Glück bei Maggie gefunden und ich wünsche euch daher von ganzem Herzen, dass eure Liebe immer so groß und stark bleibt, wie sie heute ist. Prost!“

Er hob sein Glas und jetzt konnte sich Lena entspannen. Ihre Schultern sanken wieder nach unten. Als sie Peters Vater ihr Sektglas zum Anstoßen bot, formulierte sie ein ‘Danke!’ mit den Lippen und nickte ihm dankbar zu.

Er erwiderte mit einem herzlichen Nicken den Dank und nachdem die Rede des Bräutigamvaters beendet war und alle einen Schluck auf das Brautpaar getrunken hatten, erhob sich auch Marie, die Mutter der Braut.

„Maggie und Peter! Ich bin so glücklich, wenn ich euch beide hier vor mir sitzen sehe.“

„Peter, dich kenne ich schon so viele Jahre. Du warst für mich immer ein ganz besonders netter und hilfsbereiter Arbeitskollege, damals, als wir noch gemeinsam bei der Unito-Versicherung gearbeitet haben. Obwohl: Du bist ja noch immer dort“, verbesserte sie sich und alle lachten.

„Dass du das Herz meiner Tochter erobert hast und der Ehemann meiner Maggie bist, macht mich selbst so glücklich, denn ich kann mir für Maggie keinen besseren Ehemann vorstellen, als dich. Maggie, du hast es in deinem Leben bisher nicht immer leicht gehabt und es freut mich umso mehr, dass du nun an der Seite dieses tollen Mannes glücklich werden kannst, denn du hast es verdient.“ Sie blickte liebevoll zur Braut und ihre Augen bekamen einen wässrigen Schein.

„Maggie, meine Tochter! Ich hätte mir diesen Tag nie träumen lassen, weiß ich doch erst seit kurzer Zeit ...“, sie konnte nicht weitersprechen, fing sich aber bald wieder.

„Egal, ich bin dem Schicksal so unendlich dankbar, dass es meine beiden Mädchen auf diese wundersame Weise in mein Leben zurückgeführt hat, nachdem ich ...“

Marie stockte abermals und Maggie stand auf und ging zu ihrer Mutter. Sie nahm Marie liebevoll in den Arm. Auch Lena erhob sich und kuschelte sich zu Marie. Die drei Frauen wirkten wie ein dicker Baum, den kein Wind umwehen konnte.

„Auch ich bin überglücklich, dich gefunden zu haben!“ antwortete Maggie mit starker Stimme und Lena nickte heftig: „Ich auch, Marie, ich auch!“

„Aber, bitte, Marie, setze deine Rede fort, damit unsere Gäste und ich nicht verdursten!“, mischte sich nun Peter lachend ein und Marie lächelte in seine Richtung.

„Wieso nennen Maggie und Lena ihre Mutter eigentlich beim Vornamen?“ wunderte sich Silvia Schneider, die neben Sonja Jung am Tisch von Peters Arbeitskollegen saß.

Nachdem Sonja mit Lena eine enge Freundschaft verband, konnte sie diese Frage beantworten.

„Weil Marie seinerzeit, als junges, vom Kindesvater sitzengelassenes Mädchen, einer Adoption zugestimmt hat. Marie hat erst im Vorjahr durch Zufall erfahren, dass Lena und Maggie ihre Töchter sind.“

„Oh! Das ist aber ein starkes Ding! Daher habe ich nicht gewusst, dass Marie Kinder hat! Wenn sie selbst davon keine Ahnung gehabt hat?“

„Nun, dass sie Mutter war, hat sie natürlich schon gewusst“, relativierte Sonja, wusste aber, was Silvia gemeint hatte. „Aber nachdem sie seinerzeit durch einen Notkaiserschnitt niedergekommen ist, hat sie nicht erfahren, dass sie Zwillingsmädchen geboren hat.“

„Und wo sind Maggies Eltern, also Adoptiveltern?“, wunderte sich Silvia, die mitbekommen hatte, dass Lenas Adoptiveltern zu der Hochzeit gekommen waren, Maggies Eltern aber scheinbar nicht.

„Maggies Adoptivmutter ist vor vielen Jahren tödlich verunglückt und ihr Vater lebt in einem Pflegeheim. Er soll, laut Lenas Erzählungen, sehr viel getrunken haben und Maggie hat wohl keine schöne Jugendzeit gehabt. Details hat mir Lena allerdings nicht erzählt.“

„Ach, deswegen hat Marie erwähnt, dass Maggie viel durchgemacht hat. Ich habe mich bereits gewundert, was so ein junges Mädchen denn schon Schlimmes erlebt haben kann.“

„Ja, mit Sicherheit hat sie darauf angespielt. Doch nun, mit Marie als Mutter und Peter an ihrer Seite? Schöner geht es nicht!“

„Stimmt, Maggie ist wirklich zu beneiden“, gab ihr Silvia recht und blickte zu den drei Frauen.

Inzwischen hatten sich Marie, Maggie und Lena aus ihrer Umarmung gelöst, einige Taschentücher aufgeweicht und Marie strahlte wieder die ihr innewohnende Ruhe und Gelassenheit aus, als sie weitersprach.

„Ja, also, nachdem mich Peter an meine Brautmutterpflichten erinnert hat, setze ich meine Rede fort, dabei weiß ich jetzt gar nicht mehr, wo ich stehengeblieben bin.“ Hilflos blickte sie in die Runde, bis ihr Blick auf ihren Mann fiel.

„Dass deine beiden Mädchen auf diese wundersame Weise in dein Leben zurückgeführt worden sind!“, half ihr Raffael auf die Sprünge.

„Danke, Raffi. Was würde ich nur ohne dich tun. Und das sage ich nicht nur, weil ich ohne dich diese Rede nicht fortsetzen hätte können, nachdem ich den roten Faden verloren habe. Das sage ich auch deshalb, weil ich ohne dich wirklich nicht wüsste, wie schön das Leben ist. Es ist einfach wunderbar, wenn man einen Mann gefunden hat, auf den man sich verlassen kann!“

„Danke, Marie, aber ich befürchte, du wirst wieder den roten Faden verlieren,“ lächelte Raffael, merkbar geschmeichelt über das Kompliment, aber ihr weiterhin helfen wollend.

„Nein, mein Schatz, ich vollziehe nur soeben die beste Überleitung, die eine Rede jemals erlebt hat. Maggie, ich wünsche dir, dass du mit Peter genauso glücklich wirst, wie ich es mit meinem Mann geworden bin. Und die Chancen dafür stehen gut, denn Raffael und Peter haben eines gemeinsam: Sie sind verlässliche, treue und bodenständige Männer, die der Frau, die sie lieben, den Himmel auf Erden schenken. So wie mir mein Raffael als Wiedergutmachung für vieles zuvor Geschehene geschickt wurde, ist dir Peter geschenkt worden. Davon bin ich überzeugt. Wir beide sind gesegnet und ich danke ganz intensiv ...“ Maries Blick glitt nach oben, bevor sie weitersprach. „Ich danke wirklich aus tiefstem Herzen für dieses große Glück, das ich mit meinem Raffael und du nun mit deinem Peter erleben darfst.“

Raffael erhob sich und nahm Marie gerührt in seine Arme. „Das nenne ich eine wirklich gelungene Überleitung“, streute er ihr Rosen.

„Habe ich es nicht gesagt?“, witzelte Marie, um gleich wieder ernst zu werden. Sie hob ihr Glas Sekt und gleichzeitig ihre Stimme: „Auf Maggie und Peter, auf die Liebe und auf Christian Gottlieb!“

„Auf den Wirtschaftsprüfer stoßt sie an?“ wunderte sich Silvia, warum Marie den jungen Mann, der im Vorjahr bei der Unito-Versicherung in Erscheinung getreten war, in ihrer Ansprache erwähnte.

„Ich glaube, Christian Gottlieb ist mehr als ein Wirtschaftsprüfer. Zumindest für Marie. Und für Lena. Und für Peter ...“ Sonja zog ihr Gesicht in Falten. „Ich glaube, er ist mehr für alle Menschen, die ihm begegnet sind.“

„Ja, er ist wirklich ein besonderer Mensch, er bringt einem zum Nachdenken“, nickte Silvia und sah sich suchend um.

„Wo ist er eigentlich?“ fragte sie Sonja, „hast du ihn schon gesehen?“

„Er ist nicht hier. Lena hat mir erzählt, dass er überhaupt nicht mehr da ist.“

„Das ist aber schade. Wo ist er denn?“

„Das weiß ich nicht“, zuckte Sonja mit den Schultern.

„Oh, sieh nur, die Musiker gehen zu ihren Instrumenten“, rief Silvia erfreut und das Thema war beendet. „Ich glaube, jetzt beginnt der fröhlichste Teil der Feier. Ich schnurre mal bei meinem Mann etwas herum. Vielleicht bekomme ich ihn auf die Tanzfläche.“

Die Musiker starteten ihr Musikprogramm mit einem Wiener Walzer. Der Leadsänger sang: „Wunderbar, wunderbar, diese Nacht so sternenklar. Ja, ein Märchen wird wahr, es ist wirklich wunderbar.“

Peter zog Maggie auf die Tanzfläche und die beiden eröffneten mit diesem schwungvollen Walzer aus ‘Kiss me Kate’.

Auch Marie und Raffael standen auf und schwangen das Tanzbein, wonach immer mehr Paare dem Beispiel folgten und auf die Tanzfläche strömten.

Nachdem Maggies Stuhl leergeworden war, huschte David neben Lena.

„Wer ist eigentlich dieser Christian Gottlieb, den deine Mutter vorhin in ihrem Toast erwähnt hat?“, fragte David, der es gar nicht erwarten hatte können, sich endlich neben Lena setzen zu dürfen.

„Das ist der junge Mann, von dem ich dir schon einmal erzählt habe.“

„Der Wirtschaftsprüfer, von dem du behauptet hast, er hätte aus dir einen anderen Menschen gemacht?“

„Das hast du dir gemerkt?“, war Lena beeindruckt. David nickte.

„Ja, das ist Christian Gottlieb“, antwortete sie daraufhin.

„Wo ist er denn, ich würde ihn gern kennenlernen und mich bei ihm bedanken.“ David blickte durch den Raum.

„Wozu das denn?“

„Nun, wenn er dafür verantwortlich ist, dass du so eine hinreißende und liebenswürdige Person geworden bist, gebührt ihm doch Dank.“

Lena wurde rot und antwortete auf Davids vorherige Frage.

„Christian ist nicht mehr hier. Er hat von einem erledigten Auftrag gesprochen und zu seinem Vater zurückkehren müssen.“

„Zu seinem Vater? Wie alt ist dieser Gottlieb, wenn er noch bei seinem Vater wohnt?“

„Ich schätze ihn so um die Dreißig, aber ich weiß nicht, ob er tatsächlich bei seinem Vater wohnt ...“ Lena schien nachzudenken.

„Eigentlich weiß ich nicht einmal, wer sein Vater ist. Ich habe damals gedacht, sein Vater betreibt eine Wirtschaftsprüferkanzlei, nachdem Christian immer erklärt hat, sein Vater hätte ihn geschickt.“

Dann sah Lena auf ihre Finger, die in ihrem Schoß lagen.

David hatte sich während des Gespräches ihre Hand ergriffen und seine Finger verhakten sich mit ihren. Sie hielten unter dem Tisch Händchen und Lena packte die Gelegenheit beim Schopf.

„Aber eigentlich will ich jetzt gar nicht mit dir über Christian reden, sondern viel lieber ...“

„Komm Prinzessin, ich weiß, worüber du reden willst. Lass uns auf die Terrasse gehen, da sind wir ungestört.“

David zog sie hoch und die beiden verschwanden durch die leicht geöffnete Schiebetür. Die geräumige Terrasse war unbeleuchtet und menschenleer, die Luft kühl und eine leichte Brise wehte Lenas Seidenkleid hoch. Sie strich den Stoff mit der freien Hand nach unten, doch David hatte die makellose Schönheit ihrer Schenkel bereits aufblitzen sehen. Und die erregende Wirkung ließ nicht auf sich warten, versetzte ihn in einen zügellosen Rauschzustand. Augenblicklich war ihm überhaupt nicht mehr danach, zu reden.

„Lena!“ flüsterte er, während er vor Verlangen seine Hand an ihren Hals legte und mit sanftem Druck ihr Gesicht zu seinem zog. Er blickte ihr in die Augen, die ihm in der Dunkelheit wie schwarze Kohlen entgegensahen. Lena bot ihm ihre geöffneten Lippen und er stürzte sich wie ein ausgehungerter Löwe auf ihren Mund. Während er sie stürmisch küsste, drängte er Lena an die holzvertäfelte Wand, die noch die gespeicherte Wärme des Sommertages wiedergab. Gierig pressten seine Hände ihren zarten Körper an seinen, während Lenas Finger hemmungslos unter sein Sakko fuhren, sein Hemd aus der Hose zerrten und sich leidenschaftlich in seinen Rücken krallten.

„Lena, du machst mich so verrückt!“, flüsterte er, als seine Hände an ihrer Schenkelinnenseite hochfuhren. Lena nahm seine Erregung deutlich wahr und fühlte ebenfalls ein heftiges Verlangen.

„Lass uns in den Garten gehen, bevor noch jemand kommt“, hauchte David und Lena ließ sich bereitwillig in die Schwärze der umliegenden Bäume mitziehen. Die beiden liefen in den menschenleeren Park und verschwanden hinter den Büschen in der Dunkelheit.

Dort küssten sie sich wie Verhungernde und ihre Begierde aufeinander wurde immer größer, immer stärker. Dieser Hunger schrie nach Erfüllung.

Das wussten sie.

Das spürten sie.

Das wollten sie.

Entschlossen schob Lena ihren Slip herunter und auch David öffnete seinen Gürtel. Dann hielt er inne.

„Dürfen wir das? Geht das nicht zu schnell? Ich meine, ich begehre dich schon so lange. Seit Monaten träume ich von dir und habe trotzdem nie gewagt, dir zu sagen, wie verliebt ich in dich bin.“ Fast schrie er sein Liebesgeständnis in diese Nacht.

„Du hast deine Gefühle tatsächlich bis zum heutigen Tag sehr geschickt unter Verschluss gehalten. Dabei hast auch du mir immer besser gefallen. Immer besser!“, gestand nun auch Lena. „Doch ich wollte es nicht aussprechen. Und ich wollte es wohl auch gar nicht wahrhaben. Immerhin waren wir doch die meiste Zeit so etwas wie beste Feinde!“

„Ach, Prinzessin, ich kann dir gar nicht sagen ...“

„Dann sag auch nichts!“, flüsterte Lena. Sie öffnete den Reißverschluss ihres Kleides, wand sich mit geschickten Bewegungen aus der Hülle und warf das unnötig gewordene Stück Stoff über den tiefhängenden Ast einer jungen Buche.

Als David diese wunderschöne Frau wie die personifizierte Verführung nackt vor sich stehen sah, gab er seine Bedenken auf. Er strich zärtlich über Lenas wohlgeformten Busen, dessen Brustwarzen durch die Kühle hart geworden waren. Wie seine Männlichkeit, die schmerzhaft seine gefräßige Erregung signalisierte. Er eroberte abermals ihren Mund und seine zügellos werdenden Küsse brachten Lena dazu, ungestüm an seiner Kleidung zu zerren.

Nachdem sie das letzte Stück Stoff von seinem Körper gerissen hatte, wollte sie ihn sehen. Sie ging einen halben Schritt zurück und musste bei Davids Anblick an die gemeißelte Statue seines Namensvetters denken. Bis auf die Körpermitte. Die hätte Michelangelo wohl eher nicht in dieser Position gestaltet. Doch Lena ergötzte sich an Davids sichtbarem Begehren und fühlte ihre eigene Lust mit jeder Pore. Ein heftiger Schauder und eine süße Sehnsucht durchströmten ihren Körper. Eine Sehnsucht nach David!

„Du bist schön!“, offenbarte sie voll aufrichtiger Bewunderung in ihrer Stimme. Diese Ehrlichkeit schuldete sie ihm, nachdem sie ihn monatelang mit dem Spitznamen ‘Woody Allen’ verspottet hatte. Obwohl sie es bisher nie zugegeben hatte, fand sie ihn schon attraktiv, seit er seine grässliche Hornbrille gegen Kontaktlinsen getauscht hatte. Seit er sich ihr gegenüber wie ein Freund verhalten hatte, hatten sich aber auch ihre Gefühle für ihn total verändert. Sie hatte Davids humorvolle Seite und sein hilfsbereites, liebevolles Verhalten zu schätzen gelernt. Und offenbar sogar mehr als das.

David wirkte nach Lenas Kompliment fast verlegen und mit einem Mal war er nicht mehr so forsch wie noch kurz zuvor auf der Terrasse. Fast schüchtern stand er vor ihr und schien den nächsten Schritt nicht zu wagen.

Er wollte schon! Das sah sie. Doch er zögerte, wollte sich nicht einfach nehmen, was er begehrte.

Lena bedeutete ihm viel. Er konnte doch nicht wenige Stunden nach dem ersten Kuss über sie herfallen wie ein wildes Tier. Obwohl ihm genau danach der Sinn stand. Aber das konnte er doch nicht tun!

Immerhin hatte er sie früher als leichtfertige und ungezügelte Person abgekanzelt. Nicht ganz zu Unrecht, denn Lena war tatsächlich oberflächlich und flatterhaft gewesen. Damals, als sie noch Peters Freundin gewesen war.

Doch sie hatte sich verändert. Und David hat ihren Wandel miterlebt. Ungläubig zuerst, doch dann immer klarsehender. Und in diese neue Lena hatte er sich Hals über Kopf verliebt.

„Lena, ich will nicht, dass du denkst, ich will nur das Eine ... “, versuchte er sein Zögern zu erklären und stammelte weiter. „Natürlich will und kann ich nicht abstreiten, dass ich gierig auf dich bin“, versuchte er zu scherzen, sprang sein Wollen doch stramm in Lenas Auge, „aber nicht nur ... ich habe mich nämlich wirklich ... ich meine ... es wäre respektlos dir gegenüber ... jetzt sofort ... also ...“

„Ich habe mich auch in dich verliebt. Mir wird es nur jetzt erst klar!“, unterbrach Lena sein Gestammel. „Wow, David, du erstaunst mich. Ich bin wirklich gerührt, dass du dir darüber Gedanken machst!“ Sie strich ihm mit der Hand über seine Wange und er schloss die Augen, genoss ihre Zärtlichkeit, indem er sich an ihre Handinnenfläche schmiegte.

„Danke, David, das bedeutet mir sehr viel!“

Er legte seine Hand auf die von Lena, die noch immer seine Wange umschmeichelte. Dann öffnete er seine Augen und küsste ihre Fingerspitzen.

„Dann lass uns wieder zurückgehen“, hauchte er mit rauer Stimme.

„Meinst du das ernst?“

„Nun, ich dachte ...“

„David! Ich will dich! Jetzt noch mehr als zuvor. Ich will dich genauso wie du mich! Und ich will dich jetzt! Spürst du das nicht?“

Sie warf sich in seine Arme und drückte sich ihm entgegen, damit er nicht weiterhin an Anstand oder ans Zurückgehen denken konnte.

Als David Lenas heißen und begehrenswerten Körper an seinem spürte, hob er sie wie eine Feder hoch und ihre Körper fanden mühelos ihren Weg, um zu einer Einheit zu werden. Als er in sie eindrang, kreuzte Lena ihre Beine hinter seinem Rücken und er hielt sie mit seinen kräftigen Armen fest. Vorsichtig ließ er sich auf die Knie und sich danach mit ihr auf den Waldboden sinken. Im Dunkeln der Nacht, verdeckt hinter dichten Büschen, ließen die beiden hemmungslos ihrer Leidenschaft freien Lauf und vergaßen Zeit und Raum.

***

Als die zwei Liebenden wieder in die Realität zurückkamen, versuchte David sich vorsichtig hochzuheben. Er stützte seine Hand neben Lenas Kopf und sank sofort wieder nieder.

„Autsch, tut das weh. Ich glaube, wir haben uns nicht gerade das flauschigste Plätzchen ausgesucht“, rieb er seine schmerzende Hand und suchte vorsichtig eine Stelle zum Abstützen, die nicht von spitzen Steinen überwuchert war. Als er sie gefunden hatte, hob er sich hoch und blickte Lena aus einiger Entfernung in die Augen. Er strich ihr sanft über die Wange und fand keine Worte.

Auch Lena spürte inzwischen, wie unbequem ihr Lager eigentlich war. Der Waldboden piekte und stach in ihren Rücken, doch sie fühlte sich so behaglich, so glückselig, als läge sie auf Satinlaken. Und diese Behaglichkeit sah David in Lenas Lächeln, als er in ihr Gesicht blickte.

„Ich hätte nie gedacht ...“, stammelte Lena. „Es war wundervoll“, schnurrte sie und ergänzte: „Du bist wundervoll. Ich hätte nie gedacht, dass du so ein zärtlicher und liebevoller Mann bist“, vervollständigte sie ihren zuvor begonnenen Satz.

„Was du gespürt hast, war lediglich die Sehnsucht der vergangenen Monate“, schien David das Kompliment nicht annehmen zu können. „Doch Tatsache ist: Du bist wunderbar.“

„Nun, wir wissen beide, dass das nicht stimmt. Wunderbar bin ich ganz sicher nicht.“ Doch David war noch nicht fertig und legte seinen Zeigefinger auf Lenas Mund.

„Nein, mein Liebes, dieses Kompliment musst du dir jetzt anhören, denn es kommt von Herzen: Es stimmt, du warst einmal ein kleines Biest. Allerdings ein süßes“, lächelte er bei der Erinnerung an die Lena die er einst kennengelernt hatte. Eine überdrehte, grell geschminkte, aufdringliche Göre, die sich verhaltensauffällig jedem Mann an den Hals geworfen hat, der ihr in irgendeiner Weise nützlich war.

„Doch, Lena, ich kenne keinen Menschen, der seine Fehler so eigenreflektiert erkannt und an sich gearbeitet hat. Du bist ein anderer Mensch geworden und das nur durch deine Arbeit an dir selbst. Dafür bewundere ich dich unsagbar und das macht dich für mich zum liebenswertesten Menschen, den ich kenne. Wie hätte ich mich da nicht in dich verlieben können? Du bist einfach zauberhaft und ich vergöttere dich!“

Als Lena vor Rührung Tränen über die Wangen liefen, küsste er die salzigen Perlen weg, strich liebevoll eine vorwitzige Haarsträhne von ihren Lippen und küsste ihren einladenden Mund.

Sie erwiderte den Kuss und legte ihre Arme in seinen Nacken. Doch als sie Davids eindeutige Reaktion wahrnahm und selbst auch dieses untrügliche Vibrieren in ihrer Körpermitte spürte, schob sie David sanft von sich.

„Jetzt sollten wir aber doch wieder irgendwann zu den anderen zurückgehen“, versuchte Lena vernünftig zu bleiben. Oder treffender formuliert, zu werden.

„Ich fürchte, ich kann noch nicht“, raunte David in ihr Ohr und als sich Lena unter ihm bewegte, stachen so viele Stiche in ihren Rücken, dass sie aufhörte, sich zu bewegen. Doch dann spürte sie etwas anderes und dieses Gefühl war so unbeschreiblich beglückend und fesselnd, dass sie gar nicht mehr ans Zurückkehren denken konnte.

Auf eine halbe Stunde früher oder später kommt es jetzt auch nicht mehr an, dachte Lena, als sie in Davids Armen abermals den Himmel auf Erden erlebte.

Einige Zeit später versuchten Lena und David unter schmerzhaften Verrenkungen wieder auf ihre Beine zu kommen. Lena zückte ihr Smartphone und suchte mit der Taschenlampen-App ihre Kleidungsstücke zusammen. Sie inspizierte auch Davids Knie, die gottlob nicht blutig, sondern nur etwas aufgescheuert waren. Es dauerte einige Zeit, bis David die kleinen Steinchen, Blätter und Ameisen von Lenas Rücken entfernt hatte und sie beide sich wieder ihre Kleidung überziehen konnten.

„Gottlob haben wir uns ausgezogen, sonst hätten wir für die Grasflecken auf unseren Gewändern wohl keine glaubhafte Erklärung abliefern können“, witzelte David, als Lena ihr Kleid von der Buche hob und es vorsichtig über ihren Kopf zog.

„Und eine Bürste wäre auch nicht ganz unpraktisch“, lachte er schallend, als er Lenas, zuvor noch so hübsche Frisur genauer besah. Wie Federn standen ihre Haare in alle Richtungen und zwischen den Strähnen schien sich der halbe Waldboden versteckt zu haben.

„Echt?“ guckte Lena verdattert. „Ist es so schlimm?“

„Schlimmer!“ David zog sein Smartphone aus der Hosentasche, machte ein Foto von ihr und zeigte ihr das Bild.

„Oh, mein Gott, so kann ich doch nie im Leben wieder unter Leute gehen!“ rief sie und prustete ebenfalls los.

„Das kriegen wir hin. Halt still, mein Kleines. Wirf den Kopf nach hinten und lasse dich verwöhnen. Er verstaute sein Handy in der Hosentasche, griff in das Innenfutter seines Sakkos und holte einen schmalen Kamm heraus. Damit frisierte er sie und während ihr Haar wieder einen seidigen Glanz annahm, Ameisen und sonstige verräterische Spuren der vergangenen Stunde aus ihrem Haarschopf zu Boden segelten, überzog sich ihr Körper mit einer wohligen Gänsehaut.

„Du machst das wirklich gut. Als Hausfriseur bist du vom Fleck weg angestellt!“, lächelte sie und sah ihm zu, wie auch er seine unordentliche Haartracht wieder zu einer Frisur gestaltete und seinen Kamm verstaute.

„Hast du eigentlich auch eine Nähmaschine dabei?“ war sie positiv überrascht, was er alles bei sich trug.

„Nein, heute nicht! Brauchst du vielleicht eine? Ist dein Kleid zerrissen? Dann hole ich das Nähzeug aus der zweiten Hosentasche!“

„Echt jetzt?“

„Nein, das war natürlich ein Scherz!“ lachte er lauthals und streckte die Hand nach ihr aus. „Komm Prinzessin, wir machen der Hochzeitsgesellschaft wieder unsere Aufwartung.“

Lena schmiegte sich in seinen Arm und die beiden gingen engumschlungen auf die Terrasse zu, aus deren geöffneter Tür leise Musik erklang.

Doch da ertönte plötzlich ein Schrei.

Ein markerschütternder Schrei.

Die Gestalt Juni 2016

17. Juni 2016, 21:15 Uhr

Die letzten Takte des langsamen Walzers verklangen. Maggie hob ihren Kopf von Peters Brust und öffnete die Augen.

Da sah sie eine grässliche Fratze vor sich. Ein Gespenst oder ein schwarzgekleideter Mensch mit einer Scream Maske jagte ihr einen riesigen Schrecken ein.

Maggie wurde stocksteif und schrie auf.

„Was ist denn, mein Schatz?“ fragte Peter irritiert und blickte in die Richtung, in die seine Braut soeben geschaut hatte. Maggie zitterte und brachte kein Wort über die Lippen. Da sah auch er diese seltsame Horrorgestalt.

„Maggie, das ist sicherlich eine Showeinlage, die sich einer unserer Gäste ausgedacht hat“, versuchte er, wenig erfolgreich, Maggie zu beruhigen.

„Und warum hat er die Rose und vor allem dieses riesige Messer an seiner Kutte hängen?“

„Das ist mit Sicherheit bloß ein Plastikmesser!“

„Und warum kommt er auf uns zu?“

„Vielleicht wird das die Brautentführung?“, mutmaßte Peter.

„Nein, ich will nicht!“ schrie sie angsterfüllt. „Bitte lass nicht zu, dass ich entführt werde. Von solchen Bräuchen halte ich nichts. Mir macht dieser Mann oder diese Frau, ich weiß ja nicht einmal, was das für ein Mensch ist, Angst!“

„Beruhige dich, Maggie. Dich wird niemand entführen, wenn du es nicht willst. Nicht dieser verkleidete Geist und auch sonst niemand“, versprach er Maggie.

Plötzlich stand die Gestalt vor den beiden und hatte offenbar Peters Worte gehört.

„Das werden wir ja sehen!“, rief eine gedämpfte Stimme und der Kuttenträger griff nach Maggies Handgelenk. Eine kräftige Hand, die in schwarzen Lederhandschuhen steckte, zog Maggie mit einem heftigen Ruck zu sich. „Du kommst mit!“ Die Stimme des Dämons klang verzerrt und tief wie die eines Mannes. Oder aber, man sollte das glauben. Jedenfalls knurrte die Stimme diesen Befehl, während Maggie mit Gewalt aus Peters Arm gerissen wurde.

„Nein, Peter, bitte, hilf mir!“ rief Maggie panisch und hielt ihm ihre freie Hand entgegen. Peter griff danach und versuchte sie wieder aus der Umklammerung des Entführers zu befreien.

In dem Moment hieb der Geist mit seiner Faust auf Peters Nase. Der Schlag kam so unerwartet und war so heftig, dass Peter nach hinten taumelte und zu Boden sank. Sofort war Marie an seiner Seite. Sie hatte bereits seit Sekunden voll Sorge die schwarze Gestalt beobachtet und daher den Schlag aus nächster Nähe beobachtet.

Marie griff Peter während seines Sturzes unter die Arme. Sonja und ihr Mann, die ebenfalls in der Nähe standen, griffen auch zu und federten damit Peters Sturz ab, damit er nicht mit dem Kopf am Boden aufschlug.

Aus Peters Nase schoss augenblicklich Blut und Sonja kroch mit einem Taschentuch zu ihrem Kollegen, der völlig benommen am Boden hockte und nicht ansprechbar schien.

Währenddessen bäumte sich Raffael vor der geisthaften Gestalt auf.

„Was soll das? Wenn das ein Hochzeitsbrauch gewesen sein soll, ist er nicht gelungen. Sie haben soeben eine Grenze überschritten und wenn Sie nicht wollen, dass wir Sie anzeigen, verschwinden Sie! Raus aus diesem Raum! Sie haben genug Unheil angerichtet. Wir werden Peter versorgen und die Sache vergessen, damit Maggies Hochzeitstag ihr in schöner Erinnerung bleibt. Aber Sie verschwinden jetzt sofort auf der Stelle“, schrie Raffael und griff nach Maggies Hand.

„Komm, Maggie, komm zu mir!“, sagte er mit sanfter Stimme zu seiner Stieftochter. Maggie zitterte am ganzen Leib und reichte Raffael voll Hoffnung ihre Hand.

Da riss der Dämon sein Opfer näher zu sich. Er umschlang mit seinem Arm Maggies Hals und sie konnte sich kaum mehr bewegen. Ihre Augen bekamen einen panischen Blick und sie wurde kreidebleich.

„Maggie kommt mit mir!“, schrie der unerwünschte Gast. Inzwischen blieben immer mehr Tanzpaare stehen, denn der Zwischenfall, den viele ursprünglich als Scherz betrachtet hatten, nahm mit einem Mal eine sichtbar und spürbar dramatische Wendung.

„Maggie fürchtet sich vor einer Brautentführung. Nehmen Sie mich, wenn schon jemand entführt werden soll!“, war plötzlich Marie auf den Beinen und stellte sich neben Raffael.

Sonja und ihr Mann versorgten währenddessen Peter. Er war benommen und seine Nase blutete heftig. Sonjas Mann hatte Peters Kopf nach hinten und eine kalte Mineralwasserflasche als Kühlung in seinen Nacken gelegt. Einige vollgeblutete Taschentücher lagen bereits am Boden.

Marie stellte sich vor die Gestalt und versuchte ihre eigene Angst nicht zu zeigen, weil sie noch eine viel größere in den Augen ihrer Tochter sah.

Wenn es nur um einen idiotischen Brauch geht, dann soll er halt mich irgendwohin entführen. Ich habe nicht so große Angst wie Maggie, wollte Marie ihre Tochter beschützen und dachte noch immer an eine simple Brautentführung.

„Hau ab, du alte Kuh“, knurrte der brutale Schläger drohend. „Ich werde mit Maggie verschwinden und niemand wird mich daran hindern. Niemand! Habt ihr verstanden?“

Die Paare, die nun auf der Tanzfläche standen, waren wie erstarrt, während die umliegenden Gäste an den Tischen noch immer munter plauderten und die Musik weiterspielte. Offenbar hatte diesen Tumult nur eine kleine Gruppe von Leuten mitbekommen.

Die schwarze Gestalt riss Maggie mit sich und wollte soeben mit ihr den Raum verlassen. Da lief Raffael hinterher, fasste nach Maggies Hand und wollte sie mit Gewalt diesem Unhold entreißen und zu sich ziehen.

Irritiert über diese unerwartete Kühnheit, griff der Wüstling nach seinem Messer, das er in einer Schlaufe an der schwarzen Kutte befestigt hatte. In einer blitzschnellen Aktion stach er mit der scharfen Klinge des Messers in Raffaels Bauch und zog es wieder heraus. Blut tropfte von der Messerspitze auf den Parkettboden.

Raffael sackte in sich zusammen und hielt sich mit der Hand die Wunde, während Blut sein weißes Hemd rotfärbte. Er sah mit weit aufgerissenen Augen diesem Geist entgegen, während er auf seine Knie fiel und umkippte.

„Er verblutet, seine Schlagader wurde scheinbar getroffen. Er verblutet!“ schrie Maggie hysterisch. „Wir müssen ihm helfen. Ich muss ihm helfen!“

„Du musst nichts, außer mitkommen!“

„Aber er braucht sofort Hilfe!“, schrie Maggie panisch.

Marie war mit Raffael zu Boden gesunken. Sie zitterte am ganzen Körper und bettete hilflos Raffaels Kopf auf ihren Schoß.

„Bitte, er braucht Hilfe“, schrie Maggie weiter. „Er stirbt!“

„Selbstschuld. Ich habe gesagt, dass ich mich von niemandem hindern lasse.“ Er legte das blutverschmierte Messer an Maggies Hals, sodass die scharfe Klinge ihre Haut berührte. Raffaels Blut lief in einem dünnen Rinnsal an Maggies Hals herunter.

Dann blickte der Geist in die Runde der umherstehenden Tanzpaare. Der Schock war nun allen anzusehen. Es wurde totenstill. Selbst das Geplauder der Nichttänzer und die Musik verstummte.

„Ich gehe jetzt und nehme Maggie mit und jeder, der sich mir in den Weg stellt, ist tot!“ schrie er und riss Maggie mit sich.

Die schwarze Gestalt lief mit der Braut zum Saaleingang und wollte flüchten, überlegte es sich aber dann anders. Durch das gutbesetzte Restaurant zu entkommen, schien er mit einem Mal für keine gute Idee zu halten.

Er zog Maggie daher wieder zur Tanzfläche und ging in kleinen Schritten auf die Terrassentür zu. Das Messer blieb dabei immer an Maggies Hals. Alle Gäste wichen ihm aus. Niemand wagte es, sich dem Phantom in den Weg zu stellen. Jede Heldentat konnte Maggies Tod bedeuten. Das war klar erkennbar.

Marie bekam davon nichts mehr mit. Sie hörte nur mehr Maggies Worte ‘er stirbt’ in ihrem Kopf nachklingen. Geschockt beobachtete sie, wie Raffael kaltschweißig und bleich wurde. Er riss die Augen auf und öffnete seinen Mund, versuchte zu sprechen. Doch die Schmerzen schienen ihn zu hindern.

Marie hielt Raffaels Hand und er drückte sie so fest er konnte.

„Ich liebe dich. Lebe und liebe ...“ brachte er mit großer Anstrengung über seine Lippen, vollenden konnte er seinen Satz nicht mehr.

Er verlor sein Bewusstsein. Seine Hand, die soeben noch Maries Finger fast zerquetscht hätte, verlor jede Kraft und sackte auf den Boden. Marie griff nach ihr, suchte seinen Puls.

Silvia Schneider robbte zu Marie. „Ich habe die Rettung soeben angerufen. Sie werden gleich hier sein und Sonja ist rausgelaufen und fragt, ob draußen im Restaurant vielleicht zufällig ein Arzt unter den Gästen ist.“

„Danke“, nickte Marie, spürte aber im gleichen Moment, dass es vielleicht schon zu spät war.

Raffael hatte sehr viel Blut verloren. Sein Kopf lag regungslos in Maries Schoß und sie strich immer wieder über sein so sehr geliebtes Gesicht, während die Finger der anderen Hand sein Handgelenk hielten.

Das konnte nicht passieren.

Das durfte nicht passieren.

„Verlass mich nicht. Bitte, bleib bei mir. Raffi, bitte halte durch. Ich brauche dich so sehr. Ich liebe dich doch so sehr! Bitte, bitte!“, weinte Marie und hoffte auf ein Wunder.

Doch Raffaels Herz stellte seine Arbeit ein. Maries Finger, die seinen Puls überprüft hatten, spürten plötzlich keine Schläge mehr.

Raffael war tot.

Sie hob seinen Kopf von ihrem Schoß und bettete ihn sanft auf den Boden. Dann küsste sie seine Lippen. „Schlafe, mein Liebling. Schlafe“, freute sie sich im ersten Augenblick darüber, dass er unter seinen Schmerzen nun nicht mehr litt.

Doch im gleichen Augenblick überfiel sie die vernichtende Gewissheit, was das für sie bedeutete.

„Neeeiiin!“ schrie sie mit einem markerschütternden Schrei ihren Schmerz in die Nacht.

Maggie konnte Marie nicht mehr sehen, nur mehr hören. Ihr Herz klopfte vor Angst bis zum Hals, denn sie selbst war inzwischen vom Entführer bis zur Terrassentür gezogen worden.

Kurz darauf verschwand das Phantom mit eiligen Schritten durch die geöffnete Schiebetür im Dunkel der Nacht und riss sein Opfer brutal mit sich.

Der Konzertflügel 1970-1989

Paul Schönherr Junior.

Der kleine, fünfjährige Junge hatte alles. Ein luxuriöses Zuhause, jede Menge Bedienstete, einen parkähnlichen Garten zum Toben, ein Go Kart, mit dem er in der Grünanlage des väterlichen Anwesens herumdüste und sogar einen eigenen Swimming-Pool.

Er hatte wirklich alles. Alles, was ein Fünfjähriger nicht brauchte.

Aber eigentlich hatte er nichts, was ein kleiner Junge brauchen würde.

Eltern.

Es gab sie! Schon! Pauls Mutter, eine wunderschöne, talentierte und erfolgreiche Konzertpianistin war vier Jahre lang ihrem Sohn eine aufopfernde Mutter gewesen. Wenn sie nicht gerade auf einer ihrer zahlreichen Konzertreisen gewesen war.

Doch nach Pauls viertem Geburtstag verließ Konstanze Schönherr ihren Gemahl, um mit dem Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker eine neue Verbindung einzugehen.

Den kleinen Paul wollte sie allerdings nicht aus seiner vertrauten Umgebung reißen. Sie war doch eine gute Mutter. Immerhin hatte er hier alles, was er brauchte. Zwei Kindermädchen, eine Köchin und jede Menge Personal kümmerte sich ausschließlich um Pauls Wohl sowie den Haushalt des riesigen Anwesens.

Natürlich tat es ihr in der Seele weh, ihr Kind nicht mehr regelmäßig sehen zu können. Es war demnach nicht so, dass sie ihren Sohn vergessen hatte. Sie dachte sogar sehr oft an ihn und immer, wenn sie das tat, schickte sie ihm Spielzeug. Als er noch ein kleiner Junge war, den Schnickschnack für die Kleinen und später dann die modernsten und teuersten technischen Errungenschaften. Paul hatte später in der Schule stets alles, was seine Mitschüler nicht hatten. Seine Schulkollegen beneideten ihn.

Außerdem durfte er jedes Jahr im Juli eine ganze Woche bei seiner Mutter in Berlin Urlaub machen. Das war für ihn die schönste Woche des Jahres.

Seinen Vater, einen Großindustriellen, sah er trotzdem noch viel weniger als seine Mutter. Er lebte zwar mit ihm im gemeinsamen Haushalt. Doch der Herr Papa verließ sieben Tage die Woche um sechs Uhr morgens das Haus und kehrte nach 22 Uhr heim.

Paul ging sein Vater nicht ab. Überhaupt nicht!

Im Gegenteil!

Einmal im Jahr gab sein alter Herr im Anwesen der Familie Schönherr ein Wohltätigkeitsdinner zu Ehren der Schönherr-Stiftung. Dieser Hokuspokus ging Paul immer einfach nur schrecklich auf die Nerven.

Wenn Paul Schönherr Senior diesen legendären, unendlich langweiligen Gesellschaftsabend für Geschäftspartner, Politiker und Wirtschaftsbosse organisieren ließ, wurde sein Sohn bereits als Fünfjähriger in einen Smoking gesteckt. Er musste dann wie ein Pinguin an Vaters Seite herumschreiten, um das Haus Schönherr würdig zu ‘repräsentieren’, wie sein Vater dieses steife und unnatürliche Herumstehen nannte.

Paul besaß sogar eine eigene Zofe, die nur damit beschäftigt war, Paul diesen ganz besonderen, erhabenen Blick beizubringen.

Es war beileibe nicht einfach, als Fünfjähriger den Blick möglichst nobel und salbungsvoll durch den Raum schweben zu lassen.

Er hätte doch viel lieber Frösche aus dem Seerosenteich gefangen und sie über den Tisch mit dem Silberbesteck hoppeln lassen. In seiner Fantasie war es ein Heidenspaß, wenn ein kleiner Kermit in den Suppentopf gehüpft und zwischen den Karotten herumgeschwommen wäre. Und dann erst die Gesichter der erlauchten Damen, wenn sich ‘sein’ Frosch am Schöpflöffel festgeklammert hätte, während der Kellner mit den weißen Handschuhen die Teller befüllen wollte. Bei der Vorstellung allein stieg ihm schon ein Kichern hoch. Das wäre wirklich ein Heidenspaß für den kleinen Paul gewesen!

Doch das spielte es nicht!

Nicht im Hause Schönherr.

Einfach nur zu schauen, wie es die Augen eines Fünfjährigen nun einmal tun wollten, nämlich fröhlich und neugierig in die Welt hinaus, das war in diesem Haus nicht angebracht. Herzhaftes Lachen ebenso wenig.

Dabei hätte Paul jedes Mal fast losgebrüllt, wenn einem alten Greis die Perücke verrutschte oder einer lackierten Hofratswitwe der rote Lippenstift auf den Zähnen klebte.

Doch nein, elegant und distinguiert musste er sein Kinn hoch und seine Augenbrauen gerade halten. Ein Glück, dass es im Inneren des Speisesaales nicht regnen konnte. Ansonsten hätte es ihm in die Nasenlöcher hineingeregnet.

Der kleine, verspielte, aber auch sehr gelehrige Paul strahlte folgsam die Würde aus, die sein Vater von ihm zu sehen erwartete.

Solange dieses Theater andauerte und er sich beobachtet fühlte.

In unbeobachteten Momenten allerdings spuckte Paulchen regelmäßig in die Sektgläser der schrulligen Grauköpfe, um wenigstens etwas Spaß zu haben. Wenn er schon wie ein Mondkalb, neben seinem Vater hofhaltend, sich stundenlang uninteressantes Gequatsche über Börsenkurse und ähnlich langweiliges Zeug anhören musste. Gottlob fand das Theater nur einmal im Jahr statt und dieser gesellschaftliche Höhepunkt ging auch irgendwann zu Ende.

Ansonsten sah Paul seinen Papa sowieso nur zu Weihnachten, Ostern und zu seinem Geburtstag. Obwohl. Da sah er ihn auch nicht. Nur sein Geschenk, das mit den Jahren immer wertvoller geworden war. Zu seinem zwanzigsten Geburtstag stand ein roter Ferrari vor der Tür. Das hatte was!

Ja, Paul hatte wirklich alles.

Er wuchs mit dem sprichwörtlichen, goldenen Löffel im Mund auf und er war eigentlich auch nie allein. Umgeben von Haus- und Gartenpersonal und Olga, der liebevollen, molligen Köchin, wurden ihm alle Wünsche immer sofort erfüllt.

Geld spielte keine Rolle, daher hatte der Bub bereits mit zehn Jahren seinen eigenen Swimming-Pool, der ihm nur deshalb allein gehörte, weil niemand da war, der mit ihm hätte schwimmen können.

Und er hatte im Ostflügel des Anwesens seinen Bösendorfer Konzertflügel. Dieses edle, in schwarzem Lack strahlende Musikinstrument war zwar ursprünglich das Klavier seiner Mutter gewesen, doch seit sie Mann und Kind verlassen hatte, war es sein Flügel.

Früher allerdings, als Constanze noch darauf gespielt hatte, war Paul immer im gleichen Raum gewesen, wenn sie für ihre Auftritte geübt hatte. Stundenlang war Paul neben ihr auf einem Stuhl gesessen und hatte ihre Finger beobachtet, wie sie über die Tasten getanzt waren. Er liebte die Klänge, die seine Mutter diesem Instrument entlocken konnte.

Als sich nach ihrem Auszug eine schmerzhafte Stille im Haus breitgemacht hatte, hatte es den vierjährigen Paul wie magnetisch zu diesem Instrument hingezogen. Vielleicht, um seiner Mama wenigstens durch die Musik nahe sein zu können. Pauls Füße waren noch gar nicht zu den Pedalen gekommen, als der kleine Kerl aus der Erinnerung die Musikstücke nachspielte, die er einst von seiner Mutter gehört hatte.

Sein Talent war beeindruckend. Lange vor seiner Einschulung und noch bevor er eine einzige Musiknote kannte, spielte er besser als jeder seiner späteren Musiklehrer in der Schule.

Er besaß ein tiefes Musikverständnis, das aus einer kindlichen Natürlichkeit erwachsen war. Wenn er sich in klassischen Sonaten oder Jazzimprovisationen vertiefte, wanderten seine kleinen Finger über die Tasten, als gäbe es nichts Einfacheres als Klavierspielen.

Für ihn war es aber auch tatsächlich so.

Der Junge saß stundenlang am Klavier und verschmolz förmlich mit diesem Instrument. Damit kompensierte er seine Einsamkeit.

Armes, reiches Kind, dachte Olga des Öfteren. Sie versuchte für den Jungen da zu sein, konnte ihm aber die fehlende Mutter nicht ersetzen. Das wusste sie. Trotzdem verbrachte sie mehr Zeit mit ihm, als es ihr Arbeitsvertrag vorgeschrieben hatte.

Sie kochte für Paul nicht Meeresfrüchte oder Steaks, wie es Pauls Vater erwartet hätte. Nein, sie verwöhnte den Buben mit Powidltascherln, Eiernudeln, Gulasch und einfacher Hausmannskost. Ihm schmeckte es und Olga spürte, dass der Junge diese Art von Bodenständigkeit brauchte, denn eine andere bekam er sowieso nicht.

Sie machte sich um Pauls seelische Entwicklung ernsthafte Sorgen. Olga befürchtete, dass sich der sensible Bub in seinem wohlhabenden, zugleich aber kalten Umfeld zu einem arroganten Dandy entwickeln könnte, wenn er nicht auch etwas Einfachheit erhielt.

Als Mutter eines lebhaften Buben wusste Olga, dass es nicht gesund war, wenn der einzige Spielgefährte eines Kindes ein edles, aber doch kaltes Klavier war.

Trotzdem war auch sie immer ganz entzückt, wenn Paul musizierte. Das ganze Haus vibrierte, wenn er am Flügel saß. Der Junge hatte einen derart ungewöhnlich natürlichen Zugang zur Musik, besaß eine Selbstverständnis, was Harmonie und Rhythmik anlangte, dass es Olga in weiterer Folge regelrecht schmerzte, weil der Bursche nicht Musik studieren wollte.

„Du bist so talentiert und hast so viel Freude an Musik. Warum willst du nicht Musik studieren? Dein Vater lässt dir doch freie Hand“, konnte Olga die Entscheidung des 14-Jährigen einfach nicht verstehen.

„Der Musikunterricht ist so kompliziert aufgebaut, da kommt doch jedem Musikstudenten die Freude abhanden,“ erklärte Paul seine Abneigung. Er konnte sich mit der Musiktheorie, wie sie in der Schule gelehrt wurde, einfach nicht anfreunden.

„Wie meinst du das?“, verstand Olga nicht.

„Du spielst doch so hervorragend Klavier. Wieso behauptest du, dass der Musikunterricht kompliziert ist?“

„Weil Musik an sich simpel ist. Ich habe es mir als Kind selbst beigebracht. Und das ist doch der beste Beweis, wie einfach Musik zu verstehen ist.“

„Mein Junge, ich glaube, du hast das Talent deiner Mutter geerbt. Deshalb hast du dir so leichtgetan.“

„Das kann schon sein. Aber, Olga, soll ich dir was sagen? In der Schule hätte ich mir vielleicht genauso schwergetan wie meine Mitschüler. Die sind alle genervt von den Tonleitern. Dort werden Kinder mit Doppelkreuzen und B´s sowie dem Quinten-Zirkel gequält. Wir mussten Tonleitern auswendiglernen, doch kein Lehrer hat uns die Grundlagen der Musik so einfach erklärt, wie Musik aber nun einmal ist!“

„Musik ist doch eine Wissenschaft und daher auch kompliziert. Ich gestehe, ich verstehe von Musik auch überhaupt nichts!“

„Weil man wohl auch dir in der Schule die Freude an Musik durch komplizierten Lehrstoff genommen hat. Dabei ist das so schade!“

„Nun, ich selbst war nie besonders gut in der Schule. Aber unsere Klassenbesten, die waren meist gute Musiker!“

„Siehst du, und genau das meine ich: Heute sind es die Klassenbesten, die Musiker werden. Früher, im alten Griechenland, konnte aber jeder Zwölfjährige Instrumente spielen. Es gab noch keine Noten und man nimmt an, dass Musik eher gelehrt wurde als Lesen und Schreiben. Damals fiel Kindern das Erlernen eines Instrumentes leicht und das gemeinsame Musizieren machte Spaß. Doch die Lehrbücher, die heute Musikwissen vermitteln, empfinde ich als Folter. Mich wundert nicht, warum so wenige Kinder ein Musikinstrument lernen. Ich kann von Glück reden, dass ich die Einfachheit der Musik bereits als Kind gespürt habe.“

„Aber die Tonleitern muss man halt alle auswendig lernen.“

„Nein, Olga. Auch du kannst eine Tonleiter spielen. Und nicht nur eine. Du kannst jede Dur- oder Molltonleiter spielen.“

„Nein, Paul, das kann ich nicht. Ich kenne ja nicht einmal die Notennamen.“

„Gut, Olga, dann setze dich mal her. Ich werde dir beweisen, dass du jede Tonleiter spielen kannst.“ Olga blieb zweifelnd stehen, was Paul nicht am Weiterreden hinderte.

„Es reicht völlig aus, zu wissen, dass jede Taste am Klavier eine ‘Eins’ ist und vergiss das Wort ‘Halbtonschritt’, falls du das auch in der Schule gelernt hast.“

„Ja, das habe ich. Doch ich habe es nie verstanden.“

„Klar, dass du das nicht verstanden hast. Immerhin, wenn ich gehe, mache ich einen Schritt. Ich kann keinen halben Schritt machen. Genauso sinnlos ist ein halber Schritt am Klavier. Also radiere das Wort ‘Halbtonschritt‘ aus und verinnerliche: Jeder Schritt ist ein Schritt, also: Eins!“

Olga nickte und Paul setzte fort.

„Wenn du eine Durtonleiter spielen willst, musst du dir nur diese simple Abfolge merken: 2-2-1-2-2-2-1. Mit diesem einfachen Muster kannst du jede Dur-Tonleiter spielen.“

„Und die schwarzen Tasten?“

„Vergiss die schwarzen Tasten! Jede Taste ist ‘Eins’.“

„Olga, setz dich her.“ Er zeigte auf den Klavierhocker und Olga setzte sich. Man merkte ihr an, dass sie der Flügel einschüchterte.

„So, und nun stell dir vor, das Klavier hätte lauter blaue Tasten. Es gibt keine weißen, keine schwarzen, keine kurzen und keine langen Tasten. Alle Tasten sind völlig gleich! Alle sind blau. Oder rot. Oder welche Farbe dir halt gefällt.“

Paul legte Olga einen schmalen Papierstreifen auf die Tasten, sodass nun alle Tasten zumindest gleich lang aussahen.

„Beginne jetzt in dieser Reihenfolge die Tasten zu drücken: 2-2-1-2-2-2-1.“

„Bei welcher Taste soll ich beginnen?“

„Egal!“

Olga griff auf die linke der zwei schwarzen Tasten, begann zu zählen und drückte die Tasten: 2-2-1-2-2-2-1. Es klang gut. Harmonisch.

„Gratuliere, Olga: Du hast soeben die Cis-Dur-Tonleiter gespielt, ohne ein Musikstudium zu besitzen!“

„Probiere es mit einer anderen Taste!“

Olga drückte die nächste Taste, die weiß war und sich genau zwischen den beiden schwarzen befand. Dann begann sie abermals 2-2-1-2-2-2-1 zu zählen und die Tasten anzuschlagen. Es klang ein wenig höher, doch eigentlich genauso schön und ebenso harmonisch wie zuvor die Cis-Dur-Tonleiter.“

„Jetzt hast du die D-Dur-Tonleiter gespielt.“

Olga blickte verwundert. „So einfach ist das?“

„Ja, so einfach ist das! Doch im Musikunterricht wurden wir gezwungen, die Notennamen dieser Dur-Tonleiter auswendig zu lernen und uns wurde nicht die dahinter verborgene Logik erklärt!“

„Wozu braucht man überhaupt eine Tonleiter?“

„Um aus den Noten dieser Tonleiter, nämlich den Tasten, die du soeben gedrückt hast, eine Melodie spielen zu können. Du hast vorhin Dur-Tonleitern gespielt und viele Musikstücke sind in Dur geschrieben. Dur klingt fröhlich und beschwingt. Doch es gibt auch eine Moll-Tonleiter!“

„Daran kann ich mich erinnern“, nickte Olga. „Aber klingt Moll nicht sehr traurig und schwermütig?“

„Moll klingt weich und wunderschön!“, antwortete Paul. „Für die Moll-Tonleiter ist das Muster: 2-1-2-2-1-2-2. Spiele, Olga! Du wirst sehen, du kannst auch eine Moll-Tonleiter spielen.“

Olga begann mit der ersten der drei schwarzen Tasten und zählte: 2-1-2-2-1-2-2.

„Das klingt jetzt ganz anders“, stellte sie fest.

„Aber schön – oder?“

„Ja, melancholisch, aber schön“, bestätigte sie.

„Und das war soeben eine Fis-Moll-Tonleiter.“

„Dabei weiß ich gar nicht, was das ist!“, lachte sie.

„Und genau das meine ich: Du kannst es aber spielen!“

„Und was ist ein Akkord?“, war Olga nun plötzlich total wissensdurstig und überwältigt, dass sie plötzlich alle Dur- und Molltonleitern spielen konnte. Auch wenn sie gar nicht wusste, wozu sie das jemals brauchen würde. Trotzdem. Das Gefühl, dass sie soeben dem Klavier brauchbare Töne entlockt hatte, war für sie überwältigend.

„Ein Akkord ist eine Übereinstimmung, wie man drei oder mehrere Töne zusammenspielt, um einen harmonischen Klang zu erzeugen. Der bekannteste ist der Dreiklang.“

„Ah!“, war zu erkennen, dass Olga damit nichts anfangen konnte.

„Dazu musst du dir nur eines merken: Beim Dur-Akkord zählst du: 4-3 und beim Moll-Akkord zählst du: 3-4.“

Olga sah ihn groß an und Paul forderte sie auf.

„Drücke eine Taste.“ Olga schlug auf irgendeine Taste. „Nun zähle vier Schritte höher und drücke.“ Olga drückte. „Und nun zähle drei Schritte höher und drücke abermals.“ Sie schlug auch diese Taste an.

„Hast du gehört, wie schön sich das angehört hat?“

„Ja!“

„Drücke nun die drei Tasten gemeinsam!“

Olga zählte abermals: 4-3 und spielte alle drei Tasten gemeinsam.

„Oh, das klingt aber phänomenal!“

„Siehst du: Du hast soeben einen Dur-Akkord gespielt. Und wenn du aus diesem Dur-Akkord einen Moll-Akkord kreieren möchtest, brauchst du lediglich die mittlere der drei Tasten um eins nach links bewegen, denn der Moll-Akkord ist 3-4. Die erste und die dritte Taste bleiben demnach gleich.“

Olga nahm den Finger, der vorhin den mittleren der drei Töne gespielt hatte und setzte ihn um eine Taste nach links. Schon erklang der Dreiklang melancholischer und schwermütiger, aber herrlich.

Ihre Augen strahlten.

„Siehst du, du kannst jetzt nicht nur alle Dur- und Moll-Tonleitern spielen, sondern auch alle Dur- und Moll-Akkorde. Und das hast du in einer Viertelstunde gelernt. Dafür brauchen arme Musikstudenten mit dem Auswendiglernen Wochen, Monate oder Jahre, wenn sie nicht zuvor den Hut draufschmeißen.“

„Das ist wirklich fantastisch!“, war Olga beeindruckt.

Da kam ihr eine Idee. „Kannst du das vielleicht auch meinem Petrj beibringen?“ Ihr Sohn wollte so gerne Klavierspielen lernen und sie waren gerade auf der Suche nach einem guten Lehrer. Wenn die beiden Buben Zeit miteinander verbringen würden, wäre das sicherlich für beide gut.

Petrj lernte Klavierspielen und Paul hätte einen gleichaltrigen Spielkameraden.

Und so geschah es, dass bereits in der Woche drauf Paul Olgas Sohn Klavierunterricht gab.

Petrj spielte bald wohlklingende Harmonien und konnte Lieder begleiten. Voll Enthusiasmus erzählte er seiner Mama von seinem Klavierunterricht.

„Paul ist fantastisch!“, strahlte er nach seiner ersten Musikstunde.

„Also zahlt es sich aus, dass du bei ihm lernst? Ich war mir nämlich nicht sicher, ob nicht ein ‘richtiger’ Klavierlehrer besser für dich wäre.“

„Aber Paul ist doch ein richtiger Klavierlehrer! Er erklärt halt nur nebenbei auch noch, wie simpel man sich die nur scheinbar so komplizierten Regeln merken kann und dass Musik wirklich einfach ist. Er ist der erste Mensch, der mir Verständnis für Musik vermittelt und das ist wunderbar!“

„Nun, das mit den Tonleitern und Akkorden hat er sogar mir schon beigebracht, und das, obwohl ich gar nicht gewusst habe, was eine Tonleiter ist“, lachte Olga.

„Das mit den Tonleitern und Akkorden ist wirklich unglaublich. Aber er hat mir zusätzlich eine Information über die Notennamen gegeben, die mich genauso beeindruckt hat, weil mir das bisher immer ein wenig suspekt gewesen ist.“

„Was denn?“ wurde Olga neugierig, die zwar keine Notennamen kannte, aber merkte, wie gern ihr Sohn davon erzählen wollte.

„Wir haben in der Schule die C-Dur-Tonleiter so gelernt: C-D-E-F-G-A-H-C. Das habe ich einfach nur auswendig gelernt, aber nicht verstanden. Doch heute hat mir Paul erklärt, dass das ‘H’ eigentlich immer schon ein ‘B’ gewesen ist und die Reihenfolge der Notennamen daher einen Sinn ergibt – es ist einfach nur das Alphabet!“

„Aber wenn das ‘H’ immer schon ein ‘B’ war, warum ist es dann jetzt ein ‘H’?“

„Das war ein Missverständnis, das seinen Ursprung in grauer Urzeit hatte, als die Noten mit der Hand geschrieben worden sind. Das ‘B’ als Kleinbuchstabe ist scheinbar irgendwann einmal schlampig geschrieben worden und das Bäuchlein wurde unten nicht geschlossen. Und schon war das ‘b’ zum ‘h‘ geworden.“

„Weil das ‘h’ genauso aussieht wie das ‘b’, aber unten offen ist!“ verstand nun Olga. „Das ist wirklich der Grund?“

„Ja, es gibt keinen anderen und als Beweis hat mir Paul erzählt, dass auf der ganzen Welt das ‘B’ als ‘B’ bezeichnet wird. Nur im deutschsprachigen Raum bleibt man beim ‘H’.“

„Das heißt, die Musiknoten werden gar nicht auf der ganzen Welt gleich genannt?“

„Stimmt! In Amerika und überall in der Welt kennt man den Notennamen ‘H’ gar nicht.“

„Aber wenn das nur ein Irrtum war und die ganze Welt die Noten anders schreibt, wieso gleicht sich dann der deutschsprachige Raum nicht an?“

„Das ist einer der Gründe, warum Paul nicht Musik studieren will“, antwortete Petrj.

„Er wirkt irgendwie frustriert, habe ich das Gefühl“, mutmaßte Olga.

„Ja, das scheint er zu sein!“, wurde Petrj ernst.

„Paul hat mir einmal gesagt, dass er nicht verstehen kann, warum man etwas so Wunderschönes wie die Musik, etwas so Erfüllendes und Menschenverbindendes, so kompliziert machen kann, dass nur eine ganz kleine Anzahl von Menschen Zugang dazu findet“, erklärte Olga Pauls Beweggründe.

„Vor allem, wo es doch auch anders ginge. Du, Mama und ich, wir haben erlebt, wie einfach Musik zu verstehen ist!“

„Ich weiß, Paul würde Musik gern für mehr Menschen verständlich machen“, wusste Olga.

„Ja, das ist wirklich sein Wunsch.“

„Vielleicht kann er ja diesen Traum irgendwann einmal verwirklichen. Ich glaube, es macht ihm viel Spaß, dich zu unterrichten.“

„Stimmt! Und mir macht das Lernen bei ihm auch sehr viel Freude. Seit ich bei ihm Klavierstunden nehme, ist Musizieren ein Vergnügen.“

„Das freut mich, dass ihr beide so viel Spaß gemeinsam habt.“

„Wieso weiß das Paul eigentlich alles?“, wollte Petrj nun wissen.

„Ich glaube, er liest sehr viel und das mit dem deutschen ‘H‘ und dem internationalen ‘B’ hat er sicher von seiner Mutter gehört. Sie ist ja in der ganzen Welt als Konzertpianistin unterwegs.“

„Mit Sicherheit weiß er es dann von seiner Mutter!“, war für Petrj klar. Dann wurde er ernst. „Kann es sein, dass sich seine außergewöhnliche Liebe zur Musik aufgrund seiner Einsamkeit entwickelt hat? Es muss schlimm sein, seine Mutter nie sehen zu können.“

„Das ist schon möglich“, bestätigte Olga „Er ist wirklich sehr viel allein.“

„Was hältst du davon, wenn ich in der Schule nachfrage, ob andere Schulkollegen ebenfalls Klavierunterricht bei ihm nehmen wollen?“

„Das wäre eine gute Idee!“, war Olga begeistert. „Paul braucht gleichaltrige Freunde!“

„Und ich finde, das was er über Musik weiß, sollte tatsächlich weitergetragen werden.“

„Da hast du wirklich recht, mein Junge!“, strich Olga ihrem Sohn über das Haar.

So wurde aus dem 14-jährigen Paul der Klavierlehrer seiner Mitschüler.

Und Mitschülerinnen.

Vor allem die Mädchen kamen gerne zum Unterricht. Sehr gerne.

Je älter, je größer, je hübscher der Junge wurde, umso lieber kamen sie.

Und was wurde aus Paul für ein hübscher Bursche! In weiterer Folge ein gutaussehender Mann. Sein dunkles Haar und seine strahlend blauen Augen übten eine ungeheure Faszination aus und Paul wusste um seine Ausstrahlung.

Er, der jahrelang einsam und ohne gleichaltrige Freunde hinter den Mauern des elterlichen Anwesens vor sich hingelebt hatte, genoss die ungewohnte und erfrischende Aufmerksamkeit, die er bei seinen Mitschülerinnen erzeugte.

Nachdem die zwei Jahre ältere Linda den 16-jährigen Jungmann nach einer besonders intensiven Übungsstunde am Klavier in die Geheimnisse der Sexualität eingeweiht hatte, schob sich das Klavierspiel in Pauls Prioritätenliste augenblicklich auf Platz zwei. Nun hatte er eine neue Passion: Schöne Frauen.

Anfangs waren es situationsbezogen die Mitschülerinnen, als Student erwachsene Frauen. Und was für Frauen er haben konnte! Die schönsten Ladys warfen sich ihm förmlich an den Hals. Er hatte nämlich was zu bieten!

Das herrschaftliche Anwesen seines Vaters war bald die perfekte Spielwiese seiner zahlreichen Liebschaften. Sein roter Ferrari unterstützte Pauls unwiderstehliche Wirkung auf einzigartige Weise. Pauls Attraktivität, gepaart mit den ihm zur Verfügung stehenden Statussymbolen und seine Erziehung, die Großteils darauf ausgerichtet war, zu wirken, zu scheinen, zu strahlen. All das machte aus Paul Schönherr das, was er am Ende seines Studiums war: Einen schönen, reichen jungen Mann, der alles hatte.

Alles.

Bis das erste Mädchen schwanger wurde. Paul Schönherr Senior bezahlte daraufhin zwar die Abtreibung, warf aber seinen Sohn aus dem Schönherr-Anwesen. Unsittliches Verhalten in seinem noblen Zuhause? Das war dem Herrn Papa ein Dorn im aristokratischen Auge.

Gut, er hatte Paul nicht sehr weit geworfen und sein sozialer Status war davon in keiner Weise beeinträchtigt worden, denn Paul bezog eine Dachterrassenwohnung am Stadtrand von Wien. Dieses Luxus-Domizil war äußerst großzügig geschnitten und Papa übernahm die Haushaltskosten. Paul bekam zusätzlich ein feudales Taschengeld für das tägliche Leben und eine Visa Card, die er grenzenlos benutzen konnte. So ließ es sich weiterhin recht gut leben.

Bis Marion schwanger wurde und der Herr Papa auch dieses Mal bezahlte, wenn auch wesentlich zorniger als nach der ersten Abtreibung.

Paul verstand gar nicht wieso!

Sollte er vielleicht jedes Mädchen gleich heiraten? Und so ein Leben führen wie seine Eltern? Bei dem Vorbild? Nein danke! Aber ganz sicher nicht!

Paul liebte sein Leben als Playboy, ließ sich vom Partyleben mitreißen und nahm sich, was sich ihm bot.

Doch sein Vater hatte an seiner Lebensweise etwas auszusetzen. Dabei hat der alte Herr doch gar keine Ahnung, was Leben überhaupt bedeutet, wusste Paul. Er arbeitete doch nur. Sein Leben lang.

Sollte Paul tatsächlich ein genauso farbloser Bürohengst werden?

Dazu hatte er wirklich keine Lust.

Offenbar aber schwebte genau das seinem Papa vor. Der alte Herr rezitierte geschwollen von ‘Etwas aus dem Leben machen’ und ‘Verantwortung übernehmen’ und stellte irgendwelche Ultimaten, die Paul vorerst gar nicht ernst genommen hatte. Sein alter Herr hörte sich gerne reden und faselte öfter mal irgendetwas daher, wenn der Tag lang war. Paul war es gewohnt, gar nicht mehr hinzuhören.

Als sein Papa jedoch seine Visa Card sperren ließ, den Ferrari verkaufen und in weiterer Folge seine Wohnung vermieten wollte, überdachte Paul einen Kurswechsel.

Ungern, aber doch, suchte er sich eine Arbeitsstelle und landete mit 24 Jahren in der Agentur Berg, wo er Marie kennenlernte und durch ihre Hilfe zum Schauspieler wurde.

Mit einer kurzen Bürounterbrechung führte er also tatsächlich bald wieder das Leben, das er gewohnt war und wie es für ihn auch sein sollte. Ein Leben im Scheinwerferlicht. Ein Leben, um das ihn alle beneideten.

Paul Schönherr Junior.

Der größer gewordene Junge hatte wieder alles, sogar einen klingenden Künstlernamen.

Er war nun Roy Polaris, der Filmstar. Schön. Begehrt. Erfolgreich.

Blinde Kuh Juni 2016

17. Juni 2016, 21:17 Uhr

Paul Schönherr steuerte auf die Terrasse des Restaurants zu, als er die junge Frau und den jungen Mann engumschlungen aus dem dicht bewaldeten Park kommen sah.

Die beiden kicherten und wirkten ausgesprochen vertraut.

Blinde Kuh haben die beiden sicherlich nicht im Gebüsch gespielt, war Paul augenblicklich klar.

War diese junge Frau nun die Braut oder die andere Tochter von Marie?

Er verwarf diesen Gedanken gleich wieder, weil es doch gar nicht die Braut sein konnte. Die junge Maid, die soeben kichernd aus dem Walde kam, trug ein blaues Kleid, wohingegen die Braut doch ein weißes Hochzeitskleid angehabt hatte.

Außerdem hätte es die Braut doch gar nicht nötig, sich mitten in der Nacht im Freien herumzutreiben. Sie hatte doch die Hochzeitsnacht vor sich.

So jedenfalls sollte es sein.

Die beiden hier hatten offenbar ihren Spaß bereits gehabt.

So jedenfalls wirkte es, wenn er deren alberndes Gekicher richtig deutete.

Er konnte es verstehen. Er wollte es verstehen.

Auch, wenn es bei ihm schon so lange her war, doch früher, da hatte er auch viel Spaß gehabt.

Neid sollte er daher nicht empfinden, denn ein jedes hatte seine Zeit und seine war nun einmal vorüber.

Obwohl, wenn er die beiden ansah, krümmte sich etwas in ihm.

Eine Verletzung. Ein Schmerz.

Der Tag der Tage Dezember 2015

Das war der ultimative Tag der Tage gewesen.

Zuerst war Paul von Gloria, der Beißzange, gezwungen worden, Marie aufzusuchen. Seine Angetraute hatte einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass das keine gute Idee war.

Doch nein, sie hatte darauf bestanden und wenn Gloria auf etwas bestand, dann machte man es irgendwann einfach. Es war so deprimierend, mit diesem weiblichen Drachen verheiratet, und gleichzeitig von dieser Frau so abhängig zu sein.

Aber gut, es war so. Wie man sich bettet, so liegt man. Er lag eben auf einem Nagelbrett.

Also hatte er sich in Schale geworfen und war zu Marie gepilgert. Er hatte zwar in den vergangenen Jahren überhaupt keine Rollen mehr bekommen und seine Alkoholexzesse waren leider auch weithin bekannt. Es war demnach nicht zu erwarten, dass Marie den größten Säufer Wiens, der sich beim Vorsprechen keine zwei Sätze mehr merken konnte, unbedingt unter Vertrag nehmen würde wollen. Schon gar nicht wegen der blöden Geschichte vor vielen, vielen Jahren.

Doch Gloria hatte gemeint, wenn ihm jemand wieder eine gute Rolle beschaffen könnte, dann nur Marie. Weil sie ihn schon einmal zum Star gemacht hatte.

Ja. Im vorigen Jahrhundert!

Aber gut, er hielt Hof.

Tatsächlich nur kurz, denn Marie hatte leider ein besseres Gedächtnis, als es für eine gemeinsame Zusammenarbeit zuträglich gewesen wäre. Und etwas nachtragend war sie auch.

Kurzum: Sie schmiss ihn raus.

Mit Lena, der hübschen Brünetten in Maries Vorraum hat er beim Rausgehen noch ein wenig geflirtet, doch als Marie dazukam, war sie derart in Saft gegangen, dass er wirklich nur mehr rasch und unauffällig verduftet war.

Obwohl, das mit dem ‘unauffällig’, war auch so eine Sache, denn kaum, als er das Haustor verlassen hatte, war eine Oma mit Lockenwickler im Haar herbeigestürmt und hatte gekreischt: „Roy Polaris! Sind Sie es wirklich?“

Geschmeichelt hatte er genickt und schon einen Stift in Händen gehabt, um ein Autogramm zu schreiben. Und noch eins. Und noch eins.

Innerhalb weniger Minuten hatte sich eine wahre Menschentraube voll autogrammsüchtiger Damen um ihn geschart und er konnte das unglückselige Wiedersehen mit Marie gleich wieder vergessen.

In diesem Moment war ein junger Mann auf ihn zugekommen.

„Grüß Gott!“, hatte der gegrüßt. „Roy Polaris, habe ich recht?“

„Ja, stimmt. Der große Roy Polaris steht in voller Pracht vor Ihnen!“ hatte er schlagfertig erwidert, wohlwissend, dass er beides nicht mehr war. Prachtvoll und groß, nämlich.

Er war erst zwei Tage zuvor aus einer Entzugsklinik entlassen worden. Von seiner ambitionierten Gemahlin war er zu einem Alkoholentzug und einer Gewichtsabnahme von zwanzig Kilo verdonnert worden. Jetzt hing seine Haut ein wenig und er sah auch so nicht mehr wirklich knackig aus.

Trotzdem gab er weiterhin den großen Star. Es war nun einmal seine Rolle. Die Rolle seines Lebens! Und die spielte er einfach weiter.

„Wollen Sie vielleicht auch ein Autogramm?“, hatte Paul daher den jungen Mann gefragt, obwohl er sich über ein ‘ja’ gewundert hätte, denn Männer gehörten normalerweise nicht zu seinen Fans.

„Oh, danke, nein. Ich wollte Sie nur grüßen und Ihnen viel Glück wünschen.“

„Danke“, war automatisch aus Pauls Mund gekommen, während er beobachtet hatte, wie der nette Herr in das Haus, aus dem er selbst soeben gekommen war, eintrat.

Ist er auch ein Künstler und besucht Marie in ihrem Büro? Oder wohnt er in diesem Haus? Schon möglich, spekulierte Paul. Der junge Mann hatte nämlich die Einkaufstüte einer Bäckerei bei sich getragen.

Paul war jedoch nicht mehr weiter zum Nachdenken gekommen, hatte stattdessen eifrig Autogramme geschrieben und sich, als die letzte Dame mit einem glücklichen Lächeln verschwunden war, in seinen Maserati gesetzt, um heimzufahren.

Wie befürchtet hatte Gloria sofort wissen wollen, wie es gelaufen war.

Die Gute hatte nur einen Gedanken im Kopf gehabt: Sie wollte an der Seite ihres berühmten Gemahls in der Schickeria glänzen. Seine diesbezüglich abhandengekommenen Ambitionen hatten Gloria in eine unerträgliche Kratzbürstigkeit getrieben, die ihn regelmäßig in die gut ausgestattete Bar drängte. Nur mit einem gefüllten Glas in der Hand war ihre keifende Admiralsstimme auszuhalten.

Nachdem er seiner Gloria also mitgeteilt hatte, dass Marie nicht gewillt war, Paul wieder unter Vertrag zu nehmen und er im gesamten deutschsprachigen Raum sowieso alle Manager vergrämt hatte, war sie fuchsteufelswild geworden.

Ursprünglich hatte er den zu erwartenden Redeschwall mit zugeklappten Ohren an sich vorbeirauschen lassen wollen. Doch plötzlich war Georg, der Hausdiener neben ihm gestanden und hatte die Auto- und Wohnungsschlüssel verlangt und ihm stattdessen einen kleinen Koffer in die Hand gedrückt.

Gloria hatte ihn tatsächlich vor die Tür gesetzt.

Das war er also.

Der absolute Tiefpunkt in seinem Leben, denn er hatte keine Ahnung, wohin er nun gehen sollte. Er hatte noch einige hundert Euro einstecken, fiel ihm ein. Er ging nämlich nie ohne etwas Geld außer Haus. Für den Fall, dass er eine tolle Frau kennenlernte, musste er doch liquid genug sein, um eine großzügige Einladung aussprechen zu können. Selbstverständlich nicht in einem Burgerladen. Unter einem Zweihaubenlokal ging bei Paul gar nichts.

Er öffnete seine Brieftasche und zählte 500 Euro.

Und seine Bankomatkarte hatte er auch noch. Rasch ging er zum Geldautomaten an der nächsten Straßenecke und freute sich, als er das Tageslimit von 400 Euro beheben konnte. Die dumme Kuh hat mir zwar die Kreditkarte weggenommen, aber die Bankomatkarte vergessen, freute er sich wie ein kleines Kind über einen Stromausfall, wenn es Fernsehverbot bekommen hatte.

Nun, mit ganz leeren Händen stand er demnach nicht da.

Aber fast. Denn wenn diese 900 Euro aufgebraucht waren? Was dann?

Sein Resümee fiel nicht gerade berauschend aus. Er hatte keine Wohnung, kein Auto, keine Ersparnisse und vor allem hatte er kein Einkommen. Er hatte in Glorias Villa von ihrem Geld gelebt und war mit ihren Autos gefahren. Ihm hatte nichts gehört.

Seine Ersparnisse aus den drei Vorehen hatten ihm seine verflossenen Exfrauen abgeknöpft. Oder viel mehr das, was davon noch übriggewesen war, denn ein wirklich sparsames Leben hatte er nie geführt.

Wozu auch? Er hatte immer Geld gehabt und das Leben war stets gut zu ihm gewesen. Zumindest in finanzieller Hinsicht.

‘Spare in der Zeit, dann hast du in der Not’, dieser Spruch hatte doch bloß für andere Leute gegolten. Für die Minderprivilegierten aus einer anderen gesellschaftlichen Schicht, zu der er nie gehören würde. Das war in seinem Universum stets eine fixe Konstante gewesen.

Konnte es sein, dass er sich geirrt hatte?

Der Ehevertrag, den Gloria vor der Hochzeit abgeschlossen hatte, würde ihn im Falle einer Scheidung mit leeren Händen dastehen lassen. Und das Wort ‘Scheidung’ hatte er aus Glorias Mund vorbeischwirren gehört, als er sich ihre Gardinenpredigt wegsaufen hatte wollen.

Was also tun?

Er war ja eigentlich auch ein Millionenerbe.

Doch um nichts in der Welt würde er jemals wieder über seines Vaters Schwelle treten. Er hatte sich nicht um seinen Sohn gekümmert, als er noch ein Kind war, ihn hatte seine Karriere nicht interessiert und nun würde Paul ganz sicher nicht vor ihm zu Kreuze kriechen. So weit war er nicht gesunken.

Und so tief würde er auch nie sinken, soviel war klar!

Er ging die Straße entlang und blieb, ohne zu wissen warum, bei einer Bushaltestelle stehen. Zehn Minuten später kam ein Bus und er stieg einfach ein. Er hatte keine Ahnung, wohin die Fahrt gehen würde, doch das war auch egal. Er hatte sowieso keinen Plan.

Der Bus hatte in der Nähe des Wiener Westbahnhofs seine Endstation und er stieg aus. Aus einiger Entfernung sah er ein Viersternehotel. Er wusste, dass die Quartierfrage vorerst einmal höchste Priorität hatte.

Deshalb betrat er das Hotel, obwohl es nicht exakt seinem Niveau entsprach. Immerhin war er Fünfsternehotels gewohnt. Doch ihm war schon klar, dass er vielleicht etwas wirtschaftlicher denken sollte.

Bevor er sich einen Zimmerschlüssel für eine Juniorsuite geben ließ, fragte er zur Sicherheit nach dem Zimmerpreis. Eine derart peinliche Frage wäre ihm früher nie über die Lippen gekommen. Doch er hatte auch noch nie mit 900 Euro in der Tasche ein neues Leben beginnen müssen und er zeigte durch diese Frage eine außergewöhnliche Anpassungsfähigkeit.

„Die Juniorsuite mit Dachterrasse kostet 350 Euro die Nacht, mit kleinem Balkon 250 Euro.“ Paul schluckte. Nach drei Tagen wäre er somit ...

Er wollte an dieses schlimme Wort ‘obdachlos’ nicht einmal denken.

Stattdessen arbeitete er weiterhin an seiner Anpassungsfähigkeit.

„Was kostet ein Standardzimmer ohne Balkon?“

„150 Euro für die Hofseite und ...“

Die engagierte Empfangsdame wollte soeben weitere Zimmervarianten anbieten, als Paul das Hotel schon wieder fluchtartig verlassen hatte.

Selbst wenn er das billigste Zimmer nehmen würde, läge er in weniger als einer Woche als Obdachloser auf der Straße. Und da war dieses böse Wort wieder, das in ihm das nackte Grauen auslöste.

Wenn Gloria allerdings mein Konto nicht sperren lässt, könnte ich täglich 400 Euro beheben, kam ihm ein hoffnungsvoller Gedanke und kurz freute er sich.

Ganz kurz.

Die Gute ist wohl nur noch nicht dazugekommen. Mit Sicherheit kann ich aber schon morgen meine Bankomatkarte nur mehr als Eiskratzer verwenden, schätzte er seine Lage nicht sehr optimistisch, aber dafür umso realistischer ein.

Er ging ziellos in eine Seitengasse und entdeckte an einer Straßenecke ein abgefucktes Motel. Das ‘e’ auf der beleuchteten Anzeigetafel hing nur mehr an einem Kabel und normalerweise hätte er um so eine Wanzenburg einen großen Bogen gemacht.

Nun aber betrat er dieses Gebäude. Der abgetretene Teppich, bei dem schon teilweise die Unterschicht durchspiegelte und die alten Tapeten verströmten den nostalgischen Hauch der 70-er Jahre, der abgestandene Kohlgeruch rundete diese Erinnerung ab.

„Sie wünschen?“ fragte ein Glatzkopf mit einer Brille, dessen Gläser so dick wie Aschenbecher waren. Er blickte ihm überraschend freundlich entgegen.

Es verblüffte Paul, weil er angenommen hatte, dass dieses grauenvolle Ambiente von genauso grauenhaften Menschen belebt werden müsste. Doch der Alte, der hinter einem Pult seinen Dienst als Rezeptionist versah, wirkte tatsächlich nett.

„Wieviel kostet bei Ihnen ein Zimmer?“

„Für wie viele Nächte?“

„Weiß ich noch nicht. Vorerst einmal für eine Woche. Vielleicht bleibe ich auch länger.“

„Mit Frühstück 28 Euro, ohne Frühstück 25 Euro.“

„Gut, ich nehme das Zimmer mit Frühstück“, entschied Paul daher, ohne lange nachzudenken, denn wesentlich billigere Quartiere würde er wohl nicht finden.

Viel grauslichere aber wohl auch nicht, schüttelte es ihn ab, als er Kaugummireste im verdreckten Spannteppich spiegeln sah.

„Dann füllen Sie bitte diesen Meldezettel aus und ich bräuchte eine Anzahlung von 100 Euro“, bat der Glatzkopf fast entschuldigend.

„Natürlich!“, verstand Paul und legte einen grünen Euroschein auf den Tresen, füllte das Anmeldeformular aus und bekam einen Zimmerschlüssel ausgehändigt.

„Hier ist die Fernbedienung für den Fernseher“, rief ihm der Rezeptionist nach, nachdem Paul sich bereits auf den Weg zum Zimmer 207 machen wollte.

„Wir lassen die nämlich nicht am Zimmer, sonst bekommen sie Beine.“

Als Paul die verdreckte Fernbedienung sah, hätte er am liebsten ‘Nein, danke’ gerufen, doch die Aussicht auf etwas ablenkende Unterhaltung ließ ihn dieses klebrige Ding doch entgegennehmen.

Über eine knarrende Holztreppe zog Paul mit seinem kleinen Koffer in das zweite Stockwerk und öffnete die Tür zu seinem Zimmer.

Das ist also nun mein neues Zuhause, dachte er und wäre am liebsten gleich wieder getürmt.

Der Raum war klein, dunkel und muffig. Eigentlich genauso, wie er es sich vorgestellt hatte. Und doch hatte er gehofft ... auf was eigentlich? Mitten in Wien? Ein Hotelzimmer, nein, falsch, ein Motelzimmer um 25 Euro die Nacht. Hatte er tatsächlich die Präsidentensuite erwartet?

Frustriert blickte er sich um. Die grauen Gardinen versteckten den grauenhaften Ausblick in einen Lichthof in dem liebestolle Tauben gurrten. Die Fensterrahmen klapperten leicht und der Lack war teilweise bereits abgeblättert. Ein leichter Windhauch bewegte die Gardine, weil die Fenster nicht gut dichteten.

Lüften werde ich nie brauchen, dachte Paul, als er den feinen, aber im Dezember nun einmal unangenehm kühlen Luftzug spürte. Der Kleiderkasten war ein Kleiderständer mit Schuhablage. Also eigentlich eine gewöhnliche Vorhangstange. Fertig. Mehr gab es darüber nicht zu berichten.

Aber auch der Fernseher war ein Witz. Ein kleines 14 Zoll-Fernsehgerät hing auf einem windschiefen Regalbrett in zwei Meter Höhe. Wenn er etwas sehen würde wollen, müsste er sich also genau davorstellen. Überhaupt, wo seine Augen auch nicht mehr die Besten waren und er nun einmal seinen 75 Zoll-Fernseher in Ultra HD Qualität gewohnt war.

Frustriert öffnete er den Koffer, den ihm Gloria in den Flur stellen hatte lassen. „Deine Koffer sind gepackt“, hattet sie gesagt, dabei war nur dieses kleine Handgepäcksstück im Vorraum gestanden. Seine Designerkleidung? Seine Anzüge? Wo waren sie? Offenbar war Gloria der Meinung, sie gehörten ihr. Was will sie denn mit meinen Armani-Anzügen?, dachte er griesgrämig. Dabei, rein sachlich und finanziell betrachtet, gehörte tatsächlich seine gesamte Garderobe ihr, nachdem er seit Jahren kein Geld mehr verdient und sowieso kein Vermögen in die Ehe eingebracht hatte.

Trotzdem begann es ihn mächtig zu wurmen, dass Gloria seinen Koffer hatte packen lassen, während er bei Marie gewesen war. Sie hatte seinen Rauswurf offenbar penibel hinter seinem Rücken geplant.

Gut, vielleicht nicht ganz hinter seinem Rücken. Angedeutet hatte sie es nämlich schon, dass sein Rauswurf im Raum stand.

„Wenn dich diese Haller auch nicht unter Vertrag nimmt, werde ich dich ganz sicher nicht mehr weiter durchfüttern!“

Das hatte sie tatsächlich gesagt, so ehrlich musste er schon sein. Doch das hatte er in den vergangenen Jahren beinahe täglich von ihr gehört. Während er sicher gewesen war, sie bluffe wieder nur, war sein Köfferchen bereits neben dem Eingangstor gestanden.

So ein hinterhältiges Miststück!

Sein Groll nahm zu, als er den Kofferinhalt inspizierte. Es befanden sich einige Unterhosen, Socken, T-Shirts, Pullover, Hosen, eine Jacke und Sanitärartikel im Koffer. Allesamt Kleidungsstücke, die er unter normalen Umständen nicht einmal zum Autowaschen getragen hätte. Natürlich nur, wenn er jemals ein Auto gewaschen hätte. Dann allerdings wäre diese Garderobe das Outfit gewesen, das er gewählt hätte. Praktisch. Warm. Aus!

Mehr Vorteile hatte diese Kleidung nicht.

Modischen Stil besaßen sie überhaupt keinen und er fragte sich, ob Gloria diese Fetzen aus einem Altkleidercontainer gefischt hatte, nur um ihn zu ärgern.

Dabei war Stil für ihn stets so wichtig gewesen.

Doch in der jetzigen Situation? War die Stilfrage tatsächlich noch ein Thema? Scheinbar musste er froh sein, dass er sein Rasierzeug, eine Zahnbürste und Kleidung zum Wechseln hatte.

Nachdem er seinen Mantel auf den Kleiderhaken, der aus Platzgründen an der Innenseite der Eingangstür montiert war, gehängt hatte und einen Blick in den Badezimmerspiegel geworfen hatte, wirkte sein Spiegelbild auf einmal total surreal. Er hatte noch den lila Seidenanzug an, mit dem er bei Marie einen guten Eindruck hatte machen wollen. In diesem schäbigen Ambiente hingegen wirkte Pauls Aufmachung einfach nur lächerlich.

Und ihm war kalt in diesem dünnen Stoff.

Er griff auf die Heizung, die klappernd ihr Bestes gab, um das Zimmer auf 20 Grad zu wärmen, doch er fror trotzdem. Also zog er sich einen dicken warmen Pulli über. Gleich über sein Sakko.

Dann sank er auf das klapprige Eisenbett und versuchte nicht durchzudrehen.

Was schwer war. Sehr schwer!

Er konnte nicht fassen, wie er von jetzt auf gleich in so eine trostlose Situation gekommen war. Er! Der große Roy Polaris!

Diese Gedanken brachten ihn jetzt aber auch nicht weiter. Das wusste er plötzlich. Er musste aber raus aus diesem Zimmer.

Jetzt!

Sofort auf der Stelle. Er musste von hier weg, sonst würde er doch noch durchdrehen.

Vorsichtig begab er sich auf den knarrenden Stufen wieder in den Eingangsbereich des Hotels. Als er vor der kleinen Kammer stand, die dem Rezeptionisten als Büro diente, wusste er nicht, wo er hinsollte.

Diese Gegend um den Westbahnhof lud wirklich nicht zum Bummeln ein. Hier trieben sich Süchtige neben Dealern und Alkoholiker neben Nutten herum. Sah man eine Mutter mit Kind, zog diese ihren Nachwuchs mit ängstlichen Augen so schnell wie möglich aus dieser Gegend weg. Und das war nun sein neues Zuhause!

„Der Herr will sicher wissen, wo der Frühstücksraum ist?“, glaubte der Portier den Grund für Pauls Ratlosigkeit zu kennen. Oder war das sogar der Hotelbesitzer?

Paul war es egal. Er hoffte lediglich, so schnell wie möglich aus diesem Albtraum erwachen zu können, um sich danach wieder in einem luxuriösen Umfeld wiederzufinden. So wie er es nun mal gewohnt war.

„Wenn Sie den Gang zu Ihrer Linken gerade entlanggehen, die erste Tür rechts. Der große Raum, in dem das Klavier steht, das ist der Frühstücksraum. Morgen ab sieben Uhr gibt es Frühstück“, erklärte der leutselige Glatzkopf einladend.

In diesem Etablissement gibt es einen großen Raum? Paul bezweifelte die Worte dieses offensichtlichen Realitätsverweigerers.

Nachdem er aber sowieso nicht wusste, was er mit seiner Zeit anfangen sollte, konnte er sich genauso gut den Frühstücksraum ansehen, in dem wohl ein Kinderkeyboard auf einem Fensterbrett herumlag, überlegte er und seine Laune wurde immer schlechter.

Er schlich den Gang entlang und betrat ein überraschend großes Zimmer, das von einem Flügel in einer gut beleuchteten Ecke dominiert wurde.

Es gab an die zehn Tische mit je vier Stühlen und ein Aquarium in einem eher dunklen Bereich, der durch das Aquariumlicht etwas Helligkeit erhielt. Paul steuerte auf das alte, aber überraschend gut erhaltene Klavier zu und setzte sich auf den Beethovenhocker.

In der Stille dieses Raumes wurde er sich erst so wirklich seiner hoffnungslosen Lage bewusst. Weil er erstmals überhaupt zum Nachdenken kam. Bis dato hatte er doch lediglich auf äußere Umstände reagieren müssen, war daher gar nicht so richtig zum Überlegen gekommen.

Doch nun wünschte er sich verzweifelt, er täte es nicht.

Nämlich nachdenken.

Ein geistiger Totalausfall. Wäre der jetzt willkommen!

Doch nein, es stellte sich kein gnädiger Gedächtnisverlust ein. Stattdessen begannen seine Rädchen im Gehirn auf Hochtouren zu laufen. Sie suchten nach einer Lösung und starteten mit einer Bestandsaufnahme, beleuchteten eine Ist-Situation, die Paul in dieser schmerzhaften Deutlichkeit lieber gar nicht sehen wollte. Und doch sah er sie: Die unfassbare Realität.

Er hatte sein Zuhause verloren! Er war nirgends mehr daheim. Heimatlos sozusagen. Dieses Wort, das seinen Status ziemlich treffend umschrieb, schmeckte ganz schön bitter.

Dabei kann ich noch von Glück reden, dass ich das sechs Quadratmeter große Luxusappartement in diesem Motel gefunden habe. Nur mit bitterer Ironie konnte er sich diese bessere Besenkammer schönreden. Beim Gedanken an das Stahlrohrbett verzog sich sein Gesicht zu einer Grimmasse. Die uralte Federkernmatratze war bretterhart und er bildete sich ein, dass er eine Feder im Hintern gespürt hatte, als er sich nur kurz draufgesetzt hatte.

Sein einziger Besitz waren 800 Euro, die er nach Zahlung der Zimmerkaution noch in seiner Hosentasche trug. Und der lachhafte Inhalt des Köfferchens. Diese Kleidungsstücke, Zahnbürste und Rasierer konnte man schlecht als Besitz bezeichnen. Und doch musste er froh sein, dass er diese Güter hatte!

Wie schnell alles relativ werden konnte!

Heute morgen hatte er noch überlegt, in welchen Armani-Anzug er sich kleiden sollte. Lila oder beige? Nun saß er im edlen Lila auf einem alten Klavierhocker und war froh, dass er im Koffer einen warmen Pullover gefunden hatte, der ihn nun wenigstens etwas wärmte.

Paul schüttelte ungläubig den Kopf. Tatsächlich war in der vergangenen Stunde sein gesamtes Leben zerbrochen.

Auch wenn das Ergebnis seiner Analyse noch so schmerzhaft war, er hatte in diesem menschenleeren Frühstücksraum absolut nichts anderes zu tun, als weiterhin nachzudenken.

Wie sollte er künftig seine Tage füllen? Mit Herumsitzen? Wo? Hier? In seinem Zimmer?

Nicht, dass er vor seinem Rauswurf aus Glorias Domizil viel mehr gemacht hätte, als sinnlos in der Gegend herumzuhängen. Aber es machte einen feinen Unterschied, ob man in einer Villa mit Innen- und Außenpool, Sauna, einem riesigen Flachbildfernseher im 50 Quadratmeter großem Schlafzimmer samt gut ausgestatteter Bar nichts machte, oder aber in einem abgehalfterten Motel.

Nachdem seine grauen Zellen die Bestandsanalyse beendet hatten und sich mit einem Lösungsansatz befassten, waren sie rasch beim Punkt.

Es gab keine Zukunftsperspektive!

Lösungen konnte sein Gehirn einfach nicht anbieten.

Seine Schauspielkarriere konnte er vergessen. Einen normalen Job genauso. Er war 50 und hatte nie gearbeitet. Also so, wie es die meisten Leute taten, die regelmäßig aufstanden und für gewissenhafte Arbeit ein geregeltes Einkommen erhielten.

In seinem ganzen Leben war er nur sechs Monate lang als 24-Jähriger so einer geregelten Tätigkeit nachgegangen. Eine großartige Referenz gab dieses kurze Gastspiel vor über 25 Jahren bei einem Vorstellungsgespräch sicherlich nicht ab.

Hinzu kam, dass er körperlich nicht im allerbesten Zustand war und daher für fordernde Tätigkeiten kaum bis gar nicht zu gebrauchen war.

Erst vor zwei Tagen war er aus einer Entzugsklinik entlassen worden und daher eigentlich clean.

Aber eben nur eigentlich. In Wirklichkeit wünschte er sich gerade nichts sehnlicher als einen doppelten Whiskey. Die derzeitige Lebenssituation wollte er sich einfach nur wegsaufen, um irgendwie ein gnädiges Vergessen zu finden.

Wie er es eigentlich schon sein ganzes Leben lang getan hatte.

Wegsaufen, was er nicht ändern konnte. Oder wollte. Das war stets seine Lösung für alle Probleme dieser Welt gewesen.

Doch guter Whiskey war teuer und er musste haushalten. Daher widerstand er dem Wunsch, sich vom Zimmerservice – gab es so etwas hier überhaupt? – einen doppelten Whiskey mit Eis zu bestellen.

Somit blieb nur der ungefilterte Blick auf die schonungslose Wahrheit: Er lag sozusagen fast auf der Straße. Oder halt vorübergehend in diesem Motel, dessen einziger Vorteil war, dass er eine Zimmertür hinter sich schließen konnte und ein Bett zum Schlafen hatte. Noch! Denn lange würde er sich auch diesen zweifelhaften Luxus nicht mehr leisten können.

Wenn seine paar Kröten durch den Zimmerpreis und Nahrung aufgebracht waren: Was dann? Ungläubig schüttelte er den Kopf.

Was war nur mit ihm geschehen?

Wie hatte er so tief sinken können?

Um nicht weiter nachdenken zu müssen und um sich abzulenken, hob er den Deckel des Pianos und seine Finger legten sich auf die Tasten. Er spürte das kühle und glatte Elfenbein des alten Flügels unter seinen Fingern und strich fast zärtlich über die Tasten, bevor er einen Akkord anschlug.

Das Instrument war gestimmt, sein Klang hervorragend. Damit hätte er in diesem Haus gar nicht gerechnet.

Seit Jahrzehnten hatte er nicht mehr gespielt. Doch plötzlich flogen seine Finger über die Tasten und er vergaß während des Spielens, wo er war und wer er war. Er spielte einfach nur und versank in einer Welt, die seit Jahrzehnten nicht mehr seine gewesen war.

„Sie spielen sehr gut“, hörte er plötzlich eine Stimme, die er dachte, schon einmal gehört zu haben.

Paul blickte hoch und vor ihm stand der sympathische junge Mann, der ihn am Vormittag beim Autogrammeschreiben angesprochen hatte.

Das war zwar erst vor wenigen Stunden, tatsächlich aber in seinem alten Leben, also in einer längst vergangenen Zeit gewesen.

Was macht er hier? Wohnt der arme Kerl womöglich auch in dieser Absteige?, dachte Paul irritiert.

„Grüß Gott!“, reichte ihm der junge Mann die Hand, während er auf ihn zukam.

„Hi, So schnell sieht man sich wieder“, grüßte Paul ebenfalls und um seinen Mund zog sich ein bitteres Lächeln.

„Sie haben mir heute Glück gewünscht. Das hat nur leider nicht geklappt.“

„Nicht?“

„Nein, überhaupt nicht.“

„Nun, vielleicht können Sie es nur noch nicht erkennen.“

„Glauben Sie mir, ich stecke bis zum Hals im Dreck und an dieser Situation ist absolut nichts Glückbringendes. Überhaupt nichts!“, begann sich Paul wie unter Hypnose diesem Fremden zu öffnen.

„Nun, in jedem Leid steckt der Keim für künftiges Glück.“

„Ich kenne diesen Spruch. Aber, ehrlich: Bei mir keimt nichts mehr“, versank Paul in Selbstmitleid. „Ich bin so weit unten. Tiefer geht es gar nicht mehr.“

„Dann kann es aber doch auch nur mehr nach oben gehen.“

„Nicht bei meinem Schlamassel.“

„Dieses Wort gefällt mir“, erwiderte der Herr. “Wissen Sie, dass die wunderschöne Lotusblüte aus Schlamm erwächst? Sie wurzelt in richtigen Drecklöchern und die Blüte ist trotzdem von makelloser Schönheit und Reinheit. Der Lotusblume selbst kann Schmutz nichts anhaben.“

„Der Lotuseffekt!“, fiel Paul die Spezialversiegelung ein, mit der er früher seine Sportwagen vor Verschmutzung schützen hatte lassen. Was er damals für diese Nanoversiegelung in seiner Werkstätte ausgegeben hatte! Mit diesem Betrag könnte er heute einige Monate in einem Fünfsternehotel wohnen, dachte er frustriert.

„Mit einer Lotusblüte bin ich tatsächlich noch nie verglichen worden“, lachte Paul bitter. „Glauben Sie mir, ich bin eher ein Unkraut, das man am besten ausreißt.“

„Unkräuter werden unterschätzt. Viele davon sind wertvolle Heilpflanzen!“

„Sie versuchen wohl in Allem etwas Gutes zu sehen!“, wollte Paul nicht weiter über Pflanzen reden, weil er davon überhaupt keine Ahnung hatte.

„Aber natürlich, weil es doch in Allem Gutes gibt!“

„Nun, ich weiß nicht ...“, seufzte Paul.

„Müssen Sie auch nicht. Es genügt völlig, wenn Sie daran glauben, denn der Glaube versetzt bekanntermaßen Berge.“

Paul schüttelte den Kopf und seine verzweifelte Lage wurde ihm, seit er nicht mehr spielte, wieder so richtig bewusst. Er konnte daher auch nicht glauben, dass sich in seiner Lage irgendetwas Gutes verbarg.

Doch das sprach er nicht aus, weil dieser unverbesserliche Optimist sicherlich wieder aus einem Gänseblümchen eine Orchidee machen würde. Und für so viel positives Denken war er derzeit einfach nicht in der Verfassung. Dazu war er viel zu niedergeschlagen und auch zu real.

Seine Lage würde sich auch durch positives Denken nicht verbessern. Das wusste er einfach.

„Was haben Sie vorhin gespielt?“, wechselte der junge Mann das Thema.

„Das war eine Eigenkomposition!“, erklärte Paul. Als er merkte, dass der junge Mann offensichtlich mehr hören wollte, holte er aus.

„Ich habe in meiner Jugend viel Klavier gespielt und auch komponiert. Doch dann habe ich irgendwann wieder damit aufgehört.“

„Warum?“

„Warum ich in meiner Jugend so viel gespielt habe? Oder warum ich aufgehört habe?“

„Beides“, sagte der Herr und legte seine Hand auf Pauls Schulter, während er sich neben ihn auf den breiten Klavierhocker setzte, als wollte er mit ihm nun vierhändig spielen.

Er hatte sich nur kurz abgestützt, wohl um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Trotzdem strömte durch diese kurze Berührung ein beruhigender Schauder durch Pauls Körper. Ein angenehmes, entspannendes Gefühl durchflutete ihn. Wie ein Lichtblick in der Dunkelheit breitete sich ein wohltuender Hoffnungsstrahl in seinem Inneren aus. Seine soeben noch vernichtende Resignation verschwand fast völlig, seit der Mann neben ihm auf dem Hocker saß.

Obwohl er, als Frauenliebhaber, es normalerweise nicht leiden konnte, wenn ihm andere Männer zu nahekamen, hatte er diese kurze Berührung als angenehm empfunden.

Seltsam, warum er auf diesen Wildfremden so positiv reagierte. Doch dann wurde Paul klar, dass er in seiner grenzenlosen Einsamkeit wohl offenbar nach der Nähe eines Menschen lechzte, mit dem er reden konnte. Der ihm zuhörte.

Und das alles tat dieser junge Mann. Er schenkte ihm seine Aufmerksamkeit, schien ehrliches Interesse an ihm zu haben, neigte sich ihm zu. Warum?, fragte sich Paul. Diese Zuneigung war ungewohnt und er konnte sie sich nicht erklären, denn in den vergangenen Jahrzehnten hatte sich niemand ehrlich für ihn interessiert. Ja, alle wollten etwas von ihm. Von Roy Polaris, dem Schauspieler. Da wollten alle an seinem Erfolg ein wenig mitnaschen und in seinem Ruhm ein bisschen mitstrahlen. Doch an Paul selbst, an dem Menschen, der er war, hatte niemand Interesse gehabt.

Außer, damals ... aber das hatte er seinerzeit selbst verbockt. Er befahl sich daher, nicht weiter an Marie zu denken. Trotz dieses Verbots schob sich ihr Bild in seinen Kopf, denn sie war die Einzige gewesen, die sich für ihn interessiert hatte. Und nun dieser Fremde. Es war ihm daher egal, warum. Er empfand dieses Interesse einfach als wohltuend und tröstend. Daher begann er zu reden.

„Meine Mutter war Pianistin und als sie meinen Vater und mich verlassen hat, habe ich sie und wohl auch ihr Spiel vermisst. Ich bin als Vierjähriger auf den Klavierhocker geklettert und habe geklimpert. Vielleicht wollte ich ihr damit auch nur nahe sein.“

„Vielleicht aber wurden Sie mit diesem Talent gesegnet, um nicht einsam zu sein?“

„Das könnte schon stimmen, denn ich gab in weiterer Folge Musikunterricht und da hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben Freunde.“

„Das ist schön!“

„Ja, das war es. Bis ich ein Kotzbrocken geworden bin.“

„Wie meinen Sie das?“

„Ich habe mich irgendwann als etwas Besseres gesehen und bin so richtig überheblich geworden“, zuckte Paul mit den Achseln.

„Warum?“

„Ich weiß es nicht.“

„Wurden Sie dazu erzogen?“

„Nun, eigentlich nicht. Obwohl, wenn ich es so recht bedenke, das Einzige, das mir mein Vater beigebracht hat, war das sogenannte ‘Hofhalten’. Ich musste schon als kleiner Junge den Reichtum meines Vaters repräsentieren und habe daher nichts anderes gelernt, als reich und nobel zu sein.“

„Und diese Grundhaltung haben Sie verinnerlicht?“

„Scheinbar, denn ich wurde wirklich arrogant. Und erfolgreich. Dabei, das mit meinem Erfolg, da hatte ich die Unterstützung einer ganz besonderen Frau. Sie hat mich wohl mehr geliebt, als ich es verdient habe.“

„Glauben Sie, dass Sie Liebe nicht verdienen?“

„Das glaube ich nicht nur, das weiß ich. Ich verdiene sie in der Tat nicht.“

„Warum nicht? Jeder Mensch verdient Liebe. Auch Sie!“

„Nein, ich sicher nicht, denn ich brachte und bringe jedem Menschen nur Unglück.“

„Sie wirken sehr selbstreflektiert. Das ist gut. Selbsterkenntnis ist bekanntermaßen der erste Weg zur Besserung. Offenbar wollen Sie sich ändern, sonst wären Sie nicht so offen.“

„Da bin ich mir nicht so sicher“, schränkte Paul ein.

„Empfinden Sie Reue?“

Paul dachte nach, denn darüber hatte er sich noch nie in seinem Leben Gedanken gemacht.

„Ja, schon!“ nickte er nun, relativierte allerdings sofort, „zumindest denen gegenüber, die gut zu mir gewesen sind und das waren nicht gerade viele.“ Dann blickte er seinen Sitznachbarn an. „Daher weiß ich ehrlich gesagt auch nicht, ob ich mich tatsächlich ändern will.“

„Warum wissen Sie das nicht?“

„Weil ich noch heute morgen ein richtiges Arschloch gewesen bin. Und wäre ich heute nicht so richtig auf die Fresse gefallen, säße ich daheim neben meinem keifenden Weib und würde mich bis zur Besinnungslosigkeit besaufen. Ich bin nämlich nicht in diesem schäbigen Motel gelandet, weil ich mich ändern oder gar ein besserer Mensch werden wollte, sondern weil mich meine Holde rausgeworfen hat.“

„Aber Sie sitzen hier …“, hörte der Gute wieder nur das Gute, „und reden offen über ihre Verfehlungen. Und Sie sind nüchtern!“, nickte er anerkennend.

„Aber nur, weil ich mir guten Whiskey nicht mehr leisten kann und ich billigen Fusel meinem verwöhnten Gaumen nicht antun will!“, rief er.

„Und da sagen Sie, dass Sie kein Glück haben?“

Paul sah ihn groß an, doch der Herr sprach weiter.

„Trauern Sie dem Leben, das sie bis heute geführt haben, wirklich so sehr nach? Waren Sie tatsächlich so glücklich?“

„Gott bewahre! Sicher nicht! Es war die reine Hölle!“, rief er im Affekt.

„Na, sehen Sie! Sie wurden bewahrt!“ Paul riss die Augen auf. Der junge Mann drehte alles, was Paul sagte, so um, dass man meinen könnte, er sei plötzlich im Paradies gelandet und nicht in diesem verwahrlosten Motel und mit einem Fuß in der Obdachlosigkeit.

Der Herr blickte ihm sehr intensiv in die Augen und sprach ihn plötzlich mit einem persönlichen Du an.

„Scheinbar legst du soeben alle Unsauberkeit und Bosheit ab. Jetzt kann die Sanftmut, die in dir gepflanzt ist, deine Seele zum Blühen bringen.“

„Ich verstehe nicht“, murmelte Paul.

„Was verstehst du nicht? Dass in dir Sanftmut ist?“

„Zum Beispiel!“, nickte er, „in mir ist so viel Sanftmut, wie Alkohol in einem Schluck Hochquellwasser!“

„Und doch wird durch Gärung aus frischem Wasser das beste Bier gebraut!“

„Mein Leben gärt derzeit tatsächlich sehr heftig“, gefiel Paul dieses Wort.

„Das sind die besten Voraussetzungen!“

„Für ein gutes Bier?“

„Für ein glückliches Leben! Erinnere dich an die Lotusblüte!“ Paul nickte, ging darauf aber nicht weiter ein.

Stattdessen gestand er völlig ehrlich und klang dabei vollkommen entmutigt: „Ich weiß doch gar nicht mehr, was Glück ist.“

„Hast du es jemals gewusst?“

„Ja, einmal in meinem Leben war ich glücklich!“, kam abermals eine schnelle Antwort aus Pauls Innerem.

„Dann nütze deine derzeitige Lebenssituation, um zu bestimmen, wie dein weiteres Leben aussehen soll. Du selbst kannst entscheiden, ob du Glück wieder in dein Leben lassen willst.“

„Dafür ist es zu spät.“

„Es ist nie zu spät!“

„Doch, dafür schon“, widersprach Paul und änderte plötzlich das Thema.

„Aber auf jeden Fall will ich nicht mehr so weiterleben wie bisher. Keinesfalls!“

Das wusste er plötzlich, seit er gefragt worden war, ob er bis dato so glücklich gewesen wäre.

„Fast bin ich froh, dass mich diese Giftnudel heute rausgeschmissen hat, sonst hätte ich ihr wohl noch irgendwann den dürren Hals abgeknickt.“

„Sprich nicht im Zorn. Du sollst nicht hassen. Hass vergiftet deine Seele!“

„Ich weiß, ich sollte sie wohl dafür lieben, dass sie mich rausgeschmissen hat“, übernahm er, allerdings sarkastisch, das positive Denken dieses Fremden, der wohl sogar in fauligem Mundgeruch eine wohlige Duftnote fand.

„Ja, das solltest du!“

„Das sollte ich?“

„Ja! Immerhin: Hätten wir sonst dieses Gespräch geführt?“

„Wir hätten es gar nicht führen müssen, wenn ich durch Glorias Tritt nicht auf die Straße geflogen wäre.“

„Stimmt. Weil du stattdessen daheim den teuren Whiskey trinken hättest können! Hast du nicht vorhin gesagt, dass du froh bist, dieses Leben hinter dir gelassen zu haben?“

„Ja, das habe ich. Und es stimmt auch“, gab ihm Paul kleinlaut recht und beruhigte sich wieder. Er blickte zum Aquarium und verfolgte die Fische mit den Augen. Dabei wurde er immer gelöster und entspannte sich. Der Friede, den er auf einmal in sich fühlte, war zwar überraschend bekommen, aber er fühlte sich gut an.

„Ich bin wirklich dankbar für dieses Gespräch“, nickte Paul und fühlte sich plötzlich so wohl wie seit Jahren nicht mehr. Eine Tatsache, die er noch vor einer halben Stunde nicht für möglich gehalten hätte.

„Es kommt einmal der Tag, wo du durch eine Tat der selbstlosen Liebe einer Mutter Kind retten kannst. Wenn du den Hass aus deinem Herzen strömen lässt und dich für die Liebe entscheidest, kommt sie zu dir zurück. Sei wachsam! Dann wirst du die Zeichen erkennen, die dir auf deinen Weg geschickt werden.“

Paul sah ihn mit großen Augen an.

„Welche Zeichen?“

„Du wirst sie erkennen, wie du schon immer alle Zeichen erkannt hast. Oder was glaubst du, warum du als kleiner Junge auf den Klavierhocker geklettert bist?“

„Weil ich meine Mutter gesucht habe?“

„Und was gefunden hast?“ Paul antwortete nicht, daher tat es sein Gesprächspartner.

„Du hast dein Talent gefunden.“

„Oh! Und ich habe immer gedacht, dass die Schauspielerei meine Begabung gewesen ist!“

Dann aber schüttelte es ihn so richtig ab. Offenbar überfiel ihn soeben eine Erkenntnis und er sprach seine Gedanken aus.

„Wenn ich es recht bedenke, hat mich der Glanz dieser Scheinwelt eigentlich erst so richtig in die Scheiße hineingeritten. Nachdem ich sowieso schon zur Hochnäsigkeit erzogen worden bin, hat mein Starruhm mich dann endgültig zu einem eingebildeten Gockel geformt.“

„Du lernst schnell“, war alles, was der Herr erwiderte und sich danach erhob.

„Wohnst du eigentlich auch in diesem Motel?“, fragte Paul und wechselte ebenfalls zum Du. Diese Unterhaltung fühlte sich so gut an und es war das erste gute Gespräch seit vielen, vielen Jahren. Wenn nicht das beste überhaupt.

„Nein, ich bin nur auf der Durchreise und ich muss auch schon wieder weiter“, lächelte er milde.

Als er Pauls Enttäuschung in seinen Augen sehen konnte, blickte er auf das Klavier und zeigte mit den Fingern auf die Tasten.

„Lasse dein Talent nicht verdorren, denn es ist ein Geschenk Gottes. Es ist ein Frevel, ein Gottesgeschenk zu verschwenden. In jeder Gabe, die man auf seinem Lebensweg mitbekommt, steckt ein tiefer Sinn! Du musst ihn nur erkennen und danach handeln, dann wirst du nie allein sein.“

„Aber ich bin allein“, klagte Paul. „Momentan bin ich so einsam wie noch nie in meinem ganzen Leben. Ich habe alles verloren, was ich jemals besessen habe. Ich bin in einer Situation, von der ich sicher war, dass mir das niemals passieren würde.“

„Du dachtest, dass nur andere Menschen in solch eine Situation kommen würden?“

„Ja, ich gebe zu, ich war tatsächlich der Meinung, dass Leute, die auf der Straße leben, selbst schuld an ihrem Unglück sind.“

„Lebst du derzeit auf der Straße?“

Paul überlegte, wie sich eine ehrliche Antwort wohl anhören sollte. Eigene vier Wände hatte er tatsächlich nicht mehr. Also eigentlich ja. Aber auf der Straße lebte er noch nicht. Allerdings konnte er dieses Motel nicht gerade als Heim bezeichnen. Überhaupt, wo ihm seine begrenzten finanziellen Mittel ein baldiges Ablaufdatum prognostizierten.

„Noch nicht, aber mein Geld reicht gerade mal für ein Monat und dann kann es passieren“, sprach er demnach eine düstere Wahrheit gelassen aus und schlagartig wurde ihm bei dem Gedanken übel.

„Vielleicht sollst du genau das erkennen!“

„Dass ich in einem Monat obdachlos sein werde?“

„Dass es jedem passieren kann!“

„Oh“, erwiderte Paul und verstand plötzlich. „Das habe ich jetzt wirklich kapiert. Aber ich kann mir das Leben auf der Straße einfach nicht vorstellen, ich will so nicht sein!“

„Glaubst du, die, die so sind, wollen so sein?“

„Nein, natürlich nicht!“, kam nach einiger Überlegung Pauls Antwort, die ihm gleichzeitig seine Überheblichkeit mit aller Deutlichkeit klarmachte.

„Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“ Paul sah den Mann mit großen Augen an.

„Dann wäre ja klar, warum ich in diesem Motel gelandet bin“, konterte Paul mit einem Schuss Sarkasmus. Der Blick des Herrn wurde milde.

„Nun sei nicht zu streng mit dir. Die meisten Menschen machen sich erst dann über ihre Mitmenschen Gedanken, wenn sie sich selbst in einer vergleichbar ähnlichen Situation befinden. Bis dahin glaubt jeder, dass seine Gesundheit, sein Reichtum, Aussehen, was auch immer ein Mensch an Gaben im Leben erhalten hat, sein Verdienst sei und ihm daher alles zusteht. Kaum jemand erkennt ein Gottesgeschenk als Gottesgeschenk und ist einfach nur dankbar. Erst wenn man die geschenkte Gabe verliert, erkennt man, dass sie bloß ein Geschenk gewesen ist. Ein vergängliches. Nicht mehr und nicht weniger. Du bist in dieser Beziehung nicht viel anders als alle anderen Menschen.“

„Wenn nicht sogar schlimmer“, gestand Paul reumütig.

„Wer seine Fehler bereut, wird Gnade vor Recht erfahren, denn man erntet, was man sät. Trachte daher auf deinem weiteren Weg Liebe zu säen!“

„Wie meinst du das?“

„Du wirst es spüren, wenn du meinen Worten Glauben schenkst. Und nun: Sei gegrüßt!“

Automatisch nahm Paul seine gereichte Hand. „Dieses Gespräch hat mir so gutgetan. Ich war so niedergeschlagen, doch nun ...“, Paul fehlten die Worte, dann blickte er auf, schüttelte die Hand heftig und sagte lauter: „Danke für alles!“

„Gern geschehen.“

„Kann ich wieder einmal mit dir sprechen?“ fragte Paul und hoffte, seinen neuen Freund nicht zu verlieren.

„Jederzeit. Doch vergeude nicht dein Talent! Spiele, dann kommunizierst du mit mir und dem Rest der Welt!“, lächelte er und verließ den Raum.

Paul sah ihm nach und war wie gelähmt. Wie hat er das gemeint?, grübelte er und stellte fest, dass der junge Mann seinen Namen eigentlich gar nicht genannt hatte. Paul wusste demnach gar nicht, wie er mit ihm überhaupt jemals wieder in Kontakt treten konnte.

Und wie hat er das mit dem Kommunizieren gemeint? Ich kann jederzeit mit ihm sprechen, doch ich soll mein Talent nicht vergeuden und spielen? Paul blickte verdattert. Soll ich ihn mir vielleicht herbeispielen?

Paul fiel ein, was er seinen Musikschülern als Jugendlicher gelehrt hatte: Musik ist Kommunikation, denn sie ist die einzige Sprache, die auf der ganzen Welt verstanden wird. Ohne Worte schafft es Musik spielerisch, und das im wahrsten Sinne des Wortes, Gefühle zu transportieren. Hat der Herr das damit gemeint? Paul schüttelte den Kopf. Wohl sicher nicht, dachte er verwirrt.

Er wollte eigentlich irgendwann wieder ein richtiges Gespräch mit ihm führen. Warum nur habe ich ihn nicht nach Namen und Telefonnummer gefragt?, ärgerte sich Paul. Doch dann beschloss er, sich nicht weiter zu geißeln. Vielleicht würde er ihn wieder einmal zufällig treffen. Wie soeben.

Er griff automatisch wieder in die Tasten und war bald darauf so sehr in der Musik versunken, dass sich Zeit und Raum für ihn auflösten. Er spielte und durch seinen Körper strömte mit einem Mal der gleiche beruhigende Sinnesreiz wie zuvor, als ihn der junge Mann berührt hatte.

Aber eigentlich hatte er dieses berauschende Gefühl, dieses Empfinden, beim Musizieren immer schon gehabt. Wenn er gespielt hat, war er immer schon mit Gott und der Welt im Einklang gewesen. Immer schon! Ein wohliger Schauder durchströmte Paul, als er plötzlich verstand. Es war nur ein Gefühl, nur ein Hauch von einer unglaublichen Gewissheit, doch während er weiterspielte, spürte er so deutlich wie noch nie: Er war tatsächlich mit Gott und der Welt im Einklang!

Seine Gedanken wirkten sogar für ihn selbst total abstrus und nie im Leben würde er sie aussprechen. Das schwor er sich in diesem Moment, denn in der Klapsmühle saß man rasch. Nein, diese Erkenntnis würde er für sich behalten. Ganz tief bei sich. Dort, wo ihm dieses Wissen Zuversicht und Halt geben konnte.

Er war mit Gott und der Welt im Einklang. Für ihn war das plötzlich kein bloßes Zitat mehr, sondern ein tiefes Wissen, das er auf wundersame Weise erlangt hatte. Er spürte die Nähe des Herrn, während er spielte. Er spürte sie und fühlte sich nicht mehr allein. Und dieses Gefühl erfüllte ihn mit tiefer Dankbarkeit.

Dass der Portier des Motels plötzlich im Raum stand, hatte er gar nicht gehört, weil er mit geschlossenen Augen die Mondscheinsonate von Beethoven gespielt hatte.

Als er die Stimme des Mannes vernahm, schrak er förmlich zusammen.

„Sie spielen wunderschön“, blickte ihn der Mann bewundernd an, während er näherkam.

„Entschuldigen Sie, ich hätte fragen sollen, ob ich das Instrument überhaupt spielen darf“, bekam Paul augenblicklich ein schlechtes Gewissen. Immerhin war er Gast und er konnte doch nicht ungefragt einfach herumklimpern.

„Nein, das ist schon in Ordnung. Das gute Ding steht schon so lange hier, doch niemand kann es spielen. Also, so wie Sie, meine ich. So gefühlvoll und so ausdrucksstark.“

„Danke für das Kompliment. Ich habe als Kind zu spielen begonnen und es jahrelang nicht mehr getan. Ich bin selbst überrascht, dass ich es noch kann. Der Flügel hat aber auch einen hervorragenden Klang.“

„Ich habe ihn von meinem Vater geerbt. Er war ein sehr talentierter Pianist und hat nebenbei auch dieses Hotel, das mal wirklich gute Zeiten gekannt hat, erbaut. Auch wenn man das heute nicht mehr erkennen kann, aber hier in diesem Raum gab es früher Liederabende und wirklich noble Gesellschaft ging bei uns ein und aus. Das waren noch Zeiten“, bekam er einen sehnsüchtigen Blick. Seinem Ausdruck nach zu urteilen, hätte er gerne das Hotel zu seinem alten Glanz verholfen, schwamm aber offenbar nicht gerade auf einer Erfolgswelle.

Da haben wir ja eine Gemeinsamkeit, dachte Paul und wusste nun, dass der Herr mit der Brille offenbar der Hotelbesitzer war.

„Ach, was soll´s“, wischte der Alte seine trübe Stimmung beiseite und drückte auf eine Klaviertaste.

„Das ist leider alles, was ich kann. Das Talent meines Vaters ist leider nicht auf mich übergesprungen und meine Kinder sind auch nicht mit Musikalität gesegnet.“

„Trotzdem ist das Instrument gut gestimmt!“, wunderte sich Paul.

„Meine Enkeltochter ist musikalisch. Für sie lassen wir das Instrument stimmen. Doch sie geht derzeit zu einer Klavierlehrerin, bei der sie stundenlang Tonleitern spielen muss und leider nimmt das meiner Enkelin die Freude.“

„Das verstehe ich gut!“, wusste Paul, wovon der Hotelbesitzer redete. „Ich habe das Glück gehabt, schon als Kind Freude an der Musik gefunden zu haben. Meine Erfahrungen habe ich früher meinen Mitschülern weitergegeben.“ Paul brach ab.

Er wollte nicht sein gesamtes Leben ausbreiten und für heute hatte er genug über sich geredet.

„Sie geben Musikunterricht? Kann meine Enkelin bei Ihnen Stunden nehmen?“, fragte der Hotelbesitzer daher völlig überraschend.

„Ach, es ist schon so lange her, dass ich Unterricht gegeben habe.“

„Aber sie haben es früher mal getan?“

„Ja, als Jugendlicher habe ich Klavierunterricht gegeben. Das ist also tatsächlich schon sehr, sehr lange her.“

„Soviel ich weiß, verlernt man nie, was man als junger Mensch gelernt hat. Und nachdem ich Sie spielen gehört und ihre glühenden Augen gesehen habe, als sie von Musik geredet haben, bin ich sicher, Sie sind ein sehr guter Musiklehrer. Auch heute noch. Wären 30 Euro pro Stunde für Sie ein angemessenes Honorar? Sehr viel mehr kann ich leider nicht bezahlen, denn das Motel geht nicht besonders gut“, schämte sich der Mann und blickte entschuldigend im Raum herum.

„Gut, 30 Euro pro Stunde sind in Ordnung“, ergriff Paul die Gelegenheit beim Schopf. Immerhin würde sich die Obdachlosigkeit mit diesem kleinen Verdienst etwas hinauszögern lassen und essen musste er doch auch.

„Freut mich, Herr ...?“

„Schönherr. Paul Schönherr!“

„Ach ja, Sie haben doch den Meldezettel ausgefüllt und ich habe mir den Namen nicht gemerkt. Verzeihen Sie, ich werde wohl auch nicht jünger.“ Er klopfte sich mit der flachen Hand auf die Stirn. „Ich heiße übrigens Otto. Otto Meininger und ich bin der Besitzer dieses Motels, das seine besten Zeiten hinter sich gelassen hat, wie ich selbst weiß.“

„Das hat Ihr Hotel mit mir gemein!“, fand Paul seinen Humor wieder.

„Darf Sie meine Enkeltochter anrufen, um einen Termin für die erste Klavierstunde auszumachen?“

„Ja, gerne!“ war Paul einverstanden und es entstand eine Pause.

„Ist es in Ordnung, wenn ich hierbleibe? Ich habe schon so lange nicht gespielt und ...“

„Sie brauchen nicht zu fragen. Ich bitte sogar darum! Ihr Spiel wird diesem Gebäude wieder etwas von seinem ehemaligen Charme zurückgeben. Auch, wenn Sie es sich nicht vorstellen können, aber dieses Motel war einmal ein schönes Hotel.“

Es ist wohl alles vergänglich, dachte Paul, als er Otto zusah, wie er an seinen Arbeitsplatz zurückkehrte und er selbst wieder in die Tasten griff.

Der Held Juni 2016

17. Juni 2016, 21:20 Uhr

Paul hörte einen gellenden, markerschütternden Schrei und erstarrte.

Die Stille, die bisher über dem Park gelegen hatte, wurde durch dieses Echo des Grauens förmlich zerrissen.

Da muss etwas Schreckliches geschehen sein, wusste er sofort, denn bis dahin war aus dem Gebäude, in dem offenbar gefeiert wurde, lediglich leise Tanzmusik zu vernehmen gewesen.

Es drängte ihn, in einem ersten Impuls sofort in das Restaurant zu stürmen. Doch die beiden Turteltäubchen, die soeben Arm in Arm auf die Terrassentür zuschlenderten, hörten den Schrei ebenfalls, denn die junge Frau sah erschrocken zum jungen Mann und die beiden liefen mit raschen Schritten zum Lokal.

Paul ließ daher dem Pärchen den Vortritt. Außerdem hatte er ein sonderbares Gefühl in der Magengrube. Es flüsterte ihm zu, dass es womöglich besser wäre, wenn er in Deckung bliebe. Hier, im menschenleeren Park.

Er zog sich daher weiter in die Grünanlage und somit in den Schutz der Dunkelheit zurück. Sein Herz klopfte wie wild, denn irgendetwas Bedrohliches lag in der Luft. Das spürte er mit jeder Faser seines Körpers und nicht erst, seit er diesen ohrenbetäubenden Schrei gehört hatte.

Er hatte zwar überhaupt keine Ahnung, was er hier überhaupt tat, doch er fühlte, dass er hier sein musste. Also blieb er in Deckung und wartete, ohne zu wissen, worauf.

Gespannt beobachtete er den jungen Mann, der auf die geöffnete Terrassentür zuging und seiner Freundin mit einer Handbewegung deutete, sie solle etwas zurückbleiben. Die junge Frau blieb einen Schritt hinter ihm und der Jüngling trat entschlossen auf die Tür zu. Kaum war er in der Türöffnung, stürmte eine schwarzgekleidete Gestalt mit solch hohem Tempo heraus, dass sie den jungen Mann zur Seite schleuderte. Der Jüngling drehte sich einmal um die eigene Achse und fiel wie ein Stück Holz um. Die junge Frau lief daraufhin panisch auf ihren Freund zu und versuchte seinen Sturz abzufedern, während die rasende Kreatur weiterlief und sich nicht weiter darum kümmerte, dass sie soeben einen Menschen umgerannt hatte.

Der Geist, oder was auch immer der Kuttenträger darstellen sollte, zog eine weißgekleidete Frau im Schlepptau mit sich. Er riss die junge Frau, die in ihrem gebauschten Tüllkleid kaum laufen konnte, wie eine Puppe mit sich. Als sie über den Saum ihres Kleides stolperte, zog er sie gewaltsam wieder in die Höhe.

Sie schrie vor Schmerz auf, war aber durch den Ruck sofort wieder auf den Beinen und ein ‘Ratsch’ machte klar, dass das Kleid nachgegeben hatte. Ihre Stöckelschuhe hatten ein großes Stück vom Stoff abgerissen. Der weiße Tüll, der sich vom Rest des Kleides verabschiedete, flatterte davon, während die Frau durch das abgerissene Stück Stoff wieder Bodenhaftung bekam und ebenfalls weiterflatterte!

Schreiend.

Mitgerissen von dieser Gestalt. Aber nur im körperlichen Sinne mitgerissen.

Wirklich begeistert wirkte sie nicht.

Im Gegenteil! Paul glaubte ihre schreckgeweiteten Augen sogar aus einiger Entfernung erkennen zu können.

Das ist die Braut, wurde ihm klar. Und mit Sicherheit handelte es sich bei dieser schaurigen Szene nicht um den ersten Ehestreit.

Der Grobian war auch nicht der Bräutigam.

Der rüde Kerl, den eine gewaltbereite Aura umgab, entführte die Braut.

Das war klar.

Eine Brautentführung war aber normalerweise eine vergnügte Angelegenheit. Paul erinnerte sich an diesen Brauch aus eigenen, zahlreichen Erfahrungen. Seine vier Bräute waren stets von gemeinsamen Freunden in ein Lokal in der Nähe ‘entführt’ worden und sowohl die Braut als auch die ‘Entführer’ waren nach einer oder zwei Stunden ausgesprochen heiter, bis stockbetrunken zu der Hochzeitsgesellschaft zurückgekehrt.

Die Braut aber, die von der schwarzen Gestalt weitergezerrt wurde, schrie aus Leibeskräften. Sie war alles andere als heiter. Sie schrie vor Angst.

Das war demnach keine Brautentführung im herkömmlichen Sinn.

Das war eine echte! Paul bekam einen Schweißausbruch.

Er wusste, er musste handeln. Jetzt war seine große Stunde gekommen.

Es kommt einmal der Tag, wo du durch eine Tat der selbstlosen Liebe einer Mutter Kind retten kannst.

Dieser Satz fiel Paul wieder ein. Deshalb war er hier. Wie unter Zwang hatte er sich um die Geldscheine, die er von Marie und der Braut erhalten hatte, kein feudales Essen gekauft, obwohl er sich darauf gefreut hätte. Nein, er hatte sich stattdessen diese Taxifahrt geleistet und war zu der Adresse gefahren, die die beiden tratschenden Freundinnen vor der Kirche ihrem Taxifahrer zugerufen hatten.

Die Zufälle dieses Tages sind keine Zufälle, wurde ihm dadurch klar. Dass er heute genau vor der Kirche gesessen hatte, wo Maries Tochter geheiratet hatte, war kein Zufall.

Dass die zwei Frauen genau neben ihm zu plauschen begonnen, und ihn dadurch scheinbar zufällig mit so viel Hintergrundwissen gefüttert hatten! Das war sicher auch kein Zufall.

Und genau deshalb war Paul auch klar: Das war der Tag, von dem der Herr gesprochen hatte! Damals, im Dezember, am Klavierhocker im Motel.

Christian Gottlieb! So hatte Marie diesen Herrn vor der Kirche genannt. Scheinbar kannte sie ihn. Schon allein diese Tatsache, nämlich dass Marie ihn auch kannte, bestätigte, dass Pauls Gespräch mit Gottlieb und die Vorgänge dieses Tages in einer Verbindung zueinanderstanden.

Und daher war sonnenklar, dass das alles keine Zufälle waren. Das waren Fingerzeige!

Das waren genau die Zeichen, von denen Gottlieb gesprochen hatte!

Er wusste nur noch nicht, was nun von ihm erwartet wurde. Doch mit steigender Unruhe wurde ihm klar, dass er nun offenbar Mut und entschlossenes Handeln beweisen musste. Also etwas, das ihn in seinem bisherigen Leben noch nie sonderlich ausgezeichnet hatte.

Er hatte zwar oft den Helden gespielt.

Und wie!

Auf der Leinwand war es allerdings leicht, ein Hero zu sein. Ein cooler Blick! Ein lässiger Satz! Und der Stuntman vermöbelt den Widersacher so richtig nach Strich und Faden, während der Held in der nächsten Szene ohne einen einzigen Kratzer wieder einen coolen Blick und einen lässigen Satz vom Stapel lassen konnte.

Ja, in Hollywood war es leicht gewesen, ein Held zu sein. Doch im wirklichen Leben? Gerade in Pauls?

Eines war so klar wie Hühnerbrühe: Paul war kein Held. Nicht im sprichwörtlichen Sinne. Und ... eigentlich auch nicht im leise geflüsterten.

Silke, eine Freundin, hatte ihn sogar als jämmerlichen Feigling bezeichnet, weil er als 17-Jähriger bei einem Waldspaziergang vor einem Wildschwein geflüchtet war. Puh, dieses Tier hatte aber Stoßzähne gehabt! Und die feindselige Haltung der Wildsau, sowie das angriffsbereite Scharren mit den Hufen, hatten nun einmal einen sofortigen Fluchtreflex bei Paul ausgelöst. Hätte er damals tatsächlich mit einer Wildsau einen Kampf auf Leben und Tod beginnen sollen?

Flucht war doch die einzig kluge Entscheidung gewesen! Seine, gleich danach nicht mehr Freundin, sondern Exfreundin, hatte allerdings gemeint, dass er sie bei der Flucht an der Hand nehmen und mit sich aus dem Gefahrenbereich ziehen hätte sollen. Sie hatte ihm krummgenommen, dass er nur sich selbst in Sicherheit gebracht hatte, während Silke nach Pauls Flucht mit dem Wildschwein Auge in Auge allein im Wald geblieben war.

Gut, da hatte sie nicht ganz unrecht gehabt. Doch er war in Panik geraten und hatte daher auf diese Kleinigkeit vergessen. Was aber auch nicht weiter schlimm gewesen war, denn Silke war eine Marathonläuferin und hatte Paul sowieso bald wieder eingeholt. Und die Wildsau selbst war sowieso nicht auf Kampf programmiert gewesen, nachdem man ihr Revier verlassen hatte.

„Die Wildsau war mutig!“, hatte er damals von Silke zu hören bekommen. „Doch du bist ein jämmerlicher Feigling, ein richtiger Waschlappen.“

Diese wenig schmeichelhafte Bezeichnung hatte sich seither in Pauls Unterbewusstsein gefressen. Auch, weil er dieser Beleidigung nicht wirklich etwas entgegensetzen hatte können.

Er war zwar ein Mann, doch seine Männlichkeit begann beim Verführen von schönen Frauen und endete dort auch schon wieder.

Als er noch Schauspieler gewesen war, hatten seine Gewaltszenen immer Stuntmen gespielt. Er hatte sich sogar vor kleineren Kampfszenen erfolgreich gedrückt. Selbst bei Kochszenen ließ er sich am Set doubeln. Er hatte halt nie riskieren wollen, dass er von einem tollpatschigen Schauspieler eine auf die Nase bekam oder sich womöglich irrtümlich einen Finger beim Tomatenschneiden absäbelte. Abgesehen von Schmerzen, die er nicht leiden konnte, war ihm die Unversehrtheit seiner Körperteile und seines Gesichtes stets enorm wichtig gewesen.

Aber ich bin ein Mann! Verdammt noch einmal, wurde er plötzlich wütend auf sich selbst. Mein ganzes Leben lang habe ich den Schwanz eingezogen, wenn es brenzlig geworden ist, suchte er tief vergrabene Mutreserven in seinem Innersten. Er wusste, dass er seine Feigheit irgendwann überwinden musste.

Nicht irgendwann.

Jetzt!

In seine Richtung rannte sowieso keine Wildsau mit Stoßzähnen.

Nur ein Entführer!

Und dieser Kerl mit dem schwarzen Kleid sah doch nur deshalb zum Fürchten aus, weil er diese Scream Maske trug. Womöglich versteckte sich hinter dieser lächerlichen Verkleidung ein verhätscheltes Mamakind, das einmal in seinem Leben den wilden Mann spielen wollte.

Das war hinzubekommen, motivierte er sich. Er würde sich dem Entführer mutig in den Weg stellen, die Braut aus seinen Fängen retten und Marie ihr Kind zurückbringen.

Die junge Frau wirkte tatsächlich total panisch und rief ständig: „Bitte, lassen Sie mich los!“, doch der Kuttenträger zog sie einfach weiter. Sie war so zart und so hilflos. Gottlob war er seinem Gefühl gefolgt und hierhergefahren, denn tatsächlich befand sich außer ihm niemand sonst auf diesem Grünareal.

Die beiden Turteltäubchen, die zuvor noch aus dem Wald gekommen und über diese Wiese gegangen waren, bekamen auf der Terrasse von all dem absolut nichts mit. Die junge Frau versuchte verzweifelt, dem jungen Mann auf die Beine zu helfen, denn der Jüngling schien offenbar nicht von allein hochzukommen. Offenbar hatten auch die beiden Probleme.

Doch darum konnte sich Paul jetzt im Moment nicht kümmern. Vielleicht später, erwachte Superman in ihm und er fokussierte sich auf seine Hauptaufgabe.

Zuerst musste er die hilflose Braut retten. Er war doch der Einzige, der ihr in diesem menschenleeren Park überhaupt noch helfen konnte.

Mach einmal in deinem Leben etwas richtig. Hilf dieser Frau!, motivierte er sich und spürte plötzlich, wie das erforderliche Adrenalin in seinen Adern zu pulsieren, regelrecht zu sprudeln, begann.

Die schwarze Gestalt kam mit der Braut im Schlepptau immer näher. Paul zog sich weiter hinter sein Gebüsch zurück und wartete, bis der Geist fast bei ihm vorbeilief.

Inzwischen bekam er einen ziemlich kräftigen Ast zu fassen und machte sich bereit.

Dann ging er vorsichtig in die Knie und schob den Stock im richtigen Augenblick in zwanzig Zentimeter Höhe vor die Beine des schwarzen Mannes.

In der Dunkelheit konnte die Gestalt das Hindernis, das sich so plötzlich in den Weg schob, nicht erkennen und stürzte prompt drüber. Alles wie in Zeitlupe und ganz nach Plan. Paul jubelte innerlich, während der Übeltäter mit dem Gesicht, beziehungsweise mit der Maske voran im Dreck landete. Der Entführer verlor sogar den Kontakt zur Braut, obgleich sie ebenfalls zu Sturz kam. Und genau das war dann der Moment für Schritt Nummer zwei.

Paul schoss aus seinem Versteck und wollte der Braut aufhelfen, um sie in Sicherheit zu bringen. Dabei bemerkte er aber aus dem Augenwinkel, dass sich der Entführer von seinem Salto viel zu rasch erholte und wieder auf die Beine kam.

„Du Sauhund“, schrie der Kerl sogleich und nestelte an seiner schwarzen Kutte herum. Woraufhin Paul seine Strategie änderte und sich nach seinem Stock umsah, um sich zu verteidigen. Doch in der Dunkelheit und mit all der Aufregung konnte er ihn jetzt gerade nicht mehr finden.

Also ballte er seine Fäuste wie Rambo und hoffte, seinen Kontrahenten dadurch dermaßen zu beeindrucken, dass er angsterfüllt die Flucht ergreifen würde.

Zwei gegen einen. Eine schwache Frau und Rambo gegen einen Mann im Kleid. Das sollte genügen, rechnete sich Paul gute Chancen aus, diesen Kampf zu gewinnen, oder ihn gar nicht erst führen zu müssen. Wenn der Rüpel genauso gut rechnen konnte, würde er sofort flüchten, war Pauls Einschätzung und noch größere Hoffnung.

Tat er aber nicht.

Der Entführer hatte nämlich inzwischen sein Messer in der Hand, das ihm eine nicht zu unterschätzende Macht verlieh.

Aber ausgerechnet dieses Mordinstrument konnte Paul in der Dunkelheit nicht erkennen und hielt daher weiterhin seine Fäuste wie Cassius Clay in Position. Er knurrte sogar ein eindringliches: „Verschwinde!“ Was den Entführer jedoch wenig beeindruckte. Der war nämlich immer noch auf einen Erfolg seiner Mission programmiert.

„Maggie gehört mir!“ schrie er daher völlig unbeeindruckt von Pauls Kampfpose und stürzte sich auf Paul. Doch Paul wich dem Angriff so geschickt aus, als würde er von unsichtbarer Hand geführt werden. Seine Bewegungen waren geschmeidig und wirkten fast schon galant, während der Entführer einfach nur plump vorwärtsstürzte und abermals im Dreck landete. Gut gelaufen, freute sich Paul und lief zur Braut, die noch immer völlig benommen am Boden hockte. Paul nahm seinen gesamten Mut zusammen, riss die Braut am Arm hoch und wollte mit ihr die Arena so rasch wie möglich verlassen.

Flucht ist doch auch ein durchaus bewährtes Mittel, um einen Kampf erfolgreich zu beenden, entschied er. Was zählte, war doch das Ergebnis und er musste nur Sorge tragen, dass er die Braut so rasch wie möglich aus den Fängen dieses Grobians befreite.

Doch die junge Frau verhedderte sich in den vielen Stoffbahnen des bauschigen Kleides und kam nicht so rasch auf die Beine, wie Paul das erhofft hatte. Ungeduldig musste er mitansehen, wie sie hektisch die Stoffbahnen hochhob, um ihre Beine aus dem Tüll zu befreien. Der Täter war sicher nicht ganz ausgeschaltet und sie hatten vielleicht nur ein paar Sekunden gewonnen, daher zog und zerrte Paul hektisch an der Frau. Als sie dann endlich mit den Füßen am Boden stand, lief er mit ihr so schnell er konnte davon. Und dieses Mal vergaß er nicht das Wesentliche, denn er hielt sie fest und hatte nicht vor, die zarte Hand loszulassen.

Die verlorenen Sekunden hatte der Entführer jedoch genutzt, um wieder auf die Beine zu kommen. Während Paul mit der Braut auf das beleuchtete Restaurant zulief, spürte er, wie er am Kragen gepackt, brutal gestoppt und nach hinten gezogen wurde.

Paul ließ daraufhin doch die Hand des Mädchens los und rief ihr zu: „Lauf einfach, lauf! Bring dich in Sicherheit!“

Im selben Moment fiel er mit dem Rücken auf das weiche Gras und rollte sich mit mehreren Drehungen zur Seite, wie er es einmal in einem Actionfilm gemacht hatte. Als er einige Meter weiter am Rücken zum Liegen kam, versuchte er genauso rasch und sportlich aufzuhüpfen wie damals als 30-Jähriger.

Doch die Elastizität seiner Gelenke und Sehnen hatte mit den Jahren etwas nachgelassen und bevor er sich mühsam aufrappeln konnte, warf sich die schwarze Bestie auch schon mit einem irren Schrei auf ihn.

Er versuchte noch mit seinen Händen den Angreifer abzuwehren, doch im gleichen Augenblick spürte er einen stechenden Schmerz im Oberschenkel, der ihn augenblicklich lähmte. Der Entführer hatte ein Messer!

Scheiße!

Paul knurrte vor Schmerz und wusste im gleichen Moment: Jetzt ist alles aus!

Mit dem verletzten Bein konnte er unmöglich flüchten und gegen einen Mann mit Waffe konnte er einfach nicht gewinnen. Gottlob ist die Braut in Sicherheit, war sein letzter Gedanke und das Gefühl von Richtigkeit durchflutete sein Herz, ehe er mit einem gottergebenen Lächeln seine Augen schloss und bewegungsunfähig darauf wartete, dass dieser Schlächter ihm den Todesstoß versetzte.

Sein erster Kampf würde sein letzter werden! Traurig irgendwie, aber andererseits auch nicht, denn er würde immerhin als Held sterben. Einen kurzen Moment dachte er sogar: Was für ein schönes Ende!

Doch da hörte er ein dumpfes „Plopp!“ und der Druck auf seinem Bauch ließ augenblicklich nach, sodass er wieder Luft bekam. Als er daraufhin die Augen öffnete, sah er, wie der Messerstecher im Zeitlupentempo zur Seite kippte.

Hinter ihm stand die Braut mit einem Ast in der Hand. Damit hatte sie dem Kuttenmann offenbar eine ordentliche drübergezogen, denn der Kerl wimmerte wie ein Kleinkind und hielt sich seinen Kopf.

„Verschwinde!“, rief die Braut, „oder ich schlage noch einmal zu, dieses Mal so fest, dass du nicht mehr aufstehen kannst!“ Dabei zeigte ihr Gesicht eine Entschlossenheit, die Paul beeindruckte. Den Entführer offenbar auch, denn die schwarze Gestalt erhob sich langsam und humpelte so schnell sie konnte, mit einer sicher schon ordentlich anschwellenden Beule davon.

Die Lady hat Mut, zollte Paul der Braut Respekt, während er mit sich selbst als Ersatz-Rambo nicht sonderlich zufrieden war. Ich habe im Vergleich zu ihr eine eher kümmerliche Vorstellung abgeliefert, dachte er, während sich das Opfer, das er eigentlich beschützen hatte wollen, jetzt um ihn kümmerte.

Doch die junge Frau sah das offenbar anders und bedankte sich überschwänglich.

„Danke, Sie sind ein Held! Was Sie getan haben, hätte wohl niemand sonst getan“, rief sie unter Tränen und half ihm auf die Beine, was ihm gar nicht leichtfiel.

„Warum bist du nicht geflüchtet, als du es gekonnt hättest?“, fragte Paul, einerseits erleichtert, andererseits verwundert.

„Ich wusste von dem Messer. Er hätte Sie umgebracht!“

„Oh! Danke“, sagte daraufhin Paul ergriffen.

„Nein, ich danke Ihnen!“, ließ Maggie ihrer Dankbarkeit freien Lauf. „Sie haben mir das Leben gerettet. Wenn Sie ihn nicht zu Fall gebracht und somit aufgehalten hätten, ich weiß nicht, was der Entführer mit mir gemacht hätte“, zitterte die junge Frau am ganzen Körper.

„Hat er Sie schwer verletzt?“, fragte sie.

„Ich weiß nicht. Es brennt ziemlich stark!“, konnte Paul seinen Schmerz nicht einordnen.

„Sie haben eine Stichwunde. Kommen Sie, ich helfe Ihnen, wir müssen es bis zum Restaurant schaffen.“

„Sag Paul zu mir!“, fiel ihm auf, dass er sie geduzt hatte, während sie ihn siezte.

„Ich bin Maggie“, nahm sie sein Du Wort an, hakte ihn unter und versuchte ihm aufzuhelfen.

“Und jetzt los, ich stütze dich!“, sagte sie, als er auf seinen Beinen war.

Paul humpelte mit Maggies Hilfe auf die Terrassentür zu und im gleichen Augenblick hörte er die Sirene eines Rettungsautos.

„Die sind aber rasch hier!“, wunderte er sich.

„Die kommen nicht wegen dir. Der furchtbare Kerl hat meinen Stiefvater in den Bauch gestochen. Ich hoffe, die Sanitäter können ihm noch helfen.“

„Maries Mann?“

„Ja, Raffael. Du kennst meine Mutter?“

„Ja, wir waren früher mal befreundet!“, hielt er sich kurz, weil er erschrocken über Maggies Worte war. „Ist Maries Mann schwer verletzt?“

„Ich fürchte, ja!“, begann Maggie zu weinen. „Er hat sehr stark geblutet. Offenbar hat der brutale Kerl mit diesem riesigen Messer seine Aorta erwischt.“

Maggie und Paul hatten inzwischen die Restaurantterrasse erreicht. Sie war total erschöpft, denn Paul musste sich immer mehr an Maggie klammern. Er hatte den Arm um ihre Schulter gelegt und wurde immer schwerer, weil ihn die Kraft im Bein immer mehr verließ. Arm in Arm traten sie auf die Tür des Lokales zu.

Als sie durch die Tür gingen, glaubte Maggie kurz ihren Namen gehört zu haben. Doch das war sicher nur Einbildung. Sie schleppte Paul mit letzter Kraft in den hell erleuchteten Saal und hoffte, dass sie hier nicht noch Schlimmeres erlebte, als sie soeben selbst erlebt hatte.

Ihre Hoffnung wurde augenblicklich zerstört, als sie Marie am blutverschmierten Boden kauern sah. Ihre Schultern bebten, während sie über Raffaels leblosen Körper gebeugt war und ihn mit ihren Armen umschlang.

Sie schien ihn nicht gehen lassen zu wollen, obwohl er offenbar gegangen war. Peter saß mit blutverschmiertem Gesicht auf dem Boden. Zwei Kolleginnen kümmerten sich um ihn. Eine hielt ihm eine Mineralwasserflasche in das Genick und die andere reichte ihm Taschentücher, weil seine Nase noch immer blutete.

Als Maggie und Paul in den Raum wankten, riss Peter sich von seinen Mitarbeiterinnen los, lief auf Maggie zu und riss sie in seine Arme.

„Maggie, meine Maggie! Du bist wieder da! Ich bin ja so erleichtert. Geht es dir gut? Mein Liebes, ich habe solche Angst um dich gehabt“, überschlugen sich seine Worte, während noch immer Blut aus seiner Nase tropfte. Er wankte leicht und schien vor Erleichterung und Schock zu weinen. Derart geschwächt diesen Horror miterleben zu müssen, ohne helfen zu können, musste eine unbeschreibliche Qual für ihn sein.

Da erhob sich Marie und ihre Augen blickten hoch. Durch einen Tränenschleier nahm sie ihre Tochter wahr, die soeben von Peter umarmt wurde. Daneben stand ein Mann, der sich an einen Tisch klammerte, als könnte er ohne Hilfe nicht stehen.

„Paul?“ Marie war nicht sicher, ob sie richtig sah. „Was machst du hier?“ Ihr Zittern verstärkte sich und ihre Augen bekamen einen panischen Glanz.

„Ich habe dir deine Tochter zurückgebracht!“, war alles, was Paul einfiel, während er vor Schmerzen kaum noch sprechen konnte. Sein Bein schickte in regelmäßigen Abständen peinigende Wellen durch seinen Körper.

„Woher weißt du ...?“, fuhr sie ihn an und stockte auf einmal.

Sie blickte irritiert, weil Paul doch nicht wissen konnte, dass Maggie ihre Tochter war. Gleichzeitig überfiel sie ein schrecklicher Gedanke.

Sie fuhr hoch und blickte Paul hasserfüllt entgegen, während sich ihre Stimme überschlug.

„Das warst du? Du hast meinen Mann umgebracht und Maggie entführt? Und dann schmeißt du deine lächerliche Kutte weg, überlegst es dir anders und bringst Maggie wieder zurück? Warum hast du das getan? Warum hast du mir das angetan?“

Aus ihr sprach die pure Verzweiflung und grenzenlose Trauer. Das wusste Paul und er schüttelte daher nur den Kopf.

„Nein, Marie.“

„Aber du hast doch gerade gesagt, du bringst mir meine Tochter zurück. Wenn du sie nicht entführt hast, könntest du sie doch nicht zurückbringen!“, kreischte Marie hysterisch. Maggie schälte sich aus Peters Arm und stürmte auf Marie zu.

„Nein, Marie. Du irrst dich. Paul hat mir das Leben gerettet, deshalb hat er mich zurückgebracht. Er hat den Entführer in die Flucht geschlagen und ist selbst dabei verletzt worden!“

Nun ja, eigentlich war es doch Maggie selbst gewesen, wusste es Paul besser. Doch für derartig unwichtige Details war jetzt weder die Zeit noch der Ort. Es war einfach nur egal.

Maggie hakte Paul wieder unter, weil sie erkannte, dass er sich wohl nicht mehr lange auf seinen Beinen würde halten können.

„Das glaube ich nicht!“ schüttelte Marie ungläubig den Kopf.

„Doch, Marie, so ist es aber gewesen. Du tust ihm unrecht. Hätte er mir nicht geholfen, ich weiß nicht, was mit mir passiert wäre!“

„Mir tut das alles so leid, Marie!“, flüsterte hingegen Paul, der den grenzenlosen Schmerz in ihren Augen ausnahm und zugleich wusste, dass ihr niemand diesen Kummer würde nehmen können.

Im Gegenteil.

Scheinbar regte sein Anblick Marie zusätzlich auf. Und das wollte er nicht. Sie hatte genug erlitten. Seine Mission war beendet. Er nahm mit zitternden Händen Maggies Arm aus seinem Ellenbogen, klopfte kurz auf ihre Hand und versuchte ein Lächeln.

„Ich gehe!“, flüsterte er und wollte einen Schritt tun.

In dem Moment wurde ihm schwarz vor Augen und er sank kraftlos zu Boden. Maggie reagierte blitzschnell und hielt seinen Kopf, während er fiel.

Die Rettungsleute, die in dem Moment den Raum betraten, wussten gar nicht, wo sie anfangen sollten. Sie waren zu einem Verletzten gerufen worden, doch nun sahen die beiden Sanitäter zwei Männer am Boden liegen und einen dritten Herrn mit blutverschmierter Nase herumstehen.

„Bitte, können Sie zuerst nach meinem Stiefvater sehen?“, bat Maggie den älteren der beiden Sanitäter.

„Raffael ist verstorben!“, flüsterte Peter.

Maggie schüttelte den Kopf und erkannte gleichzeitig die unfassbare Wahrheit auch in Maries Augen.

„Marie, nein!“ Sie nahm ihre Mutter in den Arm, während ein Sanitäter Raffaels Körperfunktionen überprüfte. Schon nach kurzer Zeit nickte er zustimmend und ging zu seinem Kollegen, der Paul erstversorgte.

Kopfverletzung Juni 2016

17. Juni 2016, 21:20 Uhr

Lena und David vernahmen einen fürchterlichen Schrei, als sie aneinandergeschmiegt zu den Hochzeitsgästen zurückkehren wollten.

„Hast du das gehört?“, fragte Lena.

„Ja“, bestätigte David.

„Da muss etwas Schlimmes passiert sein!“, spürte Lena, wie sich über ihren gesamten Körper eine Gänsehaut zog. „Ich habe richtig Angst.“

„Vielleicht spielen die nur ein Gesellschaftsspiel!“

„Danke für den Versuch, aber ...“

„Ich weiß! War nicht gut. Ich gestehe, ich bin auch nervös“, versuchte David daher gar nicht weiter eine harmlose Erklärung zu finden. Stattdessen begann er fast zu laufen und zog Lena an der Hand mit sich auf die Besucherterrasse, die dem Restaurant vorgelagert war.

„Bleib zurück!“, flüsterte er ihr zu und deutete mit der Hand, dass sie Abstand halten sollte. „Wer weiß, was da los ist. Ich habe irgendwie ein komisches Gefühl!“

Lena blieb folgsam hinter David und ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie beobachtete ihn angespannt, während er auf die Tür zuging.

Im selben Augenblick wurde er dann auch schon zur Seite gestoßen. Eine Gestalt stürmte mit irrem Tempo aus dem Raum und rannte David einfach um. Lena war so geschockt, dass sie die Person gar nicht richtig wahrnehmen konnte. Sie erkannte lediglich, das David fiel und wollte seinen Sturz abschwächen.

Blitzartig schoss sie zu ihm vor und wollte seinen Fall verhindern oder zumindest abfedern. Sie schaffte es auch tatsächlich, dass er nicht mit seinem gesamten Gewicht und somit völlig ungebremst auf den Boden knallte. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass sein Hinterkopf auf den Terrassenboden prallte. Es machte ein schreckliches Geräusch, als sein Schädel auf den Steinfliesen der Terrasse aufschlug. Regungslos blieb David danach liegen.

Lena blieb fast das Herz stehen. Sie kniete sich zu ihm.

„David! Ist alles in Ordnung mit dir?“ flüsterte sie völlig außer sich vor Angst und Sorge und strich ihm sanft über die Wange. „David, so sag doch bitte etwas!“

Doch er schien sie nicht zu hören. Offenbar hatte er das Bewusstsein verloren.

Was mach ich nur? Was mach ich nur?, überschlugen sich Lenas Gedanken.

Er muss wieder zu sich kommen, wusste sie. Sie tätschelte kurz Davids Wange und sprach ihn immer wieder an.

Endlich schlug er die Augen auf. Erleichtert blies sie die Luft aus, die sie angehalten hatte. Gottlob. Er war nicht tot.

„David, endlich! Hast du mir einen Schreck eingejagt!“, rief sie erfreut und versuchte ihn an der Hand hochzuziehen. „Komm, wir gehen wieder rein!“, sagte sie.

Doch David reagierte auf ihre Worte überhaupt nicht. Stattdessen begann er zu würgen und erbrach sich.

Lena hielt seinen Kopf und strich ihm über die Stirn. Nachdem er orientierungslos wirkte, lagerte sie ihn in stabile Seitenlage, damit er nicht an seinem Erbrochenen ersticken konnte. Sie wusste, sie durfte ihn jetzt nicht allein lassen, denn offenbar hatte er eine heftige Gehirnerschütterung erlitten.

Doch sie sollte gleichzeitig auch Hilfe holen. Was, wenn er ein Schädel-Hirn-Trauma hatte? Oder gar eine Hirnblutung? Oder einen Schädelbasisbruch?

Im Geiste ging sie alle schrecklichen Kopfverletzungen durch und alle hatten eines gemein: Man brauchte rasch medizinische Hilfe und der Verletzte durfte nicht allein bleiben.

Vielleicht war es gar nicht so schlimm. Sie redete weiter auf ihn ein.

„David, hast du Schmerzen?“, fragte sie.

Er nickte kurz mit dem Kopf, verzog dabei schmerzhaft das Gesicht.

„Bist du schwindelig?“

„Ja!“, hauchte er und Lena war erleichtert, dass er sein erstes Wort sprach, doch kurz darauf musste er wieder erbrechen.

Oh, mein Gott, wenn er tatsächlich ein Schädel-Hirn-Trauma hat?, schoss es ihr durch den Kopf. Ich muss Hilfe holen. Sie blickte auf der menschenleeren Terrasse hoch und spähte durch die Gardine in den Speisesaal. Niemand bewegte sich. Alle Anwesenden standen starr und blickten in eine Richtung.

Hier stimmte etwas nicht.

Hier nicht und dort auch nicht.

Lenas Panik vergrößerte sich. Eine nie gekannte Hilflosigkeit nahm von ihr Besitz.

Als David nicht mehr würgte, hob sie seinen Kopf an und legte ihn auf ihre Knie. Sie hatte irgendwo einmal gelesen, dass man bei einer Gehirnerschütterung den Verletzten mit erhöhtem Oberkörper hinlegen und beruhigend auf ihn einsprechen sollte.

„David, das wird schon wieder. Ich bin sicher, gleich kommt jemand raus und wird uns helfen.“

David schien sie zwar zu hören, aber nicht zu verstehen und das machte Lena total ängstlich. Was, wenn er jetzt sofort auf der Stelle medizinische Hilfe brauchte?

Sollte sie ihn doch besser kurz allein lassen und Hilfe holen?

Lena blickte hoch und nahm wahr, wie Maggie mit einem Mann aus dem Garten auf die nur wenige Meter entfernte Terrassentür zuwankte. Maggie hatte den älteren Herrn untergehakt, der nur sehr schwer gehen konnte.

Was war hier los?

Warum ist Maggie nicht bei den Gästen? Ich habe sie gar nicht aus dem Saal kommen sehen?, wunderte sich Lena. Nur diese Person, die so rasch aus dem Raum gesprintet war und David umgerannt hatte. Doch auch diese Gestalt hatte Lena nicht wirklich gesehen. Sie hatte nur zu David geschaut und sich auf ihn konzentriert, nachdem er das Gleichgewicht verloren hatte.

Doch nun kam Maggie mit einem Mann auf die Terrasse, bemerkte allerdings nichts um sich herum. Sie schien große Mühe zu haben, den erwachsenen Mann zu stützen und war derart konzentriert, dass sie Lena überhaupt nicht bemerkte. Und das, obwohl Lena nur einige Meter entfernt mit David am Boden kauerte.

Gut, die unbeleuchtete Terrasse tauchte alles in Dunkelheit.

Trotzdem. Maggie musste ihre Schwester doch sehen! Warum sah sie nicht in ihre Richtung?

Lena hoffte so sehr, dass Maggie zu ihr blickte.

Doch sie tat es nicht.

Angestrengt schleppte sie den Herrn zur Terrassentür und in ihrer Verzweiflung entschied sich Lena dazu, nach ihrer Schwester zu rufen. Nicht laut, denn David ging es doch nicht gut. Sie wusste, wie sie sich fühlte, wenn sie Kopfschmerzen hatte. Selbst ein Flüstern hörte sich da wie ein Schrei an.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752129847
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Januar)
Schlagworte
Drama Nächstenliebe Toleranz Spannung Liebe Komödie Seele Romanze Humor Sozialkritik Krimi Thriller

Autoren

  • Brigitte Kaindl (Autor:in)

  • Brenda Leb (Autor:in)

Brigitte Kaindl wurde 1960 in Wien geboren. Die Autorin und Musikerin ist verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen Kindern. Ihre Autobiografie "Mein Weg aus dem Fegefeuer" schrieb sie unter dem Pseudonym ‘Brenda Leb’. Danach veröffentlichte sie humorvolle Unterhaltungsliteratur sowie fesselnde Romane mit sozialkritischem Hintergrund. Die Autorin schreibt für Leser die Unterhaltung, Humor, Spannung und Gefühle suchen.
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Titel: Christians Geheimnis